Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken
Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken Yusuf KuhnYusuf Kuhn
Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken
Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken
Band 1
Seitenanzahl: 420
ISBN: 978-3-7482-3089-2
Erscheinungsdatum: Juni 2018
Erhältlich als Paperback, Hardcover und e-Book bei tredition
Wenn die Vernunft mit der Offenbarung vereint wird, ist sie wie ein Licht, das ein anderes Licht noch heller macht; und derjenige, der sich nur mit einem von beiden begnügt, ist das Opfer einer gefährlichen Täuschung.
Abū Hāmid al-Ghazālī
Als ich diese Ader von Narrheit in diesen Toren pulsieren sah, nahm ich es auf mich, dieses Buch zu schreiben als Widerlegung (radd) der alten Philosophen, um die Inkohärenz (tahāfut) ihrer Glaubenslehre (ʿaqīda) und die Widersprüchlichkeit ihrer Worte in bezug auf die Metaphysik (ilāhiyyāt) aufzuzeigen, um die Gefahren ihrer Lehre (madhhab) und ihre Fehler aufzudecken, die genau genommen Gegenstände des Gelächters für die Vernünftigen und eine warnende Lektion für die Verständigen sind. Ich meine damit die Arten von vielerlei Glaubenslehren und Meinungen, durch die sie sich speziell ausgezeichnet sehen gegenüber dem Volk und der breiten Masse.
Abū Hāmid al-Ghazālī
Inhaltsverzeichnis (pdf)
Leseprobe (pdf)
INHALT
Vorwort
Vorwort Yusuf KuhnLiebe Leserin, lieber Leser,
die in diesem Buch versammelten Texte sind Teil eines größeren Projektes, das sich mit der Kritik der Philosophie im islamischen Denken befasst. Es trägt den Titel: alastu-Projekt – Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Eine Erläuterung dieses Titels und eine knappe Vorstellung des Projektes finden sich auf der Website des Projektes. Die Texte, die aus diesem Projekt hervorgehen, sollen in Gestalt von Büchern wie dem vorliegenden und auf der Website des Projektes alastu.net veröffentlicht werden. Das vorliegende Buch ist der erste Band der Reihe Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Weitere Bände sind in Vorbereitung und Planung.
Wie das Projekt als Ganzes so verstehen sich auch diese Texte als work in progress. Sie liefern also keine abschließenden Ergebnisse, sondern bieten vielmehr einen schlaglichtartigen Einblick in die Werkstatt einer fortschreitenden Arbeit, deren derzeitigen und vorläufigen Stand sie widerspiegeln. Die Texte könnten daher auch als Vorstudien bezeichnet werden.
Abū Hāmid al-Ghazālī (gest. 505/1111) ist gewiss einer der größten Philosophen in der Geschichte der Philosophie, die zugleich eine grundsätzliche Kritik der Philosophie entwickelt haben. Sein ganzes Denken bewegt sich im Spannungsfeld von Philosophie und deren selbstkritischer Reflexion. Im Rahmen des islamischen Denkens entwickelt er so sowohl eine Philosophie wie auch eine Kritik der Philosophie, indem er an die der Tradition der griechischen Philosophie entwachsenen islamischen Philosophie, wie sie sich bis in seine Zeit herausgebildet hat, anknüpft. Das rechtfertigt, den ersten Band dieser Reihe dem Denken al-Ghazālīs zu widmen.
al-Ghazālī hat uns ein vielschichtiges und reiches Werk vermacht, das in seiner gewaltigen Fülle mitunter unübersichtlich erscheinen mag. Da genügt es nicht, die Thematik auf die Kritik der Philosophie im islamischen Denken einzugrenzen, um einen Weg durch dieses klüftige Gelände zu bahnen. Es ist zudem erforderlich, das Augenmerk besonders auf das spannungsreiche Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu richten. al-Ghazālī behandelt dieses Thema häufig mit Blick auf eine Regel, die er qānūn at-taʾwīl nennt, was in einer ersten Annäherung mit Regel der Interpretation übersetzt werden kann. So liegt es nahe, diese Richtschnur zum Leitfaden zu wählen, um sich daran entlang zu hangeln und damit einen Zugang zu al-Ghazālīs Werk und Denken zu eröffnen. Dieser rote Faden, der die Texte des vorliegenden Buches durchzieht, erlaubt zugleich, die übergreifenden Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung sowie der Kritik der Philosophie stets im Blick zu behalten. Da die Regel der Interpretation al-Ghazālī als Richtschnur zur Behandlung echter oder vermeintlicher Widersprüche zwischen Vernunft und Offenbarung dient, steht sie in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach Rolle und Stellenwert der sich auf Vernunft berufenden Philosophie im islamischen Denken, das in der einen oder anderen Weise stets an Offenbarung zurückgebunden bleibt.
Nun wäre es wohl das übliche Verfahren, an dieser Stelle einen Überblick über al-Ghazālīs Leben und Werk sowie eine Darstellung des aktuellen Stands der Forschung samt der sich daraus ergebenden Fragestellungen zu geben. Dieser Versuchung will ich jedoch widerstehen, da sie doch voraussetzte, was allererst zu leisten wäre, nämlich eine genaue Kenntnis der Texte und eine darauf basierende Interpretation, die sich tatsächlich an den Texten erweisen ließe. Damit soll nicht alles über den Haufen geworfen, sondern lediglich der Anspruch einer erneuten Prüfung angemeldet werden. Die vorherrschenden Interpretationen nehmen nur allzu leicht einen verselbständigten Lauf und entfernen sich auf der Grundlage immer stärker verfestigter Urteile und Vorurteile von den Texten selbst. Damit einhergehend entfernen sich die Fragestellungen ebenfalls zunehmend von den Texten und richten sich auf Personen, denen vermeintlich einheitliche Positionen über lange Zeiträume hinweg, womöglich ein ganzes Leben lang, zugeschrieben werden. Diesem Drang zur Vereinheitlichung im Rahmen eines bestimmten Vorverständnisses werden sodann die Texte mehr oder weniger gewaltsam gefügig gemacht. Dies, um Fragen folgender Art zu beantworten: Welche Position hat beispielsweise al-Ghazālī zu dieser oder jener Frage vertreten?
Dieser Tendenz soll hier mit einer anderen Fragestellung widerstanden werden: Was hat al-Ghazālī in diesem oder jenem Text wirklich gesagt? Die erneute Frage nach dem Sinn der Texte soll also in den Vordergrund gerückt werden. Freilich geschieht dies nicht in der naiven Annahme, dass sich jegliches Vorverständnis fernhalten ließe, sondern vielmehr in der Absicht, das vorherrschende Vorverständnis in Frage zu stellen, ja überhaupt erst ins Bewusstsein zu rücken, und somit neue Wege der Interpretation zu eröffnen. Auch in diesem Sinne handelt es sich bei den in diesem Buch versammelten Texten eben um Vorstudien und nicht um die Präsentation von fertigen Ergebnissen.
Die Auslegung der Texte al-Ghazālīs, die also möglichst textnah und gründlich erfolgen soll, wird von der stets präsenten Fragestellung begleitet, ob und inwiefern bestimmte Interpretationen diesem Text tatsächlich gerecht werden. Dies geschieht mitunter im Hintergrund, wird aber gelegentlich auch ganz ausdrücklich durch die ebenso textnahe und gründliche Untersuchung von Texten durchgeführt, die für sich beanspruchen, im Ergebnis zu bestimmten Thesen über al-Ghazālīs Position in der einen oder anderen Frage gelangt zu sein. Hier lautet die vorrangige Fragestellung mithin: Inwieweit gelingt es den Autoren dieser Texte wirklich, ihre Interpretationen an den Texten al-Ghazālīs stichhaltig auszuweisen? Dem nachzugehen, erfordert freilich, dass die dafür herangezogenen Texte al-Ghazālīs selbst wiederum einer gründlichen Betrachtung unterzogen werden, die allererst ein Urteil über die in Frage stehende Auslegung erlauben kann.
So verbindet sich allemal die genaue Betrachtung der Texte al-Ghazālīs mit der prüfenden Untersuchung bestehender Interpretationen derselben zu einem eindringlichen und hoffentlich frischen Blick, der neue Perspektiven zu eröffnen vermag, ohne der Versuchung zu erliegen, zu voreiligen Schlüssen zu gelangen, was sich schon aufgrund der in Hinsicht auf das Gesamtwerk al-Ghazālīs winzigen Textauswahl verbietet.
Die geneigte Leserin, der geneigte Leser soll nun nicht länger durch andeutende Vorbemerkungen von der Lektüre der Studien abgehalten werden, die dadurch ohnehin nicht besser werden, sondern vielmehr für sich selbst sprechen müssen.
Die einzelnen Texte können unabhängig voneinander gelesen werden, bauen aber in gewissem Maße aufeinander auf, so dass es vorteilhaft sein kann, sie in der vorgegebenen Reihenfolge zu lesen. Es sei lediglich noch eine kurze Übersicht über den Inhalt des Buches gegeben.
Der erste Text, der auch als bündige Einführung in die Thematik der Kritik der Philosophie im islamischen Denken gelesen werden kann, trägt den Titel Zu al-Ghazālīs Widerlegung der Philosophen und befasst sich mit einem der bekanntesten Werke al-Ghazālīs, namentlich dem Tahāfut al-falāsifa, was gelegentlich mit Inkohärenz der Philosophen übersetzt worden ist. al-Ghazālī entwickelt darin eine Kritik der Philosophie, wie sie es im islamischen Denken bis dahin nicht gegeben hat. Der Tahāfut stellt daher einen Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte des islamischen Denkens dar. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dabei vor allem den kurzen Einführungen, die al-Ghazālī seinem Werk vorangestellt hat und in denen er sein Projekt einer Kritik der Philosophie in grundlegenden Zügen vorstellt.
Der zweite Text mit dem Titel Zu al-Ghazālīs Schrift »Regel der Interpretation« behandelt eingehend eine kleine Schrift al-Ghazālīs, die den arabischen Titel Qānūn at-taʾwīl trägt. al-Ghazālī versucht in dieser Abhandlung, wie schon der Titel besagt, eine Regel der Interpretation von Äußerungen und Texten zu bestimmen. Interpretation (taʾwīl) gilt dabei als notwendig, wenn bestimmte Probleme, die bei der Auslegung der Offenbarung auftreten können, zu lösen sind. Diese Probleme können sich daraus ergeben, dass bei einigen Stellen der Eindruck eines Widerspruchs zwischen Vernunft (ʿaql) und Offenbarung (naql) auftreten kann. Um diesen vermeintlichen Widerspruch aufzulösen, bedarf es mithin einer Interpretation nach einer regelhaften Methode.
Der dritte Text mit dem Titel Zu al-Ghazālīs Kriterium der Unterscheidung: Faysal at-tafriqa befasst sich mit al-Ghazālīs Abhandlung Faysal at-tafriqa bayna al-islām wa az-zandaqa. Dieser Titel kann annäherungsweise übersetzt werden mit Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und verborgenem kufr (Ablehnung des Islam, Nicht-Islam). al-Ghazālī geht es darin um die Entwicklung eines Kriteriums für eine möglichst eindeutige Unterscheidung zwischen Islam und zandaqa (verborgenem kufr) und zur Bestimmung der Vereinbarkeit einer Auffassung mit dem Islam. al-Ghazālī geht dabei von seiner Erfahrung mit dem in seiner Umgebung häufigen Gebrauch des Ausschlusses aus der muslimischen Gemeinschaft aus, dem er einen Riegel vorschieben wollte, da er die muslimische Gemeinschaft allzu oft in heillose und unnötige Streitigkeiten zu verwickeln drohte. Demgegenüber strebte al-Ghazālī danach, diese Konflikte beizulegen und die Einheit der muslimischen Gemeinschaft (umma) zu schützen. Dass dieses Anliegen auch und gerade heute leider keineswegs an Aktualität verloren hat, dürfte ohne weiteres einsichtig sein. Da sich diese Konflikte vor dem Hintergrund der Entwicklung des muslimischen Denkens abspielen, muss auch dieser ein wenig ausgeleuchtet werden. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Debatte zwischen zwei Tendenzen des islamischen Denkens, die oftmals als Auseinandersetzung zwischen Rationalismus und Traditionalismus beschrieben wird. Wer sich heute für diese Fragen interessiert, sollte dies zumindest in Kenntnis des klassischen Werkes von al-Ghazālī tun, das einen wichtigen Beitrag zum islamischen Denken darstellt.
Der vierte Text mit dem Titel al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den Kalām beschäftigt sich mit einer spezielleren Frage im Rahmen der Debatte um al-Ghazālīs Rationalismus: Hat al-Ghazālī die Logik in den kalām (meist mit islamische Theologie unzulänglich übersetzt) eingeführt? Es geht also um die Untersuchung der These, der zufolge al-Ghazālī die Durchdringung des kalām mit aristotelischer Logik und Philosophie zugeschrieben wird. al-Ghazālī hat indes zwar erste Schritte in diese Richtung unternommen, ist aber auf halbem Wege stehengeblieben. Erst hundert Jahre später wurde dieser Weg von ar-Rāzī konsequent bis an sein Ende beschritten.
Der fünfte Text mit dem Titel al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den fiqh wirft die entsprechende Frage im Hinblick auf den fiqh (islamisches Recht) auf: Welchen Beitrag hat al-Ghazālī zur Einführung der Logik in das islamische Recht (fiqh) und Rechtstheorie (usūl al-fiqh) geleistet? Der sunnitischen Rechtstheorie war es bis ins 5./11. Jahrhundert weithin gelungen, das Eindringen der aristotelischen Logik zu verhindern. In den Auseinandersetzungen um die Grundlegung und Ausrichtung des islamischen Rechts erschien die Logik als Werkzeug der Philosophie und stand daher unter dem Verdacht, ihre metaphysischen Voraussetzungen zu teilen. Die vorherrschende Tendenz in der sunnitischen Rechtstheorie widersetzte sich erfolgreich diesen Einflüssen eines philosophischen Rationalismus, der als den Grundlagen des Islam zuwiderlaufend erachtet wurde. Erst al-Ghazālī befreite die Logik von diesem Verdacht, indem er sie vermeintlich als neutrale Methode aus der aristotelischen Philosophie herauslöste und so von ihren als nicht-islamisch geltenden metaphysischen Voraussetzungen abspaltete. Dadurch räumte er den Weg frei für die Aufnahme der Logik in Rechtstheorie (usūl al-fiqh) und Recht (fiqh), die in den folgenden Jahrhunderten von seinen Nachfolgern mit kaum zu überschätzenden Auswirkungen bis in die Gegenwart aufgegriffen und fortgeführt wurde.
Der sechste Text mit dem Titel al-Ghazālī und aristotelische Logik geht der Frage nach al-Ghazālīs Verhältnis zur aristotelischen Logik in einem weiteren Rahmen nach. al-Ghazālī hat sich immer wieder recht unterschiedlich zur aristotelischen Logik geäußert. Diese Vielfalt scheinbar divergierender Meinungen mag verwirrend wirken. Verbergen sich dahinter dennoch ein einheitliches Ziel und klar definierte Absichten? al-Ghazālī hat sicherlich einen maßgeblichen Beitrag zur Einführung der aristotelischen Logik in kalām und Rechtswissenschaft geleistet. Aber war sein Eintreten für die aristotelische Logik auch konsequent? al-Ghazālī hat die Logik zwar mehrfach dargestellt. Aber hat er sie überhaupt selbst zur Anwendung gebracht? Welchen Stellenwert räumt er also der aristotelischen Logik in seinem Denken ein?
Der siebte Text trägt den Titel al-Ghazālī und Griffels philosophische Theologie und befasst sich anhand einiger ausgewählter Themen mit dem Versuch einer Reinterpretation von al-Ghazālīs Denken als philosophischer Theologie, die Frank Griffel in seinem Buch Al-Ghazālī’s philosophical theology
Der achte und letzte Text mit dem Titel Ein bedeutender Leser von al-Ghazālī: Ibn Taymiyya lässt Ibn Taymiyya als fleißigen Leser und Kommentator von al-Ghazālīs Schriften auftreten. Dieser Text stützt sich auf einen Artikel von Yahya Michot, in dem Textausschnitte aus dem Werk von Ibn Taymiyya vorgestellt werden, in denen es vorwiegend um die Einschätzung von al-Ghazālīs Denken und dessen Wirkungsgeschichte geht. Michot hat eine Auswahl von neun Textausschnitten unterschiedlicher Länge aus dem Arabischen ins Englische übersetzt und mit einem Kommentar versehen. In meiner Darstellung werde ich mich auf die inhaltlichen Aspekte insbesondere mit Blick auf das uns hier vor allem beschäftigende Thema der Regel der Interpretation (qānūn at-taʾwīl) sowie des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung konzentrieren. Ibn Taymiyya interessierte sich für al-Ghazālī als herausragenden Denker und Schlüsselfigur für die Entwicklung des islamischen Denkens, auf das al-Ghazālī einen kaum zu überschätzenden Einfluss ausübte. Ibn Taymiyya erweist sich dabei im Gegensatz zu verbreiteten Zerrbildern keineswegs als einseitiger Polemiker, sondern vielmehr als ausgewogener Kritiker, der Lob und Tadel miteinander zu verbinden versteht. So zeichnet er ein durchaus komplexes und vielschichtiges Bild, das einem Denker, über den es kaum einverständliche Meinungen gibt, jedenfalls viel eher entspricht als alle vorschnellen Vereinseitigungen, von denen es bis heute nur allzu viele gibt. Die Spannbreite der einseitigen Darstellungen deckt dabei alle Extreme ab: Vom rechtgeleiteten Muslim bis zum Verräter am Islam, vom aufgeklärten Philosophen bis zum finsteren Fundamentalisten ist alles dabei. Ibn Taymiyya hat sich diesem Sog erfolgreich widersetzt. Michot wird durch seine Untersuchung zu einem erstaunlichen Schluss geführt: Ibn Taymiyya verfügte über eine weit bessere Kenntnis und Auffassung von al-Ghazālīs Werk als seine Widersacher aus den Reihen der falāsifa wie Ibn Tufayl und Ibn Ruschd. Was also können wir von Ibn Taymiyya über al-Ghazālīs Denken lernen?
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Mein Dank gilt all denen, die mich durch ihre anregenden und bereichernden Beiträge in Diskussionen und anderweitig bei der Arbeit an diesem Projekt über viele Jahre unterstützt haben und die viel zu zahlreich sind, um namentlich aufgeführt werden zu können. Besonders bedanken möchte ich mich bei den Mitgliedern des VDM
März 2018 Yusuf Kuhn
1 Zu al-Ghazālīs Widerlegung der Philosophen: Tahāfut al-falāsifa
1 Zu al-Ghazālīs Widerlegung der Philosophen: Tahāfut al-falāsifa Yusuf KuhnVorbemerkung
Es gibt noch immer keine Übertragung von al-Ghazālīs Tahāfut al-falāsifa ins Deutsche, allerdings zwei ins Englische. Ich habe mich vor allem auf die Ausgabe von Marmura gestützt, die neben der englischen Übersetzung auch den arabischen Text bietet und deren Einleitung ich wertvolle Hinweise entnommen habe.
1.1 Einführung
1.1 Einführung Yusuf Kuhnal-Ghazālī entwickelt in seinem Werk Tahāfut al-falāsifa (Inkohärenz der Philosophen) eine Kritik der Philosophie, wie sie es im islamischen Denken bis dahin nicht gegeben hat. Der Tahāfut stellt daher einen Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte des islamischen Denkens dar.
al-Ghazālī setzt sich darin die Aufgabe, zwanzig philosophische Thesen zu widerlegen, indem er deren Inkohärenz (tahāfut) aufweist. Siebzehn der Thesen werden als unzulässige Neuerungen (bidʿa) und drei als nicht-islamisch (kufr) verurteilt.
Die kritisierten Philosophen (falāsifa) waren keineswegs Atheisten. Denn ihr philosophisches System beinhaltete die These, dass Gott existiert. Die Kritik richtete sich also in erster Linie gegen ihr spezifisches Verständnis des Gottesbegriffs. Ihr Gott war für al-Ghazālī der Gott der Philosophen, nicht der Offenbarung – zumindest hinsichtlich der von ihm kritisierten Thesen.
Während der Gott der Offenbarung alles Seiende in einem Willensakt als Schöpfung hervorbringt, steht der Gott der Philosophen in einem Kausalverhältnis, also von Ursache und Wirkung, zur Welt, das von Notwendigkeit bestimmt ist. Aus dem Wesen Gottes als erster Ursache geht so die Welt als dessen notwendige Wirkung hervor. Nach al-Ghazālī bedeutet dies, dass Gott die Welt in der gleichen Weise notwendig bewirkt, wie beispielsweise ein unbelebtes Objekt wie die Sonne aufgrund ihrer Natur Licht erzeugt. Dies bedeutete für ihn die Leugnung solcher Eigenschaften Gottes wie Leben, Wille, Macht und Wissen.
al-Ghazālī geht es darum, den Gottesbegriff der Philosophen zu untersuchen, auf seine Übereinstimmung mit der Offenbarung hin zu prüfen und wo nötig zu kritisieren. Dabei bediente er sich wiederum selbst philosophischer Mittel wie der aristotelischen Logik und Begriffen, die der griechischen Philosophie entstammten.
Die Wirkung von al-Ghazālīs Kritik der Philosophie erscheint daher in einem doppelten Licht. Einerseits drängte er die Philosophie zurück, indem er bestimmte ihrer Thesen als mit dem islamischen Denken unvereinbar kritisierte, andererseits propagierte er geradezu philosophisches Denken. Denn schon um diese Thesen gründlich und überzeugend zu widerlegen, war es erforderlich, sie ausführlich darzustellen, was al-Ghazālī meisterlich gelang. Allerdings führte seine Kritik auch dazu, dass diese Thesen in weiteren Kreisen bekannt wurden und rasch größere Verbreitung fanden. Noch wichtiger war jedoch, dass al-Ghazālī sich bei seiner Widerlegung selbst philosophischer Begriffe und Methoden bediente, die dadurch wie nie zuvor Eingang in das islamische Denken fanden. Der Kalam (kalām, »islamische Theologie«) sollte fortan sich nicht nur ausführlich mit philosophischen Ideen beschäftigen, sondern in noch stärkerem Maße als bisher schon vom philosophischen Denken geprägt werden.
Von al-Ghazālī heißt es im allgemeinen, dass er auf dem Gebiet des fiqh (Recht) ein Anhänger der schafiʿitischen Schule und auf dem Gebiet des Kalam ein Anhänger der aschʿaritischen Schule gewesen sei. Ob letzteres wirklich zutrifft, wird von manchen (z.B. von den Orientalisten Richard M. Frank und Frank Griffel) bestritten. Die Kritik, die al-Ghazālī selbst am Kalam, auch dem aschʿaritischen, übt, mag allemal Zweifel an einer allzu glatten Zuordnung zu einer Schule wecken. Doch davon unabhängig ist jedenfalls unübersehbar, dass aschʿaritisch geprägte Denkweisen den Hintergrund von al-Ghazālīs Kritik bilden, auch wenn der Tahāfut vor allem der Widerlegung dient und nicht der Darstellung einer bestimmten Lehre.
Der Aschʿarismus wurde im elften Jahrhundert zur vorherrschenden Schule des Kalam. Er beruhte auf verschiedenen metaphysischen Voraussetzungen. Seine Ontologie zeichnet sich dadurch aus, dass die Existenz von kleinsten unteilbaren Teilen, Atomen, und Akzidenzien angenommen wird, aus denen materielle Körper zusammengesetzt sind. Auch die Zeit wird als aus kleinsten Einheiten, Zeitatomen, bestehend begriffen. Die Teilchen sind insofern äußerst flüchtig, als sie immer nur für einen Moment, ein Zeitatom, im Dasein Bestand haben. Die Gesamtheit aller Teilchen und deren Akzidenzien wird von Gott geschaffen, und zwar in jedem Moment neu. Da sie von sich aus keinen Bestand haben, müssen sie in jedem Zeitatom insgesamt neu geschaffen werden. Nur dadurch werden sie in ihrem Dasein erhalten.
Alles in der Zeit Seiende ist somit eine direkte Schöpfung Gottes, von Seinem Willen bestimmt und Seiner Macht verwirklicht. Da die Zeit eine distinkte Abfolge von Momenten ist, die ausschließlich über den Willen Gottes miteinander verbunden sind, gibt es keine davon unabhängigen Beziehungen von Ursache und Wirkung. Was den Menschen für gewöhnlich als eine Kette von Ursachen und Wirkungen erscheint, ist in Wirklichkeit ein Auftreten von zeitlich benachbarten Ereignissen, deren Verbindung einzig durch Gott willkürlich hergestellt wird. Zwischen geschaffenen Dingen gibt es keine kausalen Verbindungen; und daher schon gar keine notwendigen.
Gott gilt im Aschʿarismus als die einzige »Ursache«. Alles ist Wirkung dieser einzigen Ursache, was zugleich als Schöpfungsvorgang begriffen wird. Es gibt in der Natur keine davon unabhängigen Gesetze oder Wesen, die von sich aus oder kraft einer inhärenten Notwendigkeit eine Gleichförmigkeit oder Regelmäßigkeit bestimmen. Diese beruhen lediglich auf dem Willen Gottes, wie er von Moment zu Moment die Welt neu erschafft, indem er dank Seiner Gnade zum Wohle der Menschen eine gewisse Regelmäßigkeit walten lässt. Wenn Gott diesen regelmäßigen Lauf zu gewissen Zeiten unterbricht und beispielsweise für einen Propheten ein Wunder schafft, kann kein Gegensatz zu irgendeiner der Natur selbst inhärenten Ordnung auftreten, da eine solche gar nicht existiert. Diese von Atomismus und Okkasionalismus geprägte Lehre des Aschʿarismus bildet den Hintergrund, dessen Kenntnis allemal für ein Verständnis von al-Ghazālīs Kritik der Philosophie und ihrer metaphysischen Voraussetzungen förderlich ist, unabhängig von der Frage, welche Position al-Ghazālī selbst bezogen haben mag.
al-Ghazālī schrieb den Tahāfut vermutlich in der Zeit zwischen 1091 bis 1095. Daneben verfasste er in diesem Zeitraum noch drei weitere Werke, die kurz vorgestellt seien.
al-Ghazālī begann nach einem gründlichen Studium der Philosophie mit einem Werk, das sich die Darstellung derselben zur Aufgabe machte, insbesondere in der seinerzeit vorherrschenden Gestalt, die vor allem von Ibn Sīnā geprägt war, der eine originelle Synthese auf der Grundlage der griechischen Philosophie und seiner arabischen Vorgänger wie al-Kindī und al- Fārābī hervorgebracht hatte. Dieses erste Werk trägt bezeichnenderweise den Titel Maqāsid al-falāsifa: Lehren der Philosophen. Darin schreibt al-Ghazālī, dass er diese Darstellung verfasst hat, um die Theorien der Philosophen zunächst als Vorbereitung zu erklären und sodann in einem weiteren Schritt zu widerlegen. Im Tahāfut findet sich allerdings kein Verweis auf Maqāsid.
Das zweite Werk ist eine Darstellung der Logik von Ibn Sīnā unter dem Titel Miʿyār al-ʿilm: Richtmaß des Wissens. al-Ghazālī erachtete diese Logik für philosophisch neutral und gebrauchte sie als bloßes Instrument zur Gewinnung von Wissen, ohne ihre metaphysischen Voraussetzungen zu untersuchen, womöglich sogar ohne sich auch nur ihrer bewusst zu sein. Nicht zufällig verfasste al-Ghazālī sie als Anhang zum Tahāfut, in dessen Einleitung er sich dazu bekennt, die Logik der Philosophen selbst zu verwenden, um diese zu widerlegen, was freilich noch nicht als Übernahme schlechthin verstanden werden darf.
Das dritte Werk plante al-Ghazālī als Fortsetzung des Tahāfut. Es ist eine Darstellung der aschʿaritischen Lehre und trägt den Titel al-Iqtisād fī al-iʿtiqād: Die Mäßigung im Glauben. Der Tahāfut diente der Kritik und Widerlegung, der Iqitisād der Entfaltung und Darlegung der Lehre.
Die Kritik im Tahāfut richtete sich in erster Linie gegen das Denken von al-Fārābī (gest. 950) und Ibn Sīnā (gest. 1037), die beide die griechische Philosophie in Gestalt von Platon und Aristoteles in Verbindung mit zahlreichen Elementen des Neoplatonismus aufgriffen und im Kontext der islamischen Kultur fortführten. Die Unterschiede zwischen ihnen sind für al-Ghazālīs Kritik nicht von erheblicher Bedeutung, da sich diese vorwiegend gegen Thesen richtet, die beiden gemeinsam sind, und wenn dies nicht der Fall sein sollte, so zielt die Kritik letztlich auf Ibn Sīnā, der seine arabischen Vorgänger in Größe und Wirkung deutlich überragte.
Die im Tahāfut behandelten zwanzig Thesen gliedern sich in zwei Teile. Der erste Teil umfasst sechzehn Erörterungen auf dem Gebiet metaphysischer Fragen. Darin wird zum Beispiel die These von der anfangslosen Ur-Ewigkeit der Welt diskutiert. Zum zweiten Teil gehören die restlichen vier Themen, die sich auf die Physik oder Naturphilosophie beziehen. Dieser Teil beginnt mit der berühmten Kritik an der Kausalität und widmet sich dann der Theorie von der Seele sowie der Frage der körperlichen Auferstehung. Die Einteilung in metaphysische und naturphilosophische Thesen stammt von al-Ghazālī selbst.
Die Abhandlung über die Theorie der Ur-Ewigkeit der Welt bildet das längste Kapitel das Tahāfut und lässt charakteristische Züge der Kritik der Philosophie von al-Ghazālī deutlich hervortreten. Im Zentrum der Debatte steht die Frage nach dem Wesen des göttlichen Wirkens. al-Ghazālī stellt die Behauptung der Philosophen dar, dass die Welt eine notwendige Wirkung einer ewigen Ursache sei und daher selbst ewig sein müsse. Es geht letztlich um die Frage, ob Gott kraft der Notwendigkeit Seines Wesens oder kraft Seines Willens wirkt bzw. handelt. al-Ghazālī geht davon aus, dass die Lehre von der Ewigkeit der Welt darauf hinausläuft, den Willen Gottes zu verneinen. Um diese Lehre zu begründen, müssten die Philosophen beweisen, dass es unmöglich ist, eine Welt durch einen Willen in der Zeit zu erschaffen. al-Ghazālī zeigt aber auf, dass ihnen dies nicht gelingt. Damit bleibt die Gegenthese von der Erschaffung der Welt in der Zeit als Möglichkeit bestehen und die These von der Ewigkeit der Welt zumindest unbewiesen. Und das ist, was al-Ghazālī zeigen wollte.
Was Ibn Sīnās Theorie über die Seele, welche die körperliche Auferstehung leugnet, betrifft, so zeigt al-Ghazālī auch hier wieder in einer gründlichen Argumentation auf, dass die zugrunde liegende Theorie von der Immaterialität der Seele nicht bewiesen ist. Es gibt also keinen Grund, die ausdrücklichen Aussagen des Koran über die körperliche Auferstehung zu bestreiten. Sie müssen daher in ihrer äußeren Bedeutung angenommen werden und bedürfen keiner weiteren Interpretation und Umdeutung.
Und hiermit kommen wir in unserem Zusammenhang ins Zentrum des Interesses. Denn darin ist bereits ein wesentlicher Bestandteil der Regel der Interpretation, des qānūn at-taʾwīl, zum Ausdruck gebracht, der sich nach al-Ghazālī grob, in einer ersten Annäherung etwa so verstehen lässt:
Den Ausgangspunkt des Verständnisses der Offenbarung bildet die äußere Bedeutung ihrer Aussagen. Gibt es keinen zwingenden Grund, ist eine darüber hinaus gehende Interpretation nicht erforderlich oder sogar abzulehnen. Eine Interpretation, die von der äußeren Bedeutung auf die allegorische, bildliche oder metaphorische Ebene übergeht, ist nur dann nötig, wenn bewiesen werden kann, dass der Inhalt von Aussagen, die in ihrer äußeren Bedeutung verstanden werden, unmöglich ist. Welche Formen des Beweises al-Ghazālī dabei für gültig erachtet, ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage, doch sicherlich gehört dazu auch der Beweis im strengen Sinne der aristotelischen Logik, der in der Auseinandersetzung mit den arabischen Philosophen, welche die griechische Tradition fortführen, allemal im Vordergrund steht. Dieses Kriterium des Beweises der Unmöglichkeit als Voraussetzung für den Übergang zur allegorischen Interpretation liegt der gesamten Argumentation des Tahāfut zugrunde.
al-Ghazālī legt seine Absicht, die er beim Schreiben des Tahāfut verfolgt, in der Vorrede zum Werk ausdrücklich dar. Er verurteilt darin scharf »eine Gruppe«, die sich »völlig von den Zügeln der Religion gelöst« und »einen anderen Weg als den der Religion des Islam eingeschlagen« hat. Ihre Ablehnung der islamischen Lehren und Gebote geht so weit, dass sie sich vom Islam abwenden. Den Grund dafür erkennt al-Ghazālī darin, dass sie so »hochtönende Namen wie Sokrates, Hippokrates, Platon, Aristoteles und dergleichen« sowie die übertriebenen Beschreibungen von ihren vermeintlich überragenden geistigen Fähigkeiten hörten und sich davon derart beeindrucken ließen, dass sie zu bloßen Nachahmern dieser Philosophen und deren Nachfolger wurden, ohne sich wirklich mit deren Denken zu befassen. al-Ghazālī kommentiert: »Welchen Rang in Gottes Welt gibt es, der niedriger ist als der Rang desjenigen, der sich selbst mit der Aufgabe der Wahrheit, die traditionell geglaubt wird, durch die eilfertige Annahme des Falschen als wahr schmückt, indem er es ohne (verlässliche) Überlieferung und Verifikation anerkennt?« (Tahāfut, S. 2; alle Verweise beziehen sich auf die oben genannte Ausgabe von Marmura.)
Angesichts dessen, so al-Ghazālī, hat er »sich zur Aufgabe gemacht, dieses Buch zu schreiben als Widerlegung der alten Philosophen, um die Inkohärenz ihrer Überzeugungen und den Widerspruch ihrer Worte in Fragen bezüglich der Metaphysik aufzuzeigen«. Und al-Ghazālī will »zugleich ihre Lehre so, wie sie tatsächlich ist, darstellen, um denjenigen, die den Irrglauben (ilhād) durch Nachahmung annehmen, klarzumachen, dass alle bedeutenden Denker in Gegenwart und Vergangenheit darin übereinstimmen, an Allah und den Letzten Tag zu glauben.« (S. 3)
In der darauf folgenden Einleitung verdeutlicht al-Ghazālī, dass seine Kritik nicht gegen die Mathematik, Astronomie und Logik der Philosophen gerichtet ist, die er für metaphysisch neutral hält, sondern nur gegen solche Lehren, die mit den Grundsätzen des Islam in Konflikt stehen. Seine Aufgabe sieht er hierbei nicht darin, selbst eine bestimmte Lehre zu vertreten. Sie beschränkt sich vielmehr darauf, lediglich die Philosophen zu widerlegen, indem er aufzeigt, dass diejenigen ihrer Thesen, die mit bestimmten Lehren des Islam nicht vereinbar sind, im Gegensatz zu den von ihnen erhobenen Ansprüchen nicht bewiesen sind. Als Kriterium für die Gültigkeit eines Beweises bedient al-Ghazālī sich hier der Bedingungen, welche die Philosophen selbst für die richtige Beweisführung vor allem in ihren Werken über die Logik aufgestellt haben. Es handelt sich also in erster Linie um eine immanente Kritik der Philosophie mit den ihr eigenen Instrumenten nach den von ihr selbst aufgestellten Kriterien.
al-Ghazālī erkannte aus muslimischer Perspektive die Gefahren, die von der griechischen Philosophie und der von ihr abgeleiteten vermeintlich islamischen Philosophie für die Glaubenslehre und Lebensweise (dīn) des Islam ausgingen, und bemühte sich daher um deren Schutz und Verteidigung. Dies war sicherlich einer seiner Beweggründe für die Widerlegung bestimmter Thesen der falāsifa. Darüber hinaus war es ihm als Denker, der nach sicherem Wissen strebte, auch daran gelegen, zu prüfen, ob solches Wissen in der Philosophie zu finden ist. Deshalb unternahm er über mehrere Jahre hinweg ausführliche und gründliche Studien, deren Ergebnisse er in seinem großen Werk über die Absichten, Anschauungen und Lehren der Philosophen (Maqāsid al-falāsifa) darstellte.
Seine Untersuchungen führten ihn zu der Erkenntnis, dass im philosophischen Denken die von ihm erstrebte Gewissheit nicht zu finden war. Er musste einsehen, dass es den Philosophen nicht gelang, ihre Thesen wirklich zu beweisen. Und ohne hinreichende Beweise reduzierten sich diese auf unbegründete, bloße Behauptungen. Darauf wollte al-Ghazālī nun mit der breit angelegten Kritik des Tahāfut aufmerksam machen.
Allerdings behielt er bei all seiner Kritik die Maßstäbe und Methoden der Philosophen selbst bei. In welchem Ausmaß und Sinn dies genau geschieht, ist nicht immer leicht zu erkennen. Aber in mancher Hinsicht kann es kaum Zweifel geben. So hält er ganz ausdrücklich an Mathematik, Logik und vielen Begriffen und Methoden der aristotelischen Wissenschaftstheorie fest und betont wiederholt deren Neutralität gegenüber der Lehre des Islam.
Wie konnte es dazu kommen? Warum hat er keinen Blick für die metaphysischen Voraussetzungen dieser Denkformen gehabt? Was hat ihn daran so fasziniert, dass er derart verblendet wurde? War es der Begriff der Vernunft und das damit verbundene Erkenntnisideal? War es das Streben nach absoluter Gewissheit, das nur durch diese Methoden zu befriedigen zu sein schien?
Können wir Aufschluss darüber in seiner autobiographischen Darlegung al-Munqidh min adh-dhalāl (Der Erretter aus dem Irrtum) finden, in dem er doch selbst eben dieses Erkenntnisideal zutiefst in Zweifel zieht?
Darauf können wir an dieser Stelle nicht näher eingehen. Wir wollen aber kurz al-Ghazālīs Position, wie sie sich in der Gedankenführung des Tahāfut niederschlägt, ganz allgemein skizzieren.
Er geht zunächst als Muslim von den Aussagen der Offenbarung aus. Sollten diesen Aussagen Behauptungen der Philosophen widersprechen, so gilt es, diese zu prüfen. Überstehen sie die Prüfung aufgrund ihrer mangelhaften Begründung, Inkohärenz oder inneren Widersprüchlichkeit nicht, so hat sich der vermeintliche Widerspruch erledigt. In diesem Fall ist die Aussage der Offenbarung am Maßstab der rationalen Beweisführung, also der sogenannten »Vernunft«, gemessen zumindest möglich, da ihre Unmöglichkeit durch einen Widerspruch mit ihr ja nicht erwiesen werden konnte. Es spricht somit nichts dagegen, die vom Zeugnis der Offenbarung bestätigte Aussage anzunehmen.
Sollte es sich jedoch herausstellen, dass eine These der Philosophen den strengen Kriterien der korrekten Beweisführung, die er großteils der aristotelischen Wissenschaftstheorie entnimmt, genügt, in diesem Sinne also sicheres Wissen darstellt, so muss die betreffende Aussage der Offenbarung einer Interpretation unterzogen werden, welche die Bedeutung dieser Stelle mit der bewiesenen These in Einklang bringt und dadurch den Widerspruch als bloß scheinbar erweist. Wenn also die Unmöglichkeit der Aussage der Offenbarung durch »rationale« Beweisführung, also die sogenannte »Vernunft« erwiesen ist, muss sie anders gedeutet werden, um dadurch den Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung aufzuheben. Diese Deutung verlangt einen Übergang von der äußeren Bedeutung der betreffenden Aussage, die zunächst den Ausgangspunkt für das Verstehen gebildet hatte, zu einer bildlichen, allegorischen oder metaphorischen Bedeutung. Diese Reinterpretation ist das, was al-Ghazālī unter taʾwīl versteht. Und das Verfahren insgesamt ist nichts anderes als die Anwendung der Regel der Interpretation, des qānūn at-taʾwīl.
al-Ghazālī verfolgt damit das Ziel, Vernunft und Offenbarung miteinander in Einklang zu bringen. Deren Verhältnis beschreibt er in al-Iqtisād fī al-iʿtiqād mit einer bemerkenswerten Metapher, die es verdient, angeführt zu werden. Das folgende Zitat ist dem Buch Al-Ghazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie von Muhammad ʿAbd Al-Hadi Abu Ridah entnommen. Die Anmerkungen in runden Klammern stammen von Abu Ridah. al-Ghazālī schreibt also in al-Iqtisād fī al-iʿtiqād über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung:
Wer die Offenbarung und die Vernunft nicht miteinander in Einklang bringt, geht ganz sicher fehl und verstrickt sich in die Schlingen des Irrtums, denn die Vernunft gleicht dem gesunden Auge und die Offenbarung (wörtlich: der Koran) der scheinenden Sonne. Der Sucher, welcher auf das eine verzichtet und sich mit dem anderen begnügt, ist sicherlich dumm. Wer nämlich auf die Vernunft verzichtet und sich mit dem Licht der Offenbarung begnügt, gleicht einem, der sich nach der scheinenden Sonne richtet, aber die Augen schliesst; es gibt keinen Unterschied zwischen ihm und einem Blinden (und wer sich von der Offenbarung abwendet und sich mit der Vernunft begnügt, ist wie einer, der gesunden Auges ist, sich aber in Dunkelheit befindet; er ist auch als ein Blinder anzusehen. [Fußnote: Dies ist der andere Teil des Vergleiches, den Ghazālī nicht ausdrücklich erwähnt.]) Wenn die Vernunft mit der Offenbarung vereint wird, ist sie wie ein Licht, das ein anderes Licht noch heller macht; und derjenige, der sich nur mit einem von beiden begnügt, ist das Opfer einer gefährlichen Täuschung.
Zitiert nach: Muhammad ʿAbd Al-Hadi Abu Ridah, Al-Ghazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie, Madrid, 1952, S. 86-87.
1.2 Vorgeschichte des Tahāfut
1.2 Vorgeschichte des Tahāfut Yusuf Kuhnal-Ghazālī beschreibt in seiner Schrift al-Munqidh min adh-dhalāl (Der Erretter aus dem Irrtum), in der er seinen Denkweg rückblickend darstellt, dass er nach dem Studium des Kalam dazu übergegangen ist, sich mit der Philosophie zu beschäftigen. Er ist davon überzeugt, dass erst eine vertiefte Untersuchung einer Wissenschaft zu einer gründlichen und tragfähigen Kritik derselben befähigt:
Nachdem ich das Studium der islamischen Scholastik [kalām] beendet hatte, begann ich, mich mit der Philosophie zu beschäftigen. Ich erfuhr mit Gewißheit, daß man die Fäulnis einer Wissenschaft nicht erkennen kann, solange man nicht in die Tiefe ihrer Grundlagen eingedrungen ist, bis man dabei dem besten ihrer Gelehrten gleichkommt und ihn übertrifft. In dieser Lage wird man erkennen, was jener Gelehrte selbst von dieser Wissenschaft an Tiefe und Gefahr nicht entdeckt hat. Erst dann könnte die Behauptung von der Fäulnis jener Wissenschaft sich als richtig erweisen.
al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, al-Munqidh min adh-dhalāl. Aus dem Arabischen übersetzt von Elschazli, Hamburg, 1988, S. 15.
In diesem Bestreben scheint er eine Ausnahme gewesen zu sein, denn er sagt über den Zustand der Erforschung der Philosophie unter den Gelehrten des Kalam:
Ich habe keinen einzigen Gelehrten des Islam gefunden, der sich mit dieser Aufmerksamkeit und diesem Eifer dem Studium der Philosophie widmete. Vielmehr gab es in den Büchern der islamischen Scholastiker [mutakallimūn] dort, wo sie sich mit den Antworten auf die Philosophen beschäftigen, nichts außer unzusammenhängenden und komplizierten Worten, deren Widersprüchlichkeit und Falschheit eindeutig ist.
Ebenda, S. 15.
Aus dieser Lage zog al-Ghazālī den Schluss, sich auf eine Kritik der Philosophie intensiv vorbereiten zu müssen. Er widmete sich daher mit großem Eifer dem autodidaktischen Studium ihrer Lehren:
Daraufhin erkannte ich, daß die Zurückweisung einer Lehrmeinung, bevor man sie verstanden und ergründet hat, ein Herumtappen im Dunkeln ist. Deshalb strengte ich mich an, mir diese Wissenschaft aus ihren Quellen durch die bloße selbständige Lektüre, ohne Hilfe eines Lehrers anzueignen. Diesem widmete ich mich in der Zeit, in der ich mich von meiner üblichen Autorentätigkeit, der Lehre in den religiösen Wissenschaften und der Verpflichtung frei war, dreihundert Studenten in Bagdad zu unterrichten.
Ebenda, S. 15-16.
Diese Beschäftigung mit der Philosophie dauerte insgesamt etwa drei Jahre lang (1093-1095), bis al-Ghazālī schließlich den Eindruck gewonnen hat, sich die für eine Kritik nötigen Kenntnisse angeeignet zu haben:
Der erhabene Gott ließ mich allein durch die Lektüre während dieser mir abgestohlenen Zeit den höchsten Grad ihrer (philosophischen) Wissenschaft in weniger als zwei Jahren erkennen. Nachdem ich all diese verstanden hatte, hörte ich nicht auf, darüber noch ungefähr ein Jahr lang nachzudenken; ich bewegte es in meinen Gedanken hin und her und überprüfte noch einmal seine Tiefen und Gefahrstellen, bis ich ein unbezweifelbares Wissen darüber erlangte, worin die Täuschung und die Verfälschung besteht, was davon wahr ist und was bloße Einbildung darstellt.
Ebenda, S. 16.
Aus diesen Worten geht nicht nur deutlich hervor, wie ernst al-Ghazālī seine Aufgabe nahm und mit welcher Gründlichkeit er sich darauf vorbereitete, sondern auch, dass es ihm dabei um eine ernsthafte Prüfung einzelner Thesen auf ihren Wahrheitsgehalt hin und keineswegs um eine pauschale Verurteilung oder gar blindwütige Zerstörung der Philosophie insgesamt ging, was vor nicht allzu langer Zeit noch von den meisten Orientalisten unterstellt wurde. al-Ghazālī war vielmehr an einer realistischen und eingehenden Prüfung, Einschätzung und Beurteilung auf der Grundlage genauer Kenntnisse gelegen, was die Übernahme des für richtig Befundenen nicht nur nicht ausschloss, sondern geradezu beförderte, wobei dies allerdings keineswegs ins andere Extrem einer unkritischen Übernahme und blinden Nachahmung der Philosophie umschlagen muss, wie es in jüngerer Zeit von einer ganzen Reihe von Orientalisten zwar im Widerspruch zu ihrer eigenen Tradition, aber unter Beibehaltung des dichotomischen Bewertungsschemas auf der Grundlage eines unkritisch vorausgesetzten Vernunftbegriffs der philosophischen Tradition unterstellt wird.
Daher sollte die erste Frucht dieser Bemühungen al-Ghazālīs auch nicht eine Widerlegung, sondern eine genaue Darstellung der Lehren der Philosophen sein, die wohl im Jahr 1094 unter dem Titel Maqāsid al-falāsifa erschienen ist. al-Ghazālī verfolgte damit die Absicht, eine getreue Darstellung der Philosophie, insbesondere des Ibn Sīnā, zu verfassen, die zugleich als Vorstudie zu einer künftigen Widerlegung dienen konnte. Dass er die Anschauungen der falāsifa selbst nicht teilte, brachte er in der Einleitung des Maqāsid zum Ausdruck.
In der ersten lateinischen Übersetzung, die schon im 12. Jahrhundert in Toledo auf der spanischen Halbinsel erstellt wurde, ließ man jedoch diese Einleitung weg, so dass al-Ghazālī im lateinischen Westen, der erst durch dieses Werk mit der Philosophie des Ibn Sīnā, den die Lateiner Avicenna nannten, vertraut gemacht wurde, lange Zeit als herausragender Vertreter eben der Philosophie galt, die er doch in Wirklichkeit zu widerlegen trachtete. In der langen Geschichte des Orientalismus ist das Pendel also schon öfter umgeschlagen, so dass sich die Frage aufdrängt, ob die heutigen Orientalisten wieder da angelangt sind, wovon ihre Altvorderen in der Bewertung al-Ghazālīs einst ausgegangen sind.
Als zweite Frucht dieser gedanklichen Arbeit al-Ghazālīs von drei Jahren wurde endlich im Jahr 1095 die Widerlegung der Philosophen unter dem Titel Tahāfut al-falāsifa veröffentlicht.
1.3 Was bedeutet »tahāfut al-falāsifa«?
1.3 Was bedeutet »tahāfut al-falāsifa«? Yusuf Kuhnal-falāsifa ist eine arabische Lehnübersetzung aus dem Griechischen und bedeutet »die Philosophen«. Der Singular lautet faylasūf (Philosoph). Und griechisch philosophia wurde mit falsafa übertragen.
Im geschichtlichen Kontext von al-Ghazālī sind mit falāsifa aber nicht schlechthin alle Philosophen gemeint, sondern vor allem einerseits die alten griechischen Philosophen (mutaqaddimūn) wie Sokrates, Platon und Aristoteles sowie andererseits die späteren arabischen Philosophen (mutaʾakhkhirūn) wie al-Kindī, al-Fārābī und Ibn Sīnā.
Durch die besondere Weise, in der die Werke der griechischen Philosophie ins Arabische übersetzt worden sind, wurde dieser eine bestimmte Gestalt verliehen. Was als griechische falsafa galt, war aristotelische Philosophie mit einer gewissen neoplatonischen Färbung. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass ein Werk des Neoplatonikers Plotin, nämlich ein Teil seiner Enneaden, fälschlich dem Aristoteles zugeschrieben wurde und als »Theologie des Aristoteles« in Umlauf war.
Diese Mischung aus aristotelischem und neoplatonischem Denken wurde sodann von den arabischen falāsifa weiter entwickelt. al-Fārābī und Ibn Sīnā stimmen auf dieser Grundlage daher in vielem überein, auch wenn es einige Unterschiede gibt. Diese sind aber für die Kritik von al-Ghazālī nicht von großer Bedeutung, da er sich vor allem auf die reifste Gestalt dieses Denkens bezieht, nämlich auf Ibn Sīnā.
tahāfut hat verschiedene Bedeutungen und wurde daher auch unterschiedlich übersetzt. Die lateinische Übersetzung wählte beispielsweise destructio (Zerstörung). Die heute wohl verbreitetste Übertragung dürfte »Inkohärenz« sein.
Die lexikalische Bedeutung der Wurzel hafata, von der tahāfut abgeleitet ist, ist: stürzen, zusammenstürzen, fallen, leichtfertig sprechen, Unsinn reden, Zusammenbruch erleiden, sich selbst widerlegen.
Ein Aspekt dieser Bedeutungen verdient besondere Erwähnung:
Der lexikalische Sinn des Wortes »Tahāfut« ist [...] bezüglich der Schmetterlinge, dass sie sich ins Feuer stürzen […] In einem bekannten Ausspruch des Propheten heisst es, dass die Menschen sich in die Hölle stürzen (jatahāfatūn) wie Schmetterlinge ins Feuer.
Abu Ridah, op. cit., S. 69.
Abu Ridah gibt in seiner Untersuchung des Tahāfut auf der Grundlage der lexikalischen Bedeutung des Wortes tahāfut eine kleine Auflistung der möglichen Bedeutungen des Titels Tahāfut al-falāsifa:
1) »Schwäche der Philosophen«, weil sie nicht imstande sind, ihre Lehren zu beweisen.
2) »Widerspruch der Philosophen oder der (Systeme) der Philosophen«, weil ihre Lehren nicht in Harmonie miteinander stehen.
3) »Leeres Geschwätz der Philosophen«, weil ihre Lehren unbewiesene Behauptungen darstellen.
4) »Unüberlegtheit der Philosophen«, weil sie unbewiesenen gefährlichen Lehren folgen.
5) »Sturz der Philosophen oder ihrer Systeme«, weil ihre Lehren unbegründet und widerspruchsvoll sind.Alle diese Bedeutungen lassen sich durch die Äußerungen Ghazālīs oder durch den allgemeinen Charakter seines Buches gegen die Philosophen begründen.Abu Ridah, op. cit., S. 69-70.
1.4 Aufbau des Tahāfut
1.4 Aufbau des Tahāfut Yusuf KuhnEs sei in Erinnerung gerufen, dass ich mich bei den Angaben zum Tahāfut auf die englische Übersetzung von Michael E. Marmura beziehe, die unter dem Titel The Incoherence of the Philosophers erschienen ist und dankenswerterweise auch das gesamte arabische Original reproduziert. Denn eine deutsche Übersetzung gibt es bis heute nicht.
al-Ghazālī hat den Tahāfut al-falāsifa in drei klar voneinander getrennte Teile gegliedert.
Der erste Teil besteht aus fünf kurzen Einleitungen von jeweils wenigen Seiten (S. 1-11). Die erste trägt keinen Titel, wohingegen die folgenden vier jeweils mit muqaddima (Einleitung) überschrieben sind. Am Ende der letzten muqaddima bringt al-Ghazālī ein Inhaltsverzeichnis, in dem alle behandelten Themen aufgelistet sind.
Der zweite Teil setzt sich aus zwanzig Kapiteln zusammen. Jedes Kapitel ist mit masʾala (Frage, Streitfrage, Problem) und der Anführung des darin behandelten Themas überschrieben. Das erste Thema lautet zum Beispiel: »Über die Widerlegung ihrer Lehre von der Ur-Ewigkeit der Welt«. Die Länge der Kapitel ist sehr unterschiedlich. Das erste und längste hat 35 Seiten, die kürzesten haben nur 3-4 Seiten.
Die Fragen 17-20 hat al-Ghazālī durch eine kleine Einleitung gesondert abgesetzt, in der er sie den tabīʿiyyāt (Physik oder Naturphilosophie im aristotelischen Sinne) zuordnet. Dadurch trennt er sie von den vorausgehenden Kapiteln, in denen Fragen der ilāhiyyāt (Metaphysik) erörtert werden.
Den dritten und letzten Teil bildet die khātima al-kitāb, das Schlusswort des Buches, das nur eine Seite lang ist. So kurz dieser Abschnitt ist, so berühmt ist er geworden, wodurch die Wirkungsgeschichte des Tahāfut weithin überschattet wurde.
In ihm antwortet al-Ghazālī auf die Frage, die er eine nicht näher bezeichnete Person stellen lässt (»wenn jemand sagt«), ob es sich bei den dargestellten Lehren der falāsifa um kufr (Nicht-Islam) handelt, also ob diese im Widerspruch zum Islam stehen. al-Ghazālī erwidert darauf, dass er in der Tat drei der Thesen als kufr beurteilt, während die übrigen siebzehn lediglich als bidʿa (problematische Neuerung) einzuschätzen sind. Letztere bewegen sich mithin im Rahmen dessen, was auch von anderen islamischen Gruppen wie der muʿtazila, die ausdrücklich genannt wird, vertreten wurde.
Die drei als kufr bewerteten Lehren sind: die Ur-Ewigkeit der Welt; Gottes Nicht-Wissen der »geschehenden Einzelheiten von den Individuen (Einzeldingen)«; die Leugnung der leiblichen Auferstehung.
1.5 Themen des Tahāfut
1.5 Themen des Tahāfut Yusuf Kuhnal-Ghazālī behandelt im Tahāfut in den zwanzig Kapiteln des Hauptteils jeweils ein Thema, das er als masʾala (Frage) bezeichnet und zu Anfang jedes Kapitels als knappe These einführt. Um einen Überblick über diese Streitfragen zu ermöglichen, gebe ich sie allesamt in einer Liste wieder, die ich von Elschazli übernehme, der sie im Anmerkungsapparat zu seiner Übersetzung des Munqidh anführt. Auch wenn es dafür Anlass gäbe, verzichte ich der Einfachheit halber darauf, Änderungen vorzunehmen, was ein Eindringen in den Inhalt selbst fast unvermeidlich machen würde. Denn dafür ist an dieser Stelle vorerst kein Raum. Jedenfalls ist die folgende Liste auch so gut geeignet, einen ersten Eindruck von Art und Vielfalt der Fragen zu bieten, die al-Ghazālī im Tahāfut verhandelt.
Die zwanzig Thesen (masʾala), die al-Ghazālī in seiner Widerlegung der falāsifa erörtert, sind also nach Elschazli folgende:
1. Widerlegung von der Lehre der Anfangslosigkeit der Welt;
2. Widerlegung ihrer Lehre von der Ewigkeit der Welt, der Zeit und der Bewegung;
3. Erörterung ihrer vorgetäuschten Aussage, Gott sei Schöpfer der Welt und die Welt sei von ihm gemacht; daß dies bei ihnen eine bloße Metapher ohne Wahrheitsgehalt sei;
4. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis für die Existenz des Schöpfers der Welt zu erbringen;
5. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis darüber zu führen, daß nur ein Gott sei und daß es nicht zwei Wesen geben könne, deren Existenz notwendig und ohne Ursache sei;
6. Widerlegung ihrer Lehre, Gott habe keine Eigenschaften, wie etwa Allwissen und Allmacht;
7. Widerlegung ihrer Aussage, daß es nicht möglich sei, daß der Erste mit einem Anderen an einem Genus teilhabe, und er sich von ihm im Hinblick auf die Spezies unterscheidet;
8. Widerlegung ihrer Aussage, daß der Erste einfach (ohne Eigenschaften) existiere, d.h. daß er reine Existenz sei;
9. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis zu erbringen, daß der Erste unkörperlich sei;
10. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis zu führen, daß die Welt einen Schöpfer und eine Ursache habe;
11. Darlegung der Unfähigkeit derjenigen unter ihnen (der Philosophen), die der Ansicht sind, der Erste kenne zwar anderes außer sich selbst, aber nur Gattungen und Arten im universellen Sinne;
12. Über ihre Unfähigkeit, den Beweis zu führen, daß Er auch sich selbst kenne;
13. Widerlegung ihrer Aussage, daß Gott – erhaben sei Er – keine singularia kenne;
14. Über ihre Unfähigkeit, den Beweis zu erbringen, daß der Himmel ein Lebewesen sei, das Gott in freiwilliger Bewegung gehorche;
15. Widerlegung ihrer Aussage, daß es für die Himmelsbewegung einen Zweck gebe;
16. Widerlegung ihrer Aussage, daß die Seelen der Himmel um alle in dieser Welt geschehenden singularia wüßten;
17. Die Verknüpfung zwischen dem, was man gewöhnlicherweise als Ursache bezeichnet, und dem, was man für die Wirkung hält, ist für uns nicht notwendig;
18. Die Untauglichkeit rationaler Beweisführung darüber, daß die menschliche Seele als geistige Substanz in sich selbst existiere, keinen Sitz im Körper habe und weder selbst Körper noch einem Körper eingeprägt sei und weder mit einem Körper in Verbindung stehe noch von ihm getrennt sei;
19. Widerlegung ihrer Aussage, daß die menschlichen Seelen nicht vergehen könnten, nachdem sie einmal existierten, und daß sie ewig seien und ihre Vergänglichkeit unvorstellbar sei;
20. Beweisführung, daß sie (die Philosophen) zu Unrecht die Auferstehung der menschlichen Körper, die Rückkehr der Seelen in die Körper, die materielle Existenz der Hölle, des Paradieses, der Paradiesjungfrauen und alles anderen leugneten, was den Menschen im Jenseits versprochen ist.Siehe al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, al-Munqidh min adh-dhalāl. Aus dem Arabischen übersetzt von Elschazli, Hamburg, 1988, S. 113-115.
1.6 Zu den Einleitungen des Tahāfut
1.6 Zu den Einleitungen des Tahāfut Yusuf Kuhnal-Ghazālī eröffnet den Tahāfut mit einführenden Worten, die er nicht mit einer Überschrift versieht, im Gegensatz zu den folgenden vier Einleitungen, die er als muqaddima betitelt. Wir wollen zunächst diese Einführung näher betrachten.
1.6.1 Zur Einführung
1.6.1 Zur Einführung Yusuf Kuhnal-Ghazālī beginnt die inhaltliche Erörterung mit einer Darstellung seiner Beweggründe, den Tahāfut zu verfassen. Den Ausgangspunkt bildet die Beschreibung einer »Gruppe«, die sich von den Lehren und Geboten des Islam gelöst hat:
Ich habe eine Gruppe (tāʾifa) gesehen, die an ihre Überlegenheit gegenüber Gefährten und Kameraden kraft ihres größeren Begriffsvermögens und Intellektes glaubten, die islamischen Pflichten bezüglich der gottesdienstlichen Handlungen verwarfen, die Riten der Religion (dīn) hinsichtlich der Verrichtung der Gebete und der Vermeidung der verbotenen Dinge verachteten, die gottesdienstlichen Handlungen des Religionsgesetzes (scharʿ) und seiner Grenzen (hudūd) herabsetzten und angesichts seiner Gebote und Beschränkungen nicht haltmachten. Im Gegenteil, sie haben die Zügel der Religion durch verschiedenerlei Spekulationen abgeworfen, wobei sie einer Schar folgten, »die andere vom Pfad Gottes abwenden und versuchen, ihn krumm erscheinen zu lassen – da sie es sind, sie, die sich weigern, die Wahrheit des kommenden Lebens anzuerkennen!« [Koran 11:19] (Tahāfut, S. 1-2)
al-Ghazālī hat demnach eine »Gruppe« gesehen, die er nicht näher benennt, aber eindringlich beschreibt. Dass damit die falāsifa gemeint sind, dürfte außer Zweifel stehen, auch wenn hier noch nicht eindeutig zu erkennen sein sollte, wer genau damit gemeint ist.
Die erste Eigenschaft, die al-Ghazālī dieser »Gruppe« zuschreibt, ist ihre vermeintliche »Überlegenheit«. Denn sie waren davon überzeugt, dass sie ihren Mitmenschen überlegen waren, da sie über einen größeren Intellekt verfügten.
Sodann beschreibt al-Ghazālī weitere Eigenschaften dieser Leute, die sich darin zusammenfassen lassen, dass sie die islamischen Regeln, Gesetze und Gebote missachteten und herabsetzten, also kurzum »die Zügel der Religion (dīn)« abwarfen. Sie waren also offenbar der Auffassung, dass diese Gebote für sie nicht gültig und bindend waren. Wie sind sie dazu gekommen? »Durch verschiedenerlei Spekulationen«, so heißt es bei al-Ghazālī.
Ein bestimmtes Denken hat sie mithin zu dem zuvor beschriebenen Handeln, der Verwerfung der islamischen Praxis, geführt. Welches Denken? al-Ghazālī nennt es hier »Spekulationen« (dhunūn). In der Übersetzung von dhunūn mit »Spekulationen« folge ich der ersten englischen Übertragung des Tahāfut von Kamali, da damit der von al-Ghazālī gemeinte Bedeutungskranz wohl am besten getroffen wird. dhann (Pl. dhunūn) trägt etwa folgende Bedeutungen: Meinung, Annahme, Ansicht, Vermutung, Mutmaßung. Einerseits kann es sich nicht um völlig unbestimmte und vage Vermutungen handeln, da die dhunūn ja im Kontext des »größeren Begriffsvermögens« der falāsifa zu verstehen sind; andererseits soll gleichzeitig ihr subjektiver und zweifelhafter Charakter betont werden. Und da es um falsafa geht, drängt sich der philosophische Begriff der Spekulation geradezu auf, der in seinem metaphysischen Gebrauch die höchste Erkenntnisform bezeichnet und doch zugleich in seinem alltäglichen Gebrauch die Assoziation der auf bloßer Mutmaßung basierenden Behauptung weckt. Genau das scheint mir zu sein, was al-Ghazālī an dieser Stelle damit zum Ausdruck bringen wollte: Die falāsifa sind durch ihre philosophischen Spekulationen dazu verführt worden, die »Zügel der Religion« fallenzulassen und einem Pfad zu folgen, der nicht der Pfad Gottes ist.
Denn sie folgten dabei einer Schar – sagt al-Ghazālī, indem er einen Teil eines Koranverses zitiert -, von der sie vom Pfad Gottes abgewendet wurden. Und das tat diese Schar, indem sie den Pfad Gottes als krumm erscheinen ließ. Das muss wohl so verstanden werden, dass die falāsifa ihre Spekulationen von dieser Schar übernahmen, die vorgaben, in ihrem Denken über einen eigenen Pfad, jedenfalls über einen anderen Pfad als den Pfad Gottes, zu verfügen, der sich im Lichte ihres »größeren Intellektes« als überlegen erweist, eben den Pfad der falsafa.
Und dieser philosophische Pfad des überlegenen Intellekts ist den intellektuell minderbemittelten Mitmenschen nicht zugänglich, für die – das sagt al-Ghazālī hier noch nicht, lässt sich aber erschließen – die Religion (dīn) bestimmt ist. Die philosophische Religion (falsafa) steht also in einem gewissen, mehr oder weniger gegensätzlichen Verhältnis zur Religion (dīn) des Islam, das hier noch nicht näher erläutert wird.
Und was liegt dem Denken der falāsifa zugrunde? Ihre Weigerung, die Wahrheit des kommenden Lebens anzuerkennen! Die philosophische Religion hat also offensichtlich eine ganz andere Konzeption dessen, was das gemeine Leben übersteigt. Darauf wird noch zurückzukommen sein, insbesondere auch was das Schlusswort betrifft.
al-Ghazālī setzt nun seinen Gedankengang fort, indem er sich näher mit den Grundlagen dieser philosophischen Religion befasst:
Es gibt keine Grundlage für ihren kufr (Nicht-Islam, Ablehnung des Islam) außer der Nachahmung (taqlīd) dessen, was sie hören und womit sie vertraut sind, wie die Nachahmung der Juden und Christen, da ihre Erziehung und die ihrer Kinder einem anderen Weg gefolgt ist als dem der Religion des Islam (ghayr dīn al-islām). (S. 2)
Zuerst bestimmt al-Ghazālī die Beschreibung des Denkens der genannten »Gruppe« genauer, indem er es als kufr bezeichnet. kufr wird oftmals mit Unglauben übersetzt, so hier auch von Marmura, was jedoch meist nicht nur ungenau, sondern falsch ist. Denn kufr kann sehr wohl für einen Glauben stehen, der aber eben nicht der islamische ist. Daher wäre es angebracht, unter kufr den Gegensatz zum Islam oder islamischen Glauben (īmān), also den Nicht-Islam oder den nicht-islamischen Glauben zu verstehen, auch wenn dies sprachlich unschön ist.
al-Ghazālī bezeichnet daher hier gerade den Glauben der falāsifa, also ihre philosophische Religion, als kufr. Denn sie sind damit einem »anderen Weg gefolgt […] als dem der Religion des Islam«. Die Religion der falāsifa ist außerhalb der Religion des Islam (ghayr dīn al-islām), doch gleichwohl eine Religion – in Gestalt der Philosophie (falsafa).
Und worin sieht al-Ghazālī nun die Grundlage des kufr der falāsifa? In der »Nachahmung (taqlīd) dessen, was sie hören und womit sie vertraut sind«. Und durch ihre Erziehung bedingt ahmten sie eine andere Religion nach als die des Islam.
Daher trifft auch der Vergleich mit den Juden und Christen, deren Religionen zwar auf Offenbarungen zurückgehen, die jedoch auch nach der letzten Offenbarung durch den Gesandten Allāhs Muhammad (sas) entgegen der Botschaft ihrer eigenen Offenbarung und ihrer anerschaffenen, allgemein menschlichen Veranlagung (fitra) an ihren nunmehr überholten Religionen festhalten. Der Grund dafür ist das unreflektierte Verharren in ihrer Tradition, das – nach einem berühmten Hadith – durch die Erziehung vermittelt wird. Würden sie hingegen der im Koran wiederholt vorgebrachten Aufforderung nachkommen, ihre Traditionen und hergebrachten Glaubensüberzeugungen kritisch zu hinterfragen und aufzuklären, stünde ihnen der Weg zur vernünftigen Einsicht in die Wahrheit des Islam offen. So jedenfalls dürfte der eingeschobene Vergleich der falāsifa mit Juden und Christen zu verstehen sein.
al-Ghazālī sieht also die Grundlage des kufr der falāsifa in ihrer blinden Nachahmung. Auf den ersten Blick ist dies erstaunlich, da doch gerade die Philosophen für sich in Anspruch nehmen, eben nicht der Nachahmung zu folgen, sondern der selbständigen Leitung ihres Verstandes. Doch darin scheinen sie einer Täuschung zu erliegen.
Nachahmung an sich muss nicht zum Falschen führen. Sie ist für al-Ghazālī also nicht das eigentliche Problem. Nachahmung des Wahren führt zum Wahren, obschon solcherart gewonnene Erkenntnis der vollständigen Einsicht ermangeln und nicht ohne Risiken sein mag. Dem Falschen ist sie allemal vorzuziehen. Nachahmung gepaart mit Täuschung und Hochmut setzt allererst das ganze Potential an Gefahren frei.
Wenn wir noch einmal auf den ersten Absatz zurückblicken, können wir feststellen, dass al-Ghazālī dort als Grund für die Abwendung der falāsifa vom Islam das Bewusstsein ihrer Überlegenheit anführt. Und hier bringt er nun als zweiten Grund ihre Nachahmung einer nicht-islamischen Religion. Aber das eine bedingt das andere, ihr Hochmut, d.h. ihr Glaube an die Überlegenheit der philosophischen Religion die Nachahmung, und umgekehrt die unbewusste, da auf Täuschung basierende Nachahmung den Hochmut.
Das wahre Problem ist also die Nachahmung des Falschen. Aber was ist das Falsche, dem die falāsifa im Glauben, der bloßen Leitung der Vernunft zu folgen, doch in Wahrheit blind gehorchen? al-Ghazālī gibt folgende Antwort:
Der Ursprung ihres kufr ist, dass sie so hochtönende Namen gehört haben wie Sokrates, Hippokrates, Platon, Aristoteles und ihresgleichen und die Übertreibung und Fehlgeleitetheit von Gruppen von ihren Anhängern, wenn sie ihre Vernunft (ʿaql), die Vortrefflichkeit ihrer Prinzipien und die Genauigkeit ihrer Wissenschaften der Geometrie, der Logik, der Physik (Naturphilosophie) und der Metaphysik beschreiben und als einzige aufgrund ihres übermäßigen Intellekts und Begriffsvermögens (als fähig) zur Entdeckung dieser verborgenen Dinge (beschreiben); (und auch gehört haben) was sie sagen (über ihre Meister, nämlich) dass mit der Nüchternheit ihrer Vernunft und der Fülle ihres Verdienstes einhergeht ihre Verwerfung der offenbarten Gesetze und Glaubensrichtungen und ihre Ablehnung der Einzelheiten der Religionen und Bekenntnisse, da sie diese für menschengemachte Gesetze und beschönigte Tricksereien hielten. (S. 2)
Den Ursprung des kufr der falāsifa erkennt al-Ghazālī demnach darin, was diese von »Gruppen von ihren Anhängern« hören, d.h. von Anhängern der zuvor genannten großen griechischen Philosophen, deren bloße Namen für sie schon so hoch tönen, dass sie ihnen eine gewisse Autorität einflößen.
Und was bekommen sie da zu hören? Die Anhänger der falsafa beschreiben die Vernunft (ʿaql) der griechischen Philosophie, die ausgehend von ihren vollkommenen Prinzipien überragend genaue Wissenschaften aufbaut. Genannt werden ausdrücklich Geometrie, Logik, Physik (Naturphilosophie) und Metaphysik. »Genauigkeit« soll hier wohl darauf anspielen, dass die genannten Wissenschaften dem Anspruch der aristotelischen Wissenschaftstheorie auf ein nach den Regeln der syllogistischen Logik axiomatisch aufgebautes System genügen müssen, eben dem, was nach Aristoteles einzig Wissenschaft im wahren Sinne genannt zu werden verdient. Als klassischer Musterfall für eine solche Theorie gilt gemeinhin die euklidische Geometrie.
Zu diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist jedoch nicht jeder befähigt, sondern nur die Philosophen, die »aufgrund ihres übermäßigen Intellekts und Begriffsvermögens zur Entdeckung dieser verborgenen Dinge« fähig sind. Verborgen sind diese Dinge für den gemeinen Menschenverstand der großen Masse. Zu ihrer Entdeckung bedarf es der besonderen Vermögen, über die lediglich die ebenso kleine wie herausragende Elite der Philosophen verfügt.
Und des weiteren bekommen sie über ihre vielbewunderten Meister zu hören, dass diese im gleichen Maße, wie sie nüchtern der Vernunft folgten, was sie zu ihren überragenden wissenschaftlichen Leistungen befähigte, die Religionen und deren Gesetze verwarfen. Denn diese Gesetze waren in ihren Augen in Wirklichkeit doch nur von Menschen gemacht. Und die Religion erschien ihnen als bloße List, um die unverständigen Menschen mit schönem Schein in ihren Bann zu locken. Wer sich indes zu dieser Erkenntnis aufschwingen konnte, für den musste jede Religion als bloßer Trug erscheinen, mit Ausnahme seiner eigenen freilich – der philosophischen Religion der falāsifa.
Wer nun meint, dieser so besonderen Einsichten teilhaftig geworden zu sein und somit dieser Elite anzugehören, wird zu einem gewissen Hochmut neigen. al-Ghazālī fährt daher mit ihrer Beschreibung fort:
Und wenn sie dies hören, […] erheben sie sich selbst über die Unterstützung des Volkes (dschamāhīr) und der breiten Masse. (S. 2)
In ihrem elitären Hochmut können sie ihre Aufgabe nicht darin sehen, in den Dienst des einfachen Volkes zu treten, das sie dank ihrer philosophischen Religion so weit übertreffen, dass sie es vielmehr für seine Dummheit verachten und der trügerischen List der offenbarten Religion die Aufgabe überlassen, es zu zügeln und seiner Kontrolle zu unterwerfen. Denn dies ist bestenfalls die Rolle, die der Religion in ihrem Denken verbleibt.
Für die falāsifa selbst kommt es freilich nicht in Frage, sich mit dem religiösen Schein zufriedenzugeben:
Und sie verachten es, sich mit den religiösen Überzeugungen ihrer Vorfahren zu begnügen, in der Mutmaßung, dass die Bezeigung der Klugheit in der Aufgabe der Nachahmung des Wahren durch die Aufnahme der Nachahmung des Falschen eine schöne Sache ist, wobei sie sich dessen nicht bewusst sind, dass der Übergang von einer Nachahmung zur anderen Torheit und Verworrenheit ist. (S. 2)
Wie al-Ghazālī aufzeigt, verfallen sie hiermit jedoch selbst einem trügerischen Schein. Denn während die einfachen Menschen in ihrer Nachahmung immerhin dem Wahren treu bleiben, verfallen die falāsifa im Glauben, ihre philosophische Religion sei »eine schöne Sache«, der »Nachahmung des Falschen«. Sie täuschen sich dabei darüber, dass sie bloße Nachahmung betreiben, da sie von ihrer Vernünftigkeit, ihrer Rationalität überzeugt sind. Und da sie sich dessen nicht bewusst sind, können sie auch nicht erkennen, dass das, was sie in Wirklichkeit tun, nämlich von einer Nachahmung zur anderen zu wechseln, keine rationale Entscheidung ist, sondern Torheit.
Angesichts dessen bleibt al-Ghazālī nur die rhetorische Frage:
Welchen Rang in der Welt Gottes (Allāh) gibt es, der niedriger ist als der Rang desjenigen, der sich selbst mit der Aufgabe der Wahrheit, die traditionell geglaubt wird, durch die eilfertige Annahme des Falschen als wahr schmückt, indem er es ohne (verlässliche) Überlieferung und Verifikation anerkennt? (S. 2)
Die vermeintliche Rationalität der falsafa erweist sich daher als Trug und Falschheit. Wahre Vernunft ist nur um den Preis strenger Überprüfung und Verifikation aller Ansprüche auf Wahrheit zu haben, auch derjenigen Ansprüche, die im Namen einer vermeintlich überlegenen Vernunft erhoben werden.
Und zu dieser Aufgabe schickt al-Ghazālī sich nun an, angespornt durch den tiefen Blick in den Abgrund, der sich auftut, wenn man die vorgeblich sicheren Wahrheiten der älteren griechischen und späteren arabischen Philosophie einer gründlichen Prüfung und Kritik unterzieht.
Als ich diese Ader von Narrheit in diesen Toren pulsieren sah, nahm ich es auf mich, dieses Buch zu schreiben als Widerlegung (radd) der alten Philosophen, um die Inkohärenz (tahāfut) ihrer Glaubenslehre (ʿaqida) und die Widersprüchlichkeit ihrer Worte in bezug auf die Metaphysik (ilāhiyyāt) aufzuzeigen, um die Gefahren ihrer Lehre (madhhab, auch: Schule) und ihre Fehler aufzudecken, die genau genommen Gegenstände des Gelächters für die Vernünftigen und eine warnende Lektion für die Verständigen sind. Ich meine damit die Arten von vielerlei Glaubenslehren und Meinungen, durch die sie sich speziell ausgezeichnet sehen gegenüber dem Volk und der breiten Masse. (S. 3)
al-Ghazālī legt mit aller Deutlichkeit dar, was sein Beweggrund war und worum es ihm im Wesentlichen geht. Das wichtigste Motiv war demnach, dass er in den vorgeblich so rationalen falāsifa die Toren erkannt hat, die sie in Wirklichkeit sind. Dies will er ausführlich darstellen, so dass die Gefahren, die von ihrer Lehre ausgehen, und ihre Fehler offengelegt werden. Zu diesem Zweck schreibt er den Tahāfut als Widerlegung (radd) – und zwar von wem? Der alten Philosophen! Seine Kritik richtet sich also ganz ausdrücklich nicht nur gegen die späteren falāsifa, nicht einmal nur gegen die älteren, sondern gegen die alten Philosophen, womit wohl niemand anderes als die großen griechischen Meister der falāsifa gemeint sein dürften, namentlich Sokrates, Platon und Aristoteles.
Und wogegen richtet sich seine Kritik? Sie zielt auf die Glaubenslehren und die Metaphysik der alten Philosophen, deren Inkohärenz und Widersprüchlichkeit nachgewiesen werden soll. Bei einem Denken wie dem der griechischen Philosophie, das systematische Wissenschaft im Sinne der aristotelischen Wissenschaftslehre zu sein beansprucht, kommt dies einer umfassenden Widerlegung gleich, die zwangsläufig den Zusammenbruch (tahāfut) des ganzen Systems nach sich zieht. Es ist also keineswegs übertrieben, wenn al-Ghazālī von einer »Widerlegung der alten Philosophen« spricht. Denn wenn ihm der Nachweis ihrer Inkohärenz und Widersprüchlichkeit gelingt, ist nicht nur die eine oder andere These widerlegt, sondern das gesamte Gebäude ihres Denkens in seinen Fundamenten so tief erschüttert, dass es in sich zusammenstürzt – und somit verdient, in einem befreienden »Gelächter« der wahrhaft Vernünftigen unterzugehen. Daneben sollte es freilich auch als »warnende Lektion« für die Verständigen dienen, was bis heute viel zu wenig geschehen und ernst genommen worden ist.
Nicht übersehen werden darf gleichwohl, dass die Kritik inhaltlich eingeschränkt ist auf »Glaubenslehre« und »Metaphysik«. Das ist das anvisierte Gebäude. Sollte dieses nun mit Mitteln errichtet worden sein, die bloß äußerlich hinzugekommen sind, könnte es wohl möglich sein, mit diesen Mitteln auf neuen Fundamenten ein anderes Gebäude zu errichten. Das ist damit ja keineswegs ausgeschlossen. Diese Frage scheint al-Ghazālī bis hierhin nicht eindeutig geklärt zu haben: Könnte, gemäß al-Ghazālī, nach dem Zusammenbruch der Metaphysik mit diesen Mitteln ein alternatives philosophisches System entwickelt werden? Darauf wird zurückzukommen sein.
Gegen Ende des zuletzt zitierten Abschnittes betont al-Ghazālī noch einmal den elitären Charakter der falāsifa, die sich im Besitz eines privilegierten Zugangs zur Wahrheit wähnen und sich deshalb verächtlich über das gemeine Volk erheben. Nach der Widerlegung ihrer »vielerlei Glaubenslehren und Meinungen« wäre ihnen die Grundlage dafür entzogen und ihnen bliebe nichts anderes übrig, als sich demütig ins Volk einzureihen.
Was al-Ghazālī in der Folge sagt, scheint dem allerdings zu widersprechen und gibt einige Rätsel auf. Denn er unterscheidet nun bei den »alten Philosophen« selbst eine Oberfläche, die Fehler in manchen Einzelheiten birgt, aber nichtsdestoweniger wie ein trügerischer Popanz wirkt, von ihrer wahren Lehre. Dieser Popanz werde von den nachahmenden Anhängern vor sich hergetragen, um sich selbst und andere damit zu täuschen und irrezuführen. Und um diese vom Trug zu heilen, nimmt sich al-Ghazālī vor, die Lehre (madhhab) der alten Philosophen so darzustellen, »wie sie wirklich ist«. Damit soll dem Nachahmer gezeigt werden, dass
jene Führer und Köpfe der falāsifa, die er imitiert, zu Unrecht bezichtigt werden, die Gesetze der Religion zu verwerfen, dass sie im Gegenteil an Gott (Allāh) und Seine Gesandten glaubten (muʾminūn billāh wa musaddiqūn birusulihi). Sie sind jedoch jenseits dieser Prinzipien in bestimmten Einzelheiten in Verwirrung geraten, haben sich darin geirrt, sind abgewichen und haben andere irregeleitet vom rechten Pfad. (S. 3)
Da drängt sich freilich die Frage auf, um wen es sich dabei handeln mag. Es werden keine Namen genannt. Wer sind die alten Philosophen? Und wer die »Führer und Köpfe der falāsifa«? Dazu müssen doch wohl Platon, Aristoteles, al-Fārābī und Ibn Sīnā gerechnet werden. Oder kann es sein, dass al-Ghazālī an andere Philosophen denkt? So wäre jedenfalls der Widerspruch leicht aufzulösen. Nur ist dies kaum vorstellbar. Schließlich vertreten diese Denker ja Thesen, die al-Ghazālī als kufr wertet, wie die Ur-Ewigkeit der Welt und die Leugnung der leiblichen Auferstehung. kufr als Gegensatz zum Islam, als Nicht-Islam ist jedenfalls nicht mit dem islamischen Glauben (īmān) zu vereinbaren, der hier den Führern der falāsifa zugeschrieben wird.
Der Widerspruch lässt sich nicht ohne weiteres beseitigen. Es ist daher schwierig zu erkennen, was al-Ghazālī damit gemeint haben könnte. Will er wirklich damit sagen, dass unter der fehlerhaften Oberfläche des philosophischen Denkens, wenn man nur ein wenig daran kratzt, der Islam zum Vorschein kommt? Immerhin beinhaltet diese Oberfläche ja Auffassungen, die al-Ghazālī zufolge kufr sind und in einem systematischen Zusammenhang mit dem übrigen Gedankengebäude zu stehen beanspruchen.
Und wie steht es mit al-Ghazālīs Behauptung, zusammen mit der Widerlegung der »alten Philosophen« zugleich »ihre Lehre darzustellen, wie sie wirklich ist«? Hat er dies in dem von ihm gemeinten spezifischen Sinn wirklich getan? Und wo lässt sich diese Darstellung dann im Tahāfut finden? Darauf eine bejahende Antwort zu geben, scheint kaum möglich.
Wie man es auch dreht und wendet, so drängt sich unabweislich der Eindruck auf, dass der hier zur Erscheinung kommende Widerspruch in Wirklichkeit nur Ausdruck einer Widersprüchlichkeit ist, die im Denken al-Ghazālīs selbst tief verwurzelt ist. Das aufzuklären, bedürfte einer gründlichen Untersuchung, die an dieser Stelle nicht zu leisten ist.
Damit sind wir am Ende der Einführung angelangt und wollen nun al-Ghazālīs Gedankengang in den übrigen vier Einleitungen, die jeweils mit muqaddima überschrieben und ab der zweiten nummeriert sind, weiter verfolgen und mehr oder weniger ausführlich referieren.
1.6.2 Zur ersten Einleitung
1.6.2 Zur ersten Einleitung Yusuf KuhnIn der ersten Einleitung wird auf die Vielzahl der Unterschiede zwischen den Philosophen verwiesen, die sich einer Darstellung entziehen. Daher will al-Ghazālī sich auf den »Aufweis der Widersprüche in den Anschauungen ihres Führers beschränken, den Philosophen schlechthin und »den ersten Lehrer« (al-muʿallim al-awwal)« (Tahāfut, S. 4), namentlich Aristoteles, der diesen Rang verdient, da er ihre Wissenschaften systematisch organisiert und entwickelt hat.
al-Ghazālī bringt eine harsche Kritik gegen die Philosophen vor: Sie urteilen auf der Grundlage von Mutmaßung, ohne Verifikation und Gewissheit. Um dies zu verschleiern, setzen sie den trügerischen Glanz von Mathematik und Logik ein, mit dem sie den Anschein erwecken, auch ihre Metaphysik würde den gleichen Ansprüchen an methodisch gesicherte Wahrheit genügen, was die Schwachen im Geiste zu verlocken vermag. al-Ghazālī hält dagegen:
Wären ihre metaphysischen Wissenschaften ebenso vollkommen in der Beweisführung und frei von Vermutung wie ihre mathematischen Wissenschaften, wären sie in den ersteren nicht uneins gewesen, wie sie auch in der Mathematik nicht uneins waren. (S. 4)
Das ist ein durchaus gewichtiges und ernstzunehmendes Argument gegen ein Denken, das sich ganz der logischen Beweisführung im Rahmen axiomatisch aufgebauter Theorien verschrieben hat und deren Modell, dem alle Theorien nachzubilden sind, die euklidische Geometrie ist. Vielfalt der Meinungen ist in einem System unter der Herrschaft des Prinzips der Widerspruchsfreiheit ausgeschlossen und untrügliches Anzeichen für Falschheit. Die Einheit der so verstandenen Vernunft lässt solche Vielfalt nicht zu. Das hat al-Ghazālī klar erkannt und gegen die Philosophen gewendet.
Überdies gibt es auch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Übersetzung und Interpretation des Aristoteles. Um dieser unübersichtlichen Wirrnis aus dem Weg zu gehen, beschließt al-Ghazālī sich auf die zuverlässigsten Vermittler des aristotelischen Denkens zu beschränken, namentlich auf al-Fārābī und Ibn Sīnā. Denn sie haben schon eine Vorauswahl der besten Lehren ihres Meisters getroffen. Und es genügt daher, sich bei der Widerlegung auf sie zu konzentrieren.
1.6.3 Zur zweiten Einleitung
1.6.3 Zur zweiten Einleitung Yusuf KuhnIn der zweiten Einleitung geht es um die Differenzen zwischen den Philosophen und anderen Gruppen (firaq), die in drei Teile untergliedert werden.
Im ersten Teil beschränkt sich der Disput auf die bloß verbale Ebene, auf einen Streit um Worte. Als Beispiel wird angeführt, dass der Schöpfer der Welt als »Substanz« (dschawhar) bezeichnet wird. al-Ghazālī scheint sagen zu wollen, dass es, wenn man sich einmal auf die zugrunde liegende Bedeutung, den Begriff, der auf das Bezeichnete tatsächlich zutrifft, verständigt hat, zwecklos ist, sich um bloße Worte zu streiten. al-Ghazālī hält es daher in diesem Fall nicht für erforderlich, in eine Widerlegung einzutreten.
Das ist sicherlich nicht falsch, aber die enge Verbindung von Worten und Begriffen im Kontext unterschiedlicher Denkweisen birgt doch erheblich mehr Spannungspotential, wofür gerade der Begriff der Substanz ein besonders geeignetes Beispiel wäre. Wir wollen es dabei bewenden lassen, zumal die knappen Bemerkungen von al-Ghazālī nicht dazu angetan sind, die Frage tiefer zu behandeln.
Der zweite Teil betrifft Fragen, in denen die Lehre der Philosophen mit keinem religiösen Grundsatz (usūl) in Konflikt gerät und es daher aus Sicht der Offenbarung auch keine Notwendigkeit gibt, mit ihnen darüber zu streiten.
Als Beispiele nennt al-Ghazālī zunächst physikalische Erklärungen für die Mond- und Sonnenfinsternis, um sogleich festzustellen, dass auch hier eine Widerlegung zwecklos ist, ja sogar der Religion schaden würde. Seine Begründung lautet:
Denn diese Dinge basieren auf geometrischen und arithmetischen Beweisen (burhān), die keinen Raum für Zweifel lassen. (S. 6)
Für al-Ghazālī gehören Erkenntnisse der mathematischen Physik also offensichtlich zur Kategorie des notwendigen Wissens, das durch logische Beweisverfahren unwiderleglich feststeht. Dieser Frage wollen wir jetzt nicht nachgehen, sondern lediglich festhalten, worauf es al-Ghazālī hier wirklich ankommt, nämlich auf die Feststellung, dass es diese Art von zweifelsfreiem, sicherem Wissen gibt, das auf Beweisen basiert, die den Regeln der syllogistischen Logik folgen.
Und da dieses Wissen nach al-Ghazālī nicht in Gegensatz zu religiösem Wissen steht, macht es keinen Sinn, es widerlegen zu wollen oder seine Widerlegung gar zur religiösen Pflicht zu erheben. Denn wer dies auch in der guten Absicht der Verteidigung der Religion unternimmt, kann sich angesichts des Status der Gewissheit dieser Erkenntnisse nur lächerlich machen und letztlich die Arbeit der Feinde der Religion dadurch sogar erleichtern.
Wie das Sprichwort sagt: Ein rationaler (ʿāqil) Feind ist besser als ein unwissender (dschāhil) Freund. (S. 6)
Im folgenden Beispiel macht al-Ghazālī noch eine aufschlussreiche Bemerkung: Und sollte es doch eine den Regeln der Überlieferung entsprechende Aussage der Offenbarung geben, die einer notwendigen Erkenntnis widerspricht, so muss man von deren äußerer Bedeutung (dhāhir) zu einer anderen übergehen, statt die bewiesene und daher zweifelsfrei gewisse Aussage (qatʿī) zu verwerfen. Diese Umdeutung zur Auflösung eines vermeintlichen Widerspruches nennt al-Ghazālī an dieser Stelle ausdrücklich taʾwīl. Wir treffen hier also auf eine weitere Formulierung des qānūn at-taʾwīl.
In einem letzten Beispiel bringt al-Ghazālī noch einmal deutlich seine Auffassung zum Ausdruck, dass eine Wissenschaft wie die Mathematik gegenüber der Offenbarung neutral ist.
Es geht hier nämlich um die Untersuchung der Welt, ob ihr Sein einen Anfang in der Zeit hat oder ur-ewig ist. Wenn ihr Anfang in der Zeit erwiesen ist, ist es gleichgültig, ob sie eine Kugel oder ein einfaches Ding oder ein Oktagon oder ein Hexagon ist [...] (S. 7)
al-Ghazālī führt noch einige weitere Beispiele für Beschreibungen der mathematischen Physik an. Kurz gesagt, diese machen keinen Unterschied. Ein Bewusstsein davon, dass in die mathematischen Theorien selbst wie zum Beispiel die euklidische Geometrie sehr allgemeine Vorstellungen über den Raum und in die Physik ganz bestimmte Vorstellungen über Raum und Zeit eingehen, deren Übereinstimmung mit dem islamischen Denken allererst zu prüfen wäre, lässt sich bei al-Ghazālī nicht erkennen. Er setzt dabei im Gegenteil einfach voraus, dass dieses Wissen keinerlei metaphysische Voraussetzungen besitzt, ja es scheint ihm überhaupt nicht in den Sinn zu kommen, dass es anders sein könnte.
Der nächste Abschnitt über den dritten Teil sei wieder vollständig zitiert, da er das zentrale Vorhaben des Tahāfut anspricht:
Der dritte Teil ist derjenige, in dem der Disput sich auf einen der Grundsätze (usūl) der Religion (dīn) bezieht, wie das Aufrechterhalten der Lehre vom zeitlichen Hervorgehen der Welt und der Attribute (sifāt) des Schöpfers, den Beweis der Auferstehung der Leiber und Körper. Dies alles wurde (von den falāsifa) geleugnet. Es ist dieses Gebiet und seinesgleichen, auf dem man die Falschheit ihrer Lehre aufweisen muss. (S. 7)
al-Ghazālī bestimmt ganz klar, welchem Auswahlkriterium er bei seiner Erwiderung auf die falāsifa folgt. Er sucht die Thesen heraus, die mit den Grundsätzen der Religion (usūl ad-dīn) in Konflikt stehen und schickt sich an, diese zu widerlegen. Der Ausgangspunkt ist also nicht ein allgemeines und unbestimmtes Interesse an philosophischen Fragen, sondern die Absicht, die Grundsätze der Offenbarung gegen die Angriffe der falsafa zu verteidigen. Der qānūn at-taʾwīl kommt mithin von Anfang an zur Anwendung.
1.6.4 Zur dritten Einleitung
1.6.4 Zur dritten Einleitung Yusuf KuhnZu Beginn legt al-Ghazālī erneut seine Absicht dar und macht ganz ausdrücklich klar, dass diese im Tahāfut ausschließlich kritischer Natur ist:
Die Absicht ist, diejenigen zu warnen, die gut von den falāsifa denken und meinen, dass ihre Verfahrensweisen frei von Widerspruch sind, indem wir die Aspekte ihrer Inkohärenz (tahāfut) aufdecken. Und deshalb werde ich mich nur insofern auf die Auseinandersetzung mit ihnen einlassen, als es für eine Bestreitung erforderlich ist, nicht um Behauptungen und Thesen aufzustellen. Ich werde das, woran sie glauben, als dunkel und undurchsichtig erweisen, [indem ich] schlüssig [aufzeige], dass sie an verschiedenen Konsequenzen [ihrer Theorien] festhalten müssen. (S. 7)
al-Ghazālī lässt keinen Zweifel daran, dass es ihm im Tahāfut nicht daran gelegen ist, eine eigene Lehre auszubreiten und zu verteidigen. Er macht sich nicht zum Fürsprecher der Auffassungen einer bestimmten islamischen Gruppe, sondern zielt vielmehr auf die Einheit all derer ab, die sich in ihrer Vielfalt und Pluralität innerhalb des wahrhaft islamischen Denkens bewegen, aus dessen Rahmen manche Thesen der falāsifa herausfallen.
Ich werde mich nicht zur Verteidigung einer bestimmten Lehre aufschwingen, sondern werde alle Gruppen (firaq) zu einer Gruppe gegen sie (falāsifa) machen. Denn die anderen Gruppen mögen sich in Einzelheiten von uns unterscheiden, wohingegen sie (falāsifa) sich den Grundsätzen der Religion widersetzen. So lasst uns gemeinsam gegen sie obsiegen. Denn angesichts der Not vergeht der Groll. (S. 8)
1.6.5 Zur vierten Einleitung
1.6.5 Zur vierten Einleitung Yusuf KuhnIn der vierten Einleitung geht es vor allem um Mathematik und Logik sowie deren Verhältnis zur Metaphysik. Dieses Verhältnis betrachtet al-Ghazālī unter der Fragestellung, ob und inwiefern Mathematik und Logik als Voraussetzungen für die Metaphysik nötig sind.
Zunächst beschreibt al-Ghazālī einen Trick, den die Philosophen anzuwenden belieben, wenn sie im Verlauf einer Debatte auf eine Schwierigkeit stoßen. Dann verweisen sie nämlich darauf, wie dunkel und schwierig die Metaphysik sei, so dass sie überhaupt nur von den intelligentesten Köpfen erfasst und ihre Schwierigkeiten durch die Einführung von Mathematik und Logik gelöst werden könnten. Wenn jemand, der ihnen nachahmend folgt, nun auf eine Schwierigkeit in ihrer Lehre stößt, wird er sich damit beruhigen, dass er sie wohl lösen könne, wenn er nur Logik und Mathematik beherrschte.
Diese Schilderung hat gewiss nichts an Aktualität eingebüßt und trifft auf das heute herrschende Wissenschaftsverständnis, mutatis mutandis, vollauf zu.
al-Ghazālī geht zuerst der Frage nach, ob Mathematik zum Verständnis der Metaphysik erforderlich ist, wie die falāsifa behaupten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass weder Arithmetik noch Geometrie irgendeine Beziehung zu Untersuchungen im Bereich der Metaphysik haben. Seine Argumente gleichen dem oben in bezug auf die Schöpfung der Welt in der Zeit: Wenn einmal erwiesen ist, dass etwas – ein Haus oder die Welt – das Werk eines mit Wissen, Willen und Macht ausgestatteten Schöpfers ist, kommt es nicht mehr darauf an, welche Zahl und räumliche Gestalt dieses Werk im einzelnen besitzt. Kenntnisse der Mathematik sind daher für metaphysische Belange überflüssig.
Die Frage, ob und inwiefern die Mathematik Voraussetzungen macht, die womöglich das Denken über den Schöpfer in der einen oder anderen Weise einschränken oder gar determinieren, scheint außerhalb des Gesichtskreises von al-Ghazālī zu liegen. Um eine Antwort darauf geben zu können, ist ein Verständnis der Mathematik als Theorie sowie ihrer Grundlagen unerlässlich. Die von den Philosophen und anderen Wissenschaftlern als Trick eingeführte Schutzbehauptung zur Wahrung ihrer Autorität gegenüber den blinden Nachahmern erweist sich aus diesem Blickwinkel durchaus als höchst relevant für ein rechtes Verständnis der Metaphysik, was al-Ghazālī allerdings verborgen blieb.
Dann wendet al-Ghazālī sich der Frage nach der Logik zu und stellt fest:
Ja, wenn sie sagen, dass die Logik beherrscht werden muss, so ist dies richtig. (S. 9)
Allerdings widersetzt er sich ihrem Anspruch auf Exklusivität. Nicht nur in der Philosophie gibt es Logik, sondern auch im Kalam, wenn auch nicht unter diesem Namen. Die Philosophen haben dieser Kunst nur den Namen »Logik« gegeben, um damit die Schwachen zu beeindrucken, die darauf hereinfallen und glauben, dass die Logik eine neue Kunst ist, die nicht den Kalam-Gelehrten (mutakallimūn), sondern ausschließlich den falāsifa vertraut ist.
In der Sache aber weist die Logik im Kalam und in der Philosophie keine wesentlichen Unterschiede auf. Da drängt sich freilich die Frage auf, ob al-Ghazālī es sich hier nicht allzu leicht macht. Können die beiden »Logiken« angesichts der Unterschiede wirklich so einfach gleichgesetzt werden? Wohl kaum. Dennoch ist eine solche Verwischung der Unterschiede zwischen zwei offenbar so grundverschiedenen »Logiken« sehr bemerkenswert. Die Frage, was al-Ghazālī damit meint und bezweckt, muss hier offenbleiben, zumal sie im Kontext der Auseinandersetzung mit den falāsifa im Tahāfut nicht von vorrangiger Bedeutung ist.
Um darüber also keine unnötige Debatte aufkommen zu lassen sowie den falāsifa gewissermaßen einen Gefallen zu tun und auf ihrem eigenen Terrain zu begegnen, beschließt al-Ghazālī, den Tahāfut in der Terminologie der philosophischen Logik zu verfassen – auch um ihnen damit ihr Scheitern an den eigenen Maßstäben besonders klar vor Augen zu führen:
Wir werden deutlich aufzeigen, dass das, was sie (falāsifa) als Bedingung für die Richtigkeit der Materie (Prämisse) des Syllogismus in der Lehre vom Beweis (Analytica posteriora) der Logik aufgestellt haben und was sie als Bedingung für die Form (Schlussfigur) des Syllogismus in der Lehre vom logischen Schluss (Analytica priora) aufgestellt haben, und die Forderungen, die sie in der Isagoge und in den Kategorien, die allesamt Teile der Logik und ihrer Einleitungen sind, postuliert haben, in ihren metaphysischen Wissenschaften nicht erfüllen können. (S. 9)
al-Ghazālī verweist auf die verschiedenen Bücher, insbesondere des Aristoteles, aus dem Organon, in dem die aristotelische Logik und Wissenschaftstheorie dargelegt ist, und kündigt den Nachweis an, dass die falāsifa in ihrer Metaphysik den von ihnen selbst aufgestellten Kriterien und Regeln nicht genügen. Damit wäre der Anspruch der falāsifa auf Richtigkeit und Wahrheit der von ihnen vertretenen Theorien und Thesen grundlegend erschüttert und zunichte gemacht. Das von ihnen errichtete Gebäude einer philosophischen Religion würde in sich zusammenstürzen, einen tahāfut bis in die Fundamente erleiden.
Damit mag die Falschheit einzelner Thesen nicht unbedingt erwiesen sein. Denn al-Ghazālī zeigt vor allem auf, dass sie unbegründet und inkohärent sind. Da das auf der Grundlage der aristotelischen Wissenschaftstheorie, d.h. der Prinzipien des ausgeschlossenen Widerspruchs und der Identität, errichtete Gebäude aber den Anspruch einer als System organisierten Wissenschaft erhebt, übertreibt al-Ghazālī keineswegs, wenn er dessen tahāfut (Zusammensturz) in Aussicht stellt.
An welchen Stellen dieses Gebäude erschüttert werden soll, um es schließlich zum Einsturz zu bringen, verdeutlicht al-Ghazālī nun, indem er die Liste der im Tahāfut verhandelten Themen bringt. Das erübrigt sich für uns, da wir sie weiter oben bereits vorgestellt haben.
al-Ghazālī schließt die vierte und letzte Einleitung nach der Auflistung der zu behandelnden Thesen mit einem Absatz, in dem er einige Punkte kurz zusammenfasst. Er sei, die Erörterung der Einleitungen abschließend, angeführt:
Dies ist es also, in dem wir aus der Gesamtheit ihrer metaphysischen und physikalischen Wissenschaften ihre Widersprüche aufweisen wollen. Hinsichtlich der mathematischen Wissenschaften macht es keinen Sinn, sie zu verneinen oder anderer Meinung zu sein. Denn diese führen letztlich auf Arithmetik und Geometrie zurück. Was die Logik betrifft, so ist sie mit der Untersuchung des Instruments des Denkens von Intelligibilia (maʿqūlāt) befasst. Darin begegnet man keiner bedeutenden Meinungsverschiedenheit. Wir werden in dem Buch Das Richtmaß des Wissens (miʿyār) von seiner Art bringen, was nötig ist, um den Inhalt dieses Buches zu verstehen, so Allāh will. (S. 11)
al-Ghazālī wiederholt seine These von der metaphysischen Neutralität von Mathematik und Logik. In bezug auf die Logik führt er allerdings einen Begriff ein, der eher dazu angetan ist, diese vermeintliche Neutralität in Frage zu stellen, nämlich das »Denken von Intelligibilia (maʿqūlāt)«. Die Logik soll nur ein Instrument sein und daher neutral. Was aber meint al-Ghazālī genau mit maʿqūlāt? Der Anklang an einen platonischen Vernunftbegriff lässt sich nicht leugnen. Wäre es da nicht naheliegend, danach zu fragen, ob der Inhalt des Denkens (maʿqūlāt) nicht auch das Instrument, nämlich die Logik, bestimmt oder zumindest beeinflusst, dessen sich die Vernunft (ʿaql) bei der Erkenntnis der Vernunftwahrheiten (maʿqūlāt) bedient? Und steht nicht auch der Vernunftbegriff in enger Beziehung zum Gottesbegriff, so dass auch dann nicht von Neutralität gesprochen werden könnte, wenn man Metaphysik von den Gotteswissenschaften (ʿulūm ilāhiyya) unterscheiden wollte? Diese Fragen jedenfalls stellen sich für al-Ghazālī nicht. Warum dies so ist, muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
Im letzten Satz sodann gibt al-Ghazālī einen Hinweis auf eine von ihm verfasste Abhandlung über die Logik, die unter dem Titel Miʿyār al-ʿilm (Das Richtmaß des Wissens) veröffentlicht wurde und von al-Ghazālī ausdrücklich als Anhang zum Tahāfut vorgesehen war, um im Bedarfsfall die für ein Verständnis des Tahāfut erforderlichen logischen Vorkenntnisse zu liefern.
Wir werden nun einen großen Sprung über den Mittelteil des Werkes hinweg machen, der in Marmuras Ausgabe 218 Seiten füllt und in dem al-Ghazālī die von ihm ausgewählten Themen für die Widerlegung der falāsifa im einzelnen verhandelt, und direkt zum Schlusswort übergehen, das kaum eine Seite in Anspruch nimmt. Es wäre freilich nützlich, an bestimmten Beispielen die Argumentationsweise al-Ghazālīs näher zu betrachten, insbesondere auch, was seine Anwendung der Interpretationsregel (qānūn at-taʾwīl) betrifft. Ich habe allerdings den Eindruck gewonnen, dass es sich dabei nicht mit einer oberflächlichen Betrachtung und einer daraus resultierenden schematischen Darstellung bewenden ließe, sondern dass es unerlässlich wäre, gründlich vorzugehen und tief in die Einzelheiten einzudringen, um dem Denken al-Ghazālīs wirklich gerecht zu werden. Das würde aber über den Rahmen dieser Studie hinausgehen und verlangt also zumindest nach Aufschub.
1.7 Zum Schlusswort
1.7 Zum Schlusswort Yusuf KuhnWas wir bisher als Schlusswort bezeichnet haben, ist eine magere Seite mit einigen Zeilen am Ende des Werkes, die al-Ghazālī selbst mit khātima al-kitāb überschrieben hat: Abschluss des Buches. Diese Zeilen sind zu so großer Berühmtheit gelangt, dass sie den Rest des Werkes zu überschatten drohen, da angenommen wurde, darin eine Fatwa samt Todesurteil ausfindig machen zu können. Manche meinten gar, al-Ghazālī habe darin nicht nur das Todesurteil einiger Philosophen gesprochen, sondern der gesamten Philosophie.
Wir wollen in diese Debatte hier nicht eintreten, sondern uns darauf beschränken, genau darzustellen, was auf dieser Seite tatsächlich gesagt wird und was nicht, um an die Stelle übereilter Schlüsse Bedachtsamkeit treten zu lassen. Ohnehin kann es uns hier nicht darum gehen, die so schwierige und unübersehbare Frage nach den Folgen von al-Ghazālīs Kritik an den falāsifa für das Schicksal der Philosophie im – nicht nur islamischen – Denken zu erörtern.
al-Ghazālī eröffnet das Schlusswort mit einer Frage, die ihm von einer nicht näher bezeichneten Person gestellt wird:
Wenn jemand sagt: Du hast nun die Lehren jener (falāsifa) erklärt; sprichst du also mit Bestimmtheit das Wort über ihren kufr und die Pflicht der Tötung desjenigen, der ihre Glaubenslehren vertritt?, sagen wir: […] (S. 230)
Es wird nach zweierlei gefragt: erstens, ob jene – wir nehmen an die falāsifa, ausdrücklich genannt werden sie nicht – mit ihren Lehren, die im Tahāfut dargelegt und kritisch erörtert werden, kufr (Nicht-Islam, Ablehnung des Islam) begehen, und zweitens, ob sich daraus eine Pflicht zur Tötung desjenigen ableitet, der diese Lehren vertritt.
Was antwortet al-Ghazālī darauf?
Ihr takfīr (takfīrihim: sie – die falāsifa – des kufr zu bezichtigen), ist unvermeidlich in Hinsicht auf drei Fragen: Eine von ihnen ist die Frage der Ur-Ewigkeit der Welt und ihre Behauptung, dass alle Substanzen ur-ewig sind. Die zweite ist ihre Behauptung, dass Allāhs Wissen die geschehenden Einzelheiten von den Individuen (Einzeldingen) nicht umfasst. Die dritte ist ihre Leugnung der Auferstehung der Leiber und ihrer Versammlung. (S. 230)
al-Ghazālī äußert sich ganz klar. Drei der von den falāsifa vertretenen Thesen stellen kufr dar, bündig zusammengefasst: die Ur-Ewigkeit der Welt, Allāhs Unwissen von Einzeldingen und die Leugnung der leiblichen Auferstehung. Mehr sagt er zunächst nicht. Es ist nicht die Rede von einer Fatwa; das Wort fatwā kommt gar nicht vor. Und selbst wenn es im Text vorkäme oder der Text als Fatwa gemeint sein sollte, obwohl die formalen Mindestanforderungen für eine fatwā im rechtlichen Sinne wohl kaum erfüllt sein dürften, so läge allenfalls eine Rechtsmeinung des Gelehrten al-Ghazālī vor.
Und von einem Urteil, gar einem Todesurteil ist noch weniger die Rede. Es wird zwar in der Frage »die Pflicht zur Tötung« erwähnt, aber es gibt keine ausdrückliche Antwort auf diesen Teil der Frage.
So ist in aller Deutlichkeit zu erkennen, was al-Ghazālī im Text tatsächlich sagt und was nicht. Mir scheint es daher ratsam zu sein, voreilige Schlüsse zu vermeiden und bedächtige Umsicht walten zu lassen.
Im nächsten Absatz folgen einige zusätzliche Erläuterungen:
Diese drei Thesen stimmen mit dem Islam überhaupt nicht überein. Wer sie glaubt, glaubt, dass die Propheten Lügen äußern und dass sie, was immer sie sagten, um des Nutzens (maslaha) willen sagten als Gleichnis für die Massen der Menschen und zur Unterweisung. Und das ist offenkundiger kufr, an den keine einzige von den Gruppen (firaq) der Muslime geglaubt hat. (S. 230)
al-Ghazālī betont zuerst noch einmal, dass die genannten drei Thesen mit dem Islam nicht vereinbar sind, und zwar ganz und gar nicht. Das kann so verstanden werden, dass es auch beim besten Willen nicht möglich ist, diese Thesen in irgendeiner Weise durch eine Umdeutung (taʾwīl) der Aussagen der Offenbarung nach den Interpretationsregeln des qānūn at-taʾwīl in Übereinstimmung mit dem Islam zu bringen, um dadurch den Widerspruch aufzulösen. Da diese Reinterpretation nicht möglich ist, bleibt der Widerspruch zwischen diesen Thesen der falāsifa und den Aussagen der Offenbarung bestehen, so dass unter der Voraussetzung der Wahrheit dieser Thesen die betreffenden Worte der Propheten zwangsläufig Unwahrheiten sein müssen. Der Schluss ist unter diesen Bedingungen nicht zu vermeiden: Die Propheten lügen.
Da sich die falāsifa gleichwohl als »islamische Philosophen« verstehen und von der Vereinbarkeit ihrer philosophischen Religion mit dem Islam ausgehen, stellt sich die Frage, wie sie diesen Widerspruch ihrerseits auflösen wollen. Für die falāsifa steht fest, dass ihre Anschauungen wahr sind, da sie diese im Sinne der aristotelischen Wissenschaftstheorie als bewiesen erachten. Das ist für sie also sicheres und zweifelsfreies Wissen, an dem nicht zu rütteln ist. Wie wir bereits gesehen haben, ist dieses Wissen jedoch nur dem kleinen Kreis einer Elite zugänglich, die über die nötigen geistigen Fähigkeiten verfügt, über ein Begriffsvermögen, das die begrenzten Verstandeskräfte der Masse der gemeinen Menschen bei weitem übersteigt. Ihnen muss die hehre Philosophie der falāsifa für immer verschlossen bleiben. Nur letzteren steht der exklusive Zugang zur Wahrheit in ihrer reinen Gestalt offen.
Wenn die Wahrheit in diesem Sinne schon vergeben ist, bleibt für das gemeine Volk eben bestenfalls eine mindere Gestalt derselben. In ihrer reinen begrifflichen Form kann es diese überlegene Wahrheit nicht erfassen. Also dient die Religion dazu, sie den Massen im Gewand von Gleichnissen und Bildern wenigstens näherzubringen. Das ist die Aufgabe und Rolle der Propheten. Den falāsifa zufolge sprechen die Propheten mithin eigentlich keine Lügen aus, sondern die Wahrheit in einer bildlichen Form, wie sie einzig dem gemeinen Menschen zugänglich ist. Durch diese Unterweisung werden die Propheten zu Erziehern der breiten Masse, die in ihrer Unverständigkeit und Vernunftferne sonst zügellos den niedersten Trieben verfallen würden.
Und so ahnt man auch bereits, zu welchem Nutzen (maslaha) gemäß den falāsifa die offenbarte Religion mit ihrer gleichnishaften Gestalt dem einfachen Menschen frommt: der Kontrolle. Während die von der Philosophie zur wahren Tugendhaftigkeit erhobenen falāsifa in ihrem Hochmut die Zügel der Religion abwerfen zu können glauben, bedarf das Volk ihrer umso mehr. Die Herrschaft der Elite geht somit weit über das rein Geistige hinaus. Und es verwundert nicht, dass die philosophische Elite in der Geschichte allenthalben die Nähe zur staatlichen Macht gesucht hat, die ihrerseits gerne auf erstere zurückgriff, um sich ideologische Legitimität zu verschaffen. Rechtfertigung fand dieses Vorgehen dadurch, dass dem gemeinen Menschen nebenbei doch auch die Aussicht auf Glückseligkeit im Jenseits in Aussicht gestellt wurde. Denn schließlich konnte von ihm nicht mehr verlangt werden, als sich in das von den philosophischen Intellektuellen und ihren staatlichen Bündnispartnern gesponnene Netz zu fügen.
al-Ghazālī hingegen deckt diese Täuschung auf und beharrt darauf:
Und das ist offenkundiger kufr.
Denn in Wirklichkeit zeigt die kritische Anwendung des qānūn at-taʾwīl auf, dass die Thesen der falāsifa nicht bewiesen sind, ja sogar aufgrund ihrer Inkohärenz in sich zusammenstürzen, und daher überhaupt keinen Rechtsanspruch darauf geltend machen können, die Aussagen der Offenbarung derart herabzusetzen, dass sie nicht mehr als Wahrheit gelten können. Und die Behauptung, dass die Propheten Falschheiten als Offenbarung anbieten, ist für al-Ghazālī ein entscheidendes Kriterium für kufr.
Diese Bemerkung von al-Ghazālī verdiente eine eingehendere Erläuterung, da sie einen zentralen Aspekt der philosophischen Religion der falāsifa betrifft. Es ist gewiss kein Zufall, dass sie an dieser Stelle im Tahāfut steht. Und sie schließt zugleich den Kreis, da sie an die Einleitung anknüpft, in der diese These, wie wir gesehen haben, bereits erwähnt wurde. Das verdeutlicht den zentralen Stellenwert, der dieser Kritik im Tahāfut zukommt.
Dieser elitistischen Theorie der falāsifa gebührte eine ausführliche Darstellung und Kritik, die hier keinen Platz finden kann. Sie wurde nicht nur von al-Fārābī und Ibn Sīnā vertreten, sondern ist tief im philosophischen Denken in der griechischen Tradition verwurzelt. Sie reicht einerseits mindestens bis Platon und sogar bis Parmenides zurück und hat andererseits das gesamte philosophische Denken, das sich auf der Grundlage der griechischen Philosophie entwickelte, zutiefst geprägt – bis in die heutige Zeit mit ihrer Wissenschaftsgläubigkeit und ihrem Expertenkult.
Etliche muslimische Denker waren davon überzeugt, dass sie sich mit dem islamischen Denken in Einklang bringen ließe. Und es gibt sogar Stimmen, die behaupten, al-Ghazālī selbst sei doch auch, trotz all seiner Kritik, die wir uns vor Augen geführt haben, in der einen oder anderen Weise dieser Auffassung verfallen. Nach alledem scheint es eher unwahrscheinlich, ja kaum vorstellbar. Doch die Frage muss gestellt werden: Könnte es sein, dass al-Ghazālī sich so tief in Widersprüchlichkeit verstrickt hat, dass er trotz all seiner scharfsinnigen Kritik selbst Anhänger dieses Konzeptes einer philosophischen Religion werden konnte?
Die damit zusammenhängenden Fragen weisen weit über den Horizont hinaus, den wir uns hier als Rahmen gesetzt haben. Wenden wir uns also wieder dem Tahāfut und seinen abschließenden Worten zu.
Im letzten Absatz geht al-Ghazālī auf die Frage ein, wie die anderen siebzehn Thesen – außer den drei genannten – zu bewerten sind. Er hebt hervor, dass alle diese Thesen von der einen oder anderen Gruppe (firaq) des Islam vertreten worden ist. Ausdrücklich nennt er die Muʿtazila, der er eine besondere Nähe zu den Anschauungen der falāsifa zuschreibt. Aus seinen Aussagen geht hervor, dass er diese Thesen der falāsifa als bidʿ einschätzt, d.h. als problematische Neuerung, die aber nicht zwangsläufig dem Islam widerspricht. Die Anhänger dieser Thesen nennt er daher »Leute der problematischen Neuerung« (ahl al-bidʿ). Er macht zudem deutlich, dass er über dieses Urteil nicht hinausgehen will, und schließt seine Überlegungen daher mit folgenden Worten, die auch den Tahāfut insgesamt beschließen:
Wir ziehen es allerdings vor, nicht auf die Frage des takfīr (des kufr Bezichtigens) der Leute der problematischen Neuerung (ahl al-bidʿ) einzugehen und nicht zu entscheiden, was davon richtig ist und was nicht, damit die Rede nicht vom Zweck dieses Buches abkommt. Und Allāh der Erhabene ist der Bescherer des Rechten.
2 Zu al-Ghazālīs »Regel der Interpretation«: Qānūn at-taʾwīl
2 Zu al-Ghazālīs »Regel der Interpretation«: Qānūn at-taʾwīl Yusuf KuhnVorbemerkung
Die kleine Schrift von al-Ghazālī, die hier vorgestellt werden soll, trägt den Titel Qānūn at-taʾwīl. Das arabische Wort qānūn ist ein Lehnwort aus dem Griechischen. Vom griechischen kanon stammen auch das lateinische canon und das deutsche Wort Kanon ab. qānūn bedeutet: Kanon, Regel, Norm, Richtschnur, Messstab.
taʾwīl bedeutet: Auslegung, Deutung, Interpretation.
Der Titel Qānūn at-taʾwīl kann daher übersetzt werden mit Regel der Interpretation.
Der arabische Text findet sich in einer von Mahmūd Bīdschū edierten Ausgabe, die 1991 in Damaskus mit dem Titel Qānūn at-taʾwīl erschienen ist. Sie ist auf der Website ghazali.org gelistet und als pdf-Datei verfügbar.
Nicolas Heer hat den Text Qānūn at-taʾwīl von al-Ghazālī ins Englische übersetzt und als Artikel mit dem Titel The Canons of Tawil in einem Sammelband veröffentlicht.
Auf den von Mahmūd Bīdschū herausgegebenen arabischen Text und die englische Übersetzung von Heer stützt sich meine Übersetzung ins Deutsche, die den von Heer übertragenen Textausschnitt vollständig wiedergibt und als Anhang beigefügt ist.
Nicolas Heer gibt keinen Hinweis darauf, wann der Text von al-Ghazālī geschrieben wurde, sondern bemerkt lediglich, dass er als mittlerer Abschnitt einer Abhandlung verfasst wurde, in der al-Ghazālī verschiedene Fragen zu einigen Stellen der Schriften der Offenbarung beantwortet, in denen es um Themen wie Satan, Dschinn, Engel und verschiedene Elemente der Eschatologie geht.
al-Ghazālī versucht in dieser Abhandlung, wie der Titel qānūn at-taʾwīl besagt, eine Regel der Interpretation von Äußerungen und Texten zu bestimmen. Interpretation (taʾwīl) gilt dabei als notwendig, wenn bestimmte Probleme, die bei der Auslegung der Offenbarung auftreten können, zu lösen sind. Diese Probleme können sich daraus ergeben, dass bei einigen Stellen der Eindruck eines Widerspruchs zwischen Vernunft (ʿaql) und Offenbarung (naql) auftreten kann. Um diesen vermeintlichen Widerspruch aufzulösen, bedarf es mithin einer Interpretation nach einer regelhaften Methode.
al-Ghazālī beschreibt und erörtert fünf verschiedene Herangehensweisen an diese Problematik, von denen er eine als die richtige auszeichnet und näher erläutert, nämlich diejenige, der er den Titel qānūn at-taʾwīl verleiht. An die Beschreibung der entsprechenden fünf Gruppen schließt er sodann einige Überlegungen mit drei Empfehlungen für diejenigen an, die sich ernsthaft mit dieser Frage auseinandersetzen und deren Streben darauf gerichtet ist, sich von Irrtümern fernzuhalten, Widersprüche aufzulösen und Konflikte zu vermeiden.
2.1 Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung?
2.1 Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung? Yusuf Kuhnal-Ghazālī eröffnet die Abhandlung Qānūn at-taʾwīl mit folgender Feststellung:
Auf den ersten Blick hat man den oberflächlichen Eindruck, dass es einen Konflikt zwischen Vernunft (maʿqūl) und Offenbarung (manqūl) gibt.
Für nähere Angaben zu den Quellen siehe die deutsche Übersetzung des Textes und insbesondere die zugehörige Vorbemerkung im Anhang.
Es gibt also möglicherweise einen Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung. Das ist der Ausgangspunkt. Bemerkenswert ist, dass von Anfang an angenommen wird, dass dieser Widerspruch ein bloß vermeintlicher sein könnte, eben lediglich auf den ersten Blick und oberflächlichen Eindruck hin.
Was al-Ghazālī unter Vernunft und Offenbarung jeweils verstanden wissen will, wird nicht angegeben. Er fährt stattdessen sogleich fort, die verschiedenen Herangehensweisen an diese Frage aufzulisten. al-Ghazālī unterscheidet dabei drei Hauptgruppen, von denen zwei jeweils einem Extrem und eine der gemäßigten Mitte zugeordnet werden. Die Gruppe der Mitte zergliedert sich wiederum in drei Untergruppen, so dass es insgesamt fünf Gruppen gibt.
2.2 Fünf Gruppen
2.2 Fünf Gruppen Yusuf Kuhnal-Ghazālī beschreibt die drei Hauptgruppen so:
Diejenigen, die sich mit dieser Frage befassen, haben sich aufgespalten in
1. diejenigen, die an einem Extrem ihre Untersuchungen auf die Offenbarung beschränken;
2. diejenigen, die am anderen Extrem ihre Untersuchungen auf die Vernunft beschränken;
3. die Gemäßigten in der Mitte, die danach streben, (Vernunft und Offenbarung) zu vereinigen und zu versöhnen.
Die erste Gruppe beschränkt ihre Untersuchungen auf die Offenbarung, die zweite auf die Vernunft und die dritte der Gemäßigten in der Mitte strebt danach, Vernunft und Offenbarung miteinander zu vereinbaren.
Die Gemäßigten zerfallen wiederum in drei Untergruppen je nachdem, welches Gewicht sie jeweils der Offenbarung beziehungsweise der Vernunft in ihrem Zusammenspiel einräumen:
Die Gemäßigten haben sich wiederum aufgespalten in:
1. diejenigen, die Vernunft grundlegend und Offenbarung sekundär gemacht haben;
2. diejenigen, die Offenbarung grundlegend und Vernunft sekundär gemacht haben und die sich daher nicht besonders mit der Untersuchung der Vernunft beschäftigt haben;
3. diejenigen, die Vernunft und Offenbarung gleichermaßen grundlegend gemacht haben und danach strebten, die beiden zusammenzubringen und zu vereinbaren.
Die erste Gruppe gibt der Vernunft den Vorrang, die zweite der Offenbarung, während die dritte beide in ihrem Streben nach Versöhnung als gleichermaßen grundlegend betrachtet.
Offenbarung über Vernunft
al-Ghazālī geht sogleich dazu über, die fünf Gruppen der Reihe nach näher zu beschreiben:
Die erste Gruppe: Sie besteht aus denen, die ihre Untersuchungen auf die Offenbarung beschränkt haben. Sie stehen auf der ersten Stufe des Weges, da sie sich mit dem begnügen, was sie von der äußeren Bedeutung der Offenbarung bereits verstehen. Sie haben als wahr angenommen, was die Offenbarung (naql) in ihren Einzelheiten und in ihren Grundlagen beinhaltet.
Da die erste Gruppe ihre Untersuchungen auf die Offenbarung selbst beschränkt, begnügt sie sich mit dem Verständnis des äußeren Wortsinns (dhāhir) derselben und nimmt als wahr an, was sie an Grundlagen und Einzelheiten berichtet. Wenn die Anhänger dieser Gruppe mit einem vermeintlichen Widerspruch konfrontiert werden, reagieren sie wie folgt:
Wenn sie aufgefordert werden, einen Widerspruch in der äußeren Bedeutung (dhāhir) der Offenbarung (manqūl) zu erklären und eine Interpretation (taʾwīl) zu geben, weigern sie sich, indem sie sagen, dass Gott (Allāh) Macht über alle Dinge hat.
Was bringt diese Weigerung zum Ausdruck? Wohl die Auffassung, dass es zumindest in diesem Fall keinen Widerspruch gibt, oder sogar, dass es überhaupt keinen Widerspruch geben kann, da die Wirklichkeit sowohl wie auch die Logik oder Vernunft selbst, welcher der vermeintliche Widerspruch entspringt, der »Macht Gottes (Allāh)« unterliegt. Wenn wirklich alles in der Macht Gottes steht, so steht Gott auch über der Logik und Vernunft und dem sie konstituierenden Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch. Oder mit anderen Worten: Gott selbst ist dem Identitätsprinzip nicht unterworfen.
Diese Interpretation wird durch das von al-Ghazālī angeführte Beispiel gestützt:
Wenn jemand sie zum Beispiel fragt, wie die Person des Satans zur gleichen Zeit an zwei Orten und in zwei verschiedenen Gestalten gesehen werden kann, antworten sie, dass angesichts der Macht Gottes (Allāh) nichts erstaunlich ist, denn Gott (Allāh) hat Macht über alle Dinge. Und vielleicht würden sie sich nicht scheuen, zu sagen, dass es in der Macht Gottes (Allāh), des Erhabenen, steht, dass eine Person zur gleichen Zeit an zwei Orten ist.
al-Ghazālī hält es also zumindest für denkbar, dass sie etwas vermeintlich Widersprüchliches, – was wohl zumindest al-Ghazālī selbst als solches erscheint – für in der Macht Gottes stehend, also in diesem Sinne für möglich erachten.
Oder anders gewendet: Die Vertreter dieser Gruppe könnten al-Ghazālī fragen, was ihn eigentlich dazu berechtigt, die von ihm angenommene Vorstellung des Raumes, der Zeit und der Logik mit der Wirklichkeit und der Vernunft schlechthin gleichzusetzen und daraus einen Widerspruch mit der Offenbarung zu konstruieren. Hat al-Ghazālī eine Antwort auf diese Frage? Hier schweigt er sich aus und scheint diese Annahme schlicht als selbstverständlich vorauszusetzen.
Vernunft über Offenbarung
Die zweite Gruppe geht ins entgegengesetzte Extrem und setzt einseitig auf die Vernunft:
Die zweite Gruppe: Sie entfernte sich von der ersten ans entgegengesetzte Extrem von ihnen. Sie beschränkten ihre Untersuchungen auf die Vernunft (maʿqūl) und befassten sich nicht mit der Offenbarung (naql). Wenn sie in der Offenbarung (scharʿ) etwas hören, dem sie beipflichten, so nehmen sie es an.
Aus der Offenbarung übernehmen ihre Anhänger, was mit ihren rationalen Auffassungen übereinstimmt. Wie verfahren sie im entgegengesetzten Fall?
Wenn sie hingegen etwas hören, das in Konflikt mit ihrer Vernunft (ʿuqūluhum) steht, behaupten sie, dass es etwas ist, das von den Propheten (mit ihrer Einbildungskraft) imaginiert worden ist, denn die Propheten mussten auf die Ebene der gewöhnlichen Leute herabsteigen; und manchmal war es für sie notwendig, Dinge auf eine Weise zu beschreiben, die nicht der Wirklichkeit entsprach. Daher interpretierten sie alles, was nicht mit ihrer Vernunft übereinstimmte, auf diese Weise.
Nun spricht al-Ghazālī auffälligerweise von ʿuqūluhum, (wörtlich: ihre Vernünfte), personalisiert durch das Possessivpronomen hum und zudem im Plural ʿuqūl (Sing. ʿaql), was sich nicht recht ins Deutsche übertragen lässt, da das Wort Vernunft keinen Plural besitzt, als wollte er eben die Relativierung machen, die er bei der ersten Gruppe nicht in Betracht gezogen hat, und also die Möglichkeit offenhalten, dass es auch einen anderen Begriff der Vernunft oder ein anderes Verständnis von Vernunft (ʿaql) geben könnte. Da sie jedoch an »ihrer Vernunft« bedingungslos festhalten, kann ein Widerspruch mit der Offenbarung nur dadurch gelöst werden, dass die Offenbarung auf eine Ebene unterhalb der Vernunft herabgesetzt wird. So kann ein echter Konflikt gar nicht mehr auftreten. Das geschieht, indem das, was die Propheten sagen, nicht als Produkt der Vernunft, sondern der Einbildungskraft begriffen wird. Im Gegensatz zur vernünftigen Rede, die als begriffliche erscheint, wird die Rede des Propheten damit zur bloß bildlichen Ausdrucksweise, in der zwar die gleichen Inhalte, aber in anderer, nämlich auf die Ebene der Einbildungskraft herabgesetzter Form erscheinen. Dies ist nötig, da dieser Auffassung zufolge die gewöhnlichen Leute nicht über das für das volle rationale Verständnis erforderte begriffliche Denkvermögen verfügen. Und es ist daher auch zu ihrem Wohl, da sie sonst gar keinen Zugang zur Wahrheit hätten und so zumindest einen bildlichen Zugang zu ihr haben. al-Ghazālī sagt es nicht, aber es ist unschwer zu erkennen, dass damit die falāsifa (Philosophen) gemeint sind.
Wenn man hingegen die Aussagen der Propheten und ihren Anspruch auf Wahrheit ernst nimmt, kommt man nicht umhin, einen Widerspruch zwischen ihnen und manchen Interpretationen dieser Gruppe zu konstatieren. Und das bedeutet nichts anderes, als dem Propheten eine falsche Aussage, also eine Lüge zuzuschreiben. Und, so betont al-Ghazālī, wer den Propheten der Lüge bezichtigen sollte, begeht nach allgemeiner Auffassung kufr, stellt sich außerhalb des Islam:
Sie übertrieben es mit der Vernunft (fī al-maʿqūl) derart, dass sie Ungläubige wurden (kafara), insofern sie den Propheten (sas) Lügen zuschrieben, um des allgemeinen Wohls (maslaha) willen.
al-Ghazālī stellt sodann fest, dass beide Gruppen nach Sicherheit vor der Gefahr der Interpretation suchten, allerdings auf je unterschiedliche Weise. Die erste Gruppe suchte Zuflucht vor den Schwierigkeiten, indem sie an der äußeren Bedeutung (dhāhir) festhielt und auf die Macht Gottes und Seinen unergründlichen Befehl verwies, und die zweite, indem sie den Propheten um des allgemeinen Wohls willen wider besseres Wissen Dinge auf eine andere Weise, als sie in Wirklichkeit sind, beschreiben ließ. al-Ghazālī ruft dazu aus:
Es ist offensichtlich, wie groß der Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Zuflucht hinsichtlich Gefahr und Sicherheit ist!
Dieser Unterschied ist in der Tat offensichtlich, wenn man davon ausgeht, dass der Auffassung der zweiten Gruppe zufolge der Prophet letztlich als Lügner erscheinen muss, was kufr gleichkommt.
Harmonisierung von Vernunft und Offenbarung?
al-Ghazālī beschreibt hierauf die dritte und die vierte Gruppe, die beide Untergruppen der gemäßigten Mitte sind. Sie setzen auf Vernunft und Offenbarung, aber mit unterschiedlicher Gewichtung, die jeweils zu einseitig ausfällt. Da diese Unterschiede nicht von grundsätzlicher Bedeutung sind und die Schwierigkeiten, die al-Ghazālī in diesem Zusammenhang erörtert, weitgehend auf subjektive Unzulänglichkeiten zurückzuführen sind, betreffen sie das Kernargument, das im Zentrum unseres Interesses steht, nur am Rande. Sie können daher ohne großen Verlust übersprungen werden.
Die fünfte und mittlere Gruppe hingegen verbindet Vernunft und Offenbarung und macht beide auf ausgewogene Weise zur Grundlage. Davon ausgehend erweist sich, dass der Konflikt nicht wirklich, sondern bloß vermeintlich besteht:
Die fünfte Gruppe: Sie ist die mittlere Gruppe, welche die Untersuchung von Vernunft (maʿqūl) und Offenbarung (manqūl) miteinander verbunden hat. Sie machten jede von beiden zur wichtigen Grundlage und bestritten einen Widerspruch (taʿārudh) zwischen Vernunft (ʿaql) und Offenbarung (scharʿ) und dessen wirkliches Bestehen.
Es gibt demzufolge also keinen wirklichen Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung.
Dafür bietet al-Ghazālī nun keine Begründung, sondern verweist vielmehr auf die Folgen, welche die Annahme des Gegenteils hätte: Das Verwerfen der Vernunft bedingt auch das Verwerfen der Offenbarung. Warum? Und wenn beide gleichermaßen Grundlage sind, müsste dann nicht auch die Umkehr gelten: Bedeutet das Verwerfen der Offenbarung auch das Verwerfen der Vernunft?
Hören wir al-Ghazālī dazu:
Wer die Vernunft verwirft, verwirft auch die Offenbarung, denn nur durch die Vernunft wird die Wahrhaftigkeit (sidq) der Offenbarung erkannt.
Die These lautet somit: Die Wahrheit der Offenbarung wird somit nur (!) durch die Vernunft erkannt. Ohne Vernunft kann die Wahrheit der Offenbarung also nicht erkannt werden. Daher verwirft, wer die Vernunft verwirft, auch die Erkenntnis der Wahrheit der Offenbarung. al-Ghazālī scheint nun sagen zu wollen, dass damit auch die Offenbarung selbst und nicht nur die Erkenntnis ihrer Wahrheit verworfen wird, weil es dann nicht mehr möglich ist, zwischen wahrer Offenbarung und Lüge zu unterscheiden:
Würde die Wahrhaftigkeit (sidq) des Beweises der Vernunft (dalīl al-ʿaql) nicht erkannt, würden wir den Unterschied zwischen dem wahren Propheten (nabī) und dem falschen Propheten (mutanabbī) nicht erkennen, noch zwischen dem Wahrhaftigen (sādiq) und dem Lügner (kādhib).
Wenn mit dem Verwerfen der Vernunft jede Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit verlorengeht, wäre davon in der Tat nicht nur die Offenbarung betroffen, sondern überhaupt jede Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit. Damit würde also das gesamte Erkenntnisvermögen zusammenbrechen. So verstanden wäre das Argument wohl gültig. Aber ist es auch so gemeint?
Meint al-Ghazālī nicht eher eine spezifische Erkenntnis der Wahrheit der Offenbarung durch die Vernunft, also durch eine rationale Begründung in einer bestimmten Form? Welche könnte al-Ghazālī damit meinen? Er sagt es nicht, sondern schließt vielmehr kurzerhand mit einer rhetorischen Frage:
Wie kann die Vernunft durch die Offenbarung verworfen werden, wenn die Offenbarung nur durch die Vernunft als wahr erwiesen werden kann?
Also scheint es doch um einen bestimmten Beweis der Wahrheit der Offenbarung zu gehen. So bleiben allerdings viele Fragen offen und das Argument ist keineswegs so schlüssig, wie al-Ghazālī mittels seiner rhetorischen Frage den Eindruck zu erwecken versucht.
Zunächst müssen wir feststellen, dass es auf unsere Frage, ob auch das Verwerfen der Offenbarung zum Verwerfen der Vernunft führt, keine Antwort gibt. Dies würde jedenfalls nur dann gelten, wenn beiden die gleiche Gewichtung zukäme, wohingegen al-Ghazālī doch der Vernunft den Vorrang gegenüber der Offenbarung einzuräumen scheint.
Unter dieser Voraussetzung lässt sich allerdings die konditionale Behauptung aufstellen: Wenn die Wahrheit der Offenbarung nur durch die Vernunft bewiesen werden kann, dann kann die Vernunft durch die Offenbarung nicht verworfen werden. Ob die Wahrheit der Offenbarung durch die Vernunft und nur durch die Vernunft bewiesen werden kann, wie ein solcher Beweis aussehen könnte und wie sich das Begründungsverhältnis genau gestaltet, bleibt ungeklärt. Diese Fragen lässt al-Ghazālī hier offen.
Darüber hinaus bleiben viele Unklarheiten bestehen, da al-Ghazālī die von ihm verwendeten Begriffe kaum oder überhaupt nicht klärt. Die zentralen Begriffe der Argumentation wie Vernunft, Erkenntnis, Wahrheit und Beweis bleiben unbestimmt. Woran liegt das? Ist al-Ghazālī sich der darin liegenden Problematik etwa nicht bewusst? Ist es für ihn so selbstverständlich, eine bestimmte Bedeutung mit diesen Begriffen zu verbinden, dass sich für ihn jede Erläuterung erübrigt?
Die meisten Interpreten und Übersetzer von al-Ghazālī scheinen davon auszugehen, dass diese Begriffe nur im Sinne der aristotelischen Philosophie, Wissenschaftstheorie und Logik zu verstehen sind. Dagegen lässt sich fragen, ob es sich nicht eher so verhält, dass al-Ghazālī in seinem Gebrauch dieser Begriffe nicht ständig zwischen verschiedenen Bedeutungen hin und her schwankt, ohne sie auf einen philosophischen Nenner zu bringen. Diese Begriffe haben in den verschiedenen Disziplinen der islamischen Wissenschaften wie auch im kalām unterschiedliche Bedeutungen und verschiedene Verwendungsweisen, die oftmals zudem noch je nach Schule oder Richtung innerhalb eines Gebietes differieren. Und davon wiederum unterscheiden sich die Bedeutungen dieser Begriffe in der griechischen Philosophie wie auch in ihrer »islamischen« Fortführung erheblich und können freilich zudem innerhalb der Philosophie selbst ebenfalls je nach Schule, Richtung und Entwicklungsphase erheblich voneinander abweichen.
Aus diesem ebenso riesigen wie unübersichtlichen Fundus schöpft al-Ghazālī bei seiner Verwendung dieser Begriffe, ohne ihnen eine feste Bedeutung zu verleihen. Das macht das Verständnis von al-Ghazālī oftmals so schwierig, und seine geistige Gestalt so schillernd.
al-Ghazālī zeichnet sodann die fünfte Gruppe ausdrücklich als diejenige aus, die Recht hat:
Diese bilden die Gruppe, die Recht hat. Sie sind einer richtigen Methode gefolgt. Sie haben allerdings eine schwierige Stufe erklommen, ein erhabenes Ziel erstrebt und einen mühsamen Weg beschritten. Wie schwierig ist das Ziel, das sie erstrebt haben, und wie hart ist der Weg, den sie beschritten haben! Er mag an manchen Stellen eben und leicht sein, aber an den meisten mühsam und schwierig.
Und er betont, wie schwierig und mühsam der Weg war, den sie beschreiten mussten, um zu ihrer Lösung der Problematik zu gelangen. Worin die Schwierigkeiten bestanden und wie sie überwunden werden konnten, sagt er nicht.
al-Ghazālī kommt gleichwohl zu dem günstigen Schluss, dass eine intensive Beschäftigung mit den Wissenschaften dazu befähigt, Vernunft und Offenbarung in den meisten Fällen mit einfachen Interpretationen in Einklang zu bringen:
Ja, wer sich eingehend mit den Wissenschaften (ʿulūm) befasst und sich ausführlich mit ihnen beschäftigt hat, wird dazu fähig sein, Vernunft und Offenbarung in den meisten Fällen mit naheliegenden Interpretationen zu versöhnen.
Das deutet darauf hin, dass der schwierige Weg vor allem in einer Beschäftigung mit den Wissenschaften (ʿulūm) besteht. Welche Wissenschaften damit gemeint sind, bleibt aber auch ungesagt.
Gleichwohl geht al-Ghazālī davon aus, dass einige Probleme bestehen bleiben. Es ist eben doch nicht immer leicht, versöhnliche Interpretationen zu finden. al-Ghazālī unterscheidet dabei zwei Fälle, die er als unvermeidlich bezeichnet:
Es bleiben dennoch unvermeidlich zwei Fälle (in denen die Interpretation schwierig ist): der eine ist der Fall, in dem man gezwungen ist, weit hergeholte Interpretationen zu verwenden, vor denen Verständige (afhām) zurückschrecken; und der andere ist der Fall, in dem es nicht ersichtlich ist, wie überhaupt irgendeine Interpretation vorzunehmen ist.
Der erstere Fall wird nur sehr grob beschrieben. Es geht um den Zwang zu weit hergeholten Interpretationen, die allerdings von den Verständigen (afhām) gemieden werden, ohne dass dies näher erläutert würde. Wer sind die Verständigen? Was zeichnet sie aus, so dass sie die weit hergeholten Interpretationen in diesem Fall meiden?
Den zweiten Fall vergleicht al-Ghazālī mit den Buchstabenfolgen zu Beginn vieler Koransuren (wie z.B. alif lām mīm), deren Bedeutung nicht ersichtlich ist und für die keine richtige Erklärung überliefert wurde.
Dieser letztere Fall ist ein ähnliches Problem wie das der Buchstaben, die am Anfang der Suren (des Koran) stehen, da keine richtige Erklärung ihrer Bedeutung überliefert wurde.
In diesem Fall wiederum bleibt das Problem also bestehen, weil es gar keine Möglichkeit zur Interpretation zu geben scheint. Zu denen, die gleichwohl einen Ausweg aus diesen Problemen gefunden zu haben glauben, sagt al-Ghazālī freilich:
Wer vermeint, diesen zwei Fällen entkommen zu sein, tut dies entweder aufgrund seiner Unzulänglichkeit in der Vernunft (fī al-maʿqūl) und seiner Ferne von der Erkenntnis der rationalen Unmöglichkeiten (al-hālāt an-nadhariyya), so dass er das für möglich erachtet, von dem er nicht erkennt, dass es unmöglich ist, oder aufgrund seiner Unzulänglichkeit im Lesen der Überlieferungen (akhbār), so dass er nicht auf viele einzelne Überlieferungen gestoßen ist, die im Widerspruch zur Vernunft stehen.
Wer glaubt, diesen verbleibenden Schwierigkeiten entgehen zu können, hat die Lage nicht richtig verstanden. Dafür werden zwei Gründe angeführt. Erstens: Er verfügt über mangelnde Kenntnisse in den rationalen Wissenschaften und meistert den Begriff der rationalen Unmöglichkeit nicht, so dass er glaubt, aufgrund dessen, dass er von der Unmöglichkeit einer Sache nicht weiß, auf deren Möglichkeit schließen zu können. Zweitens: Ihm sind einfach viele Überlieferungen, die im Widerspruch zur Vernunft stehen, nicht zur Kenntnis gekommen.
2.3 Drei Empfehlungen
2.3 Drei Empfehlungen Yusuf KuhnFür den Umgang mit diesen verbleibenden Schwierigkeiten gibt al-Ghazālī drei Empfehlungen:
Die erste Empfehlung ist, dass man nicht begehren soll, die Erkenntnis von alledem zu gewinnen, und das war der Zweck, auf den meine Rede ausgerichtet war. Das ist nicht etwas, das begehrt werden sollte, und man sollte vorsprechen das Wort des Erhabenen: »Und euch wurde vom Wissen nur wenig gegeben.« (Koran 17:85)
Nicht danach streben, die Erkenntnis von alledem zu gewinnen? Was ist mit »von alledem« gemeint? Wovon ist die Rede? Nicolas Heer merkt in seiner Übersetzung von al-Ghazālīs Schrift an:
D.h. dass man nicht nach einem vollständigen Verstehen der Schrift streben soll. (Heer, S. 52)
Das scheint mir nicht ganz zutreffend zu sein. Das Streben nach einem vollständigen Verstehen der Offenbarung selbst kann eigentlich nicht damit gemeint sein. Denn die Offenbarung fordert immer wieder dazu auf, eben danach zu streben. Und durch dieses Streben wird das Wissen zugänglich, das die Offenbarung bietet, obschon »vom Wissen nur wenig gegeben« wurde, wie es in dem von al-Ghazālī angeführten Koranvers heißt. Es geht vielmehr um eine bestimmte Erkenntnis, wie al-Ghazālī ja auch ausdrücklich sagt, also um das Wissen um bestimmte Dinge, von denen die Offenbarung nur wenig berichtet, ein Wissen, das dem menschlichen Verstand über das hinaus, was die Offenbarung mitteilt, verschlossen ist.
Eine gewisse Erläuterung bietet der folgende Absatz aus al-Ghazālīs Schrift, der in der Übersetzung von Heer allerdings nicht enthalten ist:
Es gehört sich nicht, dass man es für weit hergeholt hält, dass den großen Gelehrten manche dieser Dinge verborgen blieben, und damit erst recht auch den mittelmäßigen Gelehrten. Man muss wissen, dass der Gelehrte, der behauptet, in allen Dingen, die der Prophet (sas) gesagt hat, seine Intention (murād) verstanden zu haben, dies aufgrund seines mangelhaften Verstandes behauptet, und nicht etwa aufgrund von Genialität.
Selbst großen Gelehrten können und müssen mithin »manche dieser Dinge verborgen« geblieben sein. Denn es wäre vermessen, behaupten zu wollen, »in allen Dingen, die der Prophet (sas) gesagt hat,« verstanden zu haben, was damit gemeint wurde. Denn das von der Offenbarung vermittelte Wissen ist nicht alles Wissen. Das menschliche Wissen ist allemal eng begrenzt, zumal von den »verborgenen« Dingen, von denen die Offenbarung berichtet. Aber die Offenbarung liefert Wissen von vielen Dingen, die der menschlichen Erkenntnis ansonsten völlig verschlossen wären. Allerdings vermittelt sie lediglich eine stark beschränkte Einsicht, da den Menschen eben vom Wissen von diesen Dingen nur wenig gegeben wird. Und wer dies nicht einzusehen vermag, leidet an einem mangelhaften Verstand. Was näherhin unter der Intention (murād) des Propheten (sas) in dem von ihm Gesagten zu verstehen ist, wird nicht erklärt.
Einen weiteren Hinweis darauf, um welches besondere Wissen es sich dabei handeln könnte, liefert indessen der Vers, der von al-Ghazālī nur teilweise zitiert wird. Darin wird dem Gesandten Allāhs geboten, auf die Frage nach ar-rūh (dem Geist) eine bestimmte Antwort zu geben:
Sie fragen dich nach dem Geist (ar-rūh). Sag: Der Geist ist vom Befehl meines Herrn (ar-rūh min amri rabbī). Und euch wurde vom Wissen nur wenig gegeben. (Koran 17:85)
Sehr wenig Wissen wovon? Vom Geist und von Allāhs Befehl. al-Ghazālī selbst hatte weiter oben im Zusammenhang mit der ersten Gruppe schon darauf angespielt, indem er sie sagen ließ, »dass wir die Wunder von Gottes Befehl nicht ergründen können«. Eben dies dürfte auch hier gemeint sein.
al-Ghazālī setzt daraufhin seine Ratschläge fort:
Die zweite Empfehlung ist, dass man nie den Beweis (burhān) der Vernunft (ʿaql) verwerfen sollte, denn die Vernunft lügt nicht.
Erstaunen mag zunächst, dass die Wahrheit der Vernunfteinsicht mit einer Empfehlung einhergeht. Einsicht durch Vernunft gilt doch sonst als sichere und notwendige Erkenntnis, allemal in der Tradition der aristotelischen Philosophie. Wie kann die Anerkennung von notwendigem Wissen empfohlen werden? al-Ghazālī verwendet hier ausdrücklich den Begriff des Beweises (burhān) und spricht zudem vom Beweis der Vernunft (ʿaql). Wenn diese Begriffe im Sinne der aristotelischen Logik und Philosophie zu verstehen sein sollten, drängt sich die Frage umso mehr auf, wie mit dem logisch und rational Zwingendsten, das demgemäß das menschliche Denken zu bieten hat, eine solche Empfehlung verknüpft werden kann, als stünde die Annahme dieser notwendigen Wahrheit zur Wahl.
Und begründet wird die Empfehlung damit, dass die Vernunft nicht lügt. Was soll das heißen?
Hören wir, was al-Ghazālī weiter dazu zu sagen hat:
Würde die Vernunft lügen, so könnte sie bei der Bestätigung (ithbāt) der Offenbarung (scharʿ) lügen, denn durch sie erkennen wir die (Wahrheit der) Offenbarung.
Es folgt also das schon bekannte Argument mit den Folgen, die eine Verwerfung der Vernunft, nämlich die Annahme, dass die Vernunft lügt, für die Erkenntnis der Wahrheit der Offenbarung hätte.
Und al-Ghazālī fährt zur Bestärkung dieser Aussage mit einer rhetorischen Frage fort:
Wie kann die Wahrhaftigkeit eines Zeugen (schāhid) erkannt werden durch das Zeugnis (tazkiya) eines lügenden Glaubwürdigkeitszeugen (muzakkī)?
Die Offenbarung wird also mit einem Zeugen gleichgesetzt, dessen Wahrhaftigkeit ermittelt werden soll. Freilich kann dies nicht aufgrund des Zeugnisses eines Lügners geschehen. Und die Vernunft wiederum tritt hier an die Stelle des Glaubwürdigkeitszeugen für die Glaubwürdigkeit der Offenbarung. Aber was hat das mit der Vernunft im Sinne der aristotelischen Philosophie und Logik zu tun? Außer dem Namen nach, und vielleicht einer gewissen strukturellen Ähnlichkeit, nicht allzu viel. Es handelt sich vielmehr um eine Anspielung auf Verfahren und Regeln, die in der einen oder anderen Form beispielsweise in der gesellschaftlichen Praxis, auf dem Gebiet des Rechts und in der Hadithwissenschaft zur Anwendung kommen. Wir sehen mithin, dass al-Ghazālī hier die Logiken und Methoden verschiedener Bereiche des menschlichen Lebens, zu denen auch diverse Wissenschaften gehören mögen, unversehens miteinander vermengt, ohne Rechenschaft über die unterschiedlichen Bedeutungen der Begriffe im jeweiligen Bereich abzulegen. Und die Bedeutungen unterscheiden sich doch in erheblichem Maße, sind möglicherweise sogar unvereinbar. Wie kann er das tun? Ist er sich dessen wirklich bewusst? Sieht er übergreifende Gemeinsamkeiten, die dies erlauben würden?
Im Fall der Hadithwissenschaft zum Beispiel handelt es sich um die Überprüfung der Wahrhaftigkeit von Personen und deren Aussagen; im Fall der aristotelischen Logik hingegen geht es um die Wahrheit von Aussagen und deren formalen Begründungszusammenhang. al-Ghazālī überspielt diese Differenzen beispielsweise durch eine gewisse Personalisierung der Vernunft, deren Zusammenhang mit dem philosophischen Begriff der Vernunft dadurch in weite Ferne rückt, im Hintergrund aber dennoch für die Argumentation im Hinblick auf ihre Verbindlichkeit mit vorgeblich logischem Zwang verdeckt in Anspruch angenommen wird.
al-Ghazālī erläutert das Begründungsverhältnis von Vernunft und Offenbarung weiter:
Die Offenbarung ist ein Zeuge (schāhid) für die Einzelheiten, und die Vernunft ist der Glaubwürdigkeitszeuge (muzakkī) für die Offenbarung.
Von der Verwendung des Begriffs der Zeugenschaft abgesehen, sieht das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung demnach so aus: Die Vernunft begründet die Offenbarung; und die Offenbarung wiederum die Einzelheiten. Die Wahrheit der Offenbarung als Ganzes wird durch die Vernunft gewährleistet; und auf dieser Grundlage erfolgt die Anerkennung der Einzelheiten, von denen die Offenbarung berichtet, als wahr.
Das ganze Argument scheint dann darauf hinauszulaufen, dass man sagt: Wenn man an der Offenbarung festhalten will, braucht man die Vernunft, denn die Vernunft begründet die Offenbarung. Also muss man an der Vernunft festhalten. Denn wenn man an der Vernunft nicht festhält, verliert man auch die Offenbarung. Wir wollen aber an der Offenbarung festhalten… Ist das nicht zirkulär? Dreht sich das nicht schwindelerregend im Kreis? Kommt darin wirklich ein Begründungsverhältnis zum Ausdruck? Oder vielleicht eher ein Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeit?
al-Ghazālī zieht daraus jedenfalls den Schluss, dass es notwendig ist, der Vernunft Glauben zu schenken – Glauben zu schenken! Welche Vernunft ist das, der man Glauben schenken muss? Gewiss nicht die Vernunft der aristotelischen Philosophie.
Wenn es mithin unerlässlich ist, der Vernunft Glauben zu schenken (tasdīq al-ʿaql), kann man nicht bestreiten, (dass) Örtlichkeit und Gestalt von Gott (Allāh) verneint werden müssen.
Daran würde sich auch nichts ändern, wenn tasdīq vielleicht etwas weniger verfänglich übersetzt werden würde, wie beispielsweise: Zustimmung, Als-wahr-Anerkennen oder Fürwahrhalten. Denn es wird, wenn es nicht völlig beliebig sein soll, allemal vorausgesetzt, dass es ein Kriterium der Wahrheit gibt, das außerhalb der Vernunft liegt und allererst die Wahrheit der Vernunft selbst zu sichern, zu begründen oder zumindest zu beurteilen hätte. Aber was sollte das Kriterium der Wahrheit sein, wenn es nicht die Vernunft ist? Ist eine Antwort auf diese Frage im Rahmen der aristotelischen Philosophie vorstellbar? Ja, kann diese Frage darin überhaupt sinnvoll gestellt werden? Wohl kaum.
Wenn man mithin der Vernunft Glauben schenken muss, dann auch allem, was mit vernünftiger und logischer Notwendigkeit aus ihr hervorgeht, wie al-Ghazālī am Beispiel der unerlässlichen Verneinung der Örtlichkeit und Gestalt von Gott aufzeigt, das allerdings nicht näher ausgeführt wird. Aber auch in dieser bloß angedeuteten Form des Arguments ist offensichtlich, dass zumindest ein bestimmter Begriff des Raumes vorausgesetzt werden muss. Dass der damit eingeschlagene Weg tatsächlich tief in die aristotelische Philosophie hineinführt, verraten die beiden Beispiele, die darauf folgen und etwas eingehender dargestellt werden. Das erste Beispiel betrifft das im Koran genannte »Wiegen von Taten«, das zweite den in einem Hadith erwähnten »Tod in Gestalt eines fetten Schafbockes«. Es sei hier lediglich das erste Beispiel angeführt, da beide sich im wesentlichen gleichen:
Wenn dir gesagt wird, dass Taten gewogen werden,
Siehe z.B. Koran 7:8-9, 23:101-104, 101:6-11. wirst du wissen, dass Taten ein Akzidens (ʿaradh) sind, das nicht gewogen werden kann, und dass daher Interpretation (taʾwīl) unerlässlich ist.
Im Kern geht es in beiden Beispielen um den Begriff des Akzidens (ʿaradh), wobei als Grundlage des Arguments angenommen wird, dass ein Akzidens etwas ist, das kein Körper ist und auch nicht in einen Körper umgewandelt werden kann und daher körperlichen Vorgängen wie Wiegen und Ortsbewegung nicht unterzogen werden kann. Diese Überlegung beruht nicht nur auf der grundbegrifflichen Unterscheidung von Substanz und Akzidens, sondern auch auf Begriffen wie Körper, Raum und Zeit sowie deren Wechselbeziehungen, wie sie in der aristotelischen Philosophie verstanden werden. Daher ist das scheinbar einfach klingende Argument in Wirklichkeit äußerst voraussetzungsreich und hochkomplex, und zwar in seinem solchen Maße, dass ein Versuch, seinen Verästelungen im Begriffsgeflecht der aristotelischen Philosophie nachzuspüren, den Rahmen hier bei weitem sprengen würde. Auf die Problematik dieser philosophischen Begriffe und der sich aus ihrer Verwendung ergebenden Probleme im islamischen Denken, insbesondere in falsafa und kalām, kann hier nur hingewiesen werden.
Jedenfalls werden diese metaphysischen Voraussetzungen kurzerhand mit der Vernunft gleichgesetzt und so in den Stand von notwendigen Wahrheiten erhoben, aus denen wiederum mit logischer Notwendigkeit folgt, dass bestimmte Dinge unmöglich sind. Wer nun dieser Vernunft Glauben schenkt, wird also, wenn er solche Dinge aus der Offenbarung zu hören bekommt, schlussfolgern, dass diese Aussagen der Offenbarung unmöglich wahr sein können und mithin, wenn sie nicht ganz verworfen werden sollen, einer anderen Interpretation bedürfen, und einsehen, »dass daher Interpretation (taʾwīl) unerlässlich ist«. Denn diese Interpretation ist erforderlich, um den vermeintlichen Widerspruch zwischen den Wahrheiten der Vernunft und den Aussagen der Offenbarung aufzulösen.
Aber es gibt nicht nur starke Voraussetzungen auf der Seite der Vernunft, sondern auch auf der Seite der Offenbarung. Denn wie wird die Offenbarung über das bloße Hören hinaus verstanden? Und wie erfolgt die Interpretation (taʾwīl), die als Umdeutung zu verstehen sein muss, wenn sie denn dazu dienen soll, einen vermeintlichen Widerspruch zu beseitigen? al-Ghazālī hält es offensichtlich nicht für nötig, darauf näher einzugehen. Er stellt schlicht fest, dass Interpretation (taʾwīl) unerlässlich ist, ohne das damit bezeichnete Verfahren zu erläutern. Es geht aber aus der Darstellung der Beispiele hervor, dass es zunächst ein erstes oder anfängliches Verstehen der Aussagen der Offenbarung geben muss, das sich sodann als im Widerspruch zur Vernunft stehend erweist, wodurch wiederum die Umdeutung des anfänglichen Verstehens erforderlich wird.
Einen gewissen Aufschluss dazu liefert ein Satz, den al-Ghazālī im Rahmen der Beschreibung der »ersten Gruppe« verwandte und in dem der zentrale Ausdruck taʾwīl bereits vorkam. Er sei zur Erinnerung nochmals zitiert:
Wenn sie aufgefordert werden, einen Widerspruch in der äußeren Bedeutung (dhāhir) der Offenbarung (manqūl) zu erklären und eine Interpretation (taʾwīl) zu geben, weigern sie sich, indem sie sagen, dass Gott (Allāh) Macht über alle Dinge hat.
Der Widerspruch zur Vernunft ergibt sich demgemäß also aus der »äußeren Bedeutung (dhāhir) der Offenbarung«, die sich aus dem anfänglichen Verstehen ergibt. Es scheint naheliegend zu sein, diese äußere Bedeutung als wörtliche Bedeutung aufzufassen, wie dies auch sehr häufig geschieht. Da al-Ghazālī hier keinen Aufschluss dazu bietet, lässt sich nur vermuten, welches Verständnis von sprachlicher Bedeutung zugrundegelegt wird. Wir müssen uns aber versagen, darauf näher einzugehen, da dies zu weit führen würde. Es sei daher der Einfacheit halber angenommen, dass klar sei, was mit äußerer Bedeutung gemeint ist und wie sie im Sinne von wörtlicher Bedeutung zu verstehen ist. Dann lässt sich sagen, dass das zur Auflösung des vermeintlichen Widerspruchs zwischen Offenbarung und Vernunft erforderliche Verfahren, das taʾwīl genannt wird, das Aufgeben der wörtlichen Bedeutung und den Übergang zu einer anderen Bedeutung in sich schließt. Daher ist taʾwīl nicht im Sinne einer einfachen Interpretation oder Deutung zu verstehen, sondern genauer als Umdeutung, nämlich als Übergang von der wörtlichen zur nicht-wörtlichen Bedeutung. Wie genau vollzieht sich das Verfahren der Umdeutung? Was ist unter der nicht-wörtlichen Bedeutung zu verstehen? Wir können die Fragen, die wir eben schon aufgeworfen haben, nun in gewandelter Form erneut stellen. Aber der Text bietet kaum Anhaltspunkte für weitergehende Antworten. Denn al-Ghazālī beschließt die zweite Empfehlung schlicht mit der aus dem Beispiel vom »Tod in Gestalt eines fetten Schafbockes« gezogenen Schlussfolgerung, die sich ebenso schon aus den vorhergehenden Beispielen ergeben hatte:
Daher ist Interpretation (taʾwīl) unerlässlich.
al-Ghazālī geht daraufhin sogleich zum nächsten und letzten Ratschlag über, der ein Problem behandelt, das gleichsam auf der nächsthöheren Ebene angesiedelt ist:
Die dritte Empfehlung ist, dass man darauf verzichten sollte, eine Interpretation zu spezifizieren, wenn die (verschiedenen) Möglichkeiten (der Interpretation) unvereinbar sind.
Das Problem ergibt sich mithin bereits aus Unerlässlichkeit der Anwendung der Umdeutung (taʾwīl), da diese zu einem nicht eindeutigen Ergebnis führen kann. Es ist vorausgesetzt, dass die äußere Bedeutung nicht aufrechterhalten werden kann. Aber welche Bedeutung soll an ihre Stelle treten? Und wo soll die Umdeutung überhaupt ansetzen? Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorstellen zu können, dass sich daraus vielerlei Optionen ergeben können, aus denen eine Auswahl zu treffen ist, und die sich zudem möglicherweise gegenseitig ausschließen. Auf dieses Problem ist nun al-Ghazālīs Empfehlung gemünzt.
Wenn es mithin verschiedene Möglichkeiten zur Deutung einer bestimmten problematischen Stelle gibt, die aber miteinander unvereinbar sind, wobei es keine deutlichen Anzeichen dafür gibt, eine bestimmte Deutung unter den unterschiedlichen Optionen auszuwählen, so ist es ratsam, auf die Auswahl einer bestimmten Interpretation zu verzichten. Denn in einem solchen Fall lässt sich nicht zweifelsfrei bestimmen, was tatsächlich gemeint ist. Wenn bei einer Vielzahl von möglichen Deutungen die Intention des Sprechers, nämlich Gottes (Allāh) oder des Propheten (sas), nicht deutlich hervortritt, müsste sich ein Urteil auf Mutmaßung stützen. Aber, so al-Ghazālī, ein solches Urteil ist gefährlich. Den Grund für die Gefährlichkeit wird er erst etwas später nennen. Vorerst geht es ihm um die Frage, wie die Intention eines Sprechers zu ermitteln ist. Das Verhältnis von »äußerer Bedeutung« und Intention wird allerdings gar nicht angesprochen. Es scheint dabei ungesagt vorausgesetzt zu werden, dass die Frage nach der Intention des Sprechers erst dann zum Problem wird, wenn die »äußere Bedeutung« ausgeschlossen werden muss. Denn es handelt sich ja um die Auswahl aus verschiedenen Deutungen, die erst getroffen werden muss, wenn eine Umdeutung erforderlich geworden ist. al-Ghazālī fährt also fort:
Ein Urteil hinsichtlich der Intention Gottes (Allāh), des Gepriesenen, und der Intention Seines Propheten (sas) mittels Vermutung oder Mutmaßung ist gefährlich. Man erkennt die Intention eines Sprechers nur dann, wenn er seine Intention bekundet. Wenn er seine Intention nicht bekundet, wie kann man sie dann erkennen, außer wenn die verschiedenen Möglichkeiten begrenzt sind und alle außer einer von ihnen ausgeschlossen werden? Diese eine (Intention) ist dann durch Beweis (bi-l-burhān) spezifiziert.
Wenn die »äußere Bedeutung« verneint werden muss und für die erforderliche Umdeutung mehrere Optionen möglich sind, kommt es darauf an, ob der Sprecher bekundet, was er mit der Äußerung meint. Tut er das, gibt es kein Problem für das Verstehen der Äußerung. Nun scheint al-Ghazālī aber davon auszugehen, dass der Sprecher der Offenbarung seine Intention nicht bekunden könnte. Was ist in einem solchen Fall zu tun? al-Ghazālī deutet einen Weg an, auf dem die Intention dennoch ermittelt werden kann, und zwar auf indirekte Weise, wenn es nur eine begrenzte Zahl von Optionen gibt, von denen sich durch ein Ausschlussverfahren letztlich nur eine einzige als möglich erweist. Was heißt hier möglich? Wie ist dieses Verfahren vorzustellen? Handelt es sich um eine Art von »Beweis (burhān) der Vernunft (ʿaql)«, wie er im Rahmen der zweiten Empfehlung und der dazugehörigen Beispiele vorgebracht wurde? Darauf deutet die Bemerkung hin, dass diese letztliche Deutung beziehungsweise Intention »dann durch Beweis (bi-l-burhān) spezifiziert« ist. Es ist aber zu bedenken, dass dieser Beweis, wie auch immer er genau aussehen mag, jedenfalls erst im Laufe eines komplexen Verfahrens zur Bestimmung der Bedeutung einer Äußerung eines Sprechers durch einen Hörer in einem bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zum Einsatz kommen kann. Und zu den Voraussetzungen seiner Anwendbarkeit gehört zudem, wie bereits gesagt, die Begrenztheit der Optionen, aus denen die definitive Auswahl zu treffen ist. Angesichts dessen bringt al-Ghazālī seine Skepsis deutlich zum Ausdruck:
Allerdings sind die verschiedenen Möglichkeiten in der Rede der Araber und die Weisen ihrer Erweiterung zahlreich. Wie können sie also begrenzt werden? Verzicht auf Interpretation (taʾwīl) ist daher sicherer.
Hier eröffnet sich also ein Bereich, auf dem die Vernunft und ihre Logik überfordert sind und versagen. Die »Rede der Araber«, die Sprache und ihr wirklicher Gebrauch im Leben entziehen sich dem Zugriff der Logik, insbesondere der aristotelischen Logik, wenn wir die Verwendung von burhān als Anspielung darauf verstehen wollen. Daher sollte unter diesen Bedingungen auf die Festlegung einer Deutung durch taʾwīl verzichtet werden. al-Ghazālī erläutert dies durch das Beispiel vom »Wiegen der Taten«, dem wir bereits begegnet sind. Die Notwendigkeit zum taʾwīl sollte sich daraus ergeben, dass die Taten ein Akzidens (ʿaradh) sind, das nicht gewogen werden kann. Nun wird das Beispiel einen Schritt weiter geführt. Wenn also das Aufgeben der »äußeren Bedeutung (dhāhir)« als unerlässlich erkannt worden ist, stellt sich die Frage, wo die Umdeutung ansetzen soll. In diesem Fall liegen zwei Worte vor, nämlich »Wiegen« und »Taten«. al-Ghazālī sieht nun das Problem darin, dass es ohne weitere Hinweise nicht möglich ist, zu entscheiden, bei welchem der beiden Worte die äußere Bedeutung zu verlassen ist. Zur Beschreibung dieses Problems führt er einen neuen Ausdruck ein, der als Gegenbegriff zu dhāhir verstanden werden kann, nämlich madschāz (Metapher, Allegorie). Dann kann taʾwīl als Übergang von der äußeren Bedeutung (dhāhir) zur metaphorischen Bedeutung (madschāz) gefasst werden. Und das Problem lässt sich mithin so ausdrücken: Welches der beiden Worte ist eine Metapher (madschāz)? al-Ghazālī beschreibt es im einzelnen folgendermaßen:
Zum Beispiel: Wenn es für dich klar ist, dass Taten nicht gewogen werden können, und das Wort vom Wiegen der Taten kommt auf, so hast du nun das Wort »Wiegen« und das Wort »Taten« vorliegen. Es ist möglich, dass die Metapher (madschāz) das Wort »Taten« ist und dass es stellvertretend für das Verzeichnis der Taten verwendet wurde, in dem sie festgehalten wurden bis zum Wiegen dieser Verzeichnisse der Taten. Andererseits ist es auch möglich, dass die Metapher das Wort »Wiegen« ist und dass es stellvertretend für seine Wirkung verwendet wurde, nämlich die Bestimmung der Menge der Tat, denn das ist der Nutzen des Wiegens, und Wiegen und Messen sind Weisen der Bestimmung (von Mengen). Wenn du daraufhin schlussfolgerst, dass das, was zu interpretieren ist, eher das Wort »Taten« ist als das Wort »Wiegen«, oder eher »Wiegen« als »Taten«, ohne dich entweder auf die Vernunft oder die Offenbarung zu stützen, triffst du ein Urteil über Gott (Allāh) und Seine Intention durch Mutmaßung.
Da es keine hinreichenden Hinweise zur eindeutigen Bestimmung der Interpretation gibt, müsste eine Entscheidung für eine der Alternativen auf bloßer Vermutung beruhen. Weder die Vernunft, die angesichts der Komplexität der Sprache überfordert ist, noch die Offenbarung, da der Sprecher der Offenbarung seine Intention nicht in dem für eine eindeutige Bedeutungsbestimmung erforderlichen Maße bekundet, liefern die Hinweise für ein sicheres Urteil. al-Ghazālī kommt nun auf die Frage zurück, warum Mutmaßung in diesem Fall so gefährlich ist, denn:
Und Mutmaßung und Vermutung sind gleichbedeutend mit Unwissen.
al-Ghazālī bezieht sich im folgenden auf eine Regel, der zufolge Mutmaßung hinsichtlich praktischer Belange wie gottesdienstlicher Handlungen und auf idschtihād (selbständiger Urteilsfindung) basierender Entscheidungen zwar erlaubt ist, aber nicht auf Gebieten wie der Glaubenslehre, die ohne direkten Bezug zur Praxis sind. Wer es auf diesem Gebiet wagt, auf bloßen Vermutungen basierende Urteile zu fällen, läuft zudem Gefahr, am Tag der Auferstehung dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wer also vernünftig ist, verzichtet besser auf die Interpretation und gesteht sich sein Unwissen ein.
Mutmaßung und Vermutung sind erlaubt als notwendig für die Verrichtung von gottesdienstlichen Handlungen, Handlungen der Frömmigkeit und anderen Handlungen, die durch selbständige Urteilsfindung (idschtihād) ermittelt werden. Auf keinerlei Handlung bezogene Angelegenheiten fallen hingegen in die gleiche Kategorie wie die reinen Wissenschaften und die Glaubensüberzeugungen. Auf welcher Grundlage wagt man es dann, Urteile über diese Angelegenheiten allein mittels Vermutung zu machen? Das meiste von dem, was in den Interpretationen (taʾwīlāt) gesagt worden ist, besteht aus Vermutungen und Mutmaßungen.
Das ist doch eine sehr bemerkenswerte Aussage, die festgehalten zu werden verdient. Wenn die meisten Interpretationen aus Vermutungen bestehen und Vermutungen auf diesem Gebiet Unwissen gleichkommen – klingt das dann nicht fast schon wie eine Absage an taʾwīl? Es lässt sich allemal sagen, dass al-Ghazālī hier eine stark zurückhaltende und eher skeptische Haltung gegenüber taʾwīl zum Ausdruck bringt, die darüber hinaus als vernünftig gekennzeichnet wird. Denn diese Auffassung legt er sodann ganz unmissverständlich demjenigen in den Mund, der sich eines vernünftigen Urteils befleißigt:
Der Vernünftige (ʿāqil) hat die Wahl, entweder durch Vermutung zu urteilen oder zu sagen: »Ich weiß, dass seine äußere Bedeutung nicht ist, was intendiert ist, weil sie etwas beinhaltet, was im Widerspruch zur Vernunft steht (takdhīb li-l-ʿaql). Was jedoch genau intendiert ist, erfasse ich nicht, und ich benötige auch nicht, es zu erfassen, da keine Handlung davon abhängig ist und es darin keinen Weg zur wahren Einsicht und Gewissheit gibt. Zudem halte ich nichts davon, durch Mutmaßung zu urteilen.« Und das ist richtiger und sicherer für jeden Vernünftigen.
Wir müssen hier der Versuchung widerstehen, auf die schwierigen Fragen näher einzugehen, die mit dem Begriff der Gewissheit und dessen Gegensatz zur Mutmaßung verknüpft sind, da dies zu weit führen würde. Der bloße Hinweis auf diese große Thematik muss daher genügen.
Der Vernünftige rekapituliert also in groben Zügen den gesamten Gedankengang, den der Text bis hierher durchschritten hat und kommt zu einem deutlichen Urteil, das wohlbegründet erscheint. Und al-Ghazālī lässt mit seinem Urteil wiederum keinerlei Zweifel daran bestehen, welche Haltung er für die richtige hält. Der Vernünftige wird unter diesen Bedingungen zwar die Notwendigkeit der Umdeutung (taʾwīl) erkennen, aber auf dessen Durchführung verzichten. Und das ist nicht nur richtig, sondern auch sicherer, denn:
Es ist auch näher an der Sicherheit für die Auferstehung, denn es ist nicht fernliegend, dass er bei der Auferstehung befragt und zur Rechenschaft gezogen wird und dass zu ihm gesagt wird: »Du hast über Uns durch Vermutung geurteilt.«
Eine andere Frage wird hingegen nicht gestellt werden, da es keine Verpflichtung dazu gibt und daher auch keine Gefahr im Falle des Verzichts oder der Unterlassung besteht:
Er wird hingegen nicht gefragt werden: »Warum ist es dir nicht gelungen, Unsere verborgene und dunkle Intention, in der es kein Gebot für eine Handlung gibt, zu erschließen? Es liegt darin für dich keine Verpflichtung hinsichtlich der Glaubenslehre (iʿtiqād) außer unbedingtem Glauben (al-īmān al-mutlaq) und grundsätzlichem Fürwahrhalten (at-tasdīq al-mudschmal).«
Zunächst wird nochmals betont, dass die Intention der Offenbarung in diesem Fall in der Tat verborgen und dunkel ist und keine Verpflichtung besteht, sie näher und tiefer zu ergründen, da kein handlungsrelevantes Gebot damit verknüpft ist und dies zudem aufgrund unüberwindlicher Schwierigkeiten bestenfalls zu mutmaßlicher, aber keineswegs gewisser und wahrer Einsicht führen kann. Und wo keine Verpflichtung, aber Gefahr besteht, liegt die vernünftige Entscheidung sicherlich auf der Seite der Zurückhaltung und des Verzichts. Der Vernünftige wird also sein Unwissen hinsichtlich der wahren Intention der Offenbarung eingestehen und die Glaubenslehre (iʿtiqād) an diesem Punkt nicht weiter vertiefen. Doch was steht ihm dann noch offen zu glauben? Woran glaubt er dann? Kann er diese Frage überhaupt noch beantworten? Bloßes Unwissen hilft da nicht weiter. Denn es stellt sich ja allemal die Frage: Unwissen wovon?
al-Ghazālī scheinen sich diese Fragen nicht zu stellen. Zumindest hält er eine weitere Erläuterung nicht für angebracht. Er spricht hinsichtlich der Glaubenslehre lediglich von unbedingtem Glauben (al-īmān al-mutlaq) und grundsätzlichem Fürwahrhalten (at-tasdīq al-mudschmal). Den Gegenstand des unbedingten Glaubens und grundsätzlichen Fürwahrhaltens nennt er nicht, wenn es denn nicht die Offenbarung als Ganzes ist. Darauf deutet der abschließende Verweis auf den Koranvers 3:7 hin. Aber hilft das im Einzelfall weiter? Will er damit sagen, dass sich die Frage im Einzelfall gar nicht mehr stellen sollte?
Aber was würde sich daraus ergeben, wenn sich die Frage doch im Einzelfall stellte? Nehmen wir das Beispiel vom »Wiegen der Taten«. Was bleibt, wenn sich die wahre Intention der Äußerung mit diesen Worten nicht ermitteln lässt? Wenn wir auf den bisherigen Gedankengang zurückblicken, bleibt wohl nur die Alternative zwischen dem bloßen Wortlaut der Äußerung »Wiegen der Taten« einerseits und der äußeren Bedeutung (dhāhir) der Äußerung »Wiegen der Taten« andererseits. Macht es aber Sinn, an den bloßen Wortlaut ohne jegliches Verstehen der Bedeutung zu glauben und ihn für wahr zu halten? Verlangen Glauben und Fürwahrhalten nicht eine gewisse inhaltliche Bestimmung, ein vorgängiges Verstehen? Und wenn das Verstehen der Bedeutung einer Äußerung die unerlässliche Voraussetzung ihres Glaubens und Fürwahrhaltens sein sollte, bliebe als einziger Gegenstand dieses Glaubens und Fürwahrhaltens wohl deren äußere Bedeutung (dhāhir). Hatte sich die äußere Bedeutung von »Wiegen der Taten« nicht als unmöglich erwiesen und daher zur Umdeutung genötigt? Führt uns al-Ghazālī also im großen Bogen des taʾwīl dennoch wieder zurück zum dhāhir?
al-Ghazālī gibt keinen weiteren Aufschluss zu diesen Fragen und lässt die Abhandlung vielmehr in ein Zitat aus dem berühmten Koranvers 3:7 münden, in dem der Ausdruck taʾwīl im Zentrum steht, ohne jedoch eine weitere Deutung zu bieten. Es scheint vielmehr als Schlussfolgerung aus den vorausgehenden Überlegungen gemeint zu sein. Wir wollen daher den Gedankengang, der uns hierher geführt hat, als Deutung dieses koranischen Wortes verstehen und es dabei bewenden lassen:
Das bedeutet, dass man sagt: »Wir glauben daran; alles ist von unserem Herrn.« (Koran 3:7)
Unsere Bemühung, diese kleine Abhandlung von al-Ghazālī zu verstehen, ist auf viele Hindernisse und Unklarheiten gestoßen. Vieles ist mehrdeutig und erklärungsbedürftig. Wir haben daher viele Fragen aufgeworfen und wenige Antworten gefunden. Die Interpretation dieses Textes muss mithin in vielerlei Hinsicht offen bleiben.
2.4 al-Ghazālī und Griffels Rationalismus
2.4 al-Ghazālī und Griffels Rationalismus Yusuf KuhnWir wollen nun sehen, ob es einem anderen Versuch, diesen Text zu verstehen, der indes viel größere Eindeutigkeit verspricht, wirklich anders ergangen ist. Die Rede ist von einem Artikel von Frank Griffel mit dem vielsagenden Titel: Al-Ghazālī at His Most Rationalist
al-Ghazālīs Rationalismus?
Was heißt rationalistisch? Die Bezeichnung als »rationalistisch« stammt freilich von Griffel. Sie ist keine Selbstbeschreibung al-Ghazālīs. Es wäre daher zu erwarten gewesen, dass Griffel angibt, was er mit diesem Ausdruck meint, in welcher der vielen Bedeutungen, die diese Kennzeichnung im Laufe der Geschichte der Philosophie und Theologie angenommen hat, er ihn verwendet. Das tut er jedoch nicht. Wir müssen also direkt danach fragen, was er unter al-Ghazālīs Rationalismus versteht? Die vielleicht prägnanteste Formulierung für al-Ghazālīs rationalistische Position in ihrer wahren Gestalt findet sich am Ende des Artikels als Ergebnis seiner Analyse:
Apodeixis ist der Maßstab für das Verifizieren der Offenbarung. (Griffel, S. 118)
Wir werden sehen müssen, was das genau zu bedeuten hat. Zur Erläuterung sei zunächst nur erwähnt, dass das griechische Wort apodeixis, das der aristotelischen Logik entstammt, von Griffel als Übersetzung für burhān steht, für das er auch andere Ausdrücke wie »demonstratives Argument«, »Demonstration« oder »apodiktisches Argument« verwendet, die ebenfalls auf die aristotelische Logik verweisen. Die Vernunft, die diesem Rationalismus zugrunde liegt und folglich die Offenbarung verifiziert, also über die Wahrheit der Offenbarung richtet, scheint mithin die Vernunft der aristotelischen Philosophie oder eine dieser zumindest eng verwandten Vernunft zu sein. Dass dieser Vernunftbegriff im Hintergrund steht, ohne dass Griffel sich je zu dessen näherer Klärung veranlasst sieht, zeigen zwei weitere Formulierungen der gleichen These. Die erste ist noch genau parallel zur obigen, nämlich:
Vernunft verifiziert Offenbarung. (112)
Hier wird also ausdrücklich an die Stelle von apodeixis der Begriff der Vernunft gesetzt. Und die zweite geht noch einen Schritt weiter, indem sie diese Vernunft in ein Gründungsverhältnis zur Offenbarung einsetzt:
Das ganze Gebäude der offenbarten Religion […] gründet auf der Vernunft […]. (111)
Damit ist Griffels zentrale These über al-Ghazālīs »rationalistischste« Darlegung »seiner wahren Position« (114) markiert. Und da laut Griffel selbst al-Ghazālī diese Position nur in diesem kleinen Text offen vertreten hat, liegt die gesamte Beweislast für diese These auf dessen Analyse. Lässt sie sich dadurch nicht schlüssig begründen, werden die von Griffel angeführten »Andeutungen« in anderen Schriften von al-Ghazālī ebenfalls hinfällig oder können bestenfalls als dunkle Anspielungen auf eine vermutete Position, die stets geheimgehalten und nie klar dargelegt worden ist, ins Schattenreich verwiesen werden. Daher können wir uns auf Griffels Argumentation in dieser zentralen Frage konzentrieren und seine zahlreichen Verweise auf »Andeutungen« in anderen Werken hintansetzen.
Kurzer Überblick
Griffel erkennt al-Ghazālīs Text als Teil eines Briefes von al-Ghazālī an seinen Schüler Abū Bakr ibn al-ʿArabī, in dem er Fragen, die letzterer ihm gestellt hatte, beantwortetet. Er stellt fest, dass dieser Brief, obwohl er »sehr wichtig für unser Verständnis von al-Ghazālīs Denken« ist, »bisher nicht gründlich untersucht worden ist«. Daher will er »dieses Werk vorstellen und innerhalb des Korpus von al-Ghazālīs Œuvre kontextualisieren« und klären »was al-Ghazālī mit ›die universelle Regel‹ der allegorischen Interpretation meint« (94). Griffel übersetzt taʾwīl von vornherein mit »allegorischer Interpretation« mit der Begründung, dass »das englische Wort ›interpretation‹ nicht den Aspekt des Verwerfens der offensichtlichen oder äußeren Bedeutung beinhaltet» (89-90, Anm. 3). Er betrachtet die Autorschaft von al-Ghazālī als erwiesen, abgesehen von den Fragen zu Anfang, die wahrscheinlich von seinem Schüler Abū Bakr ibn al-ʿArabī verfasst sind, und datiert den Brief mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Sommer des Jahres 490/1097.
Der Inhalt des Briefes lässt sich nach Griffel in drei Teile unterteilen. Den ersten Teil bilden die Fragen, in denen allerlei Themen aus Koran und Hadith angesprochen werden, wie beispielsweise über den Sinn von Aussagen über Paradies, Dschinn, Satan usw. al-Ghazālīs Antwort wiederum zerfällt in die beiden übrigen Teile. Der zweite Teil entspricht dem Text über die Regel der Interpretation (qānūn at-taʾwīl), mit dem wir uns hier befassen. Im dritten Teil findet sich »eine detaillierte Erörterung einer sehr begrenzten Zahl von Problemen, die der Fragesteller aufgeworfen hat« (101). Dazu gehört auch die Frage nach der Bedeutung von asch-schaytān (Satan) in einem Hadith. Griffel beginnt seine Analyse mit diesem Abschnitt des Textes und vertritt die Auffassung, dass al-Ghazālī eine »avicennische Erklärung« dieser Frage geliefert habe. Wir können in Hinblick auf die in unserem Kontext relevante Fragestellung somit getrost zum nächsten Abschnitt übergehen.
Literalismus und Rationalismus
Griffel eröffnet seine Darstellung der »fünf Haltungen zum Verhältnis von Vernunft und Offenbarung«, wie er diesen Abschnitt überschreibt, mit folgendem Satz:
Zu Beginn seiner Antwort auf die Fragen des Fragestellers verspricht al-Ghazālī eine »universelle Regel« (qānūn kullī) darüber, wie mit Fällen eines Konflikts zwischen dem äußeren Sinn (ẓāhir) der Offenbarung und den Resultaten der vernünftigen Untersuchung zu verfahren ist. (108)
So kennzeichnet Griffel die Problemstellung. Sie greift allerdings zumindest weit voraus, denn an dieser Stelle, also »zu Beginn seiner Antwort«, ist von dhāhir im Sinne von äußerer Bedeutung noch überhaupt nicht die Rede. Das Wort dhāhir kommt zwar direkt im Anschluss daran vor, aber in einem anderen Sinn, nämlich des oberflächlichen Eindrucks. al-Ghazālī selbst spricht in seinem Problemaufriss lediglich von einem »Konflikt zwischen Vernunft (maʿqūl) und Offenbarung (manqūl)« und behält dies bei der folgenden Kurzbeschreibung der fünf Positionen auch so bei. Erst bei der näheren Beschreibung der ersten Gruppe ist die Rede von dhāhir im Sinne von äußerer Bedeutung. Griffel trifft somit eine inhaltlich relevante Vorentscheidung, die ohne wirkliche Grundlage im Text ist und die Problemstellung in einer gewissen Weise fasst, die weitreichende Folgen haben kann. Denn damit wird ohne weitere Begründung eine bestimmte Methode des Verstehens der Offenbarung vorausgesetzt, die keineswegs alternativlos ist. Daraus erklärt sich dann wohl auch Griffels Entscheidung, taʾwīl von vornherein mit »allegorische Interpretation« zu übersetzen, was offensichtlich auf diese Methode aufsetzt. al-Ghazālī ist da offener.
Griffel führt sodann die nächsten Sätze aus al-Ghazālīs Text an, welche die Beschreibung des Problems und der fünf Gruppen beinhalten. Es fällt dabei auf, dass er al-maʿqūl nicht beispielsweise mit die Vernunft oder das Vernünftige, sondern stets mit »die Diktate der Vernunft« und »was die Vernunft diktiert« überträgt. Warum »Diktate« und diktiert«? Er wird diese Formulierung immer wieder verwenden, ohne sie zu erläutern. Warum tut er dies? Will er damit den vermeintlichen Rationalismus von al-Ghazālī noch stärker betonen, indem der Eindruck erweckt wird, dass dieser die Vernunft als Diktator versteht, dessen zwingende Notwendigkeit keinerlei Ausflucht erlaubt? Im Text selbst sind keine Anhaltspunkte für diese spezielle Übersetzung zu erkennen.
Die von al-Ghazālī beschriebenen Gruppen kennzeichnet Griffel folgendermaßen:
Jede der Gruppen repräsentiert eine gewisse Haltung zu Vernunft und Offenbarung, die zwischen den Extremen eines strikten Literalismus einerseits und eines radikalen Rationalismus andererseits rangiert. (109)
Die Etiketten »Literalismus« und »Rationalismus« stammen freilich nicht von al-Ghazālī. Und ihre Berechtigung ist fraglich. Gleichwohl bemüht Griffel sich nicht, ihre Verwendung zu rechtfertigen oder zu erklären. Beide Begriffe besitzen starke Voraussetzungen. Und so wäre ihre Gültigkeit allererst zu erweisen. Was heißt beispielsweise »Literalismus«? Und inwiefern kann die damit vermutlich bezeichnete Methode des Verstehens der Offenbarung manchen der fünf Gruppen zugeschrieben werden? Damit gemeint dürfte wohl das bedingungslose Festhalten an der wörtlichen (literalen) Bedeutung sein. Davon ist aber in al-Ghazālīs Text nicht die Rede, auch nicht in der Beschreibung der ersten Gruppe, die diesem Extrem am nächsten kommen dürfte. Es heißt lediglich, dass »sie sich mit dem begnügen, was sie von der äußeren Bedeutung der Offenbarung bereits verstehen«. Ist die äußere Bedeutung die wörtliche Bedeutung? Und was ist deren Verstehen? Ist damit das Etikett »Literalismus« gerechtfertigt? Für Griffel scheint es so zu sein, ohne dass er dafür eine Begründung für erforderlich hielte.
al-Ghazālī nennt keine Namen für die Gruppen. Griffel meint zumindest die Extreme identifizieren zu können, nämlich die Rationalisten als die falāsifa und die Literalisten als die Anhänger von Ahmad ibn Hanbal. Die Beschreibung von al-Ghazālī mag auf letztere zutreffen. Aber waren sie, wie Griffel zu unterstellen scheint, Literalisten und, wenn ja, in welchem Sinn?
Die fünfte Gruppe, die er die »von al-Ghazālī selbst« nennt, kennzeichnet er als »Kombination von Literalismus und Rationalismus« (109). Während die Beschreibungen, die al-Ghazālī selbst von den verschiedenen Positionen und der Aussicht auf eine Versöhnung gibt, in ihrer Ausgewogenheit sinnvoll und nachvollziehbar sind, ist kaum auszumachen, was man sich unter Griffels Beschreibung einer »Kombination von Literalismus und Rationalismus« vorzustellen hat. Was ergibt eine Kombination zweier falscher oder unvereinbarer Positionen oder zumindest einer falschen, wenn wir zugestehen wollten, dass al-Ghazālī ein Rationalist sei, mit einer richtigen? Und wie wird aus dieser eigentümlichen Kombination als Endergebnis der Rationalismus, den Griffel al-Ghazālī doch letztlich zuschreibt? Da drängt sich endgültig der Eindruck auf, dass diese Etiketten dem Verständnis des Textes eher ab- als zuträglich sind. Der Text bei al-Ghazālī, auf den Griffel hier vermutlich anspielt, lautet so:
Die fünfte Gruppe: Sie ist die mittlere Gruppe, welche die Untersuchung von Vernunft (maʿqūl) und Offenbarung (manqūl) miteinander verbunden hat. Sie machten jede von beiden zur wichtigen Grundlage und bestritten einen Widerspruch (taʿārudh) zwischen Vernunft (ʿaql) und Offenbarung (scharʿ) und dessen wirkliches Bestehen.
Von Literalismus und Rationalismus oder gar deren Kombination ist hier freilich nicht die Rede. Und wenn Griffel der Meinung sein sollte, dass dies doch der Fall ist, müsste er dies zeigen und nicht einfach irreführende Etiketten aufsetzen. Im Einklang mit obigem Zitat von al-Ghazālī betont er daraufhin allerdings ganz zu Recht im Hinblick auf die fünfte Gruppe:
Statt den Extremen zu verfallen, bedienen sie sich sowohl der Vernunft als auch der Offenbarung als zweier wichtiger Grundlagen (Sing. aṣl) ihrer Untersuchung. (Griffel, 109-110)
Wie dies mit der Zuschreibung eines Rationalismus vereinbar sein soll, sagt er an dieser Stelle jedoch nicht.
Vernunft oder Offenbarung
Bevor Griffel weitergeht, wirft er einen Blick zurück auf die Erörterung des Begriffs der Möglichkeit, wie sie in der Beschreibung der vierten Gruppe vorkommt. Über diese Gruppe hat er kurz zuvor bereits folgendes gesagt:
Zwischen diesen beiden Extremen sind […] und eine mehr gemäßigte Gruppe von Literalisten (sic), »die den Zusammenstoß zwischen den Diktaten (sic) der Vernunft [maʿqūl?] und der äußeren Bedeutung [dhawāhir] nur in einigen Randgebieten der rationalen Wissenschaften bemerken.« (109; Unterstreichung von mir)
Griffel übersetzt hier, abgesehen von »den Diktaten«, mit reason (Vernunft), wie Heer dies auch tut. An dieser Stelle steht im arabischen Text in der Ausgabe von Bīdschū wie auch von al-Kawtharī jedoch nicht maʿqūl (Vernunft), sondern manqūl (Offenbarung, Überlieferung). Weder Griffel noch Heer merken dazu etwas an. Haben beide stillschweigend eine Korrektur am arabischen Text vorgenommen? Gibt es abweichende Ausgaben? Es gibt jedenfalls keinen Hinweis auf einen Fehler im Text und keine erkennbare Rechtfertigung für einen solchen Eingriff. Wir halten daher am arabischen Text in seiner vorliegenden Form mit manqūl an dieser Stelle fest und übersetzen mit Offenbarung. Dadurch ändert sich der Sinn erheblich und erfordert eine Korrektur der Übersetzung des folgenden dhawāhir, das nicht mehr als »äußere Bedeutung« im bisherigen Sinne verstanden werden kann. Dass dhāhir durchaus in einem anderen und an dieser Stelle passenden Sinn von al-Ghazālī verwendet wird, zeigt sich schon ganz zu Anfang des Textes im zweiten Satz, in dem es im Sinne von »oberflächlichen Eindruck« (dhāhir al-fikr) vorkommt. Daraus ergibt sich folgende Übertragung, die im Zusammenhang wiedergegeben sei (die Unterstreichung entspricht der unterstrichenen Stelle im obigen Zitat):
Die vierte Gruppe: Sie machte die Offenbarung grundlegend und behandelte sie ausführlich. Sie waren mit einer großen Zahl von Schriftstellen im äußeren Sinn (dhawāhir) vertraut, aber sie vermieden die Vernunft und begaben sich nicht in sie hinein. So erschien ihnen ein Konflikt zwischen der Offenbarung (manqūl) und den Dingen, die oberflächlich betrachtet (dhawāhir) in den Randgebieten der rationalen Wissenschaften (maʿqūlāt) gelten. Da ihre Befassung mit der Vernunft nicht so ausgedehnt war und sie sich nicht in sie hineinbegaben, waren rationale Unmöglichkeiten (al-hālāt al-ʿaqliyya) für sie nicht offenkundig, denn manche Unmöglichkeiten werden erst nach einer sorgfältigen und eingehenden Untersuchung erkannt, die auf vielen aufeinander folgenden Prämissen basiert.
Da sie die Vernunft vermieden und sich nicht in sie hineinbegaben, ist die Aussage durchaus sinnvoll, dass sie eben keinen Konflikt zwischen der Vernunft und der äußeren Bedeutung der Offenbarung, sondern vielmehr einen Konflikt zwischen der Offenbarung, also manqūl, wie es im arabischen Text steht, und oberflächlich betrachteten (dhawāhir) Marginalien in den rationalen Wissenschaften erkannten. Und aufgrund ihrer geringen Befassung mit der Vernunft waren ihnen auch die rationalen Unmöglichkeiten nicht bekannt. Damit wären wir wieder beim Begriff der Möglichkeit, wie zuvor angesprochen.
Griffel greift dann auf, was al-Ghazālī im nächsten Absatz als »weiteren Punkt« hinzufügt, um einmal mehr dessen »Rationalismus« zu betonen. Es sei vorweg nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass diese Stelle sich im Rahmen der Beschreibung der vierten Gruppe findet, welche die Vernunft vermieden und sich nur wenig mit ihr befasst hat. Wir wollen zunächst sehen, was Griffel dazu sagt:
Innerhalb seiner Erklärung der fünf Haltungen gegenüber dem Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung zeigt al-Ghazālī auf, dass die Frage, welche Passagen in der Offenbarung allegorisch interpretiert werden müssen, von einer richtigen Unterscheidung dessen abhängt, (1) was gemäß der Vernunft möglich ist, (2) was gemäß der Vernunft unmöglich ist und (3) wovon die Vernunft nicht entscheiden kann, ob es entweder möglich oder unmöglich ist. (110)
Nun ist aber an dieser Stelle bei al-Ghazālī überhaupt nicht die Rede von Vernunft. Er beschreibt vielmehr, wie die vierte Gruppe den Begriff der Möglichkeit versteht und weist auf Fehler hin, die diese Gruppe bei Schlussfolgerungen aus ihrem Begriff der Möglichkeiten begeht. Dass diese Gruppe über keinen auf Vernunft basierenden Begriff der Möglichkeit verfügt, ergibt sich schon daraus, dass sie ja die Vernunft vermeidet. al-Ghazālīs Kritik ist offenkundig als interne Kritik an dieser Gruppe zu verstehen, was er auch dadurch deutlich macht, dass er immer wieder betont, dass sich seine Kritik darauf bezieht, was »sie glaubten«, »sie erkannten«, »bei ihnen üblich« war usw. al-Ghazālī schreibt:
Man muss hier einen weiteren Punkt hinzufügen, und zwar, dass sie glaubten, dass sie alles als möglich betrachten konnten, solange nicht bekannt war, dass es unmöglich ist. Sie erkannten nicht, dass es drei Kategorien gibt:
1. eine Kategorie, deren Unmöglichkeit durch einen Beweis (dalīl) erkannt ist;
2. eine Kategorie, deren Möglichkeit durch einen Beweis (dalīl) erkannt ist;
3. eine Kategorie, von der weder die Möglichkeit noch die Unmöglichkeit erkannt ist.
Es war bei ihnen üblich, diese dritte Kategorie als möglich zu beurteilen, da ihre Unmöglichkeit ihnen nicht ersichtlich war. Das ist ein Fehler, ebenso wie es ein Fehler ist, zu schlussfolgern, dass etwas unmöglich ist, weil seine Möglichkeit nicht ersichtlich ist.
Die Kritik al-Ghazālīs bezieht sich also vor allem darauf, »dass sie glaubten, dass sie alles als möglich betrachten konnten, solange nicht bekannt war, dass es unmöglich ist«. »Sie erkannten« durchaus die erste und zweite Kategorie auf richtige Weise. Und daraus wird ersichtlich, dass »sie«, also die vierte Gruppe, ausgerechnet die Kategorien richtig beurteilten und erkannten, in denen es laut Griffel überhaupt um ein Urteil »gemäß der Vernunft« gehen sollte, obwohl sie doch über einen Begriff der Vernunft in diesem Sinne, wie al-Ghazālī mehrmals hervorhebt, gar nicht verfügten. Und die Kritik al-Ghazālīs richtet sich auf die dritte Kategorie, in der die Vernunft zu einem Urteil gerade gar nicht fähig ist.
Der gesamte Kontext deutet mithin darauf hin, dass es sich nicht um die Frage nach der Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit »gemäß der Vernunft« handelt, wie Griffel vorgibt. Der einzige Anhaltspunkt dafür, der noch bliebe, wollte man sich über den Kontext etwas gewaltsam hinwegsetzen, wäre der Ausdruck »Unmöglichkeit durch einen Beweis (dalīl)« beziehungsweise »Möglichkeit durch einen Beweis (dalīl)«. Ist es möglich, hier kurzerhand dalīl durch Vernunft zu ersetzen? Es geht hier jedoch um die Verwendung des Ausdrucks dalīl durch die vierte Gruppe. Und damit ist all das bezeichnet, was dieser Gruppe zufolge als Beweis (dalīl) für Möglichkeit gelten mag. Und da diese Gruppe der Vernunft sehr fernsteht, kann damit gewiss nicht die aristotelische Vernunft gemeint sein, die Griffel hier zweifellos im Sinn hat. Zudem ist die Bedeutung von dalīl recht weit gefächert und keineswegs mit Beweis im Sinne der aristotelischen Logik gleichzusetzen, sondern vielmehr im Sinne von Beleg, Hinweis, Nachweis oder Indiz zu verstehen, wie es beispielsweise auch auf sehr gängige Weise im fiqh verwendet wird, mit dem der vierten Gruppe gemäß der Beschreibung al-Ghazālīs sicherlich eine gewisse Vertrautheit unterstellt werden darf.
Griffel macht sich nicht die Mühe, seine Darstellung zu begründen. Angesichts all dessen drängt sich freilich der Eindruck auf, dass er die Vernunft wider Text und Kontext in seine Auslegung lediglich einschleust, um seine These vom »Rationalismus« al-Ghazālīs zu bestärken.
Vom Wissen nur wenig
Griffel wendet sich nun den Empfehlungen al-Ghazālīs zu, deren erste er folgendermaßen beschreibt:
Die erste Empfehlung ist einfach ein Eingeständnis von Unwissen und ein Ausdruck der bi-lā-kayf-Haltung des aschʿaritischen kalām: man sollte nicht nach einem vollständigen Verstehen der Offenbarung streben im Anbetracht der Tatsache, dass manche Passagen in der Offenbarung einfach unverständlich und nicht dazu bestimmt sind, von der Vernunft interpretiert zu werden. Diese Position wird bestätigt durch die koranische Erklärung: »euch wurde vom Wissen nur wenig gegeben« [Koran 17:85]. (110)
Das ist eine sehr starke Interpretation, da sich all diese Aussagen und Ausdrücke in al-Ghazālīs Worten nicht finden. Griffel sieht dennoch keinen Grund, seine Auslegung zu rechtfertigen. Wie kommt er dazu, sie so »einfach« zu unterstellen? Wir haben diese Stelle oben bereits besprochen und uns insbesondere mit Heers problematischem Kommentar dazu befasst, den Griffel hier wortwörtlich übernimmt: »not aspire to a complete understanding«
An keiner Stelle heißt es zudem, wie Griffel behauptet, dass »manche Passagen in der Offenbarung einfach unverständlich« sind. al-Ghazālī verweist lediglich darauf, »dass den großen Gelehrten manche dieser Dinge verborgen blieben« und »dass der Gelehrte, der behauptet, in allen Dingen, die der Prophet (sas) gesagt hat, seine Intention verstanden zu haben, dies aufgrund seines mangelhaften Verstandes behauptet«. Damit ist durchaus vereinbar, dass die betreffenden Aussagen der Offenbarung verständlich sind. Mir scheint zum Beispiel, dass die Aussagen von Griffel nicht schon deshalb als unverständlich qualifiziert werden müssen, weil ich nicht behaupten kann, in allen Dingen, die er gesagt hat, seine Intention verstanden zu haben. Und die von Griffel al-Ghazālī zugeschriebene Position wird auch nicht durch die zitierte koranische Aussage bestätigt, in der schließlich nicht von »Unwissen«, sondern von »wenig Wissen« die Rede ist. Wenn man von einer Sache wenig Wissen besitzt, so ist das nicht »einfach ein Eingeständnis von Unwissen«, wie Griffel es haben möchte, sondern eher dessen Gegenteil. Auch wenig Wissen ist Wissen.
Es zeigt sich auch hier wieder, dass man es sich nicht so einfach machen sollte beim Zuweisen von Etiketten. Zumindest sollte der Versuch unternommen werden, diese Zuweisung am Text selbst zu rechtfertigen. In diesem Fall dürfte deutlich geworden sein, dass dies sehr schwer sein dürfte und allemal wohl kaum zu erwarten ist, dass dadurch alternative Auslegungen ausgeschlossen werden können.
Wo al-Ghazālī am rationalistischsten ist
Mit der zweiten Empfehlung gelangen wir schließlich ins eigentliche Zentrum von Griffels Argumentation. Denn darin glaubt er al-Ghazālīs Rationalismus auf seinem höchsten Punkt wirklich nachweisen zu können. Wir sind also da angelangt, wo al-Ghazālī am rationalistischsten ist. Griffel schreibt:
Die zweite Empfehlung bringt al-Ghazālīs Rationalismus am klarsten zum Ausdruck: bestreite nie das Zeugnis der Vernunft. Oder, wie al-Ghazālī es darstellt: »Eine [gültige] rationale Demonstration ist niemals falsch (wrong).« (110)
Die erste Formulierung ist wieder wortwörtlich von Heer übernommen: »never deny the testimony of reason«
Was der Einschub in eckigen Klammern (»[gültige (valid)] rationale Demonstration«) besagen soll, wird nicht erläutert. Auf den ersten Blick klingt der Satz damit wie eine Tautologie: eine gültige rationale Demonstration ist niemals falsch. Oder verfolgt Griffel damit Hintergedanken, die sich aus der Struktur der aristotelischen Logik ergeben? Da er uns daran nicht teilhaben lässt, blieben Überlegungen dazu bloße Spekulation. Vielleicht ist der darauf folgende Satz als Erläuterung dazu gemeint:
Wenn die Vernunft in einem demonstrativen Argument – einem burhān – richtig angewendet wird, dann kann sie keine Falschheit (falsehood) behaupten. (110)
Aber außer dass die Vernunft als ausführendes Organ ins Spiel gebracht wird, scheint sich am tautologischen Charakter dieser Aussage dadurch nichts zu ändern: Wenn die Vernunft richtig angewendet wird, also die Wahrheit sagt, kann sie keine Falschheit behaupten. Wenn die Vernunft als das Vermögen der Erkenntnis der Wahrheit verstanden wird, ist dies zweifellos wahr. Aber kann Griffel das meinen? Die Betonung bei Griffel liegt vermutlich vielmehr auf »rationale Demonstration« und »demonstrativen Argument«, da damit der von ihm offensichtlich gewünschte Kurzschluss zwischen Vernunft und aristotelischer Logik hergestellt und Vernunft schlechthin mit dem Vernunftbegriff der aristotelischen Philosophie gleichgesetzt werden kann. Lässt sich das am Text wirklich nachweisen? Griffel macht keine Anstalten in dieser Richtung. Der einzige Hinweis, den man so auffassen könnte, ist seine Erwähnung von burhān, was ihm wohl selbstverständlich und selbsterklärend zu sein scheint, so dass er auf jede weitere Erklärung verzichten zu können meint. Das ist verwunderlich, da doch schon hier sichtbar wird und im weiteren Verlauf immer deutlicher werden wird, dass seine gesamte Argumentation an diesem Satz und damit an diesem Wort aufgehängt ist. Damit steht und fällt alles: Griffels Interpretation wie auch, wenn Griffel recht haben sollte, das gesamte Gebäude der Offenbarung für al-Ghazālī. Denn in diesem Sinne schreibt Griffel ein paar Sätze später:
Das ganze Gebäude der offenbarten Religion, so argumentiert al-Ghazālī in diesem Brief, gründet auf der Vernunft […]. (111)
Um nicht weniger geht es also. Und von Griffel gemeint ist freilich immer die Vernunft der aristotelischen Philosophie, was sich unzweifelhaft nicht nur aus der Verwendung solcher Ausdrücke wie »rationale Demonstration« und »apodiktische Argumente« ergibt, sondern auch ausdrücklich gesagt wird: »demonstrative Argumentation im aristotelischen Sinn« (111).
Hat al-Ghazālī wirklich auf diesen Grund gebaut? War er wirklich der Meinung, dass Gott Selbst Seine Offenbarung auf diesen Grund gebaut hat? Grund genug, um diesen entscheidenden Satz näher zu betrachten, von dem Griffel selbst wiederholt betont, dass dort und nur dort der wahre »Rationalismus« von al-Ghazālī in seiner höchsten Form zu finden sei.
Es sei zunächst daran erinnert, wie Griffel diesen Satz übersetzt:
Eine [gültige] rationale Demonstration ist niemals falsch.
Unsere Übersetzung lautet im Zusammenhang:
Die zweite Empfehlung ist, dass man nie den Beweis (burhān) der Vernunft (ʿaql) verwerfen sollte, denn die Vernunft lügt nicht.
Das bereits über die eckige Klammer Gesagte braucht nicht wiederholt zu werden. Griffels Satz entspricht also in letzterer Übersetzung der Aussage: »Man sollte nie den Beweis (burhān) der Vernunft (ʿaql) verwerfen«. Und Griffel gibt diesen Satz in Umschrift in einer Fußnote folgendermaßen wieder:
lā yakdhibu burhānu l-ʿaqli aṣlan.
Der arabische Text könnte in der Tat so transkribiert werden. Da der arabische Text ohne Vokalisierung ist, gibt es aber auch andere Möglichkeiten. Diese Umschrift ist also nur eine mögliche Variante. Heer, den Griffel an dieser Stelle zitiert, wenn auch ohne Anführungszeichen, und in der zugehörigen Fußnote auch nennt, übersetzt hingegen ganz anders (zum Vergleich nochmals Griffels Übertragung: »Eine [gültige] rationale Demonstration ist niemals falsch (wrong).«): »The second recommendation is that one should never deny the testimony of reason, for reason does not lie.« (Heer, 52) Der entsprechende Satz lautet also bei ihm:
One should never deny the testimony of reason. (Heer, 52)
Ins Deutsche übertragen: »Man sollte nie das Zeugnis der Vernunft bestreiten.« Auch diese Übersetzung ist mit dem arabischen Text ohne Vokalisierung vereinbar. Allerdings würde dann die Umschrift anders aussehen:
lā yukadhdhaba burhānu l-ʿaqli aṣlan.
Das passivische Verb yukadhdhaba wird dann sinngemäß mit »man sollte bestreiten« ins Deutsche übertragen. Und so erscheint der Satz auch als Empfehlung, wohingegen Griffels Übersetzung keinen Ratschlag, sondern lediglich eine Feststellung darstellt. Der Kontext spricht also eher für die zweite Variante mit yukadhdhaba.
Griffel gibt zwar dankenswerterweise seine Leseweise in der Umschrift an, sagt aber nichts weiter dazu. Und das, obwohl er Heers Übersetzung zitiert, die mit seiner Leseweise nicht übereinstimmt. So erweist sich seine Übersetzung, die im Konflikt mit dem Kontext steht, die im Widerspruch zu der von ihm selbst zitierten Übersetzung von Heer steht und die dennoch ohne jegliche Rechtfertigung durch Griffel bleibt, als zumindest unwahrscheinliche Variante, wenn nicht gar als falsch. Welche Folgen ergeben sich daraus für Griffels Interpretation?
Die Bedeutung des Satzes unterscheidet sich erheblich, je nachdem welcher Leseweise man folgt. Das kann freilich nicht ohne Folgen für die Interpretation bleiben. Schon allein die Tatsache, dass es sich um eine bloße und noch dazu unwahrscheinliche Variante handelt, schwächt die Aussagekraft in großem Maße. Wenn Griffels Leseweise als falsch erachtet werden müsste, würde seine gesamte Argumentation zutiefst in Frage gestellt, wenn nicht vollständig erschüttert und haltlos werden. Denn schließlich hängt diese Argumentation seinem eigenen Bekunden zufolge völlig von diesem Satz in dieser Leseweise ab. Darin enthülle sich ja der höchste Punkt von al-Ghazālīs Rationalismus, in dem sich seine wahre Position ausdrücken soll, in deren Lichte sodann seine anderen Werke betrachtet werden, in denen sich wiederum Anspielungen auf diese wahre Position allererst auf diese Weise erkennen lassen. Es sei eine der Stellen als Beleg herausgegriffen, in denen Griffel dies deutlich genug zum Ausdruck bringt:
Wir haben schon aufgezeigt, dass die zweite Empfehlung – dass kein demonstratives Argument falsch sein kann – hier in ihrer explizitesten Form in al-Ghazālīs Œuvre erscheint. Doch diese Lehre ist, wenngleich nicht so explizit ausgesagt, zumindest implizit in anderen Werken ausgedrückt […]. (112)
Ist damit Griffels gesamtes Gebäude, seines Grundes beraubt, in sich zusammengestürzt? Eine Bejahung dieser Frage liegt nach alledem keineswegs fern. Doch führen wir uns noch einmal die Unterschiede vor Augen. Griffels Übersetzung dieses Satzes oder Halbsatzes lautet:
Eine [gültige] rationale Demonstration ist niemals falsch.
Unsere Übersetzung hingegen lautet:
Man sollte nie den Beweis (burhān) der Vernunft (ʿaql) verwerfen.
Das eine ist eine Feststellung, das andere eine Handlungsanweisung. Gewiss lassen sich daraus nicht die gleichen Schlüsse ziehen. Aber nehmen wir um des Argumentes willen an, dass Griffels Übersetzung eine gewisse Plausibilität zukommt, um seinen Gedanken weiter zu verfolgen und auf seine Übereinstimmung mit al-Ghazālīs Text hin zu prüfen. Schließlich kann dies gleichwohl zu einem besseren Verstehen dieses Textes beitragen.
Wir wollen dafür nochmals einen Blick auf diesen Satz werfen, um nach seinem Subjekt und Prädikat zu fragen. Das Subjekt des Satzes ist burhān al-ʿaql. Griffel übersetzt mit »rationalen Demonstration« und stellt damit, wie bereits aufgezeigt, eine direkte Verbindung zur aristotelischen Logik her. Er liefert für diese Behauptung allerdings keinerlei Begründung. Angesichts der Zweifel hinsichtlich dieser Verbindung, die oben bereits ausführlich dargelegt worden sind, spricht also wenig dafür, dieser Interpretation in ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit zu folgen.
Was das Prädikat, in Griffels Leseweise yakdhibu, betrifft, so ist für Griffels Argumentation von erheblicher Bedeutung, es mit »ist falsch« zu übersetzen, um so im Rahmen der aristotelischen Logik zu bleiben. Allerdings kann kadhaba auch »lügen« bedeuten. Und Heer übersetzt das gleiche Verb, nämlich yakdhibu, im unmittelbar daran anschließenden Satz auch genau so: »lie« (»lügen«). Diese Übersetzung wird durch die folgende Darstellung al-Ghazālīs bestätigt, die sich mit ihren Verweisen auf Zeugenschaft und Glaubwürdigkeit offensichtlich nicht im Rahmen der aristotelischen Logik bewegt, worauf wir ebenfalls oben bereits aufmerksam gemacht haben. Alles zusammen genommen spricht also sehr viel gegen Griffels Leseweise und Übersetzung dieses für seine Argumentation doch so zentralen und grundlegenden Satzes.
Dogmatismus der Vernunft
Griffel greift die Darstellung al-Ghazālīs auf und versetzt sie in einen Gerichtshof, was durchaus plausibel erscheint. Allerdings entwertet er sie dadurch, dass er sie lediglich als Metapher für Begründungsverhältnisse im Sinne der aristotelischen Logik zu begreifen scheint, ohne dies auch nur ansatzweise zu begründen. Damit setzt er schlicht voraus, was doch allererst zu zeigen wäre, um daraus den uns bereits bekannten Schluss zu ziehen:
Das ganze Gebäude der offenbarten Religion, so argumentiert al-Ghazālī in diesem Brief, gründet auf der Vernunft […]. (111)
Wie versucht Griffel dafür zu argumentieren? Er muss dabei allemal voraussetzen, dass al-Ghazālī das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung überhaupt und im Ganzen verhandelt. Aber stellt al-Ghazālī tatsächlich die Offenbarung als Ganzes vor den Gerichtshof der Vernunft? Oder geht es ihm nicht vielmehr um einzelne Aussagen, in denen ein vermeintlicher Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung aufzutreten scheint? Und sollte al-Ghazālī wirklich so naiv sein, die Frage nach der Berechtigung der Vernunft selbst, den Richter über die Offenbarung spielen zu dürfen, überhaupt nicht ins Auge zu fassen? Die Kritik der Philosophie und damit deren Begriffs der Vernunft, die al-Ghazālī in vielen Werken, nicht zuletzt im Tahāfut, übt, spricht dafür, dass er diesem Dogmatismus der Vernunft kaum unkritisch verfallen sein dürfte. Umgekehrt spricht indes vieles dafür, dass Griffel seinerseits diesem vorkritischen Dogmatismus der Vernunft anhängt und diesen in al-Ghazālīs Text mit aller Mühe hineinprojizieren möchte.
Worauf Griffel dabei abzielt, bringt er mit aller Deutlichkeit in nächsten Absatz zum Ausdruck, in dem er auf al-Ghazālīs Buch Faysal at-tafriqa als Fortführung der Gedanken im Qānūn verweist:
Diese Empfehlung wird später in sein Buch Fayṣal at-tafriqa verwandelt, in dem al-Ghazālī auch die Regel behandelt, dass Schlussfolgerungen von apodiktischen Argumenten oder Demonstrationen (Sing. burhān) akzeptiert werden müssen. Nirgends ist er jedoch so unverblümt und direkt wie in diesem Brief. In seinem Fayṣal at-tafriqa wird er das aschʿaritische Prinzip hervorheben, dass die Offenbarung allegorisch interpretiert werden muss, wenn immer ihr äußerer Sinn mit den Diktaten der Vernunft zusammenstößt. Darin wird er auch die demonstrative Argumentation im aristotelischen Sinne von unzweifelhaften Prämissen mit korrekten Syllogismen als Maßstab der Vernunft etablieren. Doch selbst im Fayṣal erklärt er nicht, dass ein demonstratives Argument nie falsch sein kann, obwohl es klar impliziert ist. (111)
Damit ist die Katze aus dem Sack: »demonstrative Argumentation im aristotelischen Sinne von unzweifelhaften Prämissen mit korrekten Syllogismen als Maßstab der Vernunft«! Und nach all dem, was schon gesagt wurde, erübrigt sich wohl jeder weitere Kommentar zu dieser Stelle.
Rationalität oder Vernunft
Der dritten Empfehlung, die mit Abstand die längste der dreien ist, widmet Griffel sodann nur zwei Sätze, in denen ganz grob deren Grundgedanke wiedergegeben wird. Kann das daran liegen, dass al-Ghazālī hier zur Zurückhaltung und Vorsicht gegenüber der Anwendung der Umdeutung (taʾwīl) mahnt und auf einen Bereich verweist, der sich dem Zugriff der Vernunft entzieht? Wie ist das mit dem vielgepriesenen »Rationalismus« vereinbar? Diese Frage hätte Griffel zumindest aufwerfen können. Und der Versuch einer Antwort hätte angebracht erscheinen können, schon um den zweifelnden Leser von al-Ghazālī zu überzeugen, dass dies durchaus mit seinem »Rationalismus« vereinbart werden könne. Leider keine Spur davon.
Es lohnt sich trotzdem, einen Blick auf diese beiden Sätze zu werfen, die doch nur das wiedergeben sollen, was al-Ghazālī gemeint hat, aber durch eine kleine Verschiebung, die leicht übersehen und als unbedeutende Kleinigkeit abgetan werden kann, in Wirklichkeit den Sinn der Rede al-Ghazālīs ganz grundsätzlich entstellen. Griffel schreibt also:
Die dritte Empfehlung schließlich ist, allegorische Interpretation (taʾwīl) nicht anzuwenden, wenn man über die Intention (murād) des offenbarten Textes unsicher ist. In Fällen, in denen es verschiedene gegensätzliche Möglichkeiten für das gibt, was der Text meinen könnte, sollte man einfach darauf verzichten, eine von ihnen zu spezifizieren. (111)
Wird damit die Rede al-Ghazālīs richtig wiedergegeben? Wo liegt die angesprochene Verschiebung? Es ist zweimal vom Text und dessen Intention beziehungsweise dem, was der Text meint, die Rede. Im Text von al-Ghazālī lässt sich aber keine einzige Stelle finden, an der murād (Intention) in dieser Weise gebraucht wird. Denn immer wenn al-Ghazālī von Intention (murād) spricht, bezieht er diese auf einen Sprecher. Er bezieht sich also stets auf die Intention eines Sprechers, nie auf die eines Textes. Der Text selbst meint nicht, sondern es ist immer der Sprecher, der mit seiner Rede etwas meint. Und dem Sprecher steht ein Hörer gegenüber, der dessen Rede zu verstehen versucht. Das Gelingen des Verstehens ist dann wiederum davon abhängig, wie deutlich der Sprecher seine Intention bekundet. Die von al-Ghazālī verhandelte Problematik ergibt sich nun daraus, dass es sein kann, dass ein Sprecher seine Intention nicht so hinreichend bekundet, wie es erforderlich wäre, damit der Hörer ihn eindeutig verstehen kann.
Der Sprecher, von dem al-Ghazālī spricht, ist wahlweise Gott (Allāh) oder Sein Prophet (sas). Der Hörer ist derjenige, der dessen Rede der Offenbarung vernimmt und sich um ihr Verstehen bemüht. Die gesamte Darstellung bewegt sich mithin im Rahmen eines Gesprächs, in dem der Sprecher etwas mitteilen und der Hörer dies verstehen will, also in einem Kommunikationszusammenhang, der zudem immer eine konkrete historische und gesellschaftliche Gestalt annimmt, so dass al-Ghazālī in diesem Kontext mit allem Recht sogar von der besonderen »Rede der Araber« sprechen kann und muss. Denn dieses Gespräch findet zwischen wirklichen Gesprächspartnern statt, die sich einer wirklichen Sprache im wirklichen Leben bedienen: zwischen Gott (Allāh), Seinem Propheten, den Arabern als ersten Hörern der Botschaft in arabischer Sprache und sodann allen Menschen, an die diese Botschaft gerichtet ist und die diese vernehmen.
Um dies zu verdeutlichen, seien schlaglichtartig einige Stellen angeführt, in denen al-Ghazālī von der Intention eines Sprechers spricht:
Ein Urteil hinsichtlich der Intention Gottes (Allāh), des Gepriesenen, und der Intention Seines Propheten (sas) […]. Man erkennt die Intention eines Sprechers nur dann, wenn er seine Intention bekundet. […] ein Urteil über Gott (Allāh) und Seine Intention […] Er wird hingegen nicht gefragt werden: »Warum ist es dir nicht gelungen, Unsere [Gottes (Allāh)] verborgene und dunkle Intention, in der es kein Gebot für eine Handlung gibt, zu erschließen? [...]«
Es dürfte hinreichend deutlich geworden sein, dass al-Ghazālī, im Gegensatz zu Griffel, nicht von der Intention eines Textes, sondern eines lebendigen Sprechers in einem Kommunikationszusammenhang spricht. Dies alles, also die ganze Dimension des Handelns der Gesprächsteilnehmer in und mit Sprache, wird durch die kleine Verschiebung, die Griffel vorgenommen hat, unterschlagen und ausgeblendet. Der Grund dafür muss sicherlich darin verortet werden, dass Griffels einziger Horizont die aristotelische Philosophie ist, in deren Rationalismus er al-Ghazālī einzufangen trachtet. Denn in der Tradition dieses Denkens hat es für diese kommunikative Dimension nie Raum gegeben. Und al-Ghazālī erweist sich freilich als viel zu sperrig, vieldeutig und in guter muslimischer Tradition als viel zu sprachpragmatisch, als dass er sich darin einfangen und darauf reduzieren ließe. al-Ghazālīs Vernunft ist nicht die aristotelische, denn sie ist ins lebendige Gespräch wirklicher Sprecher und Hörer eingebunden. Wenn man Griffels Schlagwort von al-Ghazālīs »Rationalismus« etwas entgegensetzen und zugleich damit den falschen Gegensatz von Vernunft und Offenbarung, der diesem »Rationalismus« letztlich zugrunde liegt, als Ausgeburt eines falschen Denkens in Gestalt eines Dogmatismus der Vernunft erweisen wollte, ließe sich erwidern: wenn schon, dann nicht aristotelische Rationalität, sondern kommunikative Vernunft.
3 Zu al-Ghazālīs Kriterium der Unterscheidung: Faysal at-tafriqa
3 Zu al-Ghazālīs Kriterium der Unterscheidung: Faysal at-tafriqa Yusuf KuhnVorbemerkung
Für die vorliegende Untersuchung habe ich mich vor allem auf die deutsche und englische Ausgabe von al-Ghazālīs Schrift Faysal at-tafriqa bayna al-islām wa az-zandaqa gestützt. Die beiden Übersetzungen unterscheiden sich in Ansatz und Stil erheblich. Das mag durch die unterschiedliche Perspektive des jeweiligen Autors bedingt sein.
Die Übersetzung ins Deutsche unter dem Titel Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz
Die Übersetzung ins Englische unter dem Titel On the Boundaries of Theological Tolerance in Islam
3.1 Zum Titel: Faysal at-tafriqa
3.1 Zum Titel: Faysal at-tafriqa Yusuf KuhnDer Titel auf Arabisch lautet: Faysal at-tafriqa bayna al-islām wa az-zandaqa.
Griffel übersetzt: Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und Gottlosigkeit.
Jackson übersetzt: The Decisive Criterion for Distinguishing Islam from Masked Infidelity; ziemlich wörtlich übertragen heißt das: Das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung des Islam von verborgener Ungläubigkeit.
Der entscheidende Unterschied liegt klar erkennbar in der Übersetzung von zandaqa. zandaqa bezeichnet eine bestimmte Art von kufr (Ablehnung des Islam, Nicht-Islam), nämlich den verborgenen oder verschleierten kufr. Da kufr nicht nur die Leugnung Gottes schlechthin, sondern auch den Glauben an einen anderen Gott als Allāh einschließt, ist die Übersetzung von zandaqa mit »Gottlosigkeit« unzutreffend. al-Ghazālī schreibt beispielsweise den falāsifa durchaus zandaqa zu, obwohl diese keineswegs Gottlosigkeit, sondern ihren besonderen Begriff von Gott und dessen Existenz vertreten. Es ließe sich daher sagen, dass sie an einen Gott, nämlich den »Gott der Philosophen« glauben. Aus dem gleichen Grund ist auch Jacksons Übersetzung mit »Ungläubigkeit« ungenau.
Ich möchte daher als Übersetzung des Titels vorschlagen: Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und verborgenem kufr (Ablehnung des Islam, Nicht-Islam).
Wie aus dem Titel hervorgeht, setzt al-Ghazālī es sich zur Aufgabe, ein Kriterium zu entwickeln, das eine möglichst eindeutige Unterscheidung zwischen Islam und zandaqa (verborgenem kufr) ermöglicht. Es geht in diesem Werk also auch darum, ein Verständnis von kufr zu entwickeln, das als Grundlage zur Bestimmung dessen dienen kann, ob eine Auffassung mit dem Islam vereinbar ist oder nicht.
al-Ghazālī geht dabei von seiner Erfahrung mit dem in seiner Umgebung häufigen Gebrauch des Ausschlusses aus der muslimischen Gemeinschaft aus, dem er einen Riegel vorschieben wollte. Allzu häufig wurden Meinungen und Menschen mit dem Vorwurf des kufr überzogen. Diese Bezichtigung des kufr heißt auf Arabisch takfīr. Durch den leichtfertigen und übereilten Einsatz von takfīr drohte die muslimische Gemeinschaft in heillose und mitunter blutige Streitigkeiten zu versinken und zu zerrütten. Angesichts dessen strebte al-Ghazālī danach, diese aus seiner Sicht schädlichen und unnötigen Konflikte beizulegen und die Einheit der muslimischen Gemeinschaft (umma) zu schützen und zu stärken. Dass dieses Anliegen auch und gerade heute leider keineswegs an Aktualität verloren hat, dürfte ohne weiteres einsichtig sein.
Da sich diese Konflikte vor dem Hintergrund der Entwicklung des muslimischen Denkens abspielen, muss auch dieser ein wenig ausgeleuchtet werden. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Debatte zwischen zwei Tendenzen des islamischen Denkens, die oftmals als Auseinandersetzung zwischen Rationalismus und Traditionalismus beschrieben wird. Und auch dieser Konflikt war nicht nur zu al-Ghazālīs Zeiten virulent, sondern lebt bis heute fort. Wer sich heute für diese Fragen interessiert, sollte dies zumindest in Kenntnis des klassischen Werkes von al-Ghazālī tun. Denn es vermag nach wie vor einen wichtigen Beitrag zum islamischen Denken zu leisten.
3.2 al-Ghazālī und die Kultur der Gelehrten
3.2 al-Ghazālī und die Kultur der Gelehrten Yusuf Kuhnal-Ghazālī war schon in jungen Jahren zu einem Gelehrten (ʿālim) mit großem Ansehen in der muslimischen Welt aufgestiegen. Daher wurde ihm 1091 ein Lehrstuhl für schafiʿitisches Recht an der berühmten Nizamiya-Universität in der Hauptstadt Bagdad angetragen. Seinem Ruf und seiner Karriere schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Doch schon vier Jahre nach dem Antritt seines Amtes an der Nizamiya stürzte er in eine tiefe geistige Krise. Er erlitt einen Zusammenbruch und konnte für einige Zeit weder essen noch sprechen.
al-Ghazālī verfügte über den außergewöhnlichen Mut, sich selbst einzugestehen, dass seine Absicht im Streben nach Wissen, die ihn bisher angetrieben hatte, nicht rein gewesen war. Seine Beweggründe hinter all seinen Leistungen waren in Wirklichkeit von seinem Verlangen nach Ruhm und Prestige bestimmt. Trotz all seinem Wissen in den islamischen Wissenschaften war seine Suche nach Gewissheit bislang vergebens gewesen. Ihm drängte sich die Einsicht auf, dass er den Ansprüchen des Islams so nicht gerecht werden konnte.
Da er tief in die Kultur der ʿulamāʾ (Gelehrten) seiner Zeit eingedrungen war, gewann er aus eigener Erfahrung mit sich und seinen Kollegen die Erkenntnis, dass die Gründe für seine Krise nicht nur persönlicher Natur waren. Der Wissenschaftsbetrieb war insgesamt viel zu sehr auf das Erlangen von Reputation und Reichtum ausgerichtet, als dass er wahrhaft der Erkenntnis der Wahrheit dienen konnte. Der vorherrschende rigide Intellektualismus trug durch seine Beschränktheit eher zur Verkümmerung des menschlichen Geistes bei als zu dessen Entfaltung.
So gewann al-Ghazālī eine gewisse Verachtung für seinen Berufsstand. Und dessen unzureichendes Denken weckte den Verdacht, dass die Vernunft, zumindest wie sie von ihm verstanden und praktiziert wurde, rasch an ihre Grenzen stieß und bei weitem nicht das zu leisten vermochte, was ihr zugeschrieben wurde.
Diese Erfahrung ließ al-Ghazālī nicht nur neue geistige Wege beschreiten, wie seine intensive Beschäftigung mit dem Sufismus bezeugt, sondern auch seine berufliche Karriere beenden und Bagdad verlassen. Er begab sich für etliche Jahre auf spirituelle Wanderschaft und bereiste viele Orte wie Damaskus, al-Quds (Jerusalem), Mekka und Medina. Nach mehr als zehn Jahren entschied er sich 1106, nach Nischapur zurückzukehren. Und hier schrieb er Faysal at-tafriqa, vermutlich in der Zeit bis spätestens 1109. Nur wenige Jahre später verstarb er 1111.
In den zehn Jahren seiner Wanderschaft verfasste al-Ghazālī sein wohl bekanntestes Werk Ihyāʾ ʿulūm ad-dīn (Belebung der Wissenschaften der Religion). In diesem vielbändigen und vielschichtigen Werk werden so ziemlich alle Themen behandelt, die für muslimisches Leben von Bedeutung sind. Neben vielen Absichten, die al-Ghazālī damit verfolgt haben mag, kommt darin gewiss auch sein Wunsch zum Ausdruck, mit seinem Wissen zu einer Verbesserung nicht nur seines Lebens, sondern des Lebens der muslimischen Gemeinschaft insgesamt beizutragen. Das bloße Aufhäufen von Wissen als Selbstzweck, von dem die Wissenschaften nur allzu oft bestimmt sind, war ihm seit seiner Krise ein Greuel geworden. Dieses Anliegen dürfte einen prägenden Einfluss auf alles ausgeübt haben, was al-Ghazālī nach dem Verlassen Bagdads getan hat. Und auch das Schreiben des Faysal muss in diesem Lichte gesehen werden.
Im Ihyāʾ brachte al-Ghazālī bereits eine ausführliche Kritik der Kultur der ʿulamāʾ vor, deren Reihen er selbst entstammte und die er daher aus eigener Erfahrung sehr gut kannte. Diese Erfahrung hatte zur Desillusionierung und schließlich zum Bruch geführt. al-Ghazālī bezeichnete sie als ʿulamāʾ ad-dunyā (Gelehrte der diesseitigen Welt). Er warf ihnen vor, ihr Wissen bloß in den Dienst weltlicher, oftmals auch politischer Interessen zu stellen. Da es ihnen nur um Macht, Reichtum und Ansehen ging, vernachlässigten sie ihre eigentliche Aufgabe sträflich, Gottesbewusstsein und Verantwortungsbewusstsein (taqwā) im Blick auf das Jenseits zu befördern.
Der Wissenschaftsbetrieb insgesamt war allmählich von dieser Mentalität erfasst und durchsetzt worden. Wer darin bestehen wollte, musste sich auf den unvermeidlichen Konkurrenzkampf einlassen. So kam es dazu, dass die Gelehrten ihr Bestreben hauptsächlich darin sahen, ihre Gegner zu besiegen und zum Schweigen zu bringen, um damit ihre eigene Überlegenheit und Vorrangstellung zu erringen und zu bewahren.
In diesem Konkurrenzkampf kam auch ein Mittel zum Einsatz, dessen Kritik sich al-Ghazālī im Faysal ganz besonders widmen sollte: takfīr, der Bezichtigung des kufr, des Ausschlusses aus dem Islam. Die Häufigkeit und Leichtfertigkeit, mit der dieser Vorwurf erhoben wurde, erschien al-Ghazālī als große Gefahr sowohl für den Einzelnen wie auch für die muslimische Gesellschaft, die dadurch in endlose und mitunter gewalttätige Konflikte verstrickt und zerrissen zu werden drohte. Dem entgegenzuwirken, sah al-Ghazālī als seine Aufgabe und Verantwortung als Gelehrter an, der die vom Islam an ihn gerichteten Ansprüche wirklich ernstzunehmen beabsichtigte.
Diesem Aspekt am Faysal ist – da hat Jackson gewiss recht – nicht die gebührende Beachtung zuteil geworden. Der Faysal wurde verschiedentlich nicht ganz zutreffend als Werk der Theologie, des Sufismus oder des Rechts interpretiert. Und auch Griffel, der die »religionspolitische« Seite hervorhebt, trifft den Kern der Sache nicht wirklich, denn es handelt sich nicht um Politik im engen Sinne. al-Ghazālīs Anliegen war nicht, eine bestimmte Glaubenslehre, Rechtsauffassung oder Religionspolitik zu vertreten, sondern in erster Linie die Gemeinschaft (umma) zu verteidigen und zu schützen gegenüber dem in seiner Zeit inflationären Gebrauch des takfīr (Bezichtigung des kufr). Das ist der rote Faden, der sich durch den Faysal zieht.
al-Ghazālī selbst nennt im Faysal keine Namen. Um dennoch eine konkrete Veranschaulichung zu bieten, führt Jackson in seiner Einleitung zum Faysal beispielhaft den Namen eines Gelehrten an, der gut das Ziel der Kritik von al-Ghazālī sein könnte. ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī (gest. 429/1037) war ein Gelehrter der schafiʿitischen Rechtsschule und des aschʿaritischen kalām. Er übte mit seinen Werken über die Grundlagen der Religion (Usūl ad-dīn) und über die Unterschiede der Glaubenslehren der verschiedenen Gruppen (al-Farq bayna al-firaq) großen Einfluss aus und schuf damit eine »ideologische Plattform« (Jackson), auf der sich viele Gelehrte versammeln konnten. Sein Einfluss zog viele Probleme nach sich, da er ein »unverbesserlicher Fanatiker« war, der keine Meinung neben seiner eigenen dulden konnte und wollte. Niemand war vor seinem takfīr, seiner Bezichtigung des kufr sicher, außer der kleinen Gruppe, die seiner Version der aschʿaritischen Glaubenslehre bedingungslos anhing. Für ihn konnte es nicht einmal Nachsicht wegen Unwissen, Irrtum oder unabsichtlichen Fehlern geben.
al-Baghdādī zufolge war es beispielsweise »Pflicht, alle Führer der Muʿtazila des kufr zu bezichtigen«. Und er schreibt darüber hinaus in seinem Buch Usūl ad-dīn:
Von keinem von jenen, die sich von uns [Aschʿariten] unterscheiden, einschließlich der Qadariten, der Khāridschiten, der Rāfiditen, der Dschahmiten, der Nadschdschāriten und der Korporealisten (dschismīya) [oftmals ein Deckname für Traditionalisten], kann gesagt werden, dass sie eine einzige gottesdienstliche Handlung verrichtet haben, da das Objekt ihres vermeintlichen Gottesdienstes nicht unser Gott ist.
ʿAbd al-Qāhir al-Baghdadi, Usūl ad-dīn; zit. nach: Jackson, op. cit., S. 42, Anmerkungen in eckigen Klammern von Jackson.
al-Baghdādī warf sogar auch denen kufr vor, die zwar die seiner Ansicht nach richtigen Glaubensüberzeugungen hatten, aber sich nicht sicher waren, sie gegen rational argumentierende Angriffe verteidigen zu können. Die Liste der Verurteilten war schier endlos. Einige derjenigen, die al-Baghdādī des kufr bezichtigte, hatten keinen einzigen Grundsatz des Islam oder keinen einzigen Text aus Koran und Sunna bezweifelt oder verworfen. Sie hatten nur rational begründete Lehren, die möglicherweise lediglich zweitrangige Fragen betreffen, übernommen, die nach al-Baghdādīs Auffassung zu falschen Schlussfolgerungen führten oder die Kohärenz des gesamten rationalistischen Systems bedrohten. So wurde zum Beispiel die Ablehnung des philosophischen Begriffs der Akzidenzien mit kufr gleichgesetzt, obwohl dies in keinem direkten Zusammenhang mit Koran und Sunna steht.
al-Baghdādī führt alle diese Urteile im Namen »unserer Leute« (ashābunā) an, gemeint sind damit die aschʿaritischen Gelehrten. Diese Auffassungen haben wahrscheinlich auch in den Kreisen der schafiʿitischen Rechtsschule weite Verbreitung gefunden. Da nun al-Ghazālī selbst ebenfalls ein Vertreter der schafiʿitischen Rechtsschule wie auch der aschʿaritischen Glaubenslehre war, dürfte er mit den Folgen der Auffassungen von al-Baghdādī und insbesondere deren Wirkungen auf angehende Gelehrte vertraut gewesen sein.
Der Aufstieg und die Ausbreitung des aschʿaritischen Kalām war nicht ohne Gegenreaktion geblieben. Die oftmals der hanbalitischen Schule zugeordneten Anhänger »traditionalistischer« Ansichten schritten zur Verteidigung ihrer Positionen, die besonders in Bagdad stark vertreten waren, und erließen mit zeitweiliger Unterstützung des Staates die sogenannte qādiritische Glaubenslehre, in der es heißt:
Dies ist das Glaubensbekenntnis der Muslime; wer sich ihm widersetzt, ist ein Übertreter des Gesetzes und ein kāfir (kufr-Betreibender).
Zit. nach: Jackson, op. cit., S. 43.
Es zeigt sich also, dass eine Bezichtigung des kufr die andere hervorruft, die sich sodann gegenseitig verstärken. al-Ghazālī war sich der daraus resultierenden Gefahren für die muslimische Gemeinschaft sehr bewusst. Dass sich seine Kritik mehr gegen die »rationalistische« Seite richtete, kann neben deren dominanter Stellung und der Häufigkeit ihrer kufr-Bezichtigungen, die zudem oftmals auf rein »rationaler« Grundlage ohne direkten Bezug zur Offenbarung geschahen, vielleicht auch damit erklärt werden, dass er selbst aus dieser Richtung hervorgegangen war und ganz persönlich mit ihrer Überwindung zu kämpfen hatte. Hinzu mag kommen, dass er gegen Ende seines Lebens immer stärker zu eher »traditionalistischen« Ansichten neigte.
3.3 Kriterium der Unterscheidung und Regel der Interpretation
3.3 Kriterium der Unterscheidung und Regel der Interpretation Yusuf Kuhnal-Ghazālīs Kritik im Faysal richtet sich gegen zwei Gegner: einerseits gegen die Exklusivisten – Jackson nennt sie Extremisten -, die keine andere Interpretation des Islam zulassen als ihre eigene; andererseits gegen die zanādiqa (Sing. zindīq), also die Anhänger der im Titel genannten zandaqa, des verborgenen kufr. Die zanādiqa geben sich als äußerlich als Muslime aus, aber verheimlichen in Wirklichkeit ihre Ablehnung des Islam (kufr) hinter ihrer Methode der allegorischen Auslegung der Offenbarung (taʾwīl). Man könnte sie daher als heimliche kafirūn (kufr-Betreibende) bezeichnen. Jackson nennt sie Crypto-Infidels (Krypto-Ungläubige).
Da al-Ghazālī davon ausgeht, dass die Methode des taʾwīl unerlässlich ist, kann er es nicht auf eine Verurteilung des taʾwīl an sich abgesehen haben. Das Ziel seiner Untersuchung muss vielmehr sein, ein Kriterium zu entwickeln, das die legitime Anwendung dieser Methode von ihrem unzulässigen Gebrauch zu unterscheiden erlaubt. Und das ist eben die Absicht, die er mit dem Faysal verfolgt, daher sein Titel: Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und verborgenem kufr (Ablehnung des Islam, Nicht-Islam).
Das Instrument, das al-Ghazālī für diese Aufgabe entwickelt, nennt er qānūn at-taʾwīl: Regel der Interpretation oder Auslegung.
Gegen die Exklusivisten bringt al-Ghazālī vor, dass der Bereich der innerhalb der islamischen Glaubenslehre zulässigen Anschauungen sehr viel breiter ist, als diese mit ihrem exklusiven Anspruch auf die Erkenntnis der Wahrheit erlauben wollen.
Und gegen die zanādiqa, die heimlichen kufr-Betreibenden, argumentiert al-Ghazālī, dass dieser Bereich des Zulässigen gleichwohl für deren Anschauungen nicht breit genug ist, da letztere mit dem Islam nicht vereinbar sind. Damit wird die äußere Grenze dessen gezogen, was innerhalb der islamischen Glaubenslehre zulässig ist.
Und dabei darf nicht vergessen werden, worum es al-Ghazālī letztlich geht, nämlich den takfīr, die Bezichtigung des kufr, auf ein Minimum zu reduzieren und damit die muslimische Gemeinschaft aus den Fängen überflüssiger und heilloser Streitigkeiten zu befreien, um die Einheit der Umma in ihrer Vielfalt zu stärken und zugleich gegen Angriffe zu schützen, die im vorgeblich islamischen Gewand ihre Grundlagen zu erschüttern drohen.
Wie geht al-Ghazālī nun konkret vor?
3.4 Sie behaupten, dieses Buch enthielte Dinge...
3.4 Sie behaupten, dieses Buch enthielte Dinge... Yusuf Kuhnal-Ghazālī eröffnet den Faysal mit der Frage, die ihm von einem Freund gestellt wird, der Kritik an einer seiner Schriften gehört hat und sich versichern will, ob die erhobenen Vorwürfe zutreffen:
Sie behaupten, dieses Buch enthielte Dinge, die der Schulmeinung der früheren Gelehrten und der Häupter unter den Mutakallimūn widersprechen würden. Sie behaupten auch, daß es Unglaube [kufr] sei, von der Lehrmeinung des al-Ašʿarī auch nur um das Maß eines Palmwedels abzuweichen und dieser Meinung gar zu widersprechen – sei es auch nur in einer winzigen Sache – bedeute Fehler und sündhafte Fehlleitung. (S. 54)
Zitate aus dem Faysal entstammen der oben angeführten deutschen Übersetzung von Griffel und die Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe; Anmerkungen in eckigen Klammern sind von mir hinzugefügt.
al-Ghazālī selbst wird mit der Bezichtigung des kufr konfrontiert, weil er die Auffassungen der aschʿaritischen Glaubenslehre nicht getreu eingehalten haben soll. Dem beunruhigten Freund rät al-Ghazālī, Geduld und Zurückhaltung zu üben und die Vorwürfe nicht allzu ernst zu nehmen, da sie von Leuten stammen, die vor allem nach weltlichen Dingen streben:
Jenen Herzen, die durch das Begehren nach Ruhm und Reichtum und durch die Liebe zu diesen beiden Dingen unrein sind, offenbart sich weder das Wesen [haqīqa] von „Unglaube“ [kufr] und „Glaube“ [īmān] noch ihrer beider Definition [hadd], weder Wahrheit [haqq] und Irrtum [dhalāl] noch ihrer beider Geheimnis. (S. 55)
Damit hat al-Ghazālī auch angegeben, worauf es bei seiner Klärung der Frage ankommt. Um zu dem gesuchten Kriterium zu gelangen, müssen das Wesen und die wahre Definition von kufr und īmān sowie die wahre Definition und das Geheimnis von haqq und dhalāl erkannt werden. Damit ist die zu bewältigende Aufgabe deutlich umrissen.
Gelöst ist sie jedoch keineswegs. Denn in diesen wenigen Worten steckt ein ganzes Bündel von Fragen und Problemen nicht nur inhaltlicher, sondern auch methodischer Art. Denn wie soll geklärt werden, was kufr und īmān sowie haqq und dhalāl ist? Durch die Erkenntnis ihres Wesens, ihrer Definition und ihres Geheimnisses wird gesagt. Doch diese drei Ausdrücke erläutert al-Ghazālī an dieser Stelle nicht näher. Er nennt lediglich einige Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um zu ihrer Erkenntnis zu gelangen. Bevor wir dazu kommen, wollen wir noch einen kurzen Blick auf die drei genannten Begriffe werfen.
haqīqa bedeutet etwa »wahre Realität«. Da dieser Begriff im unmittelbaren Zusammenhang mit hadd, das hier für »Definition« steht, angeführt wird, legt sich die Vermutung nahe, dass beide Begriffe im Sinne der aristotelischen Wissenschaftstheorie verwendet werden. haqīqa kann also durchaus mit »Wesen« übersetzt werden, das im Deutschen an die Stelle des griechischen ousia bzw. dessen lateinische Übertragung substantia (Substanz) tritt. Das Verhältnis von Wesen und Definition ist dadurch bestimmt, dass die Erkenntnis des Wesens einer Sache die Voraussetzung dafür ist, deren Definition angeben zu können. Denn in die Definition gehen nur die wesentlichen Eigenschaften der Sache, also ihr Wesen, ein, wohingegen die unwesentlichen Eigenschaften nicht aufgenommen werden. Die unwesentlichen Eigenschaften wurden in der philosophischen Terminologie als akzidentelle Eigenschaften oder Akzidenzien bezeichnet. So ergibt sich der begriffliche Gegensatz von Wesen (ousia, Substanz) und Akzidens. al-Ghazālī scheint sich mithin schon im Ansatz zur Lösung des gestellten Problems methodisch auf die Verwendung der Begrifflichkeit der aristotelischen Wissenschaftstheorie festzulegen, ohne es für nötig zu erachten, auch nur einen Hinweis darauf zu geben.
Was unter »Geheimnis« zu verstehen ist, deutet al-Ghazālī wenigstens ganz kurz an, indem er im nächsten Absatz von den »Geheimnissen der jenseitigen Welt« (malakūt) spricht. Im Ihyāʾ wird malakūt folgendermaßen erläutert:
Mit malakūt meine ich die unsichtbare Welt, die durch das Licht der Einsicht und das Herz wahrgenommen wird.
Zit. nach: Jackson, op. cit., S. 133, Anm. 4.
Unmittelbar nach dem oben zitierten Satz, in dem al-Ghazālī die Unfähigkeit der unreinen Herzen zur wahren Erkenntnis erwähnt, beschreibt er die dafür notwendigen Voraussetzungen:
Vielmehr zeigen sich jene Dinge erstens nur den Herzen, die sich vom Schmutz und Gestank der diesseitigen Welt geläutert haben, die sich zweitens durch vortreffliche Askese veredelt haben, die drittens durch ungetrübten Ḏikr, also durch lautere mystische Übungen erleuchtet wurden, die sich viertens mit trefflichen Gedanken erzogen haben und die sich fünftens durch stete Befolgung der Rechtsvorschriften zieren, bis das Licht aus der prophetischen Nische auf sie niederfällt und sie wie ein heller Spiegel werden. Dann wird die Lampe des Glaubens im Glas seines Herzens in Licht strahlen und das Öl dieser Lampe wird fast schon Licht geben, ohne daß überhaupt Feuer darangekommen ist. (S. 55)
Was al-Ghazālī hier über die »prophetische Nische« sagt, ist offensichtlich eine Anspielung auf sein Buch Mischkāt al-anwār (Die Nische der Lichter), in dem er eine ausführliche Interpretation des sogenannten Lichtverses, also von Vers 35 der Sure 24 gegeben hat.
Wir lassen es hier mit diesen äußerst knappen und unzulänglichen Hinweisen bewenden, die nur dazu dienen sollten, einen Hintergrund aufscheinen zu lassen. Es ist hier nicht unser Anliegen, diesen Hintergrund auszuleuchten, was einer eigenständigen Untersuchung vorbehalten sein müsste. Aber es wird sich zeigen, inwieweit al-Ghazālī selbst dies für erforderlich hält. Wir wollen also weiter dem Gedankengang bei der Entwicklung des gesuchten Kriteriums folgen.
3.5 Monopol und Substanz
3.5 Monopol und Substanz Yusuf Kuhnal-Ghazālī wendet sich sodann an den Fragesteller und bittet ihn, sich unter der Voraussetzung, dass er nicht blind irgendeiner Autorität folgt, sondern nach unabhängiger Einsicht strebt, zu überlegen, was wohl die eine oder andere Schule des Kalām dazu berechtigen könnte, einen exklusiven Anspruch auf die Wahrheit zu erheben. Warum sollten die Aschʿariten das Recht haben, die Hanbaliten und Muʿtaziliten des kufr zu bezichtigen, aber nicht umgekehrt?
Die Beispiele, die für die Streitigkeiten unter den verschiedenen Kalām-Schulen angeführt werden, drehen sich um die Frage, wie die Eigenschaften Allāhs wie Seine Rede, Sein Wissen, Seine Macht usw. zu verstehen sind. Keiner bestreitet diese Eigenschaften. Der Streit bezieht sich vielmehr darauf, wie sie unter Verwendung des aus der griechischen Philosophie übernommenen Begriffspaares von Substanz-Akzidens zu fassen sind. Wird Gott begrifflich als Substanz gefasst, stellt sich die Frage wie seine Eigenschaften im Verhältnis zu seiner Substanz zu begreifen sind. Gehören sie zur Substanz selbst oder sind sie Akzidenzien? Und welche Eigenschaften gehören zur Substanz selbst und welche sind Akzidenzien?
Wenn zudem angenommen wird, dass einerseits die göttliche Substanz eine innere Einheit im numerischen Sinne aufzuweisen hat und andererseits die Attribute dinglich als Wesenheiten aufgefasst werden, lässt sich leicht erahnen, wie es zu Vorwürfen des kufr kommen kann. Denn wird einerseits die Substanz zu einer Vielheit, indem die dinglich verstandenen Eigenschaften direkt in sie aufgenommen werden, droht der Vorwurf der Zerstörung ihrer Einheit, also ein Verstoß gegen das so verstandene Prinzip des tawhīd. Werden andererseits alle Eigenschaften in Gestalt von Akzidenzien im Sinne von getrennten Wesenheiten gewissermaßen aus der Substanz ausgelagert, droht der Vorwurf der Leugnung der göttlichen Eigenschaften.
Wenn in diese Überlegungen Gott und die Vielzahl seiner Eigenschaften auf der einen Seite sowie die Begriffe Substanz und Attribut auf der anderen Seite eingehen, lässt sich unschwer ersehen, dass sich aus der Kombination dieser Elemente eine große Menge von Positionen entwickeln lässt. Viele der Kombinationsmöglichkeiten wurden von den Mutakallimūn (Kalām-Gelehrte) auch tatsächlich durchgespielt und deren jeweiliges Ergebnis mit einem Monopolanspruch auf Wahrheit gegen alle konkurrierenden Auffassungen vertreten. Stellte sich bei der Durchsetzung einer bestimmten Position ein gewisser Erfolg ein, konnte von der Bildung einer Schule gesprochen werden, die in der Folge ihren Machtanspruch stets zu erweitern suchte.
Zudem gibt es solche Streitigkeiten auch innerhalb einzelner Kalām-Schulen, beispielsweise innerhalb der aschʿaritischen, worauf al-Ghazālī mit seinem Hinweis auf al-Bāqillānī aufmerksam macht, der trotz entsprechender Differenzen weiterhin als Mitglied der Schule betrachtet wird, so dass der kufr-Vorwurf auf der gleichen Grundlage gegenüber Positionen anderer Schulen als Messen mit zweierlei Maß zurückgewiesen werden muss.
al-Ghazālī wirft demgegenüber nun die grundsätzliche Frage auf, was eigentlich den Monopolanspruch rechtfertigen soll, da alle Parteien sich doch in der Anerkennung der Eigenschaften Allāhs einig sind und lediglich über deren begriffliche Fassung im Rahmen der skizzierten Kombinationsmöglichkeiten streiten. Der Konflikt beschränkt sich somit beispielhaft auf Aussagen folgender Art:
Gott [Allāh] sei aufgrund seines Wesens oder aufgrund einer über dieses Wesens [sic!] hinausgehenden Eigenschaft [Akzidens] allwissend und allmächtig. Was ist schon der Unterschied zwischen diesen beiden gegensätzlichen Positionen? (S. 57)
So fragt al-Ghazālī rhetorisch und schließt sogleich die höchst bemerkenswerte Frage an:
Gibt es in der religiösen Spekulation überhaupt eine Frage, gewaltiger und gefährlicher als die nach der Zustimmung oder Leugnung der Attribute Gottes? (S. 57)
al-Ghazālī geht darauf jedoch nicht näher ein, obgleich seine Untersuchung, die ihn ja schließlich zu diesen Fragen führt, allen Grund zu der Annahme böte, dass die aufgezeigten Probleme und Gefahren eben der Anwendung des Begriffsschemas Substanz-Akzidens entspringen.
Könnte es nicht sein, dass die Probleme auf die Substanzialisierung Gottes zurückzuführen sind? Ist diese Substanzialisierung notwendig? Ist sie überhaupt gerechtfertigt? Wenn ja, wodurch?
Diese Fragen stellt al-Ghazālī hier allerdings nicht.
Er bleibt stattdessen im Rahmen des Spielraumes, den die Kombinatorik der vorgegebenen Elemente eröffnet. Da die verschiedenen Schulen sich gegenseitig mit den strukturell gleichen Argumenten bekämpfen, kann es auf dieser Ebene keine Lösung geben, da sich immer vorbringen lässt, dass gegen die eigenen Prinzipien verstoßen und zweierlei Maß angelegt werde. So fasst al-Ghazālī das Ergebnis seiner Suche nach einem triftigen Kriterium, das den exklusiven Anspruch einer bestimmten Kalām-Schule auf Wahrheit als gültig auszeichnen könnte, folgendermaßen zusammen:
Wenn du gerecht urteilst, bemerkst du vielleicht, daß die Beschränkung der Wahrheit auf einen einzigen bestimmten Theologen [mutakallim] ziemlich nahe an etwas Unvereinbares und auch nahe an Unglauben [kufr] führt. Erstens an Unglauben [kufr], weil der Schüler seinen Lehrer an die Stelle des gegen Irrtum gefeiten Propheten setzt. Der Glaube wird aber allein durch das Einverständnis mit dem Propheten gefestigt und ein Widerspruch zum Propheten zieht notwendig Unglaube [kufr] nach sich. Zweitens an etwas Unvereinbares, weil es für jeden einzelnen spekulativen Theologen Pflicht ist, selbständig zu forschen, und weil ihm die Nachahmung einer Autorität verboten ist. (S. 58)
Die Erhebung eines Monopolanspruchs steht also erstens selbst in der Gefahr, nahe an kufr heranzukommen, weil der Lehrer, dem die exklusive Wahrheit zugesprochen wird, damit an die Stelle des Propheten gesetzt wird, wobei das Kriterium des Glaubens (īmān) allein die Übereinstimmung mit dem Propheten ist. Hinter diesem Argument steht freilich ein bestimmter Begriff von Wahrheit, dessen Tiefe ohne nähere Bestimmung sich nur erahnen lässt.
Und zweitens läuft sie auf einen Widerspruch hinaus, da von jedem Mutakallim in der jeweiligen Schule Unvereinbares verlangt wird, nämlich zugleich selbständig zu forschen und doch der Autorität, die den Wahrheitsanspruch verkörpert, bedingungslos zu folgen.
3.6 Prophetie und Lüge
3.6 Prophetie und Lüge Yusuf KuhnNachdem al-Ghazālī die Haltlosigkeit und Willkürlichkeit der gegenseitigen Bezichtigungen des kufr aufgezeigt hat, fordert er seinen Gesprächspartner auf, nun seine Definition von kufr zu betrachten. Zunächst gibt er zu bedenken, dass sie eigentlich eine lange Erklärung erfordert und ohnehin nicht leicht zu verstehen ist. Er will ihm aber ein korrektes Kriterium geben, das auch in der verkürzten Form seinen Zweck erfüllt:
Du sollst es vorerst als Richtschnur deiner Überlegung annehmen und deshalb davon absehen, einige Gruppen als ungläubig [kāfir] zu bezeichnen oder gar eine lose Zunge über jene Muslime zu führen, die stets am Satz: »Es gibt nur einen Gott und Muhammad ist sein Gesandter [Es gibt keine Gottheit außer Allāh und Muhammad ist Sein Gesandter]« festhalten und die an diesen Satz glauben, ohne sich dagegen aufzulehnen – mögen ihre Wege auch voneinander abweichen. (S. 59)
Nach dieser Vorbemerkung gibt al-Ghazālī seine Definition von kufr und īmān:
Ich sage: Es ist Unglaube [kufr], dem Propheten in einer solchen Sache zu unterstellen, er sage die Unwahrheit, welche durch ihn zu uns gekommen ist. Glaube [īmān] ist, ihn in allem, was durch ihn zu uns gekommen ist, für wahrhaftig zu halten. (S. 59)
kufr ist, kurz gesagt, gemäß al-Ghazālī also die Behauptung, der Prophet sage die Unwahrheit; īmān umgekehrt die Überzeugung, der Prophet sei wahrhaftig.
al-Ghazālī verweist sogleich auf einige Konsequenzen dieser Definition. Wenn jeder, der den Propheten für einen Lügner hält, ein kāfir ist, so gilt dies auch für Christen. Umso mehr gilt dies für alle, welche die Existenz der Propheten überhaupt bestreiten. Als Beispiele werden genannt Brahmanen, Dahriten, Dualisten usw.
Dann gibt al-Ghazālī noch einmal seine Definition in einer etwas anderen Formulierung wieder:
Denn jeder ist ungläubig [kāfir], der dem Propheten unterstellt, er sage nicht die Wahrheit; und jeder, der dem Propheten unterstellt, er sage nicht die Wahrheit, der ist ein Ungläubiger [kāfir]. Dies ist das versprochene, allgemeingültige Anzeichen, welches sich in der einen wie in der anderen Richtung benutzen läßt. (S. 60)
»In der einen wie in der anderen Richtung« soll heißen, dass das Kriterium notwendig und hinreichend ist, wie al-Ghazālī es ja auch davor formuliert, wenn man die beiden Teilsätze zusammennimmt.
Bevor al-Ghazālī den nächsten Schritt seines Gedankengangs unternimmt, bringt er einige Beispiele. Sie seien der Veranschaulichung halber zitiert:
Jede Gruppe beschuldigt ihre Widersacher, ungläubig zu sein und bringt sie mit dem Vorwurf, den Propheten der Lüge zu bezichtigen, in Verbindung. Der Hanbalit bezichtigt den Aschariten des Unglaubens, indem er ihm vorwirft, er unterstelle dem Propheten in den Fragen, ob Gott „oben“ sei [al-fawq] und auf dem Thron sitze [al-istiwāʾ ʿalā al-ʿarsch], zu lügen. Der Ascharit bezichtigt ihn hingegen des Unglaubens, indem er ihm vorwirft, Gott anthropomorph zu betrachten [muschabbih] und deshalb dem Propheten eine Lüge zu unterstellen, als dieser sagte, es gäbe nichts, was Ihm gleichkommen würde. Der Ascharit bezichtigt auch den Muʿtaziliten des Unglaubens, indem er ihm vorwirft, dem Propheten in den Fragen, ob man Gottes ansichtig werden könne [ruʾyat Allāh], sowie, ob Gott allmächtig und allwissend sei und ob er Attribute habe, eine Lüge zu unterstellen. Nun bezichtigt aber der Muʿtazilit selber den Aschariten des Unglaubens, indem er sagt, Gottes Attribute anzuerkennen sei eine Vermehrung von ewigen Dingen und deshalb müsse der Ascharit dem Propheten in der Behauptung der Ein- und Einzigheit Gottes [tawhīd] eine Lüge unterstellen. (S. 60)
Auch an diesen Beispielen fällt wieder auf, dass die Streitpunkte in erster Linie letztlich aus der Substantialisierung Gottes und die damit einhergehende Anwendung des Begriffsschemas Substanz-Akzidens hervorgehen. Wo dies nicht offensichtlich ist, ließe sich dies wohl meist durch eine genauere Analyse zeigen, worauf wir hier verzichten müssen.
3.7 Fürwahrhalten und Existenz
3.7 Fürwahrhalten und Existenz Yusuf Kuhnal-Ghazālī sieht die Lösung, und zwar die einzige, allerdings an anderer Stelle:
Die einzige Möglichkeit, die dich aus dieser bösen Verstrickung retten kann, ist die Kenntnis der Definition von Fürfalschhalten [takdhīb] und Fürwahrhalten [tasdīq] sowie die Kenntnis dessen, was diese beiden Wörter im wesentlichen beschreiben, wenn sie auf den Propheten angewandt werden. Diese Kenntnis wird dir die Übertreibung und die Maßlosigkeit dieser Gruppen aufdecken, mit der sie sich gegenseitig des Unglaubens [kufr] bezichtigen. (S. 60)
Hiermit führt al-Ghazālī die für seine Argumentation zentralen Begriffe des tasdīq (Fürwahrhalten) und takdhīb (Fürfalschhalten) ein, die jeweils eine doppelte Bedeutung besitzen, indem sie nicht nur auf die Aussage bezogen werden, die für wahr oder falsch gehalten wird, sondern auch auf den Gegenstand der Aussage:
Ich sage: Fürwahrhalten [tasdīq] richtet sich nicht nur auf die Aussage, sondern genauer gesagt auf das, worüber sie etwas aussagt. (S. 60)
Damit scheint gemeint zu sein, dass das Fürwahrhalten einer Aussage auch etwas über die »Wahrheit« des Gegenstandes aussagt, auf den die Aussage sich bezieht. Das setzt in jedem Fall eine bestimmte Theorie über die Bedeutung der Aussage und der in ihr enthaltenen Ausdrücke sowie über die Wahrheit einer Aussage voraus. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sowohl Bedeutung wie Wahrheit irgendwie als gegenständliches Bezugsobjekt aufgefasst wird. al-Ghazālī bestärkt diesen Eindruck, indem er erläuternd fortfährt:
Die Beschreibung des Wesens [haqīqa] vom Fürwahrhalten lautet: Anerkennung irgendeiner Existenz [wudschūd], von dessen Existenz der Gesandte berichtet. (S. 60)
Das Wesen oder die Realität des Fürwahrhaltens kommt somit in seinem Bezug auf den Gegenstand der Aussage zum Vorschein und besteht in einer Existenzbehauptung. Wird die Aussage für wahr gehalten, betrifft dies auch die Existenz des Gegenstandes, auf den die Aussage sich bezieht. Und wenn die Aussage vom Propheten stammt, beinhaltet das Fürwahrhalten zugleich eine Anerkennung der Existenz des Gegenstandes, von dem der Prophet berichtet.
Es sei angemerkt, dass Jackson den Satz im vorletzten Zitat etwas anders übersetzt, nämlich:
»Für wahr (oder wahrhaftig) halten« [tasdīq] kann sich auf die Aussage selbst beziehen oder auf den Autor der Aussage. (Jackson, S. 93)
Das Fürwahrhalten der Aussage bezieht sich demnach im zweiten Fall nicht auf das, »worüber sie etwas aussagt«, also auf den Gegenstand der Aussage, wie Griffel seinerseits meint, sondern auf den Sprecher der Aussage. Beide Übersetzungen scheinen mit dem arabischen Text verträglich zu sein. Wenn das Fürwahrhalten auf den Sprecher bezogen wird, bedeutet es die Anerkennung seiner Wahrhaftigkeit. Dies ist lediglich ein weiterer Aspekt, der mit dem zuvor Gesagten durchaus vereinbar ist und ebenfalls der Intention al-Ghazālīs zu entsprechen scheint.
Wenn man nun den Versuch unternimmt, diese Feststellungen al-Ghazālīs in ein nachvollziehbares Verständnis von Bedeutung und Wahrheit zu übersetzen, tun sich viele Fragen und Unklarheiten auf. Was ist die Bedeutung einer Aussage und in welchem Verhältnis steht sie zu deren Wahrheit? Wie ist das Verhältnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit? Wie hängt die Wahrheit einer Aussage genau von der Existenz von deren Bezugsobjekt ab? Was ist überhaupt das Bezugsobjekt einer Aussage? Es könnte das Subjekt der Aussage gemeint sein, das, wenn die Aussage wahr ist, zumindest in irgendeinem Sinne existieren muss. Leider trägt al-Ghazālī selbst nicht zur Klärung bei, da er ohne Beispiel und weitere Erläuterung dieser zentralen Thesen sofort zur Erklärung des Begriffes der Existenz (wudschūd) übergeht, der seinerseits viele Fragen aufwirft.
Daraus ergibt sich, warum von »irgendeiner Existenz« die Rede war. Denn es gibt al-Ghazālī zufolge verschiedene Arten der Existenz. Und um das Kriterium zu erfüllen, genügt es, eine dieser Arten anzuerkennen:
Die Existenz aber hat fünf Stufen. Weil diese vernachlässigt werden, bringt jede Gruppe ihre Gegner mit dem Vorwurf, der Prophet lüge, in Verbindung. (S. 60-61)
Es gibt also fünf Arten der Existenz. Und darin, dass dies nicht berücksichtigt wird, liegt der Hauptgrund für die gegenseitige Bezichtigung des kufr. Auch wenn die Argumentation, die hierher geführt hat, nicht ganz leicht nachzuvollziehen ist, so ist zumindest dieses Ergebnis als solches klar. Und als Konsequenz ergibt sich daraus: Wer irgendeine der fünf Arten der Existenz hinsichtlich einer Aussage des Propheten anerkennt, bezichtigt den Propheten nicht der Lüge. Da dies die notwendige und hinreichende Bedingung für takfīr ist, erübrigt sich in diesem Fall der takfīr. Wenn nun die Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Kalām-Schulen auf Differenzen bezüglich der Arten der Existenz zurückgeführt werden können, gibt es keinen Grund mehr, die Bezichtigung des kufr vorzunehmen.
Existenz ist ursprünglich, sinnlich, imaginativ, intellektual und ähnlich. Wer irgendeine Existenz, von dessen Existenz der Gesandte berichtet, in einem dieser fünf Aspekte anerkennt, der unterstellt dem Propheten durchaus keine Lüge. (S. 61)
Der Begriff der Existenz (wudschūd) selbst wird nicht näher bestimmt. al-Ghazālī fährt vielmehr damit fort, die unterschiedlichen Arten der Existenz zu beschreiben und sodann Beispiele dafür anzuführen, welche Rolle sie in der Auslegung der Offenbarung (taʾwīl) spielen.
3.8 Fünf Stufen der Existenz
3.8 Fünf Stufen der Existenz Yusuf KuhnDie fünf Stufen der Existenz sind also: ursprüngliche (dhātī, Jackson: ontologische), sinnliche (hissī), imaginative (khayālī), intellektuale (ʿaqlī) und ähnliche (schabahī) Existenz.
al-Ghazālī gibt nun Erläuterungen zu den verschiedenen Existenzweisen. Sie seien ganz knapp wiedergegeben:
1. Die ursprüngliche Existenz ist die reale Existenz außerhalb unserer Wahrnehmung und unseres Verstandes.
2. Die sinnliche Existenz ist das, was nur in der sinnlichen Wahrnehmung vorhanden ist, dem aber keine reale Existenz in der Außenwelt entspricht.
3. Die imaginative Existenz ist das Abbild der sinnlich wahrgenommenen Objekte, wenn diese nicht mehr in der Wahrnehmung vorhanden sind, sondern von der Einbildungskraft erzeugt werden.
4. Die intellektuale Existenz ist das, was nur als Wesen oder Begriff eines Gegenstandes im Denkvermögen vorhanden ist und nicht in der Außenwelt, der Wahrnehmung und der Einbildungskraft. al-Ghazālī veranschaulicht:
Ein Beispiel liefert die Hand. Zur Hand gehört ein wahrgenommenes und vorgestelltes Bild. Zu ihr gehört auch eine Bedeutung und dies ist das Wesen. In diesem Fall ist dies: »die Fähigkeit zum Greifen«. Die Fähigkeit zum Greifen ist die intellektuale Hand. (S. 62)
5. Die ähnliche Existenz betrifft einen Gegenstand, der weder als Realität noch als Abbild vorhanden ist, sondern dem ursprünglichen Gegenstand in einer seiner Eigenschaften ähnlich ist.
Im Anschluss daran führt al-Ghazālī eine Reihe von Beispielen für die Existenzweisen aus der Interpretation (taʾwīl) von Aussagen der Offenbarung an.
Die Stufen sind hierarchisch geordnet, ausgehend von realer Existenz zu immer niedrigeren Existenzweisen. Bei der ersten Stufe, also der ursprünglichen Existenz, wird noch keine Auslegung (taʾwīl) vorgenommen, da sie ganz dem »äußeren Wortsinn« (dhāhir) folgt.
Sie ist die absolute und reale Existenz. Also z. B. die Verkündigungen des Gesandten über den Himmelsthron [ʿarsch], den Thronsitz [kursī] und die sieben Himmelssphären. Sie folgen ihrem äußeren Wortsinn [dhāhir] und werden nicht ausgelegt, denn diese Körper sind für sich selber existent, gleichgültig ob sie von dem Sinnesvermögen und dem Vorstellungsvermögen wahrgenommen werden oder nicht. (S. 63)
Ab der zweiten Stufe ergibt sich die Notwendigkeit, auf die Auslegung (taʾwīl) des äußeren Wortsinns überzugehen, wenn ein Beweis erbracht werden kann, dass die Annahme der Bedeutung bzw. der Existenzweise der jeweils übergeordneten Stufe unmöglich ist. Es ist bemerkenswert, dass al-Ghazālī diesen Übergang immer konditional formuliert und zudem personalisiert in Gestalt von Formulierungen wie:
Wer in einer Argumentation den Beweis erbringen kann, wonach […] unmöglich ist, der vermindert die Aussage dahingehend, daß […] (S. 63-64)
Damit scheint der subjektiven Überzeugung hinsichtlich des Vorliegens eines Beweises wie auch dessen, was überhaupt ein Beweis ist, Raum gegeben zu werden. Mit der Verminderung der Aussage ist der Übergang zu einer untergeordneten Stufe der Existenz gemeint.
Wir wollen der Kürze halber nicht näher auf die Beispiele eingehen und uns der Allgemeinen Regel zuwenden. Angemerkt sei nur, dass auch hier wieder auffallend ist, welch große Rolle der Streit um das Verhältnis von Substanz und Attributen dabei spielt.
3.9 Interpretation und Beweis
3.9 Interpretation und Beweis Yusuf KuhnNachdem al-Ghazālī durch die Beispiele verdeutlicht hat, dass die verschiedenen Existenzweisen nicht seine Erfindung sind, sondern tatsächlich in der Auslegung (taʾwīl) der Offenbarung aufzufinden sind, legt er seine Lösung vor:
Wisse: Jeder, der eine der Reden des Gesetzgebers auf eine der genannten Stufe [sic!] reduziert, ist ein Gläubiger. Fürfalschhalten [takdhīb] liegt vor, wenn alle diese Bedeutungen abgelehnt werden und behauptet wird, das, was gesagt wurde, hätte keine Bedeutung, es sei nur absolute Lüge, dahinter stehe die Absicht zu täuschen oder weltliche Güter [maslaha] zu erreichen. Eine solche Behauptung ist absoluter Unglaube [kufr], ja, Gottlosigkeit [zandaqa; verborgener kufr]. Es ist nicht nötig, Interpreten mit dem Vorwurf des Unglaubens [takfīr] entgegenzutreten, solange sie sich an das Gesetz der Interpretation [qānūn at-taʾwīl] halten, wie wir es aufzeigen werden. Daß jede Interpretation [taʾwīl] stets Unglaube [kufr] sei, ist falsch, denn es gibt keine Gruppe von Muslimen, die nicht gezwungen ist, eine Interpretation zu benutzen. (S. 67)
Auf der neu gewonnenen Grundlage der Stufen der Existenz wird zunächst das Verhältnis von īmān und kufr neu bestimmt. Wer sich bei seiner Interpretation von Aussagen der Offenbarung im Rahmen der vorgegebenen Existenzweisen bewegt, verlässt den īmān nicht. Wer hingegen alle fünf möglichen Bedeutungen ablehnt, verfällt dem kufr, da er Aussagen der Offenbarung damit zur Falschheit erklärt. Welche Absicht dahinter steht, spielt für diese Beurteilung keine Rolle, sei es auch die vorgebliche Förderung des Nutzens der muslimischen Gemeinschaft (maslaha). Wenn allerdings die Absicht, über die in Wahrheit nicht-muslimischen Anschauungen zu täuschen, also Heuchelei hinzukommt, kann von verborgenem kufr (zandaqa) gesprochen werden.
Ganz allgemein lässt sich sagen: Wer sich an die Regel der Interpretation (qānūn at-taʾwīl) hält, bleibt im Rahmen des īmān; in diesem Fall erübrigt sich der Vorwurf des kufr.
Bevor al-Ghazālī zur genaueren methodischen Bestimmung des qānūn at-taʾwīl fortschreitet, stellt er noch fest, dass es nicht um die Frage gehen kann, ob schon die Anwendung von taʾwīl selbst kufr sei. Seine Begründung dafür ist, dass keine Gruppe von Muslimen auf taʾwīl verzichten kann.
Zum Beleg verweist er auf Ahmad Ibn Hanbal, der »sich unter allen Menschen am weitesten von der Interpretation entfernt« hielt und doch nicht umhinkam, nicht einfach nur taʾwīl anzuwenden, sondern sogar auf die niedrigste Stufe zurückzugreifen, auf die ähnliche Existenz. Laut al-Ghazālī tat Ibn Hanbal dies in drei Fällen. Damit soll in einer beispielhaften Ausführung gezeigt werden, dass sogar die Hanbaliten implizit den qānūn at-taʾwīl zur Anwendung brachten. Damit wäre die These belegt, dass »jede Gruppe, selbst wenn sie ihre Verbundenheit mit dem äußeren Wortsinn übertreibt, stets auf Interpretation angewiesen ist.«
Griffel weist jedoch in einer Anmerkung zu dieser Stelle darauf hin, dass dieser Behauptung von Ibn Taymiyya energisch widersprochen wurde:
Zu al-Ġazālīs Behauptung, Aḥmad ibn Ḥanbal hätte in drei Fällen selber den äußeren Wortlaut von Hadithen interpretiert vgl. den führenden hanbalitischen Gelehrten Ibn Taymiya (gest. 1328): „Was al-Ġazālī da über einige Hanbaliten berichtet, daß nämlich Aḥmad ibn Ḥanbal, ‚nur drei Dinge‛ ausgelegt hätte (...) ist eine Lüge über Aḥmad, so etwas wird von seiner Seite nicht mit einer Kette von Gewährsleuten überliefert und ich kenne auch keinen seiner Gefährten, von dem so etwas überliefert ist. Dieser Hanbalit, auf den sich al-Ġazālī beruft, war unwissend, er hatte keine Ahnung von dem, was Aḥmad gelehrt hatte und hielt dies auch nicht für wahr.« (Ibn Taymiya, Mağmūʿ fatāwa, Bd. 5, S. 398.) (S. 98, Anm. 52)
Dem können wir jetzt nicht näher nachgehen, aber der Hinweis schien mir wichtig genug, um ihn nicht zu übergehen.
Wie dem auch sei, al-Ghazālī fährt mit einem kurzen Hinweis fort, dass auch die Aschʿariten, etwas weniger, und die Muʿtaziliten, etwas mehr, auf taʾwīl zurückgegriffen haben, um seine These von der Unvermeidlichkeit des taʾwīl weiter zu belegen.
Wer allerdings umgekehrt auf taʾwīl gänzlich verzichten zu können meint, droht die »Grenze der Dummheit und Ignoranz [zu] überschreiten und z. B. [zu] sagen, der Schwarze Stein sei tatsächlich eine rechte Hand.« (S. 69) Bemerkenswert ist nun wieder, dass die Grenze zwischen Verstand und Unverstand in den folgenden Beispielen geradezu gleichgesetzt wird mit der Grenze zwischen bzw. der Verwechslung von Substanz und Akzidens.
Jeder, der diesen Grad von Unwissenheit erreicht hat, verliert die Bindung an den Verstand. (S. 69)
al-Ghazālī fasst noch einmal das Ergebnis der bisherigen Untersuchung zusammen, um dann in der Ausführung einen Schritt weiterzugehen:
Ich komme nun zum Gesetz der Interpretation [qānūn at-taʾwīl]. Du hast schon erfahren, daß über die Anwendung dieser fünf Stufen in der Interpretation unter den Religionsgruppen Einigkeit herrscht. Gleichzeitig weißt du, daß man sich nicht in der Reichweite des Apostasievorwurfes [takdhīb; Bezichtigung des Lügens] befindet, solange eine dieser fünf Rangstufen vorliegt. Die Anwendung jener fünf Stufen kann nur gebilligt werden, wenn ein apodiktischer Beweis [burhān] vorliegt, der die Geltung des äußeren Wortsinns [dhāhir] ausschließt. Auch in diesem Punkt stimmen die Religionsgruppen überein. Der äußere Wortsinn ist zuerst zu beachten, er ist die ursprüngliche Existenz. Wenn sie affirmiert wird, schließt sie alle in sich ein. Wenn dies nicht durchzuführen ist, so folgt die sinnliche Existenz. Wenn sie affirmiert wird, so schließt sie in sich ein, was nach ihr folgt. Wenn dies nicht durchzuführen ist, so folgt die imaginative Existenz bzw. die intellektuale. Wenn dies nicht durchzuführen ist, so folgt die ähnliche, die metaphorische [madschāzī] Existenz. Ohne Notwendigkeit, die nur ein apodiktischer Beweis [burhān] hervorbringt, ist es nicht erlaubt, von einer Stufe auf eine darunterliegende überzugehen. (S. 69)
al-Ghazālī weist sehr deutlich darauf hin, was als notwendige Bedingung für die Aufgabe der äußeren Bedeutung (dhāhir) und für jeden Übergang auf eine niedrigere Stufe gegeben sein muss: ein burhān oder »apodiktischer Beweis«, wie Griffel übersetzt, da er davon ausgeht, dass al-Ghazālī mit burhān einen Beweis meint, der die Regeln der aristotelischen Logik und Wissenschaftstheorie für sichere und unwiderlegliche, also »apodiktische« Beweisführung erfüllt. al-Ghazālīs Formulierung legt diese Interpretation allerdings nicht zwingend nahe, sondern lässt anderen Möglichkeiten durchaus Raum, worauf auch die auf die Erwähnung des Beweises folgende Aussage von al-Ghazālī hindeutet:
Auch in diesem Punkt stimmen die Religionsgruppen überein.
Aber das würde ja voraussetzen, dass die »Gruppen der Muslime« allesamt sich darin einig wären, dass unter burhān »apodiktischer Beweis« im Sinne der aristotelischen Logik zu verstehen ist sowie dass sie diesen Beweis auch anerkennen und verwenden. Das ist so unwahrscheinlich, dass kaum anzunehmen ist, dass al-Ghazālī dies meinen konnte. Wie fährt al-Ghazālī fort?
Wenn, wie gesagt, bis dahin die Gruppen der Muslime übereinstimmen – woher kommen dann die ganzen Streitigkeiten? al-Ghazālī gibt folgende Auskunft:
Meinungsverschiedenheiten gehen darauf zurück, wie ein apodiktischer Beweis [burhān] zu erbringen sei. (S. 69)
Das ist eine einigermaßen überraschende These von jemandem, der doch der Logik als Kern der Vernunft einen so hohen Stellenwert beimessen soll, wie Griffel nicht nur durch seine Übersetzung mit »apodiktischer Beweis« unterstellt. Gerade da, wo größte Gewissheit und Einheit ihren Ursprung zu haben scheinen, sollen in Wirklichkeit die Streitigkeiten entspringen? Jedenfalls sind sie so ziemlich weit entfernt von der Offenbarung selbst und der persönlichen Beziehung zu ihr. Und al-Ghazālī möchte zudem diese These anhand von Beispielen begründen und veranschaulichen:
Denn der Hanbalit sagt, es gäbe keinen apodiktischen Beweis für die Unmöglichkeit, den Schöpfer mit der Richtung „oben“ zu beschreiben. Der Ascharit sagt, es gäbe keinen apodiktischen Beweis für die Unmöglichkeit, Gott im Angesicht entgegenzutreten. Niemand hat gebilligt, was sein Kontrahent sagte oder sah darin ein überzeugendes Argument. (S. 69)
al-Ghazālī scheint damit sagen zu wollen, dass es tatsächlich eine Debatte um die Frage des Beweises gibt, was doch nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass auf allen Seiten der Begriff des Beweises in einem bestimmten einheitlichen Sinn Anerkennung findet. Das dürfte zumindest zweifelhaft sein, zumal da die aristotelische Logik zumindest unter Hanbaliten kaum oder gar nicht und unter Aschʿariten nur bedingt Zustimmung gefunden hat.
Oder sollte es hier mit der Bedeutung von burhān (Beweis) doch eine ganz andere Bewandtnis haben? Könnte es nicht sein, dass al-Ghazālī gar keine bestimmte und feste Bedeutung damit verknüpft, sondern die von der jeweiligen Gruppe angewandte und anerkannte Beweisführung meint, also das, was jeweils als Beweis Anerkennung findet, ohne Festlegung auf eine bestimmte Logik wie etwa die aristotelische? Mir drängt sich der Eindruck auf, dass die Darstellung der Beispiele mit ihren konditionalen und personalisierten Formulierungen wie auch der weitere Verlauf der Argumentation diese Annahme eher stützt. Weder Griffel noch Jackson, der burhān mit logical proof (logischer Beweis) übersetzt, scheinen diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, sondern verstehen burhān (Beweis) und verwandte Ausdrücke wie »notwendig« oder »unmöglich« immer im Sinne der aristotelischen Logik.
al-Ghazālī setzt hinzu:
Wie dem auch sei, keine Gruppe sollte ihren Widersacher des Unglaubens [kufr] bezichtigen, nur weil sie meint, er mache einen Fehler in der apodiktischen Beweisführung. (S. 69-70)
»Wie dem auch sei«: al-Ghazālī selbst lässt die Frage nach der Gültigkeit des Beweises offen, legt seine Regel der Interpretation an und stellt fest, dass Differenzen hinsichtlich der Beweisführung doch kein Grund für die Bezichtigung des kufr sein können. Nach seinem Verständnis verlagern sich demnach diese Meinungsverschiedenheiten auf eine andere Ebene:
Es ist wohl erlaubt, ihn einen Irrenden oder Neuerer zu nennen. „Irrend“ deshalb, weil er sich vom Weg verirrt hat, den die eigene Religionsgruppe geht. „Neuerer“ deshalb, weil er eine neue Erklärung einführt, die uns von den frommen Vätern [as-salaf as-sālih] nicht bekannt war. (S. 70)
An die Stelle des Vorwurfs des kufr tritt also der Vorwurf des Irregehens (dhāll) und der problematischen Neuerung (bidʿa). al-Ghazālī geht abgesehen von einigen Beispielen darauf nicht näher ein. Der entscheidende Unterschied dürfte wohl sein, dass sich diese Differenzen innerhalb der islamischen Gruppen austragen lassen und daher stark abgemildert sind.
3.10 Zwei Perspektiven und Logik
3.10 Zwei Perspektiven und Logik Yusuf Kuhnal-Ghazālī macht im nächsten Schritt darauf aufmerksam, dass es in dieser Frage zwei Perspektiven gibt, die klar unterschieden werden müssen: einerseits die Perspektive der »Masse der Menschen« (‘awāmm al-khalq) und andererseits die der »Leute der Spekulation«, der spekulativen Theoretiker (al-nudhdhār).
Die erste von beiden ist die Position der Masse der Menschen [‘awāmm al-khalq]. In dieser Position ist es richtig, dem wörtlichen Sinn direkt zu folgen
Jackson übersetzt hingegen: »(der etablierten Lehre) zu folgen«; Griffel interpoliert »dem wörtlichen Sinn«, ohne dies kenntlich zu machen. und sich einer direkten Abänderung des Wortsinns [dhawāhir] zu enthalten. Weiter muß man vorsichtig sein, im Rahmen einer Interpretation eine innovative Deutung vorzuschlagen, die die Prophetengenossen nicht geäußert haben. Hier ist es darüber hinaus richtig, das Tor der Fragen direkt zu schließen und die Beschäftigung mit dem Kalām und der Forschung sowie mit den nicht klar verständlichen Stellen im Buch und in der Prophetentradition zu tadeln. (S. 70)
Für die breite Masse stellt sich also die Frage des taʾwīl und der daraus resultierenden Probleme gar nicht. Warum dies so sein sollte, wird nicht gesagt.
Der zweite Standpunkt findet sich bei den Leuten der Spekulation [an-nudhdhār], deren überlieferte Glaubensbekenntnisse in Aufruhr gebracht sind. Ihre Forschung sollte sich durch die Kraft logischer Notwendigkeit auszeichnen. Geben sie die wörtliche Bedeutung [dhāhir] auf, so sollte dieser Schritt durch die Notwendigkeit eines apodiktischen, überzeugenden Beweises begründet sein. Sie sollten sich nicht untereinander des Unglaubens bezichtigen, weil der eine einen Fehler sieht, wo der andere glaubt, es herrsche Apodiktik [burhān]. Immerhin ist das keine geringfügige Sache, die einfach zu verstehen ist. (S. 70-71)
Der Übergang von der äußeren Bedeutung (dhāhir) zu einer anderen Stufe steht nur den Theoretikern zu. Darüber hinaus wiederholt al-Ghazālī, dass dies nur unter der Voraussetzung eines Beweises geschehen und aufgrund von Differenzen hinsichtlich der Beweisführung kein Vorwurf des kufr erhoben werden sollte. Einen neuen Aspekt bringt hingegen die letzte Bemerkung ins Spiel, deren Bedeutung leicht zu übersehen ist. Was ist hier nicht geringfügig und nicht leicht zu verstehen? Es ist die Methode der richtigen Beweisführung. Denn die Mutakallimūn haben sich bislang nicht nur nicht auf eine bestimmte Methode einigen können, sondern sie haben die ganze Sache noch nicht einmal richtig verstanden. Das bestätigt die Vermutung, dass, wenn oben von »Beweis« die Rede war, eben nicht eine bestimmte Beweisführung gemeint war, sondern das, was jeweils gerade von einem Gelehrten darunter verstanden wurde. Und eben dadurch ist es nach al-Ghazālī zu den Meinungsverschiedenheiten gekommen, die zu den Bezichtigungen des kufr führten.
Demgegenüber ruft al-Ghazālī nun aus:
Gäbe es unter ihnen doch nur ein Gesetz [qānūn] für Apodiktik [burhān], dem sie zustimmen und das sie alle anerkennen würden! (S. 71)
Gemeint ist damit wohl ein allgemein anerkanntes Kriterium zur Bestimmung der Gültigkeit einer Beweisführung. Dieses Kriterium gibt es also bis dahin nicht. Jede Partei betreibt die Beweisführung nach ihren eigenen Regeln oder – mit anderen Worten – hat ihre eigene Logik. Und da möchte al-Ghazālī endlich Ordnung hineinbringen und alle auf eine einzige und einheitliche Logik verpflichten, so dass im Zusammenspiel mit seinem qānūn at-taʾwīl die vermeintlichen Gegensätze zwischen den verschiedenen Gruppen stark abgeschwächt oder sogar ganz aufgelöst werden könnten: Gäbe es unter ihnen doch nur eine allgemein anerkannte Logik!
Wenn die Mutakallimūn sich schon nicht auf die Skala der Waage und die Methode des Wiegens einigen können, wie sollten sie da je ihre Streitigkeiten über das Gewicht der gewogenen Sache beilegen können?
al-Ghazālī hat die gesuchte Waage samt Skala und Methode zur Hand und bietet sie zur allgemeinen Verwendung an:
Wir haben die fünf Balancen der Argumentation im Buch »Die ausgeglichene Waage« beschrieben. (S. 71)
al-Ghazālī liefert in seinem Buch al-Qistās al-mustaqīm (Die ausgeglichene Waage) eine Darstellung der aristotelischen Logik, die er zugleich koranisch zu begründen versucht, indem er nachweist, dass der Syllogismus als Methode der Argumentation auch im Koran Verwendung findet. Diese Logik trägt er also den Mutakallimūn an. Sie ist zwar seines Erachtens nicht leicht zu verstehen, verspricht aber vollkommene Gewissheit:
Wenn man sie einmal verstanden hat, ist es unmöglich ihnen [den Beweisführungen] zu widersprechen. Nein, vielmehr wird jeder, der sie verstanden hat, auch anerkennen, daß sie die Mittel sind, die zu überzeugendem und sicherem Wissen führen. Für jene, die sie gelernt haben, ist es einfach, die Mitte der Waage, d. i. die Korrektheit eines Argumentes, zu erreichen und sie zu halten, den Fehler aufzudecken und eine Kontroverse zu beenden. (S. 71)
Der recht verstandene Gebrauch dieser Logik verspricht also tatsächlich notwendiges und sicheres Wissen zumindest insofern, als die Richtigkeit der Beweisführung betroffen ist. Und damit einhergehend können durch sie die Fehler in Argumenten aufgedeckt und Kontroversen als gegenstandslos erkannt und folglich aufgelöst werden.
Allerdings sind Kontroversen auch dadurch nicht ganz ausgeschlossen. Sie bleiben aber von untergeordneter Bedeutung. al-Ghazālī führt fünf verschiedene Fälle möglicher Differenzen an. Sie scheinen bei näherer Betrachtung durchaus nicht ganz so nebensächlich zu sein, wie al-Ghazālī zu verstehen gibt. Jedenfalls ist er der Auffassung, ihnen in einem weiteren Logik-Buch mit dem Titel Mihakk al-nadhr (Prüfstein der Spekulation) bereits gewehrt zu haben. So kann al-Ghazālī diesen Abschnitt seiner Untersuchung mit folgender Bemerkung schließen:
Wenn die Gelehrten ihre Halsstarrigkeit aufgeben, sich auf die Balance einlassen und sie in die Tat umsetzen, dann können sie im allgemeinen ziemlich leicht die Fehlerquellen erkennen. (S. 71)
Damit wäre das Thema, das im Zentrum unseres Interesses steht, nämlich die Behandlung des qānūn at-taʾwīl, weitgehend abgeschlossen. Wir beschränken uns im Folgenden daher darauf, einen groben Überblick über den weiteren Gedankengang al-Ghazālīs zu geben.
3.11 Äußeres Kriterium und Philosophie
3.11 Äußeres Kriterium und Philosophie Yusuf KuhnNachdem al-Ghazālī bis hierher den Spielraum aufgezeigt hat, in dem sich Interpretationen in ihrer Vielfalt nach seiner Regel bewegen können, ohne dem Vorwurf des kufr ausgesetzt zu sein, macht er sich nun an die Untersuchung des äußeren Kriteriums, das īmān und kufr voneinander scheidet.
al-Ghazālī fährt also fort:
Nun gibt es Leute, die sich übereilt in die Interpretation stürzen, weil sie von einer Menge nicht zwingend bewiesener Vermutungen überwältigt werden. (S. 72)
Diese Leute gehen mithin zur Interpretation auf der bloßen Grundlage von Vermutungen (dhann) über. al-Ghazālī warnt davor, diese Leute ebenso übereilt des kufr zu bezichtigen, da es darauf ankommt, welchen Gegenstand ihre Interpretation betrifft. Denn wenn es sich nicht um Grundsätze oder wichtige Punkte der Glaubenslehre handelt, sollte ihnen nicht kufr vorgeworfen werden. Es könnte sein, dass sie die Regeln und Voraussetzungen der Beweisführung nicht ausreichend kennen und daher ihre Vermutungen für Beweise halten. Deshalb sollten sie weder wegen kufr noch wegen bidʿa (problematischer Neuerung) verurteilt werden. Nur wenn ihre Behandlung einer Frage zu einer Verwirrung in den Herzen der ungebildeten Menschen führt, ist die Verurteilung als bidʿa angebracht und erfordert.
Hängt aber eine solche Art von Interpretation mit den wichtigen Grundsätzen der Glaubenslehre zusammen, so muß jeder für ungläubig [kāfir] erklärt werden, der den buchstäblichen Wortsinn [dhāhir] ohne einen überzeugenden, apodiktischen Beweis [burhān] abändert. (S. 73)
Wenn demnach jedoch eine solche Interpretation, die ohne Beweis (burhān) von der dhāhir-Bedeutung zum taʾwīl übergeht, mit den wichtigen Grundsätzen der Glaubenslehre zusammenhängt, muss sie als kufr verurteilt werden. Als Beispiele werden einige Thesen der falāsifa (Philosophen) angeführt, hauptsächlich die Leugnung der leiblichen Auferstehung samt jenseitigem Leben sowie Gottes Unkenntnis von den Einzeldingen. al-Ghazālī betont, dass solche Behauptungen für die Religion enorm schädlich sind. Diese Anschauungen werden allerdings von den meisten falāsifa vertreten. Und da die diesbezüglichen Aussagen in Koran und Sunna an Zahl und Deutlichkeit das Maß übersteigen, das eine Interpretation (taʾwīl) zulässt, wird damit der Spielraum der Interpretationsregel gesprengt und der Prophet zum Lügner erklärt. Nach al-Ghazālīs Kriterium liegt hier somit ein klarer Fall von kufr vor.
Dabei bestreiten die falāsifa nicht einmal, dass dies kein Feld für Interpretation ist. Sie berufen sich vielmehr darauf, dass die meisten Menschen nicht über die intellektuellen Fähigkeiten verfügen, um die wahre Realität zu erkennen, wie sie ausschließlich in Begriffen der Philosophie dargestellt werden kann, und deshalb auf eine bildliche Darstellung angewiesen sind, wie sie die Offenbarung liefert: wahre Philosophie für die Elite der Wenigen und Religion für die breite Masse. al-Ghazālī kennzeichnet diese elitäre Konzeption, indem er den falāsifa folgende Worte in den Mund legt:
Die menschlichen Intellekte sind zu träge, um die Bedeutung des intellektualen Jenseits zu verstehen. Deshalb ist es dem Wohl des Menschen zuträglich, an die Versammlung der Körper zu glauben. Es ist ebenso dem Wohl des Menschen zuträglich, zu glauben, daß Gott mit allem, was ihnen zustößt, vertraut ist und daß er sie überwacht. Denn dieser Glaube soll Eifer und Furcht in ihren Herzen erzeugen. Dem Propheten war es erlaubt, den Menschen dies zu lehren. Wer seinen Mitmenschen eine Wohltat erweist, ist kein Lügner. Er hat den Menschen gezeigt, wie sie Wohl erlangen können, auch wenn es gar nicht so ist, wie er es darstellte. (S. 74)
Der Zweck, dem Wohl der Menschen zu dienen, heiligt die Lüge, so dass die Lüge eigentlich keine sein soll, sondern vielmehr eine Wohltat. Dem widerspricht al-Ghazālī energisch:
Diese Behauptung ist ganz und gar nichtig, denn sie spricht offen die Unterstellung aus, der Prophet habe gelogen. Darüber hinaus liefert sie auch noch eine Entschuldigung für den Anspruch, der Beschuldigte habe gar keine Lüge unterstellt. Man muß die prophetische Würde über solche Geringschätzigkeit erhaben halten. Denn was sowohl Aufrichtigkeit wie die Fähigkeit angeht, den Menschen Wohltaten zu erweisen, so ist diese Würde absolut frei von Lüge. (S. 74)
Und al-Ghazālī qualifiziert diese Anschauungen als »erste Rangstufen von zandaqa (verborgenem kufr)« im Unterschied zu absoluter (mutlaqa) zandaqa, welche die Existenz eines Jenseits oder eines Schöpfers der Welt überhaupt leugnet. Demgegenüber ist die zandaqa der besagten falāsifa eingeschränkt, da sie dem Propheten eine gewisse Wahrhaftigkeit zuerkennt, indem die Existenz eines Jenseits und eines Schöpfers immerhin angenommen wird, wenngleich auch in einer Weise, die der Offenbarung widerspricht.
Es zeigt sich hier auch, dass die Übersetzung von zandaqa mit »verborgenem kufr«, wie Jackson es tut, problematisch zu sein scheint. Denn zumindest bei der zandaqa mutlaqa ist der Aspekt der Heuchelei offensichtlich kaum mehr zu erkennen. Hinsichtlich der falāsifa kann gleichwohl von zandaqa als verborgenem kufr und Heuchelei in dem von al-Ghazālī beschriebenen Sinne die Rede sein. Daher bleibe ich trotz der Bedenken und mangels einer besseren Alternative bei »verborgenem kufr« als Interpretation von zandaqa.
al-Ghazālī schließt nun eine Mahnung zur Vorsicht und Zurückhaltung an:
Wisse: Es erfordert eine langwierige Unterscheidung, zu erläutern, wodurch jemand zum Ungläubigen [kāfir] wird oder wodurch nicht. Man müßte jede Abhandlung und jede Glaubensrichtung untersuchen, ihre unsicheren Auffassungen durchleuchten und die Argumente einer jeden Gruppe erörtern, schließlich müßte die Art ihrer Abweichung vom Wortsinn [dhāhir] und die Methode ihrer Interpretation erkannt werden. Das würde ganze Bände füllen – für jene Erklärung reicht meine Zeit aber nicht aus. (S. 75)
Da diese umfassende Untersuchung praktisch kaum oder gar nicht möglich ist, beschränkt al-Ghazālī sich auf eine Empfehlung und eine Regel:
Die Empfehlung lautet: Halte deine Zunge soweit es dir möglich ist von den Leuten der Gebetsrichtung zurück, solange sie das Glaubensbekenntnis: »Es gibt nur einen Gott und Muhammad ist sein Prophet [Es gibt keine Gottheit außer Allāh und Muhammad ist Sein Gesandter]«, rezitieren, ohne diesem Satz zu widersprechen. (S. 75)
Die Empfehlung zur Zurückhaltung in der Beurteilung anderer Muslime verbindet al-Ghazālī darüber hinaus mit einem guten Rat:
In der Verurteilung aufgrund von Unglaube [kufr] liegt eine Gefahr, im Schweigen liegt keine! (S. 75)
Denn der Vorwurf des kufr, der sich als grundlos erweist, fällt auf denjenigen zurück, der den Vorwurf erhebt. Das sollte eigentlich schon Grund und Anreiz genug sein, sich dabei äußerster Vorsicht und Behutsamkeit zu befleißigen!
Was die Regel betrifft, so unterscheidet al-Ghazālī die »Gegenstände religiöser Spekulation« (an-nadharīyāt) in zwei Teile: Grundsätze der Glaubenslehre und Ableitungen. Es gibt drei Grundsätze; sie betreffen die Anerkennung der Existenz Gottes, der Prophetenschaft des Propheten sowie der Wirklichkeit des Letzten Tages. Bei allem anderen handelt es sich um sekundäre Fragen oder Ableitungen.
Der wesentliche Gehalt der Regel lautet:
Wisse: Bei den Ableitungen [furūʿ] gibt es ursprünglich keine Verurteilung aufgrund von Unglaube [kufr]. (S. 76)
Von kufr kann demnach nur bei solchen Fragen die Rede sein, welche die Grundsätze betreffen. Warum fügt al-Ghazālī »ursprünglich« ein? Um darauf hinzuweisen, dass es gleichwohl Ausnahmen und Einschränkungen der Regel gibt.
Eine Ausnahme bezieht sich auf eine religiöse Lehre, die vom Gesandten Allāhs stammt und auf eine sichere Überlieferung (tawātur) zurückgeht. Und eine Einschränkung ergibt sich dadurch, dass auch bei sekundären Fragen eine Verurteilung als kufr erforderlich wird, wenn der Prophet dabei der Lüge bezichtigt wird.
3.12 Warnung und Mahnung
3.12 Warnung und Mahnung Yusuf KuhnIm nächsten Abschnitt führt al-Ghazālī eine Liste von Kriterien an, die mit der Verurteilung des kufr zusammenhängen. Sie seien stichwortartig genannt:
1. Lässt der Text, von dessen äußerer Bedeutung (dhāhir) abgewichen wurde, eine Interpretation (taʾwīl) zu?
2. Steht der Text aufgrund von lückenloser Überlieferung, aufgrund von Überlieferung Einzelner oder aufgrund des Konsenses (idschmāʿ) fest?
3. War demjenigen, der des kufr beschuldigt wird, ein bestimmter Text oder auch der Konsens der Gelehrten bekannt?
4. Sind die Bedingungen für eine richtige Beweisführung erfüllt?
5. Wird durch die fragliche Meinung ein großer Schaden für die Religion verursacht?
al-Ghazālī weist immer wieder auf die vielen Bedingungen und Einschränkungen hin, die ein kufr-Urteil äußerst erschweren. Angesichts der für die meisten Gelehrten kaum zu meisternden Schwierigkeiten rät er zu größter Zurückhaltung:
Nun hast du verstanden, daß die Untersuchung über ein Apostasieurteil [takfīr] ganz und gar von solchen Standpunkten abhängt, die im Einzelnen nicht von den scharfsinnigsten Gelehrten gemeistert werden. Deshalb weißt du nunmehr auch, daß man ein voreiliger Dummkopf ist, wenn man leichtfertig ein Apostasieurteil [takfīr] über jemanden fällt, der al-Ašʿarī oder einem anderen widersprochen hat. Wie soll nur ein bloß mit Rechtwissenschaft [sic!] ausgestatteter Jurist eine solch enorm schwierige Aufgabe meistern? In welchem Abschnitt des Jurastudiums begegnen einem diese Wissenschaften? Siehst du einen Rechtsgelehrten, wie er sich bloß mit dem Kapital seiner Rechtswissenschaft vorschnell in ein Urteil über die Apostasie [takfīr] oder Irreleitung eines Angeklagten stürzt, dann wende dich ab und beschäftige weder dein Herz noch deine Zunge weiter mit ihm. Wenn Verstocktheit in den Wissenschaften eine Anlage im Charakter ist, dann kann der Unwissende ihr nicht widerstehen. Deshalb widersprechen sich die Menschen so häufig. (S. 81)
Und er beschließt diesen Abschnitt mit einem allgemein gültigen Rat, der es sicher verdient, beherzigt zu werden, obschon es gewiss nicht immer leicht ist:
Würde nur jeder, der es nicht genau weiß, auch den Mund halten, dann gäbe es weit weniger Gegensätze zwischen den Menschen. (S. 81)
al-Ghazālī wendet sich nun einer Gruppe von den Mutakallimūn zu, die alle Muslime des kufr bezichtigen, deren Glauben nicht die Bedingung erfüllt, der Glaubenslehre einer ganz bestimmten Schule zu entsprechen und zudem mit vollem Verständnis auf die von dieser Schule als rational vertretenen Argumenten gegründet zu sein.
Nun gibt es unter den Mutakallimūn eine Gruppe, die ist sehr unmäßig und geht in ihrer Übertreibung soweit, die einfachen und ungebildeten Muslime zu Ungläubigen [kāfir] zu erklären. Sie behaupten: „All jene sind Ungläubige [kāfir], die den Kalām nicht wie wir genau kennen und die die von uns aufgestellten Argumente für die religiösen Glaubenssätze nicht verstanden haben.“ (S. 82)
Diese Praxis wird von al-Ghazālī scharf kritisiert: Denn diese Leute haben die Barmherzigkeit Allāhs, die alle Gläubigen umfasst, beschränkt und das Paradies zu einem exklusiven Ort für eine kleine Schar von Mutakallimūn erklärt. Außerdem kennen sie die Sunna nicht, sonst wäre ihnen nicht entgangen, dass zur Zeit des Propheten (sas) und seiner Genossen die Anerkennung als Muslim nicht von der Kenntnis einer bestimmten Wissenschaft und ihrer Argumente abhängig gemacht wurde.
Wer meint, Kalām, die nackten Argumente und die systematischen Einteilungen seien der Weg zum Glauben [īmān], der hat weit gefehlt. Der Glaube ist vielmehr ein Licht, das Gott als Gabe und Geschenk in die Herzen seiner Diener wirft. (S. 82)
Dem Kalām räumt al-Ghazālī hingegen nur einen sehr beschränkten Nutzen ein. Bei der Verbreitung des Islam hat er praktisch keine Rolle gespielt, da er nicht zu den Gebräuchen der Vorfahren gehörte. Vielmehr wurden darin vor allem Gefahren gesehen. al-Ghazālī schließt sich dem an und spricht sich fast für ein Verbot aus:
Wenn wir Heuchelei und Rücksichtnahme auf unseren Nächsten aufgeben, dann sprechen wir deutlich aus, daß die übereilte Beschäftigung mit dem Kalām wegen der Größe des sich daraus ergebenden Schadens verboten ist. (S. 83)
Ausnahmen will er nur in zwei Fällen zulassen. Wenn jemand von Zweifeln und Unsicherheit befallen ist, die sich anders nicht beheben lassen, ist die Ausübung von Kalām für ihn als Heilmittel für seine Krankheit erlaubt. Und die Praxis des Kalām ist auch dann zulässig, wenn man sich ihrer bedienen will, um damit einen Kranken zu heilen, der von Zweifeln und Unsicherheit befallen ist.
Abschließend stellt al-Ghazālī noch einmal gegen die von einigen Mutakallimūn, insbesondere aschʿaritischen, geübte Praxis, die große Masse der Muslime des kufr zu beschuldigen und aus dem Islam auszuschließen, mit aller Deutlichkeit klar:
Es ist offenbare Wahrheit, daß jeder ein Gläubiger ist, der entschieden an das glaubt, was mit dem Gesandten auf ihn gekommen ist und an das, was der Koran enthält, auch wenn er seine Argumente nicht verstanden hat. Demhingegen ist der aus dem Argument des Kalāms gewonnene Glaube sehr schwach und stets geneigt, sich beim kleinsten Zweifel aufzulösen. Der festgegründete Glaube ist der Glaube der ungebildeten Masse. Er ergibt sich während der Jugend in ihren Herzen aus dem wiederholten Hören der Überlieferungen. Oder er wird im Erwachsenenalter durch glückliche Umstände verursacht, die man nicht erklären kann. Seine volle Festigung muß untrennbar von Gottesdienst und Ḏikr, Anrufung Gottes, begleitet werden. Wer mit Gottesdienst bis zum Wesen der Gottesfurcht und zur Reinigung des Inneren vom Schmutz der Welt angelangt ist und wer beharrlich die Anrufung Gottes praktiziert, dem zeigen sich die Lichter ursprünglicher Erkenntnis [maʿrifa], und die Einsichten, die er eben noch aus Lehrsätzen akzeptiert hatte, werden ihm nun wie eigener Augenschein als sinnliche Bilder offenbar. Dies ist die wahre ursprüngliche Erkenntnis, und sie tritt nur ein, wenn der Knoten, der die Glaubenssätze umfaßt, gelöst und die Brust durch das Licht Gottes erweitert wird. „Und wenn Gott einen rechtleiten will, weitet er ihm die Brust für den Islam ...“ [Koran 6:125] „… sodaß er nunmehr von seinem Herrn erleuchtet ist.“ [Koran 39:22] (S. 84)
al-Ghazālī beschließt seine Untersuchung mit einer eindringlichen Mahnung:
Von Muḥammad [dem Gesandten Allāhs (sas)] ist uns überliefert worden:
„Wenn ein Muslim seinen Gefährten des Unglaubens [kufr] beschuldigt, so ist einer von beiden ungläubig [kāfir].“ Dies meint, daß er ihn in Wissen über den Zustand des Gefährten einen Ungläubigen [kāfir] nennt. Weiß aber jemand über einen anderen, daß er an den Gesandten Gottes glaubt und ihn für wahrhaftig hält und nennt ihn trotzdem einen Ungläubigen [kāfir], so ist der Ankläger selber ein Ungläubiger [kāfir]. Nennt er ihn aufgrund bloßer Mutmaßung, wonach der Beschuldigte den Propheten für einen Lügner halte, einen Ungläubigen [kāfir], so ist das ein Fehler des Anklägers über den Zustand einer Person. Denn er mutmaßt ja nur, daß er eine Lüge unterstellender Ungläubiger [kāfir] sei, es trifft aber gar nicht zu – und das ist wiederum kein Unglaube [kufr].
Mit diesen wiederholten Untersuchungen haben wir die Lehre von der enormen Tiefe, die in dieser Regel liegt, und von dem Gesetz [qānūn], dessen Befolgung notwendig ist, dargelegt. Begnüge dich damit!
Wer der Rechtleitung folgt, dem sei Friede gegeben. – Lob sei Gott, dem Herrn der Welt. – Seinem Propheten und dessen Familie gilt unser Gebet. (S. 91)
4 al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den Kalām
4 al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den Kalām Yusuf KuhnVorbemerkung
In dem Aufsatz From Al-Ghazālī To Al-Rāzī
Shihadeh vertritt die These, dass erst ar-Rāzī vollendet hat, was oftmals schon al-Ghazālī zugeschrieben wird, nämlich die Durchdringung des kalām mit aristotelischer Logik und Philosophie. al-Ghazālī hat erste Schritte in diese Richtung unternommen, ist aber auf halbem Wege stehengeblieben, während ar-Rāzī diesen Weg konsequent bis an sein Ende gegangen ist.
Wir wollen hier nur den ersten Teil dieser Untersuchung näher betrachten, der sich mit dem geistigen Hintergrund der Entwicklung von ar-Rāzī beschäftigt und mit al-Ghazālīs Herangehensweise an den Kalām beginnt.
4.1 Kalām und seine Funktion bei al-Ghazālī
4.1 Kalām und seine Funktion bei al-Ghazālī Yusuf KuhnIbn Sīnā (gest. 428/1037) hatte ein ausgearbeitetes philosophisches System hinterlassen, das viele für den Gipfelpunkt der Philosophie hielten, das alle vergangene Philosophie zugleich in sich enthielt und übertraf. Von diesem Denken ging auch eine gewisse Anziehungskraft für manche sunnitische Kreise aus, die sich nicht nur von seiner besonders ausgefeilten Methode der Darstellung beeindrucken ließen, sondern auch von der darin enthaltenen Behandlung vieler theologischer und religiöser Themen angesprochen fühlten, die sich mit den im Kalām erörterten Fragen überschnitten, wie etwa Gott, Jenseits, Vorherbestimmung, Prophetentum, Offenbarung usw.
Die Anschauungen von Ibn Sīnā und allgemeiner der falāsifa (Philosophen), zu denen neben Ibn Sīnā beispielsweise auch dessen Vorgänger al-Kindī und al-Farābī gehörten, fanden in al-Ghazālī einen scharfen Kritiker. Er schreibt in seinem Tahāfut al-falāsifa (Inkohärenz der Philosophen):
Die Absicht ist, diejenigen zu warnen, die gut von den falāsifa denken und meinen, dass ihre Verfahrensweisen frei von Widerspruch sind, indem wir die Aspekte ihrer Inkohärenz (tahāfut) aufdecken. Und deshalb werde ich mich nur insofern auf die Auseinandersetzung mit ihnen einlassen, als es für eine Bestreitung erforderlich ist, nicht um Behauptungen und Thesen aufzustellen. Ich werde das, woran sie glauben, als dunkel und undurchsichtig erweisen, [indem ich] schlüssig [aufzeige], dass sie an verschiedenen Konsequenzen [ihrer Theorien] festhalten müssen. […] Ich werde mich nicht zur Verteidigung einer bestimmten Lehre aufschwingen.
Al-Ghazālī, The Incoherence of the Philosophers. A parallel English-Arabic text translated, introduced, and annotated by Michael E. Marmura, Provo, Utah, 1997, S. 7-8.
Diese ausschließlich kritische Verfahrensweise, der es nicht darum geht, eine eigene Lehre zu vertreten, lässt sich darauf zurückführen, dass al-Ghazālī den Tahāfut als ein Kalām-Werk betrachtet. Denn sie erfüllt eine der beiden wesentlichen Aufgaben, die er dem Kalām zuschreibt. Die erste Funktion besteht in der Verteidigung der islamischen Glaubenslehre durch die Widerlegung widersprechender Auffassungen. Und das ist offensichtlich die Absicht, die al-Ghazālī mit dem Tahāfut verfolgt.
Die zweite Funktion des Kalām sieht al-Ghazālī darin, die Zweifel und Unsicherheiten, die einfache Muslime wie auch Kalām-Gelehrte (mutakallimūn) befallen haben mögen, mittels verschiedener Argumente zu vertreiben. Diese Argumente können je nach Person und deren jeweiligen Bedürfnissen sehr unterschiedlich ausfallen. Ihre Tauglichkeit bemisst sich daran, ob der erstrebte Zweck, nämlich die Wiederherstellung eines festen Glaubens, damit erreicht werden kann. al-Ghazālī vergleicht sie daher mit einem Heilmittel, das einem Kranken verabreicht wird.
Shihadeh kommentiert:
So wird der mutakallim zu dem mehr oder weniger gleichen Punkt gelangen, an dem der durchschnittliche unkritische Nachahmer (muqallid) steht, nämlich zu bloßem Glauben (iʿtiqād) an die Wahrheit der formalen Ausdrücke der Lehren, welche die Glaubenslehre bilden. Nach al-Ghazālī kann die wirkliche und direkte positive Erkenntnis dessen, worauf sich diese doktrinellen Formulierungen beziehen, durch eine höhere Theologie gesucht werden, die »Wissenschaft der spirituellen Illumination« (ʿilm al-mukāschafa), in Verbindung mit spiritueller Disziplin. (Shihadeh, S. 143)
Ob diese Behauptungen hinsichtlich des »bloßen Glaubens« und der »höheren Theologie« tatsächlich zutreffen, wäre an den Texten al-Ghazālīs zu überprüfen. Diese Frage soll hier offen bleiben. Die für unseren Gedankengang wesentlichen Punkte dürften aber unstrittig sein.
Denn es geht aus al-Ghazālīs Zuschreibung der beiden Aufgaben an den Kalām klar hervor, dass er der Auffassung ist, dass auf den Kalām nur dann zurückgegriffen werden sollte, wenn Gegner oder Zweifel auftreten. Sonst ist der Kalām von geringem oder gar keinem Nutzen und sollte demnach gemieden werden. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Kalām nicht mehr als individuelle Pflicht (fardh ʿayn) gelten kann, sondern lediglich als kollektive Pflicht (fardh kifāya) unter der Voraussetzung, dass bestimmte Bedingungen eintreten, die seine Ausübung erforderlich erscheinen lassen.
Damit wird die Bedeutung des Kalām von al-Ghazālī stark abgeschwächt. Denn seine Vorgänger hatten dem Kalām neben der Widerlegung von Gegnern noch eine Aufgabe von größter Wichtigkeit zugeschrieben, nämlich die theoretische Begründung der Wahrheit der Offenbarung und des Glaubens selbst. Sie betrachteten dies auch als individuelle Pflicht jedes Muslim. Manche mutakallimūn gingen dabei sogar so weit, einen Glauben, der sich dieser rationalen Begründung nicht mit vollem Bewusstsein und Verständnis unterzogen hatte, nicht anzuerkennen, mit allen Konsequenzen bis hin zum Ausschluss aus dem Islam (takfīr).
4.2 Hat al-Ghazālī die Logik in den Kalām eingeführt?
4.2 Hat al-Ghazālī die Logik in den Kalām eingeführt? Yusuf Kuhnal-Ghazālī wird oftmals zugeschrieben, die Logik – gemeint ist damit letztlich die aristotelische – in den Kalām eingeführt zu haben. Allerdings bleibt meist unklar, in welchem Sinn genau er dies getan haben soll. Mitunter wird diese These einfach vorausgesetzt und geht als solche in Interpretationen und auch Übersetzungen ein, ohne dass sie am Text selbst noch überprüft wird. So wird oftmals einfach vorausgesetzt, dass bestimmte Ausdrücke in al-Ghazālīs Texten Begriffe der aristotelischen Logik sind und folglich entsprechend übersetzt werden müssen. Das scheint mir beispielsweise für die Übersetzung von al-Ghazālīs Faysal at-tafriqa in der Ausgabe von Frank Griffel zu gelten, in der im Sinne der aristotelischen Logik z.B. Beweis immer als »apodiktischer Beweis« und Unmöglichkeit als logische Unmöglichkeit verstanden wird.
Zudem stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die Logik zu den beiden Aufgaben steht, die al-Ghazālī dem Kalām belässt.
al-Ghazālī selbst stellt zwar fest, dass die Logik im Kalām als Werkzeug zum Einsatz kommen sollte, aber seine Aussagen bleiben ziemlich unbestimmt. Shihadeh führt zwei Stellen aus al-Ghazālīs al-Munqidh min adh-dhalāl (Der Erretter aus dem Irrtum) dazu an. In einer heißt es, dass die Wahrheit in Fragen, die in den Kalām fallen, (kalāmiyyāt) durch die Logik erkannt werden. Und in der anderen Stelle behauptet al-Ghazālī, dass die Logik von der gleichen Art ist wie das, was die mutakallimūn und die spekulativen Denker hinsichtlich der Beweise erörtern, wobei die falāsifa sich von ihnen nur terminologisch unterscheiden.
Shihadeh führt nur kleine Ausschnitte des Textes an. Sie seien hier ausführlich zitiert. Die erste Stelle lautet:
Ferner bestreitet kein Scholastiker [mutakallim] dieses Maß [die Logik], da es den theoretischen Beweisführungen entspricht, durch welche das Wahre in der Scholastik (kalāmiyyāt) erkannt wird.
al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum. al-Munqidh min adh-dhalāl. Aus dem Arabischen übersetzt von Elschazli, Hamburg, 1988, S. 35.
Und die zweite Stelle lautet:
Es [die Logik] hält sich in dem Rahmen, dessen sich auch die Scholastiker [mutakallimūn] und die Anhänger des spekulativen Denkens (ahl an-nadhar) bedienen. Sie [die falāsifa] unterscheiden sich von ihnen lediglich in der Ausdrucksweise und in der Terminologie, in den Definitionen und in den Einzelheiten, welche bei den Logikern ausführlicher dargestellt sind. (Ebenda, S. 22; Elschazli interpretiert diese Stelle anders.)
Wenn die Behauptung zutreffen soll, dass die Logik von gleicher Art ist wie etwas, was die mutakallimūn bereits verwenden, muss »Logik« offensichtlich in einem sehr weiten Sinn verstanden und kann wohl nicht mit aristotelischer Logik gleichgesetzt werden. Die Unterstellung, dass es nur Unterschiede in der Terminologie gibt, ist daher höchst zweifelhaft. Die mutakallimūn sind beispielsweise nicht den aristotelischen Regeln für eine gültige Beweisführung gefolgt. Und umgekehrt galten den falāsifa viele Beweise der Mutakallimun als Fehlschlüsse.
Shihadeh zieht daraus folgenden Schluss:
Da es nahezu unvorstellbar ist, dass al-Ghazālī dies nicht erkannte, sollte der zweite Teil seiner Aussage [nur terminologische Unterschiede] als rhetorisch behandelt werden, insbesondere wenn der Kontext berücksichtigt wird. (Shihadeh, S. 144-145)
Was genau mit »rhetorisch« und »Kontext« gemeint sein soll, sagt Shihadeh jedoch leider nicht.
Es gibt allerdings auch eindeutige Aussagen von al-Ghazālī über die Beziehung von Kalām und Logik, und zwar in seinen Kalām-Werken, die sich ausdrücklich auf die Logik stützen, nämlich al-Qistās al-mustaqīm (Die ausgeglichene Waage) und Tahāfut, dem er eine Abhandlung über Logik, Miʿyār al-ʿilm (Richtmaß des Wissens), als Anhang beifügte. Wenn man nun annimmt, dass al-Ghazālī sich damit ernsthaft für eine Übernahme der aristotelischen Logik in den Kalām ausspricht, wäre zu erwarten, dass er die Methoden der Beweisführung der mutakallimūn ablehnte und scharf kritisierte. Denn sie führen gemäß den Regeln der aristotelischen Logik nicht zu sicherem, »apodiktischem« Wissen, sondern lediglich zu Mutmaßung (dhann). Doch diese Kritik übt al-Ghazālī nicht.
Hat al-Ghazālī sich also gar nicht für die Übernahme der aristotelischen Logik in den Kalām eingesetzt? Shihadeh macht sich zur Aufklärung dieser Frage an eine Untersuchung eines weiteren Kalām-Werkes von al-Ghazālī: al-Iqtisād fī al-iʿtiqād (Das rechte Maß in der Darlegung der Glaubenslehre). Wir wollen hier nicht in die Einzelheiten gehen und beschränken uns auf die Wiedergabe der Ergebnisse dieser Untersuchung. Shihadeh stellt fest, dass im Iqtisād außer äußerst vagen Anspielungen auf den aristotelischen Syllogismus nur die klassischen Methoden des Kalām zu finden sind, und fasst zusammen:
Der Iqtisād beinhaltet in der Tat keine klaren Verweise auf die Logik. Müssen die mutakallimūn also die Logik kennen? Die Antwort hier ist »nein«. Der interessierte Leser wird auf den Mihakk und den Miʿyār verwiesen, während die normalen Kalām-Methoden, in leicht modifizierter Form, für den Iqtisād für ausreichend befunden werden. (S. 146)
Es scheint al-Ghazālī also tatsächlich nicht ernsthaft um die Übernahme der aristotelischen Logik in den Kalām gegangen zu sein.
Die Unterschiedlichkeit der Aussagen von al-Ghazālī zu dieser Frage verdanken sich nicht einer vermeintlichen Inkohärenz, sondern vielmehr einem pragmatischen Vorgehen, das sich nicht einem monolithischen Begriff der Vernunft samt der dazugehörigen Logik unterwirft. Die Werke, in denen sich al-Ghazālī für die Verwendung der Logik ausspricht, wie Tahāfut und Qistās, dienen in erster Linie der Kritik und Widerlegung gegnerischer Positionen. Die »Beweise«, die im Iqtisād vorgelegt werden, dienen hingegen einem ganz anderen Zweck. Sie werden als Heilmittel für kranke Herzen verabreicht und können je nach Krankem und Befund die verschiedensten Formen annehmen. Auf die Logik im aristotelischen Sinne kann dabei verzichtet werden. Der Wert der Logik – im weiteren Sinne – bemisst sich dabei nicht am Maß abstrakter Rationalität, sondern an ihrem therapeutischen Nutzen.
Die Verwendung der Logik im Kontext von Tahāfut und Qistās ist ebenfalls dem Pragmatismus al-Ghazālīs geschuldet, der in diesem Fall auf eine Widerlegung der Gegner auf deren eigenem Gebiet unter Einsatz von deren eigenen Werkzeugen abzielt, ohne selbst eine bestimmte Position vertreten zu müssen. Um die falāsifa, die von der Überlegenheit ihrer logischen Methode überzeugt sind, auf eine Weise widerlegen zu können, die insbesondere für sie selbst und ihre Anhänger eindrucksvolle Wirkung entfaltet, bedarf es der Auseinandersetzung auf ihrem eigenen Terrain mittels ihrer eigenen Waffen der Kritik.
Um die Einführung der Logik in den Kalām durch al-Ghazālī vor diesem Hintergrund besser einschätzen zu können, sei sie im Kontext der Kritik betrachtet, die von den falāsifa gegen die früheren mutakallimūn vorgebracht wurde. Diese Kritik betrifft vor allem zwei Punkte.
Die erste Kritik der falāsifa besagt, dass die mutakallimūn bloß dialektisch (dschadal), d.h. ad hominem argumentieren. Damit ist gemeint, dass die Argumente sich nach der Person richten, gegen die sie vorgebracht werden, und nicht nach den Maßstäben abstrakter Rationalität oder der Sache selbst. Der klassische Argumentationsverlauf ist dabei dadurch bestimmt, dass der Kontrahent zur Anerkennung einer Konklusion gezwungen wird, die zwar aus von ihm anerkannten Prämissen abgeleitet wird, aber für ihn nicht annehmbar ist, so dass seine Position damit erschüttert wird. Derjenige, der diese Argumentation vorbringt, muss sich dabei nicht auf eine eigene Position festlegen. Und die strittige Position wird nur unter diesen spezifischen Voraussetzungen, die vom jeweiligen Kontrahenten anerkannt werden, eben in diesem Sinne dialektisch widerlegt, so dass die Frage nach ihrer Wahrheit letztlich offenbleiben kann. Damit werden aber die Anforderungen, welche die falāsifa an eine gültige Beweisführung und insbesondere an die epistemische Qualität der Prämissen stellen, nicht erfüllt.
Die zweite Kritik der falāsifa besagt, dass viele der von den mutakallimūn verwendeten Argumente und Schlussfiguren nicht den Regeln der syllogistischen Logik genügen und daher als Beweise unbrauchbar sind. Sie liefern zumindest kein sicheres, apodiktisches Wissen gemäß den Kriterien der falāsifa, sondern bestenfalls Vermutungen.
Wie ist nun al-Ghazālīs Vorgehen gegenüber dieser Kritik der falāsifa an den mutakallimūn einzuordnen? Er beugt sich ihr jedenfalls keineswegs. Seine Kalām-Werke, die der Widerlegung gegnerischer Anschauungen dienen, bringen durchgängig und ausdrücklich die »dialektische« Methode zur Anwendung. Vielleicht ist er sogar der erste, der dieses Vorgehen so weit treibt, letztlich nichts anderes als eine Widerlegung durchzuführen, ohne überhaupt eine eigene Position zu beziehen. Daran ändert der Umstand nichts, dass er sich beispielsweise im Tahāfut durchaus zur Aufgabe macht, den besonderen Ansprüchen der Logik der falāsifa Genüge zu tun. Denn dies ist ja gerade ein Erfordernis der »dialektischen« Methode gegenüber den falāsifa, wenn sie denn mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden sollen.
In den Kalām-Werken, die der Darlegung einer bestimmten Glaubenslehre dienen, wie etwa dem Iqtisād, zeigt al-Ghazālī wiederum keinerlei Neigung, auf die Art von Argumenten Verzicht zu leisten, die von den falāsifa verworfen worden sind, weil sie sich beispielsweise auf Prämissen stützen, die bloß von bestimmten Personen anerkannt sind, ohne den Kriterien für Prämissen einer Beweisführung nach den Regeln der aristotelischen Logik zu genügen.
al-Ghazālī strebte also keineswegs eine strikte Übernahme der aristotelischen Logik in den Kalām an. Die Einführung der Logik in den Kalām, so wie er sie tatsächlich betrieb und beförderte, unterlag stets den pragmatischen Vorgaben, die er für den Sinn und Zweck des Kalām bestimmt hatte. Sein Anliegen war dabei vor allem einerseits die Bewahrung der Grundlagen des Islam durch Widerlegung widersprechender Anschauungen und andererseits die Bewahrung des Glaubens durch Verabreichung von Heilmitteln für kranke Herzen, die von Zweifel und Unsicherheit befallen waren.
Shihadeh schätzt daher abschließend al-Ghazālīs Einführung der Logik in den Kalām folgendermaßen ein:
Sie war nicht kühn genug, um den Kalām zu revolutionieren; aber sie ebnete den Weg für ar-Rāzīs kühnere Initiative. Während al-Ghazālī also sich daran versucht, eine Kalām-Theologie zu entwickeln, die dem früheren Kalām ein wenig überlegen ist, bleibt sie doch in hohem Maße dialektisch (in beiden Bedeutungen des Wortes) und erscheint oftmals sogar noch gründlicher negativistisch. (S. 148)
5 al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den fiqh
5 al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den fiqh Yusuf KuhnVorbemerkung
Welchen Beitrag hat al-Ghazālī zur Einführung der Logik in das islamische Recht (fiqh) und Rechtstheorie (usūl al-fiqh) geleistet? Dieser Frage geht Wael Hallaq, gewiss einer der besten Kenner der Geschichte der islamischen Rechtstheorie (usūl al-fiqh), in einem Aufsatz nach, der den Titel trägt: Logic, Formal Arguments and Formalization of Arguments in Sunnī Jurisprudence (Logik, formale Argumente und Formalisierung von Argumenten im sunnitischen Recht).
5.1 Logik und Recht
5.1 Logik und Recht Yusuf KuhnWenn in dieser Weise von Logik gesprochen wird, ist stets die aristotelische formale Logik gemeint, auch wenn dies, wie etwa zumeist auch bei Hallaq, nicht näher spezifiziert wird. Damit ist nun keineswegs, wie oftmals unterstellt zu werden scheint, die Frage schon beantwortet, ob es weitere Logiken gibt und in welchem Verhältnis diese zur aristotelischen Logik stehen. Dass diese Frage allzu oft gar nicht gestellt oder gar für gegenstandslos gehalten wird, dürfte allerdings den Versuch, al-Ghazālīs Position zur Logik zu verstehen, nicht gerade erleichtern. Denn für al-Ghazālī selbst ist diese Frage keineswegs von vornherein ausgemacht. Und nicht nur deshalb, sondern auch aus heutiger Sicht ist es recht verwunderlich, dass diese Frage in der Literatur nicht einmal angesprochen wird, da doch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein gewaltiger Umsturz auf dem bis dahin von vielen für unveränderlich gehaltenen Gebiet der Logik sich vollzogen hat, aus dem eine geradezu hyperinflationäre Flut an Logiken hervorgebrochen ist. Davon wird aber keinerlei Gebrauch gemacht. Die in zweifacher Hinsicht anachronistische Fixierung auf die aristotelische Logik scheint den Blick auf Alternativen völlig zu verstellen.
Wael Hallaq zufolge war al-Ghazālī »der erste Rechtsgelehrte im sunnitischen Islam, der die Logik in hohem Maße in die Rechtstheorie integriert hat« (Hallaq, S. 318). Das soll nicht heißen, dass nicht andere vor al-Ghazālī bereits über die Logik im Recht geschrieben hätten. So erwähnt Hallaq neben anderen den andalusischen Gelehrten Ibn Hazm (gest. 456/1062), der über ein halbes Jahrhundert vor al-Ghazālī eine Abhandlung über Logik mit zahlreichen rechtlichen Beispielen verfasst hat, die nicht nur der Illustration dienen sollten. Denn Ibn Hazm erachtete die Logik als höchst nützlich für die Auslegung von Koran und Sunna sowie für die Ableitung rechtlicher Schlussfolgerungen. Und er verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass diejenigen, die eine solche einfache Tatsache nicht verstünden, sich von der Religion entfernt hätten und ihnen daher nicht erlaubt werden sollte, Entscheidungen in Rechtsfragen zu treffen. Doch diesen Vorläufern kommt letztlich lediglich eine marginale Bedeutung zu im Verhältnis zu dem überragenden Einfluss und Wirkung al-Ghazālīs.
Der sunnitischen Rechtstheorie, so Wael Hallaq, war es bis ins 5./11. Jahrhundert weithin gelungen, das Eindringen der aristotelischen Logik zu verhindern. In den Auseinandersetzungen um die Grundlegung und Ausrichtung des islamischen Rechts erschien die Logik als Werkzeug der Philosophie und stand daher unter dem Verdacht, ihre metaphysischen Voraussetzungen zu teilen. Die vorherrschende, insbesondere von asch-Schafiʿī (gest. 204/820) geprägte Tendenz in der sunnitischen Rechtstheorie widersetzte sich erfolgreich diesen Einflüssen eines philosophischen Rationalismus, der als den Grundlagen des Islam zuwiderlaufend erachtet wurde. Erst al-Ghazālī, als schafiʿitisch-aschʿaritischer Gelehrter, befreite die Logik von diesem Verdacht, indem er sie vermeintlich als neutrale Methode aus der aristotelischen Philosophie herauslöste und so von ihren als nicht-islamisch geltenden metaphysischen Voraussetzungen abspaltete. Dadurch räumte er den Weg frei für die Aufnahme der Logik in Rechtstheorie (usūl al-fiqh) und Recht (fiqh), die in den folgenden Jahrhunderten von seinen Nachfolgern mit kaum zu überschätzenden Auswirkungen bis in die Gegenwart aufgegriffen und fortgeführt wurde.
Bevor diese Entwicklung einsetzte, wurden Schlussformen der formalen Logik nicht anerkannt. In Schafiʿīs Rechtstheorie beispielsweise beschränkt sich das Arsenal an Schlussweisen auf Analogieschluss, Argumentum e contrario (Umkehrschluss) und Argumentum a fortiori (Erst-recht-Schluss). Soweit in seiner Rechtsfindung Argumente vorkommen, die wie rudimentäre deduktive Schlüsse aussehen, galten sie als bloß sprachliche Schlüsse. Denn es wurde angenommen, dass sie nicht mittels logischer Deduktion abgeleitet, sondern aus der Sprache der Offenbarung unmittelbar verstanden werden. Im Hintergrund steht dabei die grundlegende Unterscheidung von Gewissheit und Wahrscheinlichkeit, die in ihren verschiedenen Abstufungen je nach Klarheit der entsprechenden Stelle auf den Text der Offenbarung angewendet wurde. Ein koranischer Text, in dem eine Norm klar festgesetzt wird, bedarf keiner deduktiven Schlussverfahren, um eine Rechtsnorm entnehmen zu können. Vielmehr wurde angenommen, dass die Erkenntnis, die auf diesem Text beruht, unmittelbar oder notwendig (dharūrī) ist, da der Verstand, der damit konfrontiert wird, nicht umhin kann, ihn zu verstehen. Wenn daher beispielsweise eine Gattung verboten wird, so wird daraus unmittelbar verstanden, dass jede ihrer Arten ebenfalls verboten ist, auch wenn die einzelnen Arten nicht speziell verboten werden. Daher werden deduktive Schlussweisen in der Rechtstheorie eben nicht als solche anerkannt, sondern lediglich als Ableitungen auf rein sprachlicher Grundlage erachtet.
5.2 al-Ghazālī als Wegbereiter
5.2 al-Ghazālī als Wegbereiter Yusuf KuhnWie hat nun al-Ghazālī konkret der Einführung der aristotelischen Logik in Recht und Rechtstheorie den Weg bereitet? Er tat dies, indem er seinem rechtstheoretischen Werk Mustasfā ein Kompendium der Logik voranstellte. Daneben verfasste er zwei weitere Lehrbücher der Logik, die etwas umfangreicher ausfielen, nämlich Mihakk und Miʿyār. Die einführende Abhandlung in Mustasfā erhob er zwar nicht zur verpflichtenden Lektüre, sondern überließ diese Entscheidung der Leserschaft, sprach aber in unmissverständlicher Weise die an Ibn Hazm gemahnende Mahnung aus, dass, wer keine Kenntnis der Logik besitze, auch keine Kenntnis irgend einer Wissenschaft besitze.
Und welchen Einfluss hatte diese Einleitung auf das Werk selbst? Wie machte sich die Logik in der inhaltlichen Umsetzung bemerkbar? Wael Hallaq kommt zu folgendem Ergebnis:
Wenn er zum rechtlichen Teil von al-Mustasfā fortschreitet, kann jedoch kein Anzeichen irgend einer formalen logischen Analyse ausfindig gemacht werden und verbleibt sein Verfahren vollständig innerhalb der Konvention des klassischen usūl al-fiqh. (S. 319)
Die einführende Abhandlung der Logik bleibt also folgenlos für Inhalt und Gestaltung der Rechtstheorie selbst. Natürlich drängt sich da sofort die Frage auf: Warum wird sie dann überhaupt vorangestellt? Was bezweckte al-Ghazālī damit? Hallaq vermutet, dass er damit eben keine Revolutionierung der Rechtstheorie beabsichtigte, sondern vielmehr darauf aufmerksam machen wollte, dass die Logik als Werkzeug unerlässlich ist, »mit dem alle Schlüsse streng gemäß einem rationalen Schema geformt werden können« (S. 319). Hallaq erkennt darin einen bemerkenswerten Rückzug im Vergleich zu seinem Vorgehen in früheren Werken wie al-Miʿyār, eine Einführung in die aristotelische Logik, und ganz besonders Shifāʾ al-ghalīl, eine Abhandlung über die Verursachung im Recht, aus dem Hallaq einen Abschnitt im zweiten Teil seines Artikels übersetzt und kommentiert hat. In Shifāʾ al-ghalīl analysierte al-Ghazālī rechtliche Schlüsse mit den Mitteln der syllogistischen Logik. Das scheint allerdings die große Ausnahme gewesen zu sein. In al-Miʿyār war das Verhältnis von Recht und Logik schon weniger eng gestrickt, da illustrierende Beispiele für syllogistische Schlussformen nicht nur Philosophie und Theologie, sondern auch dem Recht entnommen wurden. Hallaq erläutert dazu:
Es ist völlig offensichtlich, dass al-Ghazālī mit diesen Beispielen lediglich versuchte, dem Denken der Rechtsgelehrten ein Verständnis dieser Schlussfolgerungen näher zu bringen. Es gibt kein Bemühen, Rechtsfälle mittels dieser Schlussformen zu analysieren. Und es gibt auch keinerlei Anstrengung, die spezifischen Strukturen der rechtlichen Logik in Begriffen der etablierten Theorie der Logik zu identifizieren. (S. 320)
Aber es gibt eine Ausnahme, die weit reichende Folgen zeitigen sollte, nämlich den Analogieschluss. Denn in al-Miʿyār besteht al-Ghazālī, darauf, dass der Analogieschluss, wenn er der Tradition der aristotelischen Logik gemäß logisch gültig sein soll, in einen Syllogismus umgewandelt werden muss.
Das Kompendium der Logik, das al-Ghazālī als Einführung seinem al-Mustasfā vorangestellt hat, gleicht weithin den üblichen arabischen Lehrbüchern der aristotelischen Logik. Es beginnt mit einer Darstellung der Theorie der Definition (hadd) und schließt eine Aufstellung der verschiedenen Typen von syllogistischen Schlussformen (burhān) an. Des weiteren werden die Arten von Prämissen in demonstrativen Schlüssen und die Kriterien für ihre Unterscheidung in die Kategorien von Gewissheit und Wahrscheinlichkeit erörtert. Im Anschluss daran werden Induktion und Analogieschluss behandelt, wobei die Induktion den nicht-schlüssigen Wissenschaften zugerechnet und die Notwendigkeit der Umformung des Analogieschlusses als Voraussetzung für seine logische Gültigkeit betont wird.
Dieser Konzeption des Verhältnisses von Logik und Recht sollten viele seiner Nachfolger verhaftet bleiben, welche der Einführung von Regeln der Logik in ihre usūl-Werke ebenfalls mit großer Vorsicht begegneten, die gleichwohl allmählich in die Rechtstheorie Einzug hielten. Das von al-Ghazālī als knappe Einleitung konzipierte Kompendium der Logik entwickelte sich allerdings schließlich zu einer selbständigen Abhandlung der Logik.
5.3 Rechtliche und aristotelische Logik
5.3 Rechtliche und aristotelische Logik Yusuf KuhnHallaq erörtert sodann eine Frage von grundlegender Bedeutung für al-Ghazālīs Verständnis von Logik und deren Verhältnis zur Rechtstheorie. Da dieses stark interpretationsbedürftig und obendrein mit allerlei schwierigen Fragen verknüpft ist, sei dieser Abschnitt ausführlich zitiert:
Die grundsätzliche Problematik, die al-Ghazālī in mehr als vier der oben genannten Werke, insbesondere al-Mustasfā und Shifāʾ al-ghalīl, anzusprechen nicht versäumt, ist die unterschiedliche Terminologie bezüglich der zwei Schlussweisen, die den beiden Disziplinen usūl und Logik gemeinsam sind. Wenn die ʿilla im Oberbegriff wirksam ist, heißt die Schlussweise bei den Philosophen burhān al-limā und bei den Rechtsgelehrten qiyās al-ʿilla. Wenn die ʿilla nicht-kausal ist, heißt die Schlussweise bei den Philosophen burhān liʾanna und bei den Rechtsgelehrten qiyās al-dalāla. Die Form des rechtlichen Schlusses ist daher identisch mit der Schlussform des Logikers. Der Unterschied zwischen ihnen liegt allerdings in der Qualität der materialen Prämissen (muqaddimāt), die in rechtlichen und rationalen Schlüssen verwendet werden. »Die Prämissen, die für den rationalen qiyās (Demonstration) geeignet sind, sind für den rechtlichen qiyās geeignet, aber nicht alle Prämissen, die für den rechtlichen qiyās geeignet sind, sind für den rationalen qiyās geeignet.«
Dieses Zitat findet sich in mehreren Werken al-Ghazālīs: al-Mustasfā, Shifāʾ al-ghalīl, Miʿyār, Mihakk; vgl. hierzu die näheren Angaben im Artikel von W. Hallaq. Die Umformung einer wahrscheinlichen rechtlichen Prämisse in eine schlüssige verlangt ihre »Universalisierung«; das heißt, die Ausweitung der Regel, die einen besonderen Fall bestimmt, auf die Art, von der dieser Fall nur ein Exemplar ist. Unter dieser Voraussetzung wird die Form des rechtlichen Schlusses nicht verschieden sein von dem formal rationalen Schluss. Dies ist in der Tat, abgesehen von dem schwierigen Problem der logischen Gültigkeit der »universalisierten« Oberprämisse, eben das Verfahren, durch das nicht-formale rechtliche Schlüsse formalisiert werden. (S. 321)
Wir wollen es an dieser Stelle Hallaq gleichtun und die zahlreichen schwierigen Fragen, die in dieser Darstellung verborgen sind, nicht weiter vertiefen. Es soll vorläufig als Andeutung dafür genügen, wie al-Ghazālī das Verhältnis der Schlussweisen in Recht und aristotelischer Logik zu fassen versucht. Wie steht es dabei mit der behaupteten Identität der Schlussformen von Rechtstheoretiker und Logiker? Wie ist die Beziehung von Schlussformen und Prämissen dabei zu verstehen? Wie unterscheidet al-Ghazālī genau zwischen ihnen? Was bedeutet die Umformung eines rechtlichen qiyās durch Universalisierung in einen syllogistischen qiyās? Welche Veränderungen zieht diese Umformung nach sich? Bleibt dabei die Bedeutung erhalten? In welcher Weise ändert sich die Bedeutung der jeweiligen Behauptungen und Schlüsse? Haben wir es dabei mit einer oder mehreren Logiken zu tun? Behauptet al-Ghazālī wirklich die Identität der jeweiligen Logiken nach dem Schema der aristotelischen Logik? Oder entwirft er einen abstrakteren oder allgemeineren Begriff von Logik, unter dem sich beide Logiken fassen lassen?
Fragen über Fragen, die einer Beantwortung harren und weitere Untersuchungen erfordern. Bevor wir uns mit einer weiteren Annäherung an diese Fragen befassen, sei dieser Abschnitt mit einem kleinen Ausblick von Hallaq beschlossen:
al-Ghazālīs einzigartiger Beitrag zur rechtlichen Logik hat sicherlich daran mitgewirkt, gewisse strukturelle Veränderungen in einer großen Zahl von autoritativen Werken der usūl al-fiqh hervorzubringen. Genauso wie er Logik als gültiges Organon jeglichen Schlussverfahrens verstand und daher sein Mustasfā mit einem Lehrbuch der formalen Logik als Einleitung versah und auf die Umformung des Analogieschlusses in einen Syllogismus der ersten Figur bestand, sehen wir, wie viele seiner Nachfolger die Logik einsetzen, um die Rechtstheorie auf eine Grundlage zu stellen, die im Grunde eine aristotelische Konzeption des Wissens ist. Der im achten/vierzehnten Jahrhundert lebende hanbalitische Intellektuelle Taqī l-Dīn Ibn Taymiyya bezeugte missbilligend, dass jene Rechtsgelehrten und Theologen, die vom Recht in dieser Weise handelten, dies unter dem Einfluss von al-Ghazālī taten.
Es geht also im Grunde um die Frage der Rechtmäßigkeit und Gültigkeit des aristotelischen Begriffs des Wissens und damit der griechischen Philosophie in der Tradition von Platon und Aristoteles. Und mithin ist auch keineswegs die Frage nach dem Verhältnis von Logik und Philosophie obsolet, noch auch die nach den metaphysischen Voraussetzungen der Logik und deren Vereinbarkeit mit dem Islam.
6 al-Ghazālī und aristotelische Logik
6 al-Ghazālī und aristotelische Logik Yusuf KuhnVorbemerkung
Al-Ghazālī hat sich immer wieder recht unterschiedlich zur aristotelischen Logik geäußert. Diese Vielfalt scheinbar divergierender Meinungen mag verwirrend wirken. Verbergen sich dahinter dennoch ein einheitliches Ziel und klar definierte Absichten? Dieser Frage möchte Ulrich Rudolph in seinem Aufsatz Die Neubewertung der Logik durch al-Ġazālī
6.1 Welches Ziel verfolgt al-Ghazālī?
6.1 Welches Ziel verfolgt al-Ghazālī? Yusuf KuhnDer Aufsatz setzt mit der Feststellung ein, dass es seit langem unumstritten ist, dass al-Ghazālī »maßgeblich dazu beigetragen hat, die aristotelische Logik als Methodenlehre der islamischen Theologie und Rechtswissenschaft zu etablieren« (73). Allerdings wurden »Zweifel daran laut, ob Ġazālīs Eintreten für die Logik auch konsequent gewesen sei. Denn so engagiert er für die Verwendung von Definitionen, Urteilen und Syllogismen plädierte, so wenig schien er dieses Plädoyer in seinen eigenen Werken in die Tat umzusetzen. Das brachte ihm eine Reihe von kritischen Kommentaren ein. Sie bezweifelten, dass er sich wirklich auf eine profunde Auseinandersetzung mit der Logik eingelassen habe, und stellten in Frage, ob ihm eine konsistente, methodisch fundierte Neuformulierung der islamischen Theologie (und Rechtswissenschaft) gelungen sei.« (73) Die Adjektive, die sich hier wie an einer Perlenschnur aufreihen, – konsequent, profund, konsistent, methodisch fundiert – scheinen in ihrer positiven Konnotation allesamt eine Übernahme der Logik in Theologie und Recht zu suggerieren. Wenn man al-Ghazālīs Werk im Lichte dieser vorgängigen Wertung betrachtet, müssen zweifellos Kritik, Vorbehalte und Zweifel aufkommen. Denn al-Ghazālī hat offensichtlich die Logik zwar mehrfach dargestellt, aber nicht in einem Maße zur Anwendung gebracht, wie es von dieser Suggestion nahegelegt wird. Ist es dann überhaupt sinnvoll anzunehmen, dass er dieses Ziel wirklich verfolgt habe?War sein Verhältnis zur aristotelischen Logik womöglich viel zurückhaltender und distanzierter? Ist es gleichwohl dieses Ziel, das Rudolph als »einheitliches Ziel« ausfindig machen zu können glaubt? Dann ist es jedenfalls nicht verwunderlich, dass man sich mit einem Autor wie al-Ghazālī reichlich schwer tut, der zu demselben Thema, wie Rudolph feststellt, »mehrere Präsentationen […] mit unterschiedlicher Akzentsetzung« liefert und »sich sprachlich nicht auf eine verbindliche Form der Darstellung (sei sie theologisch, philosophisch oder sufisch) festgelegt hat, sondern virtuos mit den verschiedenen terminologischen Möglichkeiten, die ihm tradiert wurden, umging.« (74) Drängt sich da nicht geradezu die Frage auf, ob das von al-Ghazālī verfolgte Ziel nicht woanders, gar auf einer ganz anderen Ebene liegen könnte?
Welches Ziel, al-Ghazālī nach Rudolph verfolgen soll, ist noch nicht ganz klar. Sicher ist nur, dass es ein einheitliches ist. Und um das zu belegen, soll nun, so fährt Rudolph fort, »überlegt werden welche grundsätzlichen Positionen und Motive Ġazālīs Einstellung zur Logik geleitet haben und welche Konsequenzen daraus für seine theologischen Konzeptionen erwachsen sind.« (75) Dies soll in vier Schritten geschehen, die den vier Kapiteln des Aufsatzes entsprechen: 1. al-Ghazālīs Beurteilung der aristotelischen Logik; 2. Darstellung der Logik in seinen eigenen methodischen Schriften; 3. Einsatz der Logik in der Theologie, speziell in seinem Kitāb al-Iqtisād fī al-iʿtiqād (Buch über den mittleren Weg im Glauben); 4. Abschließende Gewichtung der verschiedenen Ergebnisse. Wir wollen im weiteren Verlauf dem Gedankengang Rudolphs folgen.
6.2 al-Ghazālīs Beurteilung der aristotelischen Logik
6.2 al-Ghazālīs Beurteilung der aristotelischen Logik Yusuf KuhnUm al-Ghazālīs Urteil über die Logik auf die Spur zu kommen, geht Rudolph von einigen Aussagen am Beginn des Abschnitts über Logik in al-Munqidh min adh-dhalāl (Der Erretter aus dem Irrtum) aus. Ich übernehme die Übersetzung von Rudolph (etwas anders übersetzt Elschazli in seiner Ausgabe von al-Munqidh
Die Logik hat nichts mit der Religion zu tun, sie negiert sie nicht und sie bestätigt sie nicht. Gegenstand ihrer Untersuchung sind vielmehr die Methoden, mit denen man beweisen und folgern kann, die Bedingungen und die Zusammensetzung der Prämissen eines Beweises und die Bedingungen und die Anordnung einer korrekten Definition. Das Wissen besteht für sie entweder in einem Konzept (taṣauwur), das man mittels einer Definition erkennt, oder in einem als wahr akzeptierten Urteil (taṣdīq), das man mittels eines Beweises erkennt. Darin liegt nichts, was abgelehnt werden müsste. Die Theologen und die Theoretiker (in der Rechtswissenschaft) gebrauchen vielmehr dieselbe Art von Beweisen. Sie (d.h. die Logiker) unterscheiden sich von ihnen nur hinsichtlich der Ausdrucksweisen und der Termini und dadurch, dass ihre Begriffsbestimmungen und Klassifikationen ausgefeilter sind … (76)
Im ersten Satz betont al-Ghazālī offensichtlich die Neutralität der Logik gegenüber der Religion (dīn), die letztere weder negiert noch bestätigt. Es ist allerdings schon hier zu beachten, dass al-Ghazālī nicht von der Logik im Singular (al-mantiq) spricht, sondern von den Logiken oder den logischen Dingen im Plural (al-mantiqiyyāt). Elschazli übersetzt daher ganz zutreffend: »Die logischen Wissenschaften«. Zwar ist der Abschnitt über die Logiken ein Teil des übergeordneten Kapitels über die Philosophie, wodurch nahegelegt wird, dass damit die philosophische, also aristotelische Logik gemeint ist und von der Mehrdeutigkeit des arabischen Wortes mantiq abzusehen ist, aber es sollte gleichwohl nicht unterschlagen werden, dass die Bedeutung nicht ganz so eindeutig ist, wie meist angenommen wird, und also ein größerer Spielraum für die Interpretation besteht. Kurz gesagt: al-Ghazālī könnte durchaus eine Mehrzahl von Logiken im Sinn gehabt haben, die nicht nur die aristotelische Logik im engeren Sinn umfasst. In diesem Lichte betrachtet, würde sich der Sinn der folgenden Sätze unter Umständen erheblich verändern. Dies mögliche Bandbreite für die Interpretation sollte nicht vorschnell aus dem Auge verloren werden.
Und wie ist die von al-Ghazālī festgestellte Neutralität der Logiken gegenüber der Religion zu verstehen? Wird die Logik als rein beschreibende Wissenschaft verstanden, ist sie ohnehin jedem Inhalt gegenüber neutral. Wird sie als normative Wissenschaft verstanden, kann sie sehr wohl Einfluss auf den Inhalt haben; jedenfalls dann, wenn angenommen wird, dass der jeweilige Inhalt in den Bereich ihrer normativen Geltung fällt. Versteht al-Ghazālī die logischen Wissenschaften als normativ? Und wenn ja, für welche Bereiche? Die Frage verdient, gestellt zu werden. Denn die nähere Bestimmung, die al-Ghazālī den Logiken im zweiten Satz des Zitats gibt, ist da keineswegs eindeutig: »Gegenstand ihrer Untersuchung sind vielmehr die Methoden…« Elschazli übersetzt: »Sie (die logischen Wissenschaften) enthalten lediglich die Reflexion (an-nadhar) über Methoden (turuq) der Beweisführungen (al-adilla) und...«. Untersuchung oder Reflexion über Methoden: das muss keineswegs normativ aufgefasst werden; damit könnte auch ein beschreibendes, wenngleich in einem gewissen Sinne analysierendes Verfahren gemeint sein.
Noch ein weiterer Punkt, der ebenfalls die Schwierigkeiten der Übersetzung aufgrund möglicher Vieldeutigkeit verdeutlicht, sei hervorgehoben. Der zweite Satz des Zitats geht nämlich so weiter: »… die Methoden, mit denen man beweisen und folgern kann...« Und Elschazli übersetzt wiederum: »Methoden der Beweisführungen und der Syllogismen...« Im Gegensatz zu Rudolph, der sehr offen übersetzt (»folgern«), legt Elschazli sich auf eine bestimmte Art des Schlussfolgerns fest, nämlich den Syllogismus im Sinne der aristotelischen Logik, was wohl in den meisten Übersetzungen in europäische Sprachen so gemacht wird. Eine interessante Ausnahme stellt allerdings ausgerechnet die Ausgabe dar, auf die Rudolph sich bezieht, nämlich die von Jabre
Nachdem an diesem kleinen Beispiel die Schwierigkeiten der Übersetzung verdeutlicht und die sich daraus ergebenden Implikationen für die Interpretation angedeutet wurden, wollen wir uns wieder Rudolph zuwenden und sehen, welche Schlüsse er aus dieser Stelle meint ziehen zu können:
In diesem Abschnitt finden sich schon einige für Ġazālīs Haltung charakteristische Züge. Zu ihnen gehört zunächst die Aussage, dass die Logik Methoden bereitstelle, mit deren Hilfe man argumentieren und beweisen könne. Sie zeigt, dass Ġazālī die Logik als ein formales Regelwerk ansieht, als ein unabhängiges und stets gültiges Instrument unseres Denkens. Das impliziert, dass sie sämtliche Formen des Denkens anleitet und nicht nur einer bestimmten Wissenschaft wie etwa der Philosophie als Propädeutik oder Teildisziplin zugeordnet werden kann. (76)
Gewiss finden sich darin »charakteristische Züge« für al-Ghazālīs Haltung zur Logik, wobei allerdings stets ohne weitere Begründung vorausgesetzt wird, dass es sich dabei um die aristotelische Logik handeln müsse. Nur welche Züge sind das? Ist es »die Aussage, dass die Logik Methoden bereitstelle«? al-Ghazālī sagt, dass der Gegenstand ihrer Untersuchung die Methoden der Beweisführung usw. sind. Woher diese Methoden stammen, was ihre Quelle ist – dazu sagt er nichts. Und das würde doch wohl »bereitstellen« heißen? Die untersuchten Methoden mögen aus allerlei Gestalten des Denkens stammen – wie etwa Wissenschaften, Philosophie, Offenbarung oder alltäglichen Gesprächen. Dass die Logik selbst diese Methoden liefert oder bereitstellt, ist al-Ghazālīs Aussagen indes nicht zu entnehmen.
Rudolph geht dann einen Schritt weiter, indem er sagt, dass diese Aussage »zeigt, dass Ġazālī die Logik als ein formales Regelwerk ansieht«. Doch selbst wenn die Logik Methoden bereitstellen sollte, folgt daraus nicht, dass sie ein »formales Regelwerk« ist, und zwar weder dass sie formal noch dass sie ein Regelwerk ist. Oder kann es sein, dass damit eher auf die von al-Ghazālī bekundete Neutralität der Logik angespielt werden soll? Aber wenn die Logik Regeln vorschreibt, also normativ ist, ließe sich ihre Neutralität ja gerade in Frage stellen. Jedenfalls lässt sich all das in al-Ghazālīs Worten kaum ausfindig machen.
Rudolph fährt fort: »als ein unabhängiges und stets gültiges Instrument unseres Denkens«. Was soll hier »unabhängig« heißen? Unabhängig wovon? Von jeglichem Inhalt und Denken? Dass die Logik die Regeln, die sie dem Denken vorschreibt, ganz unabhängig bereitstellt, also gewissermaßen aus sich selbst schöpft? Logik als Meta-Instanz des Denkens, das von diesem unabhängig ist und ihm vorausgeht? Ein Apriori nicht der Erfahrung, sondern das »unabhängig« gar allem Denken selbst vorausgeht? Welcher Aussage al-Ghazālīs könnte dies wohl entnommen werden?
Und Rudolph weiter: »stets gültiges Instrument unseres Denkens«. Die Logik – und nicht zu vergessen, hier ist immer die aristotelische gemeint – soll also obendrein auch noch allzeit in allen Bereichen des menschlichen Denkens »gültig« sein, also die aus sich selbst unabhängig geschöpften Regeln allem Denken überhaupt vorschreiben. Denn genau das muss wohl gemeint sein, wenn Rudolph bestärkend erläutert:
Das impliziert, dass sie sämtliche Formen des Denkens anleitet und nicht nur einer bestimmten Wissenschaft wie etwa der Philosophie als Propädeutik oder Teildisziplin zugeordnet werden kann.
Und diese äußerst weitreichenden Behauptungen sollen allesamt von der genannten »Aussage« al-Ghazālīs »impliziert« werden. Welcher Logik, die solche Implikationen und Schlüsse erlaubt, Rudolph hier folgt, muss vorerst sein Geheimnis bleiben. Mir will es weder gelingen, die Prämissen zu identifizieren, noch die Implikationen nachzuvollziehen. Und ich vermag auch nicht zu erkennen, dass al-Ghazālī an dieser Stelle oder irgendwo sonst einer solchen allumfassenden Diktatur der aristotelischen Logik über alles Denken, womöglich als Ausdruck einer irgendwie als absolut verstandenen Vernunft, das Wort redete. Rudolph führt jedenfalls keine solche Stelle an. Es drängt sich daher eher der Eindruck auf, dass Rudolph weniger darum bemüht ist, den Text von al-Ghazālī ernstlich zu verstehen, als vielmehr sein vorgefasstes Bild der Logik in diesen zu projizieren.
Fahren wir fort mit dem nächsten Satz in Rudolphs Zitat aus al-Munqidh:
Das Wissen besteht für sie entweder in einem Konzept (taṣauwur), das man mittels einer Definition erkennt, oder in einem als wahr akzeptierten Urteil (taṣdīq), das man mittels eines Beweises erkennt.
Rudolph gibt lediglich den Inhalt des Satzes reformuliert wieder und fügt folgende Bemerkung an:
Auch das ist eine signifikante Aussage. Sie belegt seine Affinität zu Avicenna, der diese Unterscheidung bereits betont und zum Ausgangspunkt seiner eigenen Darstellungen der Logik gemacht hatte. (76)
Daran dürften kaum Zweifel bestehen, aber natürlich weist diese Aussage, in deren Mittelpunkt die Begriffe des Begriffs (tasawwur) und des Urteils (tasdīq) stehen, weiter zurück, nämlich auf Aristoteles selbst. Der aristotelische Begriff des Begriffs beinhaltet die Annahme, dass der Begriff selbst, also nicht erst das Urteil, wahr oder unwahr sei. Daher kann der Begriff eben als Wissen oder Erkenntnis gelten, wie al-Ghazālī sagt. Und wahr ist der Begriff dann, wenn er das Wesen des damit bezeichneten Dinges wirklich erfasst. Dazu wiederum dient eine bestimmte Art der Definition (hadd), die die Erkenntnis des Wesens des Dinges gewährleisten soll. Die Wahrheit des Begriffs besteht also in seiner Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Und was das Urteil betrifft, so gilt entsprechend, dass das Urteil wahr ist, wenn seine Struktur der Wirklichkeit entspricht. Um es ganz knapp auf den Punkt zu bringen: Wahrheit ist Identität von Denken und Sein. Es handelt sich hierbei offensichtlich um elementare Prinzipien der aristotelischen Philosophie, die auch der Logik zugrunde liegen. Das kann hier nicht näher ausgeführt werden. Diese äußerst knappe und oberflächliche Analyse genügt jedoch bereits, um deutlich zu machen, dass in dieser Aussage starke metaphysische Voraussetzungen der aristotelischen Logik beschlossen liegen und es sich hier mithin um eine Stelle von größter Bedeutung für al-Ghazālīs Verhältnis zur aristotelischen Logik handelt.
Denn es drängt sich sogleich die Frage auf, ob al-Ghazālī sich dieser Zusammenhänge und Implikationen bewusst war. Wäre er sich dessen tatsächlich bewusst, hätte er da nicht eine gründliche Untersuchung der Vereinbarkeit dieser metaphysischen Voraussetzungen mit dem Islam anstrengen müssen? Das ist ja keine Selbstverständlichkeit, sondern es handelt sich vielmehr um fundamentale philosophische Fragen, die beispielsweise in der Auseinandersetzung zwischen falsafa und kalām seit langer Zeit ausgefochten wurden. Was hat also al-Ghazālī an dieser Stelle dazu zu sagen? Lediglich folgende Feststellung:
Darin liegt nichts, was abgelehnt werden müsste.
Atemberaubende Knappheit, wo sich philosophische Abgründe auftun! Dies legt die Vermutung nahe, dass al-Ghazālī diese Zusammenhänge nicht wirklich erfasst hat. Es muss wohl angenommen werden, dass er sonst die sich daraus ergebenden Konflikte zu entschärfen versucht hätte. Oder darf etwa unterstellt werden, dass er Abgründe und Gegensätze bloß verdecken wollte?
Einen kleinen Anhalt in dieser Richtung könnte der nächste Satz in al-Munqidh bieten, der allerdings keineswegs so verstanden werden muss und allemal recht verschiedenen Auslegungen offensteht:
Die Theologen und die Theoretiker (in der Rechtswissenschaft) gebrauchen vielmehr dieselbe Art von Beweisen.
So in der Übersetzung von Rudolph, der dazu kommentiert: Dies ist der
für uns wichtigste Punkt in Ġazālīs Bewertung […] Er betrifft unmittelbar das Verhältnis von Logik und Theologie und deutet an, welche Akzente hier für ihn vorrangig sind. Dazu heißt es, dass zwischen beiden Disziplinen keine Kluft und vor allem kein Gegensatz bestehe. (76-7)
Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, um welche Disziplinen es geht. Es fällt auf, dass die Theologie sowohl im übersetzten Zitat als auch im Kommentar vorkommt, die »Theoretiker (in der Rechtswissenschaft)« im Kommentar aber nicht mehr in Erscheinung treten, obwohl später wieder darauf Bezug genommen wird. Die Frage ist deshalb von so großer Bedeutung, weil wiederum davon abhängt, welche »Art von Beweisen« al-Ghazālī gemeint haben könnte. Scheinen doch, zumindest dem ersten Anschein nach, die Beweisführungen in Logik, Theologie (kalām), Philosophie (falsafa) und Rechtswissenschaft (usūl al-fiqh und fiqh) – allesamt Kandidaten für die von al-Ghazālī gemeinten Disziplinen – sich erheblich voneinander zu unterscheiden. Und der Behauptung, sie seien von der gleichen Art, käme entsprechend ein jeweils ganz anderer Sinn zu. Um welche Bereiche handelt es sich also?
Im Arabischen heißt es: al-mutakallimūn wa ahl an-nadhar. Da mutakallimūn eine relativ eindeutige Bezeichnung ist, treten in den diversen Übersetzungen keine relevanten Unterschiede auf. Meist wird mit Theologen oder Scholastiker (Elschazli) übersetzt. Ohnehin ist der Bereich klar bestimmt, nämlich kalām. Hingegen ist ahl an-nadhar (wörtlich: Leute der Schau) ziemlich vieldeutig, was sich in der Vielfalt der Übertragungen niederschlägt, die wir nun einem kurzen Vergleich unterziehen wollen. Beginnen wir mit Rudolph, bei dem es heißt: »Theoretiker (in der Rechtswissenschaft)«. Die in Klammern erfolgte Einschaltung »in der Rechtswissenschaft« wird nicht erläutert, obgleich sie begründungsbedürftig wäre, da sie üblicherweise mit ahl an-nadhar eher nicht in Verbindung gebracht wird. Mit »Rechtswissenschaft« wäre als Bereich wohl fiqh gemeint. Von der Einschaltung abgesehen, ist der Ausdruck »Theoretiker« sehr allgemein. Dadurch ginge der Bezug zu nadhar verloren, außer man verstünde ihn nicht im modernen, sondern im aristotelischen Sinne des griechischen Begriffs theoria, als Schau der höchsten Wahrheit, als Spekulation im Sinne der Metaphysik. Dann wäre als Bereich falsafa anzunehmen, was jedoch von Rudolph nicht beabsichtigt zu sein scheint, obwohl es der arabischen Wortbedeutung sehr nahekäme. Es bleibt also unklar, warum er diese Übertragung gewählt hat. Im weiteren Verlauf wird er diese Gruppe, also die »Theoretiker (in der Rechtswissenschaft)« oder ahl an-nadhar, trotz ihrer Bedeutung für das Verständnis von al-Ghazālīs Text zudem weitgehend unterschlagen und nur noch von »Theologen« sprechen.
Wer sind nun die ahl an-nadhar? »Theoretiker (in der Rechtswissenschaft)«, wie Rudolph meint, oder doch eher »Anhänger des spekulativen Denkens«, wie Elschazli übersetzt. Ziehen wir mehrere Übersetzungen in Betracht, lässt sich eine ganze Reihe von Varianten finden: Philosophen, spekulative Denker, spekulative Forscher, Anhänger des vernünftigen oder logischen Denkens usw. Diese kleine Liste entspricht den verschiedenen Übersetzungen, die Elschazli in der Anmerkung zu dieser Stelle anführt. Und er fügt erläuternd hinzu: »Hiermit sind hauptsächlich Muʿatizilīten, Ašʿarīten und Philosophen gemeint, die sich der Logik bedienten.« (Elschazli, op. cit., Anm. 80, S. 112) Es scheint also bei aller Verschiedenheit eine gewisse Tendenz zu Philosophie und spekulativem Denken zu überwiegen. Aus all dem ergibt sich, dass die Bestimmung des von al-Ghazālī gemeinten Bereichs nicht so eindeutig möglich ist und die Übersetzung von Rudolph eine ziemlich unwahrscheinliche Variante darstellt. Und könnte es nicht auch sein, dass al-Ghazālī absichtsvoll eine vage und unscharfe Formulierung gewählt hat, um den Bereich möglichst offen und breit zu halten?
Bisher haben wir erst das Subjekt dieses zentralen Satzes behandelt. Betrachten wir nun den Rest des Satzes, so ist zunächst festzustellen, dass die gesamte Satzstruktur eine ganz andere ist, als Rudolphs Übersetzung suggeriert. Der Satz lautet im Arabischen: bal huwa dschins mā dhakarahu al-mutakallimūn wa ahl an-nadhar fī al-adilla. Der Satz besteht also aus einem Hauptsatz, dem ein Relativsatz, mit dem Relativpronomen mā beginnend, folgt. In manchen Übertragungen wird diese Struktur ähnlich wie bei Rudolph unterschlagen, nicht so bei Elschazli (der allerdings wiederum fī al-adilla unterschlägt), der folgendermaßen übersetzt:
Im Gegenteil, es hält sich in dem Rahmen (dschins), dessen sich auch die Scholastiker (mutakallimūn) und die Anhänger des spekulativen Denkens (ahl an-nadhar) bedienen (dhakara).
Da dschins auch Art bedeutet, ließe sich der Hauptsatz auch so übertragen, wie es sinngemäß in manchen Übersetzungen geschieht: es ist eine Art, die... oder es ist von der Art dessen, was… (z.B. Watt: »matters of this kind«
Nun zum Prädikat des Relativsatzes, das Rudolph, der es zudem zum Prädikat des Hauptsatzes erhebt, mit »gebrauchen« übersetzt, was in vielen anderen Übersetzungen ähnlich gemacht wird, so etwa Elschazli »bedienen«. Im Arabischen steht indes dhakara, zu dessen Wortbedeutung »gebrauchen« eher nicht gehört, sondern vielmehr »gedenken, nennen, erwähnen« usw. So übersetzen etwa Watt und McCarthy mit mention, also »erwähnen«.
Eine weitere Frage bleibt noch zu klären: In welchem Verhältnis stehen dschins und fī al-adilla zueinander? Wo endet der Relativsatz? Gehört fī al-adilla zum Relativsatz oder zum Hauptsatz? Für Rudolph ist es natürlich Teil des Hauptsatzes, da er die komplexe Satzstruktur ja unterschlägt, und steht zudem in unmittelbarer Beziehung zu dschins, wobei er diese Beziehung mit »von« übersetzt. Doch selbst wenn man annimmt, dass fī al-adilla zum Hauptsatz gehört, was durch die Satzstruktur nicht wirklich nahegelegt wird, aber durchaus möglich ist, so wäre die Beziehung durch fī bestimmt, wörtlich also etwa »eine Art in den Beweisen«. Das ist noch ziemlich weit entfernt von Rudolphs Formulierung, nämlich »dieselbe Art von Beweisen«.
Außerdem ist es aufgrund der Satzstruktur, der Wortstellung und der Präposition fī (in) sehr viel wahrscheinlicher, dass fī al-adilla Teil des Relativsatzes ist und daher gar nicht in einer direkten Beziehung zu dschins steht. So übersetzt Watt »mentioned by the theologians and speculative thinkers in connection with the topic of demonstrations« (erwähnt von den Theologen und spekulativen Denkern in Verbindung mit dem Thema der Beweise) und McCarthy »mentioned by the mutakallimūn and the partisans of reasoning in connection with the proofs they use« (erwähnt von den mutakallimūn und den Anhängern des vernünftigen Denkens in Verbindung mit den Beweisen, die sie gebrauchen«.
Wir wollen es bei dieser Analyse dieses zentralen Satzes bewenden lassen und versuchsweise eine alternative Übersetzung vorschlagen, die freilich vor dem Hintergrund der Probleme mit Mehrdeutigkeit, Vagheit und Unbestimmtheit aller Art, die sich nachdrücklich aufgedrängt haben, verstanden werden muss:
Im Gegenteil, es ist von der Art dessen, was die mutakallimūn und die Anhänger des spekulativen Denkens in den Beweisen erwähnen.
Diese Formulierung soll nun keine falsche Eindeutigkeit suggerieren, sondern vielmehr die in diesem Satz in seiner ursprünglichen arabischen Gestalt enthaltene Unbestimmtheit zum Ausdruck bringen, um voreiligen Schlussfolgerungen entgegenzuwirken. Zu denken ist dabei beispielsweise an die durch Rudolphs Formulierung »Theoretiker (in der Rechtswissenschaft)« angedeutete Implikation, dass al-Ghazālī in diesem Satz die Ansicht vertritt, Schlüsse in der aristotelischen Logik (etwa Syllogismus, burhān) seien »dieselbe Art von Beweisen« wie Schlüsse in der Rechtswissenschaft (etwa Analogieschluss, qiyās im fiqh). Und selbst wenn man diese Auffassung vertreten wollte, bliebe immer noch die Formulierung »dieselbe Art von Beweisen« interpretationsbedürftig, da nicht von vornherein ausgemacht ist, auf welcher Ebene die strukturelle Gleichheit der Beweise anzusiedeln wäre.
Wenden wir uns nun dem letzten Satz im Zitat aus al-Munqidh zu. Er lautet bei Rudolph:
Sie (d.h. die Logiker) unterscheiden sich von ihnen nur hinsichtlich der Ausdrucksweisen und der Termini und dadurch, dass ihre Begriffsbestimmungen und Klassifikationen ausgefeilter sind …
Hier werden also Unterschiede beschrieben, wobei zugleich betont wird, dass sie sich nur auf Terminologie und Feinheit der Begriffsbestimmung beziehen. Allerdings bleibt das Subjekt des Satzes in der Formulierung von al-Ghazālī wieder unterbestimmt, so dass in den Übersetzungen wahlweise Logiker, Philosophen und Scholastiker interpoliert werden. Es geht also auch hier nicht eindeutig aus dem Text hervor, wer sich von wem in dieser Weise unterscheidet. Für Rudolph hingegen scheint nichtsdestotrotz und bei Unterschlagung der von ihm selbst angeführten »Theoretiker (in der Rechtswissenschaft)« festzustehen, um wen es sich dabei handeln muss. Denn er fährt in seiner Erläuterung des Zitates fort:
Denn die Theologen und Logiker verwendeten letztlich dieselbe Art von Beweisen, nur dass sie im Falle der letzteren subtiler angelegt seien und mit anderen Termini bezeichnet würden. (77)
Es sind laut Rudolph also die Theologen und Logiker, die »letztlich dieselbe Art von Beweisen« verwendeten. Der Einschub von »letztlich« soll wohl darauf hindeuten, dass dies nicht unbedingt auf den ersten Blick zu erkennen, sondern einiger Analyse bedürftig ist. Wenn nicht einfach davon ausgegangen werden kann – wie indes von Rudolph in seiner Interpretation des Zitates suggeriert wurde (»unabhängiges und stets gültiges Instrument unseres Denkens«) -, dass damit die Beweisverfahren der aristotelischen Logik gemeint sind, bleibt ungeklärt, von welcher Art von Beweisen hier die Rede ist. Daran ändert auch nichts der von Rudolph in einer Anmerkung zu dieser Aussage gebrachte Verweis auf die von al-Ghazālī mehrfach wiederholte Feststellung, »die Logik (manṭiq) sei ein Teil der Theologie (kalām)« (Anm. 13, S. 77). Denn auch hier bleibt mangels näherer Bestimmung die Frage ungeklärt, um welche Logik es sich handeln mag.
Rudolph fährt sodann fort:
Diese Ansicht hat Ġazālī nicht nur im Munqiḏ, sondern in zahlreichen Werken vertreten. Dabei räumt er durchaus ein, dass es Unterschiede zwischen den verschiedenen Beweismethoden gebe, betont aber gleichzeitig, dass diese Differenzen für die Argumentation als solche nicht relevant seien. (77)
Auch das bringt keine weitere Aufklärung, sondern wiederholt nur, dass es für al-Ghazālī Methoden der Argumentation gibt, die sich in gewisser Hinsicht gleichen und auch unterscheiden. Die darauf folgenden Hinweise auf unterschiedliche Termini und Prämissen können ebenfalls nicht die gewünschte Klarheit schaffen, solange nicht geklärt ist, was es letztlich heißt, »die akzeptierten Prämissen logisch korrekt miteinander zu verknüpfen« (77). Denn worin die logische Gültigkeit genau besteht, wäre ja zuvor zu bestimmen. Wenn dies einerseits nicht wirklich geschieht und andererseits immer mehr oder weniger ausdrücklich vorausgesetzt wird, dass die einzige logische Gültigkeit die der aristotelischen Logik sein muss, nimmt es nicht Wunder, dass die Aussagen al-Ghazālīs nicht recht verstanden werden können und daher überraschend wirken müssen, wie Rudolph bekennt:
Die Selbstverständlichkeit, mit der Ġazālī diese These vertritt, wirkt überraschend. (77)
Worauf sich »diese These« hier bezieht, ist nicht ganz eindeutig, aber es dürfte wohl gemeint sein, dass »die Theologen und Logiker letztlich dieselbe Art von Beweisen verwendeten«. Wie sich gezeigt hat, ist es indes zumindest recht zweifelhaft, ob al-Ghazālī tatsächlich »diese These vertritt«. Und würde das Überraschende dieser These nicht sogar auch gegen diese Interpretation sprechen? Hat Rudolph selbst nicht vielmehr durch eine Interpretation, die dem Text kaum gerecht wird und unbegründete Voraussetzungen hineinprojiziert, das Überraschungsmoment allererst erzeugt? Könnte es womöglich sehr viel leichter sein, al-Ghazālīs Aussagen zur Logik zu verstehen und als kohärent zu erkennen, wenn man ihm »diese These« nicht in den Mund legte? Denn schließlich ist es nicht verwunderlich, dass man auf vermeintliche überraschende Widersprüche stößt, wenn man vorgängig unterstellt hat, dass offensichtlich unterschiedliche Formen des Beweises doch von derselben Art seien und diese Art nur eine der aristotelischen Logik sein könne. Woher rührt die Überraschung? Von der Unterschiedlichkeit der Beweisverfahren, die dennoch von derselben Art wie ein Syllogismus sein sollen, wie Rudolph im nächsten Satz freimütig erklärt:
Schließlich verwendeten die islamischen Gelehrten in ihrer Argumentation keine Syllogismen, sondern andere Beweisverfahren: den Schluss vom Sichtbaren auf das Unsichtbare (istidlāl bi-š-šāhid ʿalā l-ġāʾib) etwa, den man in der Theologie pflegte, oder den sogenannten Analogieschluss (qiyās), der im Rechtswesen eine entscheidende Rolle spielte und der ob seiner häufigen Anwendung zur wohl bekanntesten Argumentationsform im islamischen Kontext geworden ist. Diese Verfahren sind jedoch für Ġazālī trotz ihres abweichenden Vorgehens nicht grundsätzlich von einem Syllogismus verschieden. (77-78)
Wie kann den Aussagen al-Ghazālīs das auf vermeintlicher Widersprüchlichkeit beruhende Überraschungsmoment genommen und vielmehr Sinn abgewonnen werden? An erster Stelle muss die so unbegründete wie offenkundig hartnäckige Voraussetzung aufgegeben werden, dass es nur eine Logik gäbe, nämlich die aristotelische. Werden mehrere unterschiedliche Logiken zugelassen, ist es sehr viel leichter, al-Ghazālīs Position Sinn zu verleihen. Nehmen wir der Einfachheit halber nur zwei Logiken an. Die Überlegungen lassen sich prinzipiell auf beliebig viele Logiken übertragen. Die beiden Logiken ordnen wir zwei großen Bereichen zu, nämlich einerseits der falsafa (Philosophie) die aristotelische Logik mit dem syllogistischen Schlussverfahren (z.B. unter dem Namen burhān) und andererseits dem fiqh (Recht) die analogische Logik mit dem Analogieschluss (z.B. unter dem Namen qiyās). Dann erfolgt die Bestimmung der logischen Gültigkeit in den beiden Logiken nach je eigenen und daher unterschiedlichen Kriterien, was aber nicht daran hindert, ja im Gegenteil erst ermöglicht, trotz aller Unterschiedlichkeit in beiden Bereichen von logisch korrekten Schlüssen zu sprechen. Diese müssen nun keineswegs identisch oder von derselben Art sein, sondern können sich durchaus erheblich voneinander unterscheiden, ohne ihre logische Gültigkeit in diesem Sinne einzubüßen.
Und das hindert auch nicht daran, sondern ermöglicht erst, diese unterschiedlichen Schlussverfahren miteinander zu vergleichen, um Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten feststellen zu können. Sollte es dabei zur Entdeckung einer strukturellen Gleichheit oder Ähnlichkeit kommen, ließe sich sogar die Rede rechtfertigen, dass sie von »derselben Art« sind, ohne die eine auf die andere reduzieren zu müssen. Die Geltung der jeweiligen Logik kann auf einen bestimmten Bereich beschränkt sein. Und sie kann bestimmten Zwecken dienen. Das steht freilich im Gegensatz zum Anspruch auf Ausschließlichkeit und Universalität, die in der Tradition der europäischen Philosophie so hartnäckig verwurzelt ist, dass noch Kant fest von dessen Gültigkeit überzeugt sein konnte und selbst heute, nach all den umstürzenden Entwicklungen auf dem Feld der Logik der alte Irrtum noch viele Anhänger nicht zuletzt unter den Orientalisten zu finden scheint.
Da mag die Frage erlaubt sein: Könnte es hingegen sein, dass al-Ghazālī seinerseits diesem Irrtum gar nicht verfallen war? Ja eine Vielzahl von Logiken erkannt und anerkannt hat, die nebeneinander bestehen und in ihrem jeweiligen Bereich zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden können? Könnten sich unter dieser Annahme die scheinbar so unverständlichen, überraschenden oder gar widersprüchlichen Aussagen al-Ghazālīs zur Logik oder zu den Logiken, auch zur aristotelischen, sowie sein Verhältnis zu und sein praktischer Umgang mit ihr oder ihnen nicht als kohärent und sinnvoll erweisen? Das wäre freilich im einzelnen zu untersuchen und nachzuweisen. Aber angesichts der bisherigen Betrachtungen kommt diesen Überlegungen zumindest eine hohe Plausibilität und hermeneutische Berechtigung zu.
Und damit kann jedenfalls auch die folgende Aussage von Rudolph unschwer vereinbart werden, wenn man sich von der grundlos vorausgesetzten Borniertheit löst:
Sie [die verschiedenen Beweisverfahren] weisen vielmehr, wenn man sie analysiert, eine vergleichbare Denkstruktur auf.
Vergleichbare Denkstruktur muss nicht Identität heißen. Und worin die strukturelle Gleichheit besteht, hat die Einzelanalyse allererst zu erweisen. Es darf dabei nicht unterstellt werden, dass sie nur »dieselbe Art« von Beweisen wie in der aristotelischen Logik sein muss. Und al-Ghazālī hat diese Art von Vergleich tatsächlich durchgeführt, der sich durchaus als sinnvoll und nützlich erweisen kann. Rudolph führt nun ein Beispiel an, das gut zu den beiden Logiken passt, die wir modellhaft angenommen haben:
Das gilt namentlich für den Analogieschluss, von dem Ġazālī immer wieder behauptet, dass er sich bei korrekter Anwendung problemlos in einen kategorischen Syllogismus umwandeln lasse.
Zunächst einmal gilt demnach also, dass eine Analyse aufzeigen kann, dass Analogieschluss und Syllogismus eine vergleichbare Denkstruktur aufweisen. Indes legt die Formulierung »bei korrekter Anwendung problemlos […] umwandeln« nahe, dass es tiefere Gemeinsamkeiten bis hin zur Identität geben könnte. Lässt sich also doch die eine Logik auf die andere reduzieren? Sind Analogieschluss und Syllogismus letztlich doch als gleich, als von derselben Art zu erweisen? Welche Position vertritt al-Ghazālī in dieser Frage? Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, sei ein klassisches Beispiel dargestellt, das auch Rudolph zur Veranschaulichung wählt. Zunächst also der Analogieschluss (qiyās), der vom aus dem Koran abgeleiteten Verbot von Traubenwein auf das Verbot von Dattelwein schließt:
Ein Beispiel soll diese These illustrieren. Nehmen wir an, dass ein islamischer Rechtsgelehrter beurteilen soll, ob der Genuss von Dattelwein erlaubt oder verboten sei. Um ein Kriterium für seine Entscheidung zu haben, wird er zunächst einen älteren, vergleichbaren Rechtsfall suchen, in dem bereits ein anerkanntes Urteil (ḥukm) vorliegt. Ein solcher Fall kann zum Beispiel die Entscheidung sein, dass der Genuss von Traubenwein verboten ist. Sie wurde ausgesprochen, weil Traubenwein auf jene, die ihn genießen, eine berauschende Wirkung ausübt. Derselbe Effekt lässt sich nun aber auch bei den Personen nachweisen, die dem Dattelwein zusprechen. Also kann unser Rechtsgelehrter aufgrund der gemeinsamen ratio legis (ʿilla) beider Fälle (= die berauschende Wirkung) urteilen, dass der Genuss von Dattelwein in Analogie zum Genuss von Traubenwein verboten ist. (78)
Das soll als Anhaltspunkt für den Analogieschluss genügen, da es hier nicht möglich ist, auf die Feinheiten seiner Behandlung näher einzugehen. Entscheidend ist, dass ein Urteil über einen einzelnen Gegenstand, z.B. Traubenwein, aufgrund einer bestimmten Eigenschaft, z.B. berauschend, die auch einem anderen einzelnen Gegenstand, z.B. Dattelwein, zukommt, kraft Analogie auf letzteren übertragen wird. Stark vereinfacht und schematisiert, ließe sich dieser Analogieschluss folgendermaßen darstellen:
(1) Traubenwein ist verboten, weil er berauschend ist.
(2) Dattelwein ist berauschend.
(3) Also ist Dattelwein verboten.
Es sei nochmals betont, dass damit viele Feinheiten der Behandlung des qiyās im fiqh unberücksichtigt bleiben. Diese Darstellung soll lediglich den begrenzten Zwecken in unserem Kontext dienen. Dieses Schema des Analogieschlusses lässt sich dann so beschreiben, dass aus zwei Prämissen mittels einer Analogie eine Konklusion abgeleitet wird.
Sehen wir nun näher zu, wie es mit dem Syllogismus steht, indem wir Rudolphs Erörterung weiter verfolgen:
Dieses Resultat [Verbot von Dattelwein] ist aus Ġazālīs Sicht korrekt und zulässig. Es kann aber nicht nur auf dem Wege des Analogieschlusses erreicht werden, sondern ebenso gut erzielt werden, indem man einen Syllogismus (der 1. Figur) anwendet. Um ihn zu ermöglichen, genügt es, wenn wir die ratio legis als Mittelbegriff in beiden Prämissen einsetzen und über sie eine allgemeine Aussage treffen. Diese Formulierung ist ihr sogar angemessener, da die ʿilla nicht nur im Falle von Dattel- und Traubenwein, sondern in allen vergleichbaren Fällen vorliegt. Die entsprechende Überlegung lautet dann: Jeder (Genuss von) Dattelwein ist berauschend. – Alles Berauschende ist verboten. – Also ist jeder (Genuss von) Dattelwein verboten. (78-79)
Von einigen Details abgesehen, dreht sich die Darstellung um die Umwandlung eines Analogieschlusses in einen Syllogismus. Das Ergebnis kann auch durch dieses Verfahren begründet werden. Und gewiss drängt sich schon auf den ersten Blick die vergleichbare Denkstruktur auf: aus zwei Prämissen wird eine Konklusion abgeleitet. Auf dieser Ebene ließe sich sogar feststellen, dass beide Schlussverfahren »dieselbe Art von Beweisen« seien. Indes sind sie keineswegs identisch, da es erhebliche Unterschiede gibt. Die wichtigsten Unterschiede sind, dass eine Prämisse eine Allaussage beinhaltet und dass ein Übergang vom analogischen zum begrifflichen Denken stattfindet. Dessen war sich al-Ghazālī durchaus bewusst, da er selbst auf die »Notwendigkeit einer universalen Aussage« verweist.
Rudolph kommentiert diese Umwandlung nicht weiter. Es gäbe sicherlich noch einiges dazu zu sagen, aber wir wollen uns vorerst damit begnügen, da der von uns verfolgte Zweck damit bereits weitgehend erfüllt ist. al-Ghazālī kann mithin im Ergebnis durchaus sagen, dass Analogieschluss und Syllogismus vergleichbare Denkstrukturen besitzen, ja in diesem Sinne sogar »dieselbe Art von Beweisen« sind, ohne sie gleichsetzen oder gar die Logik des fiqh auf die aristotelische Logik reduzieren zu müssen. Die aristotelische Logik verliert für al-Ghazālī damit zwar ihren Anspruch auf ausschließliche und universelle Geltung für alles Denken, besitzt aber weiterhin einen hohen Stellenwert, der allerdings die Geltung anderer Logiken nicht ausschließen muss. So können verschiedene Logiken nebeneinander bestehen, die in ihren jeweiligen Bereichen Geltung beanspruchen und zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden können.
Vielleicht kommt Rudolph überraschenderweise sogar zu einem ähnlichen Ergebnis, indem er seine bisherigen Überlegungen in folgendem Satz zusammenfassend darlegt:
Insgesamt setzt Ġazālī also nicht auf die Konkurrenz der verschiedenen Beweisverfahren, sondern auf deren Harmonisierung. (79)
Was hat Rudolph zu dieser Feststellung geführt? Die eingehende Befassung mit al-Ghazālīs vielschichtigem Denken, das sich letztlich gegen die anfängliche Eindimensionalität doch durchgesetzt hat? Der Satz ist doch wohl, wenn »Harmonisierung« ein erkennbarer Sinn im Unterschied zu Gleichsetzung zukommen soll, so zu verstehen, dass al-Ghazālī die verschiedenen Beweisverfahren in ihrer Verschiedenheit bestehen lässt, ohne sie auf eine Logik, wie etwa die aristotelische, zu reduzieren, und zugleich ihre strukturellen Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten wie auch ihre unterschiedlichen Anwendungsbereiche und Zwecke herausarbeitet, so dass sie nebeneinander und miteinander verträglich bestehen können. So nimmt der Gedankengang Rudolphs schließlich eine wirklich überraschende Wendung, wenn wir uns daran erinnern, dass er wenige Seiten zuvor eher das Gegenteil zu behaupten schien, indem er das Zitat aus al-Munqidh in einer Weise auslegte, die nicht nur die universale Geltung der aristotelischen Logik grundlos voraussetzte, sondern deren Anerkennung zudem al-Ghazālī unterstellte. Es lohnt sich daher, uns diese bereits angeführte Aussage nochmals vor Augen zu führen:
Sie zeigt, dass Ġazālī die Logik als ein formales Regelwerk ansieht, als ein unabhängiges und stets gültiges Instrument unseres Denkens. Das impliziert, dass sie sämtliche Formen des Denkens anleitet… (76)
In der Tat ein weiter Weg, der da auf so wenigen Seiten zurückgelegt wird! Und nicht nur das – Rudolph geht noch einen Schritt weiter. Zunächst stellt er fest, dass die Harmonisierung der Beweisverfahren impliziert, dass die Rechtsgelehrten über ihre eigene Logik verfügen:
Er [al-Ghazālī] meint nicht, dass Analogieschlüsse notwendigerweise durch Syllogismen ersetzt werden müssten, sondern will syllogistisch demonstrieren, dass auch Analogieschlüsse beweiskräftig seien. (79)
Lassen wir mal die Frage auf sich beruhen, wie al-Ghazālī das wohl »syllogistisch demonstrieren« wollte, was doch nur heißen kann, dass er die Beweiskraft des Analogieschlusses durch die Analogie mit dem Syllogismus als vergleichbare Denkstruktur bekräftigt, und nicht, wie Rudolphs Ausdrucksweise zu verstehen zu geben scheint, dass er diese mit den Mitteln des Syllogismus beweist, was doch wieder ein verstecktes Begründungsverhältnis und damit die Reduktion der einen Logik auf die andere einschließen würde. Also nehmen wir den Satz so, wie er wahrscheinlich auch gemeint sein dürfte, nämlich, dass al-Ghazālī dem Bereich des Rechts (fiqh) eine eigene Logik zuerkennt. Nimmt man die These von der harmonischen Existenz zweier oder mehrerer Logiken wirklich ernst, so dämmert es nun Rudolph, taucht ja ein ganz neues Problem auf, das im radikalen Gegensatz zu den Unterstellungen steht, mit denen er seinen Gedankengang eröffnet hat – wahrlich überraschend:
Aber es wirft ein neues Problem auf. Denn man fragt sich angesichts dieses Befundes, warum sich die islamischen Gelehrten überhaupt noch mit der philosophischen Logik befassen müssen. Warum ist eine Öffnung gegenüber der philosophischen Methodik und eine allgemeine Anstrengung in Sachen Argumentations- und Beweisverfahren erforderlich, wenn die Theologen doch mit den verschiedenen traditionellen Methoden zu denselben Ergebnissen kommen können? (79-80)
Sehen wir von der Behauptung ab, dass sie »zu denselben Ergebnissen kommen können«. Denn das gilt höchstens im Einzelfall. Im Allgemeinen werden die traditionellen Methoden sicherlich zu ganz anderen Ergebnissen führen als die »philosophische Logik«, die dem Recht (fiqh) und auch der Theologie (kalām) mit dem durch sie implizierten deduktiven und systematischen Aufbau eine ganz andere Struktur und Substanz verleihen würde. Man denke zur Veranschaulichung nur an den großen Unterschied zwischen dem in gewisser Hinsicht dem fiqh strukturell ähnlichen britischen Recht, das auf Präzedenzfällen basiert, und dem französischen Recht, das auf dem napoleonischen Code civil mit seinem strikt deduktiven Charakter basiert.
Entscheidend ist jedenfalls nicht die Frage, ob die Methoden zu denselben Ergebnissen führen, sondern ob sie selbst als beweiskräftig gelten. Und in der Tat, wenn dies der Fall ist, drängt sich die Frage geradezu auf, warum die »islamischen Gelehrten« sich überhaupt mit den neuen Methoden der aristotelischen Logik befassen sollten. Jetzt sind wir schließlich dahin gelangt, wovon diese Gelehrten einschließlich al-Ghazālī ihrerseits ausgegangen sind: Denn das war ihre Problemstellung im Verhältnis zur aristotelischen Logik. Also für sie, im Gegensatz zu Rudolph, keineswegs ein »neues Problem«, sondern vielmehr ihr Ausgangspunkt. Und von da aus stellte sich die Frage, welcher Raum und welche Stellung der aristotelischen Logik neben oder anstelle der anderen bereits vorhandenen Logiken eingeräumt werden sollte. Nur sehr wenige, von den falāsifa abgesehen, waren indes der Meinung, dass sie alle anderen Logiken ganz verdrängen sollte. Vielleicht war dies gleichwohl die Position von Ibn Hazm, der jedoch zweifellos eine marginale Ausnahmestellung einnimmt.
al-Ghazālī bezog hier eine mittlere Position, da er der aristotelischen Logik einen gewissen Wert zuerkannte und ihren möglichen Nutzen mit anderen Logiken in Einklang bringen wollte, da er eben, um mit Rudolph zu reden, eine Harmonisierung der verschiedenen Beweisverfahren anstrebte. Dabei wäre freilich auch das genaue Verhältnis der einzelnen Verfahren zueinander zu klären. Und in diesem Rahmen stellt sich dann in der Tat die von Rudolph aufgeworfene Frage, »warum sich die islamischen Gelehrten überhaupt noch mit der philosophischen Logik befassen müssen«. Nach Rudolph gibt al-Ghazālī dafür eine ganze Reihe von Gründen, die sich darin zusammenfassen lassen, dass die besonders präzisen Methoden der aristotelischen Logik als Maßstab und Richtschnur zur Überprüfung und Vergewisserung der anderen Verfahren geeignet und nützlich sein können.
Das Ideal ist somit klar: Ġazālī favorisiert bei aller Offenheit gegenüber den verschiedenen Argumentationsmöglichkeiten den Syllogismus. Denn der Syllogismus zwingt uns nach seiner Ansicht wie kein anderes Verfahren dazu, präzise über unsere Voraussetzungen und über unser Vorgehen nachzudenken. […] Außerdem ist Ġazālī davon überzeugt, dass der Syllogismus unser Wissen tatsächlich vermehrt. (81)
Abgesehen davon, dass hier eine neues Wir (»unsere«, »unser«) eingeführt wird, dessen Status völlig ungeklärt bleibt, werden also Präzision und Wissensvermehrung als Gründe für die Verwendung des Syllogismus angeführt. Darüber hinaus wird er für al-Ghazālī zum »Ideal« erhoben. Was der Begriff des Ideals genau zu bedeuten hat und in welcher Weise dadurch das Verhältnis der »verschiedenen Argumentationsmöglichkeiten« zum Syllogismus näher zu bestimmen ist, wird nicht ausgeführt. Wenn die aristotelische Logik allerdings ernstlich zum »Ideal« erhoben würde, das als solches zwar erstrebt, aber letztlich in seiner Idealität ja nicht erreicht wird, so hätte dies verheerende Folgen für jegliches Wissen: Es gäbe schlicht keines mehr, allemal nach dem Maßstab der aristotelischen Logik. Oder zumindest würde jegliches Wissen, das diesem Ideal nicht entspricht, entwertet werden. Und das gilt freilich auch für alle Methoden, die diesem Maßstab nicht genügen. Die aristotelische Logik kann nicht als »Ideal« verstanden und zugleich angenommen werden, sie könne mit aus ihrer Sicht unterlegenen Denkweisen koexistieren. Sie nimmt schließlich für sich Universalität und Notwendigkeit in Anspruch und duldet keinen Gott neben ihr.
Indes zieht Rudolph aus dem Zauberhut des Ideals flugs eine wiederum überraschende Kehrtwendung hervor:
Von solchen Aussagen ist es nicht mehr weit bis zur Position der islamischen Philosophen. Sowohl das hier propagierte methodische Ideal als auch die Gewissheit, auf diesem Wege unsere Erkenntnisse beweisen zu können, hätten ebenso gut von Avicenna vertreten werden können. (82)
Und schon erfolgt auf dieser dünnen Grundlage eine Gleichsetzung mit Ibn Sīnā (Avicenna). Vielleicht sollte man es sich so leicht nicht machen. Jedenfalls nicht, wenn man an einer ernsthaften Analyse interessiert ist. Aber Rudolph weiter:
Doch Ġazālī weiß um diese Nähe und beeilt sich deswegen, sie zu relativieren. In diesem Sinne sind seine Bemühungen zu verstehen, seine Überlegungen über die korrekten Wege des Denkens aus dem speziellen philosophischen Kontext zu lösen und in eine größere, anthropologische Perspektive zu stellen.
Was man nicht alles in al-Ghazālīs verborgene Absichten hineingeheimnissen kann! Das soll wohl so zu verstehen sein, dass al-Ghazālī seine Nähe zu Ibn Sīnā und damit zur aristotelischen Logik zu verstecken versuchte, um nicht in den Ruch des allzu Philosophischen zu geraten, was zwar seinem wahren Denken entspräche, aber sein Ansehen zu schädigen drohte. Und um sich diesem Verdacht mit allerlei Geschick und Pfiff zu entziehen, verstecke er die Logik im Allgemeinmenschlichen, um sie anschließend verdachtsfrei wieder daraus hervorzuzaubern. Rudolph führt das folgendermaßen aus:
Sie wird in seinem Hauptwerk vorgetragen, der berühmten Schrift zur Erneuerung der religiösen Wissenschaften (Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn). Dort versucht Ġazālī, die Religion bzw. den Weg des religiösen Menschen nicht nur aus einer Perspektive, sondern unter Einbeziehung aller kultischen, spirituellen und intellektuellen Dimensionen darzustellen. In diesem Zusammenhang geht er auch auf das menschliche Denkvermögen eigens ein; dabei heißt es schon bald nach der Eröffnung des Kapitels:
»Wisse, dass die Bedeutung von Denken (fikr) lautet, zwei Erkenntnisse (maʿrifatain) im Herzen zusammenzubringen, um aus ihnen eine dritte Erkenntnis zu gewinnen.«
Das wird anschließend an einem Beispiel illustriert, nämlich der Frage, ob wir bei der Ausrichtung unseres Lebens das Diesseits oder das Jenseits vorziehen sollen. Die Antwort, die ein nachdenkender Mensch auf sie geben soll, lautet: Das Beständigere verdient es, (dem Unbeständigeren) vorgezogen zu werden. – Das Jenseits ist beständiger (als das Diesseits). – Also verdient es das Jenseits, (dem Diesseits) vorgezogen zu werden.
Und Rudolph zieht zudem folgenden Schluss daraus:
Der Mensch denkt demnach, so ist man zu sagen versucht, von Natur aus syllogistisch.
»Man« mag dieser Versuchung erliegen. Aber tut es auch al-Ghazālī?
Davon ist gewiss so viel richtig, dass manche Menschen manchmal in einer Weise denken, die der Logiker als syllogistisch zu analysieren und zu beschreiben geneigt ist. Denn das Denken des Menschen geht doch der Logik voraus. Und darin gibt es neben vielen anderen Denkformen auch solche, die den syllogistischen Formalisierungen der aristotelischen Logik mehr oder weniger entsprechen. Und deshalb ist es sicher auch richtig, zu sagen:
Die Methode, zwei Prämissen zusammenzubringen und aus ihnen eine Conclusio ableiten [sic!], ist keineswegs den Logikern oder den Philosophen vorbehalten, sondern wird von jedem, der richtig überlegt, regelmäßig praktiziert. (82-83)
Das ist schon deshalb richtig, weil die Logiker diese Methode nicht erfunden, sondern im Denken der Menschen vorgefunden und daraufhin einer Analyse und Formalisierung unterzogen haben. Außerdem ist es keineswegs so, dass jeder Schluss von zwei Prämissen auf eine Konklusion ein syllogistischer Schluss sein muss, wie wir am Beispiel des Analogieschlusses gesehen haben, der sich ähnlich schematisieren lässt. Und das gilt natürlich auch für viele andere Schlussweisen, wie indes auch gilt, dass nicht alle Schlüsse diese Form annehmen müssen, um in der einen oder anderen Weise in dem einen oder anderen Bereich als gültig angesehen werden zu können. Wenn wir das obige Zitat von al-Ghazālī aus dem Ihyāʾ betrachten, legt sich die Vermutung nahe, dass er dies unter dem Eindruck einer allzu stark vereinfachenden Schematisierung zu sagen versucht war.
Wie dem auch sein, Rudolph zieht daraus allerdings wesentlich weitgehendere Folgerungen:
Sie [die Logik] ist ein Denkinstrument, das allen, die es fassen können, zugänglich ist und das uns sämtliche Wissensgebiete erschließt. (83)
Da scheinen wir also wieder zurück am Anfang zu sein, eine wirklich überraschende Rückwendung! Denn was kommt darin anderes zum Ausdruck als der Universalitätsanspruch der aristotelischen Logik, die als »Denkinstrument« nicht nur für »sämtliche Wissensgebiete Geltung besitzt, sondern »uns« (wieder das geheimnisvolle und doch vermeintlich so selbstverständliche Wir!) alle Bereiche des Wissens sogar »erschließt«. Und als letztes Indiz dafür, dass der Kreis wirklich wieder geschlossen und alle vorübergehende Irritation überwunden wurde, sei noch folgender Satz von Rudolph zitiert:
Darüber hinaus deutet Ġazālī an, dass selbst die prophetische Inspiration nicht außerhalb der Rationalität stehe, sondern Wissen vermittle, das den Gesetzen der Logik unterliege. (83)
Denn daraus spricht offensichtlich die gleiche Unterstellung, die Rudolph al-Ghazālī von Anfang an unterschieben wollte, dann aber in einer überraschenden Wendung relativiert hat, um sie sodann in einer vielleicht weniger überraschenden Rückwendung wieder hervorzuzaubern: nämlich dass Rationalität mit den Gesetzen der aristotelischen Logik identisch sei. Zu diesem Vorurteil wäre vieles zu sagen, wofür hier nicht der Ort ist, aber ich glaube, dass deutlich geworden ist, warum es ungerechtfertigt ist, diese Unterstellung auf al-Ghazālī zu projizieren und zu welch fatalen Konsequenzen für das Verstehen von al-Ghazālīs Denken dies führt. Wer al-Ghazālī verstehen will, muss sich allererst selbst von diesem in der Tradition des europäischen Denkens so hartnäckig eingewurzelten Vorurteil befreien.
6.3 Darstellung der Logik in seinen methodischen Schriften
6.3 Darstellung der Logik in seinen methodischen Schriften Yusuf KuhnZu Beginn des zweiten Abschnitts fasst Rudolph das Ergebnis seiner Betrachtungen noch einmal in einem Satz zusammen:
Aus diesen Beobachtungen ergibt sich ein relativ kohärenter Eindruck. Er besagt, dass Ġazālī den Syllogismus als Beweisverfahren grundsätzlich privilegiert, aber neben ihm auch andere Methoden zulässt – vorausgesetzt, deren Anwender geben sich Rechenschaft über ihr Vorgehen und wissen, dass jede sichere Erkenntnis letztlich aus zwei Prämissen und einer Conclusio besteht. (84)
Hier wird nun wieder festgestellt, dass al-Ghazālī durchaus neben dem von ihm »grundsätzlich privilegierten« Syllogismus als Beweisverfahren »auch andere Methoden zulässt«, also eine Vielfalt von unterschiedlichen Logiken. Damit verknüpfe al-Ghazālī zudem die Voraussetzung, dass »deren Anwender […] wissen, dass jede sichere Erkenntnis letztlich aus zwei Prämissen und einer Conclusio besteht«. Ich vermag nicht zu erkennen, dass bisher ein Beleg beigebracht worden wäre, der diese Aussage al-Ghazālī zuzuschreiben erlaubte. Sie ergibt jedenfalls wenig Sinn, da unter dieser Voraussetzung gar keine sichere Erkenntnis möglich wäre. Wenn gefordert wird, dass »jede sichere Erkenntnis letztlich aus zwei Prämissen und einer Conclusio besteht«, was wohl nur heißen kann, dass sie das Ergebnis einer Schlussfolgerung sein muss, so führt dies geradewegs in den unendlichen Regress. Denn um durch Schlussfolgern zu einer sicheren Erkenntnis gelangen zu können, bedarf es einer sicheren Erkenntnis als Ausgangspunkt, die selbst nicht erst Ergebnis des Schlussfolgerns ist. Es ist wohl eher anzunehmen, dass al-Ghazālī sich dieser elementaren Sachlage bewusst war.
Im zweiten Teil des Artikels behandelt Rudolph die Weise, in der al-Ghazālī die Logik – oder sollten wir besser sagen: die Logiken – in seinen Schriften dargelegt hat. Im Laufe seine Lebens hat al-Ghazālī im zahlreichen Texten sich immer wieder zu diesem Thema geäußert. Er hat, so Rudolph, »regelmäßig Werke über die Formen des Argumentierens und Beweisens geschrieben« (84). Wir können an dieser Stelle nicht näher auf die Einzelheiten eingehen, die eine ausführlichere Erörterung verdienten, und wollen lediglich die Ergebnisse anführen, zu denen Rudolph gelangt. In Anknüpfung an das obige Zitat fasst er diese vorausblickend folgendermaßen zusammen:
Dasselbe Bild begegnet uns wieder, wenn wir im nächsten Schritt auf die Darstellung der Logik in Ġazālīs Schriften eingehen. Auch dort zeigt sich nämlich, dass unser Autor keine uniforme Methodenlehre propagiert, sondern für den reflektierten, an Syllogismen geschulten Umgang mit mehreren Argumentationsformen eintritt. (84)
Und diese Vielzahl von Logiken wird jeweils durchaus unterschiedlich dargestellt, und zwar nicht zuletzt in Abhängigkeit von dem jeweils behandelten Bereich und dem jeweils verfolgten Zweck. Rudolph hält dazu fest:
In all diesen Texten versucht er, die Darstellung der philosophischen Logik mit der Behandlung der traditionellen »islamischen« Beweisverfahren zu verbinden. Dabei wechselt durchaus die Perspektive, denn je nach Werk geht Ġazālī bei seiner Darstellung von einem anderen Ansatzpunkt aus.
al-Ghazālī ist es also stets an einer »Integration der Methoden« (85-86) und einer »Verbindung zwischen der philosophischen Logik und dem traditionellen islamischen Argumentationsgut« (86) gelegen, ohne durch die Verabsolutierung eines Verfahrens deren Unterschiede oder gar alle anderen Methoden als die der aristotelischen Logik zu negieren. Aus der Sicht eines eindimensionalen und reichlich verkümmerten Denkens, das blind der griechischen Philosophie in der Tradition des platonisch-aristotelischen Rationalismus anhängt, eine ziemlich erstaunliche Vielfalt und Vielschichtigkeit, die sich im Rückblick vor dem Hintergrund der Entwicklungen der modernen Logik und Philosophie der Logik nicht nur als ausgesprochen hellsichtig, sondern gar als vernünftiger erweisen könnte!
6.4 Einsatz der Logik in der Theologie
6.4 Einsatz der Logik in der Theologie Yusuf KuhnIm dritten Teil seines Aufsatzes geht Rudolph der Frage nach al-Ghazālīs Verwendung der Logik in der Theologie am Beispiel des Kitāb al-Iqtisād fī al-iʿtiqād (Buch über den mittleren Weg im Glauben) nach. Auch hier wollen wir die Einzelheiten überspringen und direkt auf die Ergebnisse seiner Erörterung blicken. al-Ghazālī stellt in der Einleitung zu al-Iqtisād drei Beweisverfahren vor: den disjunktiven Schluss, den kategorischen Syllogismus und die Reductio ad absurdum. Rudolph erläutert dazu:
Dabei zeigt Ġazālī durchaus sachgemäß die Unterschiede zwischen den verschiedenen Methoden auf. Gleichzeitig beharrt er jedoch darauf, dass sie letztendlich dieselbe gedankliche Struktur aufwiesen. Denn alle drei Beweisverfahren – und nicht nur der kategorische Syllogismus – seien darauf angelegt, aus zwei gesicherten Prämissen eine neue Erkenntnis (farʿ bzw. daʿwā oder maṭlūb) zu gewinnen. Diese Behauptung kann uns inzwischen nicht mehr überraschen. (89)
In der Tat bewegen wir uns damit auf nunmehr vertrautem Gelände. Es erübrigt sich daher, das bisher Gesagte nochmals zu wiederholen. Mittlerweile dürften sich diese Aussagen von selbst verstehen.
Und ebenso verfährt al-Ghazālī, wenn er zur Behandlung der »eigentlichen theologischen Themen fortschreitet«, bei der »alle drei Beweisverfahren angewandt werden«, wobei »er im Verlauf einer längeren thematischen Erörterung gerne die Beweisführung variiert und mehrere Methoden nebeneinander einsetzt« (91). Bis hierhin also durchwegs eine Betätigung unserer bisherigen Analyse, die keiner weiteren Erläuterung mehr bedarf. Rudolph will sich damit aber immer noch nicht zufrieden geben und beharrt in einer wenig überraschenden, da mittlerweile sattsam bekannten Kehrtwendung ein weiteres Mal darauf, dass al-Ghazālī die »unverrückbare Überzeugung« habe, »dass hinter jeder logischen Operation, wenn sie von gesicherten Voraussetzungen ausgeht und korrekt durchgeführt wird, ein syllogistischer Denkvorgang steht« (91). Dass es sich dabei aber keineswegs um einen Syllogismus im Sinne der aristotelischen Logik handeln muss, sondern lediglich um eine »vergleichbare Denkstruktur« dürfte unterdessen hinlänglich deutlich geworden sein. Der Glaube an die absolute Geltung der aristotelischen Logik muss bei al-Ghazālī mithin keineswegs so stark ausgeprägt sein, wie Rudolph wohl aufgrund des bereits mehrfach angesprochenen rationalistischen Vorurteils unterstellen zu müssen vermeint.
6.5 Ergebnisse?
6.5 Ergebnisse? Yusuf KuhnIm vierten und letzten Abschnitt will Rudolph die Frage behandeln, »wie wir diese Beobachtungen einordnen wollen« (92). Damit ist gemeint, zu »prüfen, zu welchen theologischen Konsequenzen seine Überlegungen geführt haben«. al-Ghazālī habe als eines seiner wichtigsten Ziele »die Annäherung zwischen der Theologie, der Jurisprudenz und den philosophischen Wissenschaften«. Er habe behauptet, dass die Methoden in den drei Disziplinen aufgrund ihrer Komplementarität auch zu Wissen führe, das komplementär sei. Rudolph erläutert dies weiter:
Deswegen ermahnt er seine theologischen und juristischen Kollegen, so präzise zu argumentieren, dass auch die Philosophen ihre Argumente akzeptieren. Deswegen erklärt er den Philosophen, dass ihr angebliches Monopol auf die Geheimnisse der Logik ein Trugschluss sei. Ġazālī möchte offenkundig die Wissenschaften, die er selbst betreibt, in einem höheren Wissenssystem zusammenführen und glaubt nicht ganz zu Unrecht, dass eine gemeinsame methodische Basis dafür die beste Grundlage sei.
Dieses Programm wirkt auf den ersten Blick elitär und begünstigt sicher den universalen Wissensanspruch der Philosophen. Aber man sollte sich in Erinnerung rufen, dass es nicht nur als eine Konzession an die Philosophie, sondern auch als eine Fortentwicklung religiöser Traditionen gedeutet werden kann. (92)
Und da al-Ghazālī die Einbeziehung des Koran in dieses umfassende Wissenssystem betrieben habe, so werde damit, so Rudolph weiter,
die Harmonie zwischen Ratio und Offenbarung auf eine neue Stufe gestellt, denn auf diese Weise erhält die Logik einen göttlichen Ursprung und eine religiöse Würde, während die Offenbarung zum Paradigma für logisch korrekte Erkenntnisvorgänge erhoben wird. (93)
Das also sollen die »theologischen Konsequenzen« aus der, wie es im Titel des Artikels heißt, »Neubewertung der Logik durch al-Ġazālī« sein, kurz gesagt: eine Annäherung zwischen Theologie und philosophischen Wissenschaften und damit einhergehend eine neuartige Harmonie von Vernunft und Offenbarung. Diese »Einordnung« der im Artikel angestrengten »Beobachtungen« setzt allerdings ein Verständnis von Vernunft und Offenbarung sowie von deren Verhältnis zueinander voraus, das selbst schon in die Tradition der griechischen Philosophie eingeschrieben ist, wo doch erst zu untersuchen wäre, ob und inwiefern al-Ghazālī seinerseits überhaupt diesem Verständnis anhing. Unter dieser Voraussetzung ergeben sich offenkundig viele Schwierigkeiten für das Verstehen des Denkens von al-Ghazālī. Wäre es da nicht angebracht, diese Voraussetzung selbst in Frage zu stellen, um etwas weniger voreingenommen allererst al-Ghazālīs Position zu diesen grundlegenden Fragen zu klären? Vielleicht erwiesen sich dann die vermeintlichen Inkohärenzen und Widersprüche in seinen Aussagen als etwas weniger unverständlich und überraschend, ja vielleicht ließe sich ihnen sogar ein in sich stimmiger Sinn entnehmen. Wenn diese Überlegungen dazu einen kleinen Beitrag leisten könnten, wäre ihr Ziel schon erreicht. Denn, um es ganz klar zu sagen und Missverständnissen vorzubeugen, durch den Verweis auf eingewurzelte Vorurteile und alternative Möglichkeiten der Interpretation sollte die Untersuchung von al-Ghazālīs Verhältnis zur aristotelischen und anderen Logiken nicht im geringsten als geleistet, sondern vielmehr überhaupt erst als eröffnet erachtet werden.
7 al-Ghazālī und Griffels philosophische Theologie
7 al-Ghazālī und Griffels philosophische Theologie Yusuf KuhnVorbemerkung
Die Untersuchung der Texte von al-Ghazālī soll nun vertieft werden durch einen Blick auf deren Interpretation von Frank Griffel, der als der aktuell angesehenste al-Ghazālī-Experte unter den Orientalisten gilt. Neben zahlreichen Artikeln hat er in seinem Buch Al-Ghazālī’s philosophical theology
7.1 Philosophische Theologie?
7.1 Philosophische Theologie? Yusuf KuhnDie Suche nach einer Antwort auf diese Frage, führt allerdings zu einem erstaunlichen Befund: Der Ausdruck »philosophische Theologie« (philosophical theology) kommt im gesamten Text des Buches, abgesehen vom Titel, genau ein einziges Mal vor. So prominent er im Titel figuriert, so sparsam wird er im Text selbst verwendet. Und selbst an dieser Stelle, wo er nun tatsächlich einmal vorkommt, findet sich nicht die gesuchte Erklärung. Sehen wir näher zu, was Griffel also an der betreffenden Stelle in der Einführung des Buches schreibt:
Dieses Buch geht an das Thema von al-Ghazālīs philosophischer Theologie von zwei Seiten heran, indem es eine eingehende Untersuchung sowohl seines Lebens als auch seiner Lehren über die Kosmologie bietet. (Griffel, S. 7)
Das Buch unternimmt also, al-Ghazālīs philosophische Theologie von zwei Gesichtspunkten, seinem Leben wie auch seiner Kosmologie, her zu untersuchen. Was dabei indes philosophische Theologie heißen mag, hält Griffel einer weiteren Erläuterung nicht für bedürftig, vermutlich weil es ihm als selbstverständlich erscheint. Auch im Kontext dieser Aussage gibt es jedenfalls keine weiteren Hinweise darauf. Ich betone das auch, um von Anfang an auf eine Beobachtung hinzuweisen, die sich immer wieder eingestellt hat, nämlich dass zentrale, insbesondere philosophische Begriffe in diesem Buch nur sehr spärlich, wenn überhaupt eingeführt und erläutert werden. Vielmehr scheint angenommen zu werden, dass deren Bedeutung vorgegeben und darüber hinaus der dadurch aufgespannte Begriffsrahmen umstandslos zum Einfangen von al-Ghazālīs Denken geeignet sei. Dass ein vorgefertigtes Netz über einen so vielschichtigen und facettenreichen Denker wie al-Ghazālī gestülpt wird, ist umso staunenswerter, als dieser eine Kritik der Philosophie entwickelt hat, die doch zumindest so weit ernst genommen zu werden verdient, dass zunächst die Frage aufgeworfen werden müsste, ob die als vermeintlich selbstverständlich vorgegebenen Begriffe überhaupt zur Anwendung kommen dürfen. Meist handelt es sich dabei um Begriffe aus dem Denken in der Tradition der griechischen und europäischen Philosophie, die unreflektiert und unbegründet auf das Denken in der islamischen Tradition einfach übertragen werden.
In dem Fall, mit dem wir uns gerade beschäftigen, geht es um zwei ursprünglich griechische Begriffe – Philosophie und Theologie -, die schon im Rahmen des europäischen Denkens selbst sicherlich zu den strittigsten gehören, was durch ihre Verbindung in philosophische Theologie nur potenziert werden kann. Zudem ist ihre Übertragung auf das islamische Denken im allgemeinen und al-Ghazālī im besonderen höchst problematisch, da genaue Entsprechungen in Wort, Begriff und Bedeutung gar nicht so leicht auszumachen sind oder gar gänzlich fehlen. Für Philosophie ließe sich noch das davon abgeleitete arabische Wort falsafa anführen, das jedoch in einem viel engeren Sinn gebraucht wird. Für Theologie, vom griechischen Ursprung her als logos des theos, hingegen lässt sich gar keine Entsprechung finden. Zwar wird kalām (wörtlich: Rede) häufig mit Theologie übersetzt, was indes meist insofern gedankenlos geschieht, als deren Bedeutungsgleichheit trotz aller Verschiedenheit kurzerhand und ungeprüft vorausgesetzt wird. Eine ernsthafte Untersuchung, die nicht auf eingewurzelten Schematisierungen und Vorurteilen basieren will, hätte allererst eine ganze Reihe von Fragen hinsichtlich der verwendeten Begriffsraster zu klären. Sonst lauert allerorten die Gefahr des Un- und Missverstehens durch Projektion von bewussten oder unbewussten Voraussetzungen, wenn nicht gar die systematische Verzerrung im Sinne ideologischer und materieller Interessen im Rahmen eines Herrschaftsgefüges betrieben wird.
Wird durch die unkritische Übertragung bestimmter philosophischer Begriffe, die meist der Tradition der griechischen Philosophie entstammen, ins islamische Denken nicht vorausgesetzt, was erst zu untersuchen wäre? Steckt im Begriff der Philosophie nicht bereits ein bestimmter Begriff der Weisheit und der Liebe zu derselben? Sowie im Begriff der Theologie nicht ein bestimmter Begriff Gottes (theos) und der vernünftigen Aussage (logos) über ihn? Kann eine Untersuchung einem Denker wie al-Ghazālī, der all diese Begriffe selbst grundsätzlich und kritisch verhandelt, gerecht werden, die Begriffe aus dem Diskurs der griechisch-europäischen Philosophie fraglos und unreflektiert auf diesen projiziert? Wir wollen uns hier auf diese Andeutungen beschränken. Freilich gilt Entsprechendes für viele weitere Begriffe wie Ontologie, Epistemologie, Kosmologie etc., die ebenso häufig wie unbedacht im gleichen Kontext zur Anwendung gebracht werden. Für eine genauere und breitere Erörterung dieser Frage ist indes hier nicht der Ort.
Aus dem Titel und der Suche nach dessen Bedeutung ergibt sich also vorerst nicht sehr viel mehr als, aber eben immerhin doch, die These, dass al-Ghazālī eine »philosophische Theologie« entwickelt habe, also eine Theologie, die letztlich Philosophie sei. Denn das ist doch wohl die minimale Bedeutung, die dem Ausdruck philosophische Theologie auch ohne Erläuterung entnommen werden kann. Mit anderen Worten: al-Ghazālī ist ein als Theologe verkleideter Philosoph.
Und welcher Philosoph steckt da im Theologen? Griffel meint: »Avicenna« (Ibn Sīnā). Er spricht dies in der Einführung mit aller Deutlichkeit aus.
Diese Studie argumentiert, dass al-Ghazālīs Theologie und Philosophie eine besondere Art von Avicennismus sind. (14)
Damit erfahren wir zwar immer noch nicht, was Theologie und Philosophie sein sollen, aber immerhin so viel, dass al-Ghazālīs philosophische Theologie weitgehend mit der von Avicenna gleichgesetzt wird, und damit wohl auch mit der von Aristoteles, da deren Nähe zueinander nicht nur unverkennbar ist, sondern von Griffel auch immer wieder herausgestrichen wird. Und al-Ghazālī hebt seinerseits ebenfalls hervor, wie sehr Avicenna der Tradition der aristotelischen Philosophie verhaftet ist.
Freilich vollzieht sich diese Etikettierung als »philosophische Theologie« vor dem nicht immer deutlich ausgesprochenen, aber vielfach insinuierten Hintergrund der Unterscheidung zweier grundsätzlich verschiedener und einander entgegengesetzter Arten von »Theologie«: einerseits der philosophischen, die auf Vernunft gründet, und andererseits der unphilosophischen, die auf Offenbarung gründet. Diese Dichotomie samt all ihrer Verästelungen und Implikationen bildet also die Voraussetzung für die von Griffel vertretene These vom »Theologen« al-Ghazālī, der sich unter seinem wissenschaftlich durchdringenden Blick als avicennistischer »Philosoph« entpuppt. Und wie sich die vorausgehende Verpuppung der Gegensätze vollzog, davon handelt Griffels Untersuchung. Aber könnte al-Ghazālī diese vermeintlich fundamentale Entgegensetzung, nicht zuletzt kraft seiner Kritik der Philosophie, womöglich unterlaufen haben? Doch eilen wir nicht zu weit voraus. Noch sind wir in unserer Betrachtung ja kaum über den Titel hinausgekommen, der trotz seiner dürftigen Aufklärung im Text selbst schon einige wichtige Aufschlüsse liefert.
7.2 Dantes philosophische Theologie
7.2 Dantes philosophische Theologie Yusuf KuhnVielleicht gibt neben dem Titel ein anderer randständiger Text noch weitere Hinweise für die Frage nach Griffels Verortung von al-Ghazālīs Denken im Spannungsfeld zwischen Theologie und Philosophie. Griffel stellt seine Abhandlung unter ein Motto. Darin zitiert er aus Dantes Commedia, im originalen Italienisch. Im gesamten Buch wird Dante keine Erwähnung mehr finden. Was hat Dante also mit al-Ghazālī zu schaffen? Dante ist, laut seinem hervorragenden Ausleger Kurt Flasch, selbst Philosoph und verfügt seinerseits über eine philosophische Theologie, die auch im Motto unüberhörbar anklingt. Spielt Griffel darauf an? Will er damit andeuten, dass al-Ghazālī auf Dante vorausweist? Oder doch zumindest darauf hinweisen, dass beide der selben Traditionslinie angehören? Aber werfen wir zunächst einen Blick auf das Motto selbst. Es lautet in Flaschs Übersetzung »in deutscher Prosa«
Die Herrlichkeit dessen, der alles bewegt, durchdringt das Universum und strahlt darin wider, in einem Teil mehr, anderswo weniger.
Es ist der erste Vers im ersten Gesang auf dem Weg ins Paradies (Paradiso, Canto 1, Vers 1). Flasch stellt diesem Gesang folgende erläuternde Einführung voran:
Dante beschreibt das Universum als abgestuften Glanz göttlichen Lichts. Er klagt, wie schwer es sei, vom Paradies zu singen; er ruft Apollo zu Hilfe. – Dante und Beatrice werden vom Gipfel des Läuterungsberges in die Mondsphäre erhoben. Dante will wissen, wie er mit seinem Körper diesen Weg zurücklegen konnte. Beatrice erklärt dies mit der Weltordnung und der Sternenheimat der Seele.
Dies muss uns hier als ganz kurzer Hinweis auf Dantes philosophische Theologie genügen. Wer mehr darüber erfahren möchte, lese das Kapitel ›Gott‹ in Flaschs Einladung, Dante zu lesen.
In Dantes Göttlicher Komödie, wie sie meist genannt wird, kommt al-Ghazālī selbst nicht vor. Aber andere Protagonisten des Kampfes zwischen Theologie und Philosophie, Offenbarung und Vernunft, die auch in Griffels Komödie – denn auch sie hat ein gutes Ende – bedeutende Rollen spielen, erscheinen durchaus in ihrer Szenerie. So beschreibt Dante im 28. Gesang auf dem Weg durch die Hölle eine schauerliche Szene, in der er einem gewissen Mäometto begegnet.
Der neunte Graben mit den Sündern, die Zwietracht säten. Ihre Körper sind zur Strafe zerschlitzt: Mohammed. Pier da Medicina. Beltram dal Bornio.
Nachdem Dante nun einmal von Griffel ins Spiel gebracht wurde, können wir es uns nicht ersparen, genauer zu hören, was er neben wohlklingenden Worten am Eingang zum Paradies über einen derjenigen zu sagen hat, denen dieser Weg nicht nur versperrt ist, sondern der in einem der tiefsten Höllengründe schmort:
Da sah ich einen, aufgeschlitzt vom Kinn bis hinunter, wo man furzt. Kein Faß, das Boden oder Dauben verliert, kann so leck sein wie er. Zwischen den Beinen hingen die Gedärme; die inneren Organe waren sichtbar und auch der traurige Sack, der Scheiße macht aus allem, was man verschluckt. Ich bin ganz in seinen Anblick versunken, da schaute er mich an, riß sich mit der Hand die Brust auf und rief: »Schau, wie zerschlitzt ich bin! Sieh den verstümmelten Mohammed [Mäometto]! Vor mir her geht weinend Ali; sein Gesicht ist gespalten vom Kinn bis zum Schopf. Und all die anderen, die du hier siehst, säten im Leben Zwietracht und Spaltung; darum sind sie hier aufgeschlitzt. Dort hinten steht ein Teufel, der uns so grausam zurichtet. Jeden von dieser Bande unterwirft er der Schärfe seines Schwertes, wenn wir die Straße der Schmerzen umrundet haben, denn die Wunden schließen sich wieder, bevor einer von uns wieder vor ihm vorbeikommt. (Inferno, Canto 28, Vers 22-42; Flaschs Übersetzung)
Ist das der Platz, den Dantes philosophische Theologie der islamischen Offenbarung und einem ihrer Propheten zuweist?Griffel ruft mit dem Dante-Motto unweigerlich diese Erinnerung wach. Viel besser ergeht es da den Vertretern der griechischen Philosophie und den muslimischen Denkern in deren Tradition. Im Vergleich dazu wird ihnen in der Vorhölle geradezu ein vornehmer Ehrenplatz zugewiesen. Flasch führt den vierten Gesang der Hölle folgendermaßen ein:
Dante erwacht im Limbus, dem ersten Kreis der Hölle für ungetaufte Kinder und ungetaufte Gerechte. Sie treffen die großen Dichter, sie betreten die vornehme Burg der antiken und der arabischen Großen.
Wie ergeht es da also denen, die im Gegensatz zu manchen anderen Wissenschaft und Kunst ehren?
[…] Wir kamen an den Fuß einer vornehmen Burg. Sie war siebenfach umringt von hohen Mauern, und ringsum beschützte sie ein schöner kleiner Fluß. Diesen überschritten wir wie feste Erde; durch sieben Tore trat ich ein mit diesen Weisen; wir erreichten eine Wiese mit frischem Grün. Menschen blickten dort mit langsamen und ernsten Augen, von großer Würde in ihrer äußeren Erscheinung; sie sprachen wenig, mit sanfter Stimme. […]
Als ich dann die Brauen ein wenig hob, sah ich den Meister [Aristoteles] derer, die wissen, in der Familie der Philosophen sitzen. Alle bewundern ihn, alle erweisen ihm Ehre. Hier sah ich Sokrates und Platon, die ihm näherstehen als die andren, Demokrit, der die Welt auf Zufall setzt, Diogenes, Anaxagoras und Thales, Empedokles, Heraklit und Zeno; ich sah den tüchtigen Erforscher der Heilpflanzen, ich meine Dioskorides, und ich sah Orpheus, Cicero, Linus und den Moralphilosophen Seneca, den Geometer Euklid und Ptolemäus, Hippokrates, Avicenna und Galen, Averroes, der den großen Kommentar schuf. Ich kann nicht von allen in Fülle berichten, denn mein großes Thema jagt mich so sehr voran, daß das Sagen oft zurückbleibt hinter der Sache. (Inferno, Canto 4, Vers 94-147; Flaschs Übersetzung)
Der Meister, dessen Name nicht genannt wird, ist Aristoteles, der Philosoph schlechthin. Und zu seinen Schülern, die dadurch ausgezeichnet sind, dass sie wissen, gehören auch die muslimischen Philosophen Avicenna und Averroes. Mit vielen anderen sitzen sie um den Meister versammelt in der Familie der Philosophen. In diesem Bild abwesend ist al-Ghazālī, der für Dante offenbar nicht zu diesem erlauchten Kreis zählt. Wie Dante al-Ghazālī letztlich verortet, lässt sich dem freilich nicht entnehmen. Er hätte durchaus dazu zählen können. Denn das Schicksal al-Ghazālīs aus europäischer Sicht in diesem Spannungsfeld zwischen Offenbarung und Vernunft, Theologie und Philosophie war wechselhaft. Einst galt er den Lateinern als großer Philosoph. Er war ihnen einmal selbst ein Avicenna. Später verfiel er dem Verdikt, der Verderber und Vernichter der Philosophie im islamischen Denken gewesen zu sein. Nun hat sich das Blatt jedoch wieder gewendet, und er soll in des Meisters Familie der Philosophen, aus der man ihn verstoßen hatte, wieder aufgenommen werden. Daran arbeitet auch Griffel, indem er al-Ghazālī als Verpuppung von Avicenna und mithin Aristoteles erweisen möchte. Dass Griffel seinem Buch ein Zitat aus Dantes Commedia als Motto vorausschickt, lässt seine Auslegung von al-Ghazālīs Denken als philosophischer Theologie in einem dadurch gefärbten Licht erscheinen.
7.3 Philosophische Theologie!
7.3 Philosophische Theologie! Yusuf KuhnDie in dem bereits angeführten Zitat mit der, im gesamten Buch, einzigen Erwähnung des Ausdrucks »philosophische Theologie« genannten zwei Aspekte der Studie Griffels bilden die beiden Hauptteile des Buches: das Leben al-Ghazālīs und seine Kosmologie. Dazwischen liegt der Teil, der in unserem Kontext vornehmlich von Interesse ist. Griffel selbst sagt, dass er darin die Ergebnisse seiner früheren Studien zusammenfasst. Er betrachtet diesen Abschnitt als grundlegend für die sich daran anschließende Analyse von al-Ghazālīs Verständnis von Kausalität im Rahmen der Kosmologie, da er darin dessen »Position zur Rolle der falsafa im Islam wie auch seine ›Regel der Interpretation‹ (qānūn al-taʾwīl)« (12) erklärt, die er als »epistemologisches Prinzip« bezeichnet. Diese beiden Teile sind eingerahmt von einer »Konklusion« und einer »Einführung«, die nun näher betrachtet sei.
Griffel beginnt mit einer Darstellung und Kritik des »traditionellen Verständnisses, das in den westlichen Islamstudien im ganzen neunzehnten Jahrhundert und im größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts vorherrschte«, demzufolge die Philosophie in Gestalt der falsafa sich zwar in der islamischen Gesellschaft entwickelte, doch alsbald der »harten Kritik einer konservativen Gruppe von Muslimen« verfiel, was zur Folge hatte, dass »die Philosophie im Islam nach dem sechsten/zwölften Jahrhundert zu existieren aufhörte«. Dieser Prozess mündete schließlich in den »Untergang der rationalen Wissenschaft und Philosophie unter dem Islam«. Meist galt, dass »mit Averroes die Geschichte der Philosophie im Islam zu einem Ende gekommen war« (4). Und al-Ghazālī wurde in dieser Beschreibung des Niedergangs der Philosophie eine entscheidende Rolle zuteil: Mit seiner Kritik der Philosophie im Tahāfut habe er dieser den Todesstoß versetzt. Er galt als Feind der Philosophie, der mit seiner Verurteilung einen Krieg ausgelöst habe, der schließlich zur Vernichtung der Philosophie geführt habe.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde indes eine Kehrtwende vollzogen. Neben einigen Vorläufern bezieht Griffel sich insbesondere auf Abdelhamid I. Sabra, der in einem bahnbrechenden Aufsatz
Griffel wirft nun die Frage auf, wie al-Ghazālī »in diesem Prozess der Naturalisierung« zu verorten ist. »Bis jetzt waren die Wissenschaftler«, wie Griffel sagt, in dieser Frage uneins. Hat sich diese Naturalisierung trotz und gegen al-Ghazālīs Kritik der Philosophie vollzogen oder war sein Denken nicht vielmehr sogar ein entscheidender Faktor in diesem Prozess? Griffels Antwort lautet:
In diesem Buch werde ich erklären, warum al-Ghazālī in der Tat der erste muslimische Theologe ist, der die Naturalisierung der philosophischen Tradition in die islamische Theologie aktiv befördert. (7)
Worin Naturalisierung und Integration – zwei Begriffe, die Griffel hier wiederholt verwendet – genau bestehen, wird nicht näher ausgeführt, jedenfalls nicht über die Beschreibung des Ergebnisses hinaus, dass Theologen schließlich zu Philosophen wurden. Und für al-Ghazālī muss dies wohl heißen, dass er der erste muslimische Theologe war, der zugleich Philosoph war, und zwar schon immer, denn Griffel stellt ein paar Zeilen weiter in der Tat fest, dass al-Ghazālīs theologische Lehren stets gleich geblieben sind:
[…] zu sagen, dass al-Ghazālīs theologische Lehren einen Wandel durchmachten, kann tatsächlich nicht behauptet werden. (8)
Und über das, was naturalisiert worden sein soll, haben wir bisher lediglich ganz allgemein erfahren, dass es sich um griechische Philosophie und Wissenschaften gehandelt habe. Im nächsten Schritt nennt Griffel die aristotelische Logik samt Ontologie. Warum er darauf eingeht, wird nicht recht klar, da er unvermittelt zu folgender Aussage übergeht:
Seine (al-Ghazālīs) Werke dokumentieren einen Versuch, die aristotelische Logik in die Tradition des kalām, der rationalistischen islamischen Theologie zu integrieren. (7)
Die vorsichtige Formulierung »Versuch« ist bemerkenswert, da sie doch den Gedanken nahelegt, dass es beim bloßen Versuch geblieben und die eigentliche »Integration« gar nicht erfolgreich durchgeführt worden sein könnte. Mit der Vorsicht ist es allerdings gleich wieder vorbei, wenn Griffel al-Ghazālī auch die Übernahme der aristotelischen Ontologie zuschreibt. Er geht dabei ganz zu Recht davon aus, dass aristotelische Logik und Ontologie nicht voneinander getrennt werden können:
In der aristotelischen Tradition ist Logik so eng verbunden mit der spezifischen Erklärung der elementarsten Bestandteile der Welt und ihrer Relationen zueinander, dass die aristotelische Logik schwerlich ohne die aristotelische Ontologie übernommen werden kann. (7)
Es sei von der Frage abgesehen, ob diese Beschreibung der aristotelischen Ontologie als »spezifische Erklärung der elementarsten Bestandteile der Welt und ihrer Relationen zueinander« zutreffend ist. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass Griffel Ontologie und Kosmologie, obwohl Ontologie gemeinhin mindestens sehr viel weiter, wenn nicht gar völlig anders gefasst wird, nicht wirklich voneinander unterscheidet und diese Begriffe anscheinend austauschbar benutzt, da er ein paar Absätze weiter eine fast identische Formulierung wählt, um den Begriff der Kosmologie zu charakterisieren:
Das Wort »Kosmologie« bezieht sich auf Ansichten über die elementarsten Bestandteile des Universums und die Weise, wie sie miteinander interagieren […]. (9)
Wie kommt Griffel zu dieser sonderbaren Worterklärung? Wir wissen es nicht. Es sei nur darauf verwiesen, dass unter Kosmologie üblicherweise das genaue Gegenteil verstanden wird. So beginnt etwa, um nur ein Beispiel aus der zeitgenössischen Kosmologie anzuführen, das Standardwerk von Bernut Kanitscheider mit dem schlichten Titel Kosmologie mit dem folgenden Satz:
Das vorliegende Buch stellt sich die Aufgabe, eine Einführung in die Wissenschaft von der Welt im Großen zu liefern.
Bernut Kanitscheider, Kosmologie, Stuttgart, 1984, S. 7; Hervorhebung von mir.
Und die »Welt im Großen« setzt Kanitscheider ein paar Zeilen später von »der Welt des ganz Kleinen« ab, mit der sich andere Teilbereiche der Physik, eben nicht die Kosmologie, befassen.
Aber zurück zum Verhältnis von aristotelischer Logik und Ontologie, die Griffel zu Recht als untrennbar betrachtet: Aber hat al-Ghazālī das ebenfalls so gesehen? Hielt er nicht die aristotelische Logik für neutral gegenüber Religion, Metaphysik und Ontologie, wie manche seiner Aussagen ja oftmals verstanden wurden? Griffel ist sich anscheinend ganz sicher:
al-Ghazālī verstand diese Verbindung (von aristotelischer Logik und Ontologie) sehr gut, und während er propagierte, Logik von den falāsifa zu lernen, wusste er, dass er seine Kollegen auch dazu aufforderte, fundamentale Annahmen zu übernehmen, die ihre Positionen zu Ontologie und Metaphysik verändern würden. (7)
Griffel bleibt letztlich wohl keine andere Wahl, als diese These zu vertreten, da er ja zeigen will, dass im Theologen al-Ghazālī in Wirklichkeit ein avicennistischer – und das heißt eben auch aristotelischer – Philosoph steckt. Dass er sich so frühzeitig dazu gedrängt fühlt, diese These in aller Deutlichkeit darzulegen, ist allerdings bemerkenswert. Worauf stützt er diese These? Woher weiß er, dass al-Ghazālī »diese Verbindung« kennt und versteht? Das scheint denn doch nicht so einfach zu sein, da er einräumen muss:
Darüber ist al-Ghazālī jedoch weniger offen. (7)
Das soll wohl heißen: al-Ghazālī propagiert die aristotelische Logik offen, aber die aristotelische Ontologie »weniger offen«. Da er aber um deren unlösliche Verbindung sehr genau wissen soll, muss dies wohl als Verstellung und Versteckspiel angesehen werden. Und so fährt Griffel fort:
Als er seine Ansichten über die Metaphysik der falāsifa in solchen populären Werken wie seiner Autobiographie zusammenfasste, rückt er seine Kritik der Metaphysik in den Vordergrund und erwähnt seine Wertschätzung ihrer Lehren nur beiläufig. (7)
Griffel gibt damit zu verstehen, dass al-Ghazālī sich der größeren Menge nicht als Philosoph zu erkennen geben lassen wollte. Deshalb stelle er seine Kritik in den Vordergrund, die somit ja nur von oberflächlicher Natur sein könne, da er in deren Schutz hintergründig die Fundamente der Philosophie vielmehr übernehme. Um seine Behauptung zu belegen, fügt Griffel an dieser Stelle eine Anmerkung ein. Die Kritik finde sich in al-Munqidh (in der Ausgabe von Jabre) auf den Seiten 18-20 – was zweifellos stimmt. Und für »etwas mehr wertschätzende Kommentare« verweist er auf die Seiten 25-27 (7, Fn. 19). Worum handelt es sich dabei?
Dieser Abschnitt ist in der Übersetzung des Munqidh von Elschazli
Die Folge davon wäre, daß diejenigen, die Unrecht haben, uns das Wahre bloß dadurch aus den Händen entreißen könnten, daß sie es in ihren Büchern niederlegten. Das mindeste, was man von einem Gelehrten erwarten kann, ist, daß er sich von einem gewöhnlichen Tor unterscheidet.
al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, al-Munqidh min adh-dhalāl. Aus dem Arabischen übersetzt von Elschazli, Hamburg, 1988, S. 28.
Damit schrumpft die angebliche »Wertschätzung«, die Griffel darin ausfindig gemacht haben will, auf den Rat, nicht zu glauben, dass alles, was die falāsifa sagen, deshalb auch schon falsch sein müsse. Und da al-Ghazālī seine wahre Haltung gegenüber der Metaphysik der falāsifa sogar noch besser zu verbergen scheint, als Griffel hier andeutet, bedarf es einer größeren Anstrengung, um diese zum Vorschein zu bringen:
Doch eine gründliche Untersuchung von al-Ghazālīs Werken über Theologie lässt keinen Zweifel, dass seine Ansichten über Ontologie, die menschliche Seele und Prophetentum in besonderer Weise von Avicenna geprägt sind. (7)
Griffel verweist in einer Anmerkung auf einen seiner Artikel, in dem er lediglich das Thema des Prophetentums behandelt hat. Darüber hinaus erfahren wir nicht, wo diese sicherlich ziemlich umfangreiche »gründliche Untersuchung von al-Ghazālīs Werken über Theologie«, die »keinen Zweifel« lässt, durchgeführt worden sein könnte. Meint er das vorliegende Buch damit? Wohl kaum, denn die angesprochenen Themen werden darin gar nicht so recht »gründlich untersucht«. Somit steht die Behauptung ziemlich ungedeckt da. Oder ist sie gar nicht mehr auf die Ausgangsthese von der Übernahme der aristotelischen Ontologie bezogen, worauf die deutlich abgeschwächte Formulierung »in besonderer Weise von Avicenna geprägt« hindeuten könnte. Nur stünde diese These wiederum dann noch viel ungedeckter da.
Griffel geht nun wieder einen Schritt weiter, indem er al-Ghazālīs Kritik der Philosophie selbst als Wegbereiter der Übernahme der aristotelischen Philosophie interpretiert. Von al-Ghazālīs Kritik der Philosophie bleibt dabei allerdings nicht mehr übrig, als die im Tahāfut vorgenommene Verurteilung der drei bekannten Thesen der falāsifa als kufr (Nicht-Islam). Griffel schreibt also im Bemühen, die Kritik umzumünzen:
Darüber hinaus war die vorgenannte Verurteilung der drei philosophischen Lehren in der Inkohärenz der Philosophen in Wirklichkeit ein Teil der Naturalisierung der aristotelischen Philosophie in die muslimische Theologie. Mit dieser Verurteilung identifiziert das Buch jene Elemente des Aristotelismus, die gemäß al-Ghazālī dafür ungeeignet waren, integriert zu werden. Durch die Hervorhebung dieser drei Lehren öffnete der große muslimische Theologe den muslimischen theologischen Diskurs für die vielen anderen wichtigen Positionen, die von den falāsifa vertreten wurden. (7; Hervorhebungen im Original)
Ein gewagter Umkehrschluss! al-Ghazālī hat nachgewiesen, dass drei Thesen der falāsifa mit dem Islam nicht vereinbar sind. Hat er je behauptet, damit erwiesen zu haben, dass alle ihre anderen Thesen »integrierbar« seien? Wäre es von einem Gelehrten nicht reichlich töricht, diesen Schluss daraus zu ziehen? Besteht der Kern des von al-Ghazālī bei seiner Kritik angewandten Verfahrens nicht gerade in der Aufforderung zu einer genauen Prüfung aller Behauptungen einerseits auf ihre Vereinbarkeit mit dem Islam und andererseits auf ihre Begründetheit hin? Das wäre das genaue Gegenteil einer Generalabsolution mit Ausnahme dreier Thesen.
Zudem unterschlägt Griffel hier, dass al-Ghazālī die übrigen siebzehn der untersuchten zwanzig Thesen ganz ausdrücklich und unmissverständlich als bidʿa (unzulässige Neuerung) beurteilte. Es dürfte recht zweifelhaft sein, ob dies als Öffnung für diese Positionen gemeint sein und verstanden werden kann. Und noch dazu ist es al-Ghazālī bei seiner Kritik stets um den Nachweis zu tun, dass die von den falāsifa vertretenen Thesen ihren eigenen Kriterien zufolge unbegründet sind. Außerdem stellt sich auch immer die Frage nach der Tragweite dieser Kritik, die nicht selten einer Widerlegung gleichkommt, und zwar im Rahmen einer Philosophie, die System zu sein beansprucht. Was bleibt von diesem System nach einer solchen Kritik übrig, das noch übernommen werden könnte? Könnte es nicht sein, dass tahāfut hier wirklich Zusammenbruch meint? Alle diese Fragen scheinen Griffel hier nicht zu berühren. Doch lässt sich seine These von der Übernahme der aristotelischen Ontologie in das islamische Denken durch al-Ghazālī überhaupt begründet vertreten, ohne ihnen auf den Grund zu gehen?
Im Verfolg von Griffels einführendem Text wären wir damit wieder an der Stelle angelangt, in der zum ersten und letzten Mal der Begriff der philosophischen Theologie verwendet wird, obgleich er den Titel ziert. Allerdings haben wir auf mancherlei Umwegen mittlerweile so einiges über seine Bedeutung dazugelernt. Beispielsweise überrascht angesichts der erwähnten Verquickung von Ontologie und Kosmologie auch die rasche Engführung der philosophischen Theologie auf die Kosmologie schon sehr viel weniger. Es sei nochmals in Erinnerung gerufen:
Dieses Buch geht an das Thema von al-Ghazālīs philosophischer Theologie von zwei Seiten heran, indem es eine eingehende Untersuchung sowohl seines Lebens als auch seiner Lehren über die Kosmologie bietet. (7)
Wir wollen nun fragen: Wie hängen Leben und Kosmologie mit der philosophischen Theologie zusammen? Griffel betrachtet beide als Hindernis für das Verständnis letzterer; und damit meint er: für die von ihm vertretene Hauptthese von al-Ghazālī als theologisch verpupptem avicennistisch-aristotelischem Philosophen. Griffel erläutert die besagten »zwei Seiten« also:
Ich habe diese beiden Themen gewählt, weil ich glaube, dass sie gegenwärtig das größte Hindernis dafür bilden, al-Ghazālī als jemanden zu positionieren, der zum Prozess der Naturalisierung der falsafa innerhalb des islamischen theologischen Diskurses beigetragen hat. (7)
Dass die Beseitigung eines Hindernisses freilich noch lange nicht bedeutet, das Ziel zu erreichen oder eben eine bestimmte These stichhaltig zu begründen, sei lediglich beiläufig erwähnt. Griffel beschreibt nun zunächst, in welchem Sinn al-Ghazālīs Leben als Hindernis zu verstehen ist, um sodann auf seine Kosmologie einzugehen.
Warum also ist das Leben al-Ghazālīs ein Hindernis? Griffel vertritt die These, dass al-Ghazālī immer ein verpuppter Avicenna gewesen ist, dessen Theologie keinerlei Entwicklung und Wandel durchlaufen hat, wie wir bereits gesehen haben. Demgegenüber gehen die meisten Darstellungen von al-Ghazālīs geistiger Entwicklung nicht nur von Änderungen, sondern sogar von radikalen Brüchen aus. Und das Zeugnis, das ihnen neben der Analyse seiner Schriften als wichtigster Beleg dient, stammt von al-Ghazālī selbst, nämlich die autobiographisch angelegte Darstellung seines eigenen Denkweges in al-Munqidh. Griffel hat also gar keine andere Wahl. Um seine These durchzufechten, ist er gezwungen, al-Ghazālīs Selbstdarstellung aus dem Weg zu räumen. Dabei setzt er alles daran, al-Ghazālī als unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Und dies nicht nur, weil er womöglich esoterisch, rhetorisch oder für ein bestimmtes Zielpublikum spricht, sondern er unterstellt ihm ausdrücklich, absichtsvoll zu täuschen und zu lügen. Wie es angehen soll, jemandem beispielsweise in philosophischen Fragen gleichwohl Glauben zu schenken, der in so zentralen Dingen lügt und dessen Glaubwürdigkeit daher grundlegend erschüttert zu sein scheint – danach fragt Griffel nicht.
Welche Argumente führt Griffel für diese Auffassung an, die al-Ghazālīs Lebensweg geradezu umstürzt und dabei gründlich einebnet? In der Einleitung beruft er sich vor allem auf »zusätzliche Quellen« (8), die sowohl von al-Ghazālī selbst als auch von seinen Schülern und frühen Nachfolgern stammen. Zu ersteren gehört insbesondere die Sammlung von persischen Briefen, in denen beispielsweise al-Ghazālī zwar wie in al-Munqidh wiederholt die Krise erwähnt, die zu seiner Abreise aus Bagdad 488/1095 geführt hat, aber zudem von einem anderen Ereignis die Rede ist, »das wir als genauso wichtig erachten müssen wie seine Abreise aus Bagdad«, wie Griffel urteilt und also fortfährt, nämlich von einem Gelübde al-Ghazālīs
am Grab von Abraham in Hebron, nie wieder »zu irgend einem Herrscher zu gehen, das Geld von einem Herrscher anzunehmen oder an einer seiner öffentlichen Disputationen teilzunehmen«. Obgleich er (al-Ghazālī) in seiner Autobiographie den dramatischen Prozess, der zu seiner Abreise aus Bagdad führte, in hellen Farben porträtiert, erwähnt er nie das Gelübde in Hebron. Diese Auslassung kann damit in Zusammenhang gesehen werden, dass seine Zeitgenossen ihn beschuldigten, sein Gelübde zu brechen, so dass er kaum Interesse daran hatte, seine Leser daran zu erinnern. Bagdad zu verlassen und zu geloben, nicht mit den Repräsentanten der Staatsmacht zu kooperieren, sind natürlich zwei Ereignisse, die zusammengehören, obgleich ein Leser von al-Ghazālīs Autobiographie diesen Verbindung nicht verstehen mag. Die Distanz von elf Jahren zwischen al-Ghazālīs Entscheidung, Bagdad zu verlassen, und seinem Schreiben der Autobiographie erzeugte diesen signifikanten Wandel in der Repräsentation dieses Ereignisses. Das Lesen der Briefe und das Studium der Kommentare seiner Schüler gibt ein viel klareres Bild von dem, was seine Entscheidung auslöste, seinen Posten der Nidhamiyya-madrasa in Bagdad zu verlassen. (8)
Ich habe so ausführlich zitiert, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie Griffel argumentiert, da ähnliche Muster immer wieder auftreten. Was trägt diese Art von Argument zur Begründung der Hauptthese bei, dass im Gegensatz zu al-Ghazālīs eigener Schilderung sein Denken keinerlei Veränderung erfahren hat? Es ergibt sich daraus gewiss nicht, dass seine Selbstdarstellung falsch sein muss. Denn selbst wenn alles, was Griffel anführt, wahr sein sollte, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass al-Ghazālīs Beschreibung seiner Krise und der damit einhergehenden tiefgreifenden Veränderung seines Denkens falsch sein muss, sondern lediglich, dass sie unvollständig ist. Bei einer bestimmten Entscheidung können schließlich zwei oder auch mehrere Motive wirksam sein, die sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig bestärken. Die Auszeichnung eines bestimmten Motivs als des einzig wahren erfordert weitere Gründe, die Griffel allerdings nicht beibringt. Und diese Gründe müssten zudem von einigem Gewicht sein, um einen so zentralen Punkt in al-Ghazālīs Selbstdarstellung wirkungsvoll umstürzen zu können. Angesichts dessen drängt sich der Eindruck auf, dass Griffels Argumentationsstrategie mangels solcher konkreten Gründe vorrangig auf die allgemeine Erschütterung der Glaubwürdigkeit von al-Ghazālīs Selbstdarstellung abzielt.
Im nächsten Schritt beruft Griffel sich auf Richard M. Frank, der 1994 in seinem Buch Al-Ghazālī and the Ash‛arite School
Eines meiner Hauptinteressen beim Studium von al-Ghazālīs Leben war, herauszufinden, ob die gegenwärtige populäre Ansicht über seine Wandlung von einem mutakallim (ein muslimischer rationalistischer Theologe) und Gegner der falsafa vor der Abreise aus Bagdad zu einem Sufi, der kalām mied und daran arbeitete, Sufismus mit muslimischer Orthodoxie und möglicherweise sogar mit falsafa zu versöhnen, von irgend einer der am meisten autoritativen Quellen seines Lebens gestützt werden kann. Und obwohl diese Quellen in der Tat über Wandlungen in al-Ghazālīs Leben sprechen, berichtet keine von ihnen, dass seine Lehren sich signifikant verändert haben. (9)
Was nicht berichtet wird, kann nicht gewesen sein? Ein sehr schwaches Argument, selbst wenn es stimmen würde! Aber Griffel scheut nicht davor zurück, noch schwächere anzuführen:
Einer seiner (al-Ghazālī) Studenten, Abū Bakr ibn al-ʿArabī (gest. 543/1148), informiert uns, dass dieser Prozess gar nicht plötzlich war. Der Schüler erwähnt, dass al-Ghazālī schon zwei Jahre vor seiner Abreise aus Bagdad »den Sufiweg angenommen und sich für das, was er erforderte, frei gemacht hatte.« (9)
Hier werden nur noch Zeitpunkt und Geschwindigkeit der Wandlung in Frage gestellt, wobei gerade vorausgesetzt wird, was Griffel in Zweifel zu stellen sich müht, nämlich die Wandlung selbst. Und daraus zieht Griffel zudem folgenden Schluss:
Alle diese Berichte sollten uns dazu führen, al-Ghazālīs eigenes Narrativ seiner Krise in 488/1095 neu zu bewerten (to reevaluate), das bislang alle westlichen Biographien von ihm dominiert hat. (9)
Das ist nun allerdings ein Ergebnis, das ebenso schwach ist, wie die dafür angeführten Gründe. Von einer Begründung der von Griffel vertretenen Thesen kann daher keine Rede sein. Welche Aufgabe hat er sich für das erste und zweite Kapitel des Buches, die sich mit al-Ghazālīs Leben befassen, gesetzt? Will er das Hindernis aus dem Weg schaffen oder nur »uns« zu einer Neubewertung anregen? Diese Formulierung bleibt indessen bemerkenswert vage.
Griffel geht alsbald zum zweiten Hindernis über, das er als das größte bezeichnet:
al-Ghazālīs Lehren über Kosmologie sind gegenwärtig das größte Hindernis für ein kohärentes Verstehen seiner Theologie. (9)
Die philosophische Theologie bedarf einer bestimmten Konzeption von Kosmologie, die damit vereinbar ist, sonst stünden Theologie und Kosmologie in Widerspruch zueinander. Wie nicht anders zu erwarten, wird das aus dem Griechischen stammende und aus kosmos und logos zusammengesetzte Wort Kosmologie auch in seiner Anwendbarkeit auf al-Ghazālīs Denken im besonderen und auf islamisches Denken im allgemeinen fraglos vorausgesetzt. Dass kosmos wie logos eine Begriffsgeschichte haben, die durchaus zu der Frage berechtigen würde, ob ihre Übertragung möglich ist, wird schlicht unterschlagen. Griffel gibt stattdessen eine Worterklärung, die mehr Fragen aufwirft als beantwortet:
Das Wort »Kosmologie« bezieht sich auf Ansichten über die elementarsten Bestandteile des Universums und darauf, wie sie miteinander interagieren, wenn tatsächlich von ihnen angenommen wird, dass sie dies tun. (9)
Griffel verrät nicht, wie und warum er zu dieser Worterklärung kommt. Es sei nur beiläufig auf deren Fragwürdigkeit hingewiesen, ohne, über das oben bereits dazu Gesagte hinaus, näher auf die sich aufdrängenden Fragen einzugehen. Dass Griffel selbst damit nicht ganz zu Rande kommt, zeigt schon, dass er im nächsten Satz zu einer ganz anderen Bedeutung überwechselt:
Im Falle von al-Ghazālī, der lehrt, dass Gott jedes Wesen und jedes Ereignis im Universum erschafft, bezieht Kosmologie sich darauf, wie Gott die Welt erschafft und wie Er sich auf Seine Schöpfung bezieht. (9; Hervorhebungen im Original)
Sicher ist, dass al-Ghazālī das Wort Kosmologie nicht benutzt hat. Ebenso sicher ist, dass er die Wörter Kosmos, Universum und Welt, die Griffel trotz ihres jeweiligen Ursprungs im Griechischen, Lateinischen und Deutschen sowie ihrer mannigfaltigen Geschichte als synonym zu erachten scheint, nicht benutzt hat. Hat er arabische oder persische Entsprechungen für diese Wörter verwendet? Wie kann Griffel so sicher sein, dass es Kosmos, Universum oder Welt in al-Ghazālīs Denken überhaupt gibt? Er stellt die Frage nicht, sondern setzt es schlicht voraus. Darüber hinaus ist die Begründung, falls es denn so gemeint sein sollte, für die Verschiebung in seinen Worterklärungen von Kosmologie von den »elementarsten Bestandteile des Universums« auf die Erschaffung der Welt selbst durch Gott und die Beziehung Gottes zur Schöpfung wenig einsichtig. Denn schließlich geht hier der locker vollzogene Sprung über den klaffenden Abgrund hinweg, der sich zwischen zwei radikal verschiedenen und womöglich gegensätzlichen Perspektiven und Konzepten unweigerlich auftun muss. Lassen wir es jedoch dabei bewenden und sehen wir zu, wie für Griffel Kosmologie zum Hindernis wird.
Das Problem entstand Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem ersten Erscheinen von Mischkāt al-anwār (Die Nische der Lichter) in einer gedruckten Ausgabe. Griffel schreibt:
In diesem Buch wählt al-Ghazālī eine Sprache, die kosmologische Prinzipien reflektiert und impliziert, die von Philosophen entwickelt worden waren und die in keinem früheren Werk von einem sunnitischen Theologen erschienen waren. (9)
Als Problem wird also das angebliche Auftauchen einer philosophischen Kosmologie bei al-Ghazālī ausgemacht, die zudem Lehren in anderen seiner Werke zu widersprechen schien. Denn die »westliche wissenschaftliche Forschung« sah sich sodann mit der Schwierigkeit konfrontiert, wie diese Unterschiede zu erklären und miteinander zu vereinbaren wären. Ein Lösungsversuch bestand darin, denjenigen Texten, die am problematischsten erschienen, die Authentizität abzusprechen. Sie sollten gar nicht von al-Ghazālī stammen. Griffel findet die Argumente für diese Lösung jedoch nicht überzeugend.
Die Debatte wurde sodann 1992 von Richard M. Frank bereichert, der laut Griffel die Auffassung ins Spiel brachte,
dass al-Ghazālī das von der aschʿaritischen Schule der muslimischen Theologie, der Schultradition, aus der er kam, entwickelte kosmologische System aufgegeben hatte und dass er die Kosmologie von Avicenna übernommen hatte. (10)
Demgegenüber vertrat Michael E. Marmura die Position, dass al-Ghazālī die aschʿaritische Theologie samt ihrer Kosmologie niemals aufgegeben habe. Der Konflikt zwischen diesen beiden Ansichten lässt sich, was vielleicht naheliegend gewesen wäre, nicht so auflösen, dass gesagt wird, dass al-Ghazālī zwei verschiedene Arten von Werken geschrieben hat, da Frank und Marmura sich in ihrer Interpretation auf dieselben Texte stützen. Griffel beschreibt nun im Anschluss daran sein Anliegen:
Ich habe mich dem Problem der Kosmologie in dem Streben zugewandt, die akademische Sackgasse zwischen den unterschiedlichen Interpretationen, die von Frank und Marmura vorgebracht wurden, aufzulösen. (11)
Er möchte dabei seine Lösung als Synthese der beiden sich scheinbar widersprechenden Positionen verstanden wissen. Und so wie Griffel eine Synthese von Frank und Marmura entwickelt, so habe al-Ghazālī selbst in seiner eigenen Kosmologie eine Synthese von Aschʿarismus und Avicennismus entwickelt. Diese Synthese verdanke allerdings Avicenna sehr viel mehr, da al-Ghazālī als »ein sehr systematischer Denker« das avicennische System bevorzugt habe. Dass und warum diese beiden Pole als die einzigen Optionen erscheinen, wird nicht weiter begründet. Könnte es nicht sein, dass al-Ghazālī gar nicht zu verstehen ist, ohne den Horizont für weitere Alternativen zu öffnen? Griffel verschwendet darauf keinen Gedanken und fasst die seiner Ansicht nach von al-Ghazālī zu einer Synthese gefügten Pole in einem Satz prägnant zusammen:
Durch seine Analyse findet er einen sehr eleganten Weg zur Übernahme von Avicennas deterministischer Kosmologie, während er ein muslimischer Theologe bleibt, der wünscht, Gottes freie Wahl über Seine Handlungen zu bewahren. (12)
Damit ist der Grundwiderspruch bezeichnet als einer zwischen avicennistischer Philosophie mit ihrer deterministischen Kosmologie und muslimischer Theologie mit ihrer Lehre von Gottes Willens- und Handlungsfreiheit. Ohne nun die daraus erfolgende Synthese, über die wir bisher praktisch nichts erfahren haben, in irgend einer Weise näher zu beschreiben, springt Griffel unmittelbar und auf höchst erstaunliche wie bemerkenswerte Weise auf ein anderes Thema über:
al-Ghazālīs Lösung dafür, wie ein Theologe eine deterministische Kosmologie übernehmen kann, ist heute genauso relevant, wie sie es um die Wende des sechsten/zwölften Jahrhunderts war. (12)
Atemberaubend – mit welcher Leichtigkeit hier der Sprung in die Gegenwart vollzogen, zugleich an der Grundkonstellation festgehalten und eine Moral aus der Geschichte gezogen wird! Dann stehen wohl auch heute aschʿaritische Theologie und deterministische Kosmologie und zudem als die einzigen Alternativen zur Wahl? Aber an wen richtet sich die Moral der Geschichte? Wer hat sich denn zwischen Theologie und Wissenschaft zu entscheiden oder nach deren Synthese zu suchen? Doch wohl der aschʿaritische Theologe! Von dem Griffel ja in obigem Zitat spricht: »ein Theologe«. Schwingt Griffel sich hier zum Berater für heutige aschʿaritische Theologen auf, um deren Rückständigkeit durch eine gute Dosis wissenschaftlicher Kosmologie als Moral aus der Geschichte zu heilen, da sie es doch nur dem großen al-Ghazālī gleichtun müssen? Was für ein attraktives Angebot: Theologe bleiben und doch wissenschaftlich und modern sein, endlich Theologie und Wissenschaft versöhnen! Es fällt mir schwer, in diesem Satz etwas anderes zu erkennen, zumal die folgenden Ausführungen von Griffel in die gleiche Richtung weisen:
Moderne Kosmologie ist zu einem Teil der Physik geworden, aber zeitgenössische kosmologische Systeme lassen Raum für die Überzeugung, dass unter Voraussetzung der bestehenden Naturgesetze und einer bestehenden Konfiguration der Energie am Ausgangspunkt dieses Universums – üblicherweise als Big Bang bezeichnet – alle späteren Entwicklungen von subatomaren Teilchen, Atomen, Galaxien, Sternen, Planeten, Leben auf manchen Planeten, Menschheit und sogar mir in der Tat eine notwendige Wirkung des ersten Momentes ist und nicht hätte verändert werden können, wenn der Prozess vor 14 Milliarden Jahren einmal gestartet wurde. (12)
Was soll man dazu sagen? Ein so hohes Konzentrat an populärwissenschaftlichem Gerede in einem Satz – will das wirklich ernst genommen werden? Um alle darin enthaltenen Fest- und Unterstellungen zu erörtern und nach Maßgabe der gegenwärtigen Kosmologie und Wissenschaftstheorie zu berichtigen, bedürfte es vieler Seiten. Einige wenige Bemerkungen seien dennoch getan.
Ist »moderne Kosmologie zu einem Teil der Physik geworden«? Wenn Kosmologie auf physikalische Kosmologie reduziert wird, trifft dies vielleicht zu. Doch käme die Aussage dann nicht ohnehin einer nichtssagenden Tautologie gleich? Unverkürzte Kosmologie steht auch in ihrer modernen Version weiterhin am Schnittpunkt zwischen Physik als Naturwissenschaft und Philosophie. So schreibt Kanitscheider in seinem oben bereits angeführten Standardwerk der wissenschaftlichen Kosmologie:
Die physikalische Kosmologie ist heute eine Teildisziplin der Physik [...] Dennoch ist die Kosmologie nicht einfach eine Anwendung lokaler Naturgesetze, sondern sie ist nach wie vor neben der Welt des ganz Kleinen derjenige Teilbereich der Physik, der die größte Tragweite und das bedeutendste Gewicht für jene philosophischen Fragestellungen besitzt, welche die Menschen seit der Zeit der Vorsokratiker bewegt haben. Gerade in unseren Tagen erhöhter Reflexion und Selbstbewußtheit wollen viele Menschen wissen, welche Stellung sie in diesem immensen Universum eigentlich einnehmen und welchen Grad an Verstehbarkeit die Natur letzten Endes besitzt.
Bernut Kanitscheider, Kosmologie, Stuttgart, 1984, S. 7.
»Nach wie vor«: Denn die Stellung der Kosmologie hat sich gar nicht verändert. Sie lag schon in der griechischen Philosophie an dieser Schnittstelle. Sie war auch in der aristotelischen Philosophie sowohl Teil der Physik als auch der Metaphysik, freilich im aristotelischen Verständnis von Physik als naturphilosophische Bewegungslehre, aus der sich erst sehr viel später die heutige Physik als Naturwissenschaft im modernen Verständnis herausentwickelte.
Und gibt es nur eine moderne Kosmologie in Gestalt des Urknall-Modells, wie Griffel hier vorzugeben scheint? Der Big Bang ist ja nichts weiter als eine durch bestimmte Beobachtungen ausgelöste Hypothese über die Expansion des Universums. Natürlich gibt es eine Vielfalt moderner Kosmologien, auf die näher einzugehen den eh schon strapazierten Rahmen endgültig sprengen würde. Es gibt beispielsweise eine newtonsche und eine relativistische Kosmologie, die sich in fundamentaler Weise unterscheiden. Und beide sind modern. Wie sollte es auch nur eine Kosmologie geben, wenn es nicht einmal nur eine Physik gibt. Die Physik selbst tritt heute in mindestens vier Gestalten, nämlich als newtonsche Physik, Teilchenphysik, Relativitätstheorie und Quantenphysik, in Erscheinung, die nicht nur fundamental verschieden sind, sondern miteinander unvereinbar, da sie sich in vielen Bereichen zu widersprechen scheinen. Eine einheitliche Weltformel ist nicht in Sicht. Die jeweiligen Kosmologien unterscheiden sich entsprechend der Physik, in deren Rahmen sie entwickelt werden.
Das gilt auch für den Begriff des Determinismus, der für Griffel eine so große Rolle zu spielen scheint, dass sich schon der Verdacht aufdrängen könnte, er setze ihn geradezu mit Wissenschaftlichkeit gleich. In jeder Version der Physik nimmt freilich auch der Begriff der Kausalität und damit des Determinismus seine jeweilige Gestalt an. Abgesehen davon, dass zudem die altehrwürdigen Begriffe der Kausalität und auch des Naturgesetzes in der Wissenschaftstheorie der letzten Jahrzehnte immer stärker in Zweifel gezogen worden sind, bis hin zur völligen Verwerfung, also keineswegs einen so festen Boden von Wissenschaftlichkeit bieten, wie Griffel sich versprechen zu können meint, hat der Indeterminismus durch die Quantenphysik Einzug ins Herz der Physik selbst gehalten.
Sind wir mit diesen Bemerkungen, die doch nur spärliche Andeutungen auf einem riesigen Feld bieten können, gleichwohl allzu weit vom eigentlichen Thema abgewichen? Ich meine nein, wenn wir sehen, was Griffel folgen lässt:
Als ein Theologe hätte al-Ghazālī diese deterministische Aussage akzeptiert. (12)
Da stockt nun wahrlich der Atem! Aber wenn wir uns schon auf das Spiel einlassen, wie ein in die Gegenwart gebeamter al-Ghazālī auf »diese deterministische Aussage« reagiert hätte, möchten wir der Griffelschen Synthese eine andere Antwort entgegensetzen. Denn wir meinen, er hätte ungefähr das erwidert, was wir in den obigen Bemerkungen notdürftig anzudeuten versucht haben. Er hätte, seiner kritischen Verfahrensweise treu bleibend, zuerst einmal die Frage aufgeworfen, ob die Aussagen seines Kontrahenten, der ihn zur Übernahme einer bestimmten Position, in diesem Fall einer deterministischen Kosmologie, bewegen möchte, sinnvoll und begründet sind. In beiden Hinsichten hätte er allerlei Gründe für Zweifel gehabt. Der Aussage hätte er gutem hermeneutischem Brauch gemäß Sinn zu verleihen versucht, um sie sodann nach dem Kriterium zu überprüfen, ob sie ihren eigenen Maßstäben zufolge begründet ist. Dabei wäre er auf vielerlei Probleme und sogar Widersprüche gestoßen, von denen manche in unseren dünnen Bemerkungen erkennbar sind. Spätestens da hätte sich ihm die Frage aufgedrängt, warum er wohl diese auf so schwächlichem Grund ruhende Position übernehmen sollte, da überdies der Verdacht keineswegs unbegründet ist, dass sie ganz grundlegenden Voraussetzungen und Annahmen widersprechen könnte, die in der islamischen Offenbarung enthalten sind, zu der er sich nach wie vor bekannte.
Zu guter Letzt seien noch die Sätze angeführt, mit denen Griffel diesen Abschnitt beschließt und in denen es ihm gelingt, den modernen Big Bang mit dem aristotelischen ersten Beweger über alle himmelschreienden Abgründe hinweg in eins zu setzen und al-Ghazālī als »seine deterministische Sicht des Universums« zu unterschieben:
In der Tat war seine (al-Ghazālī) Sicht des Universums ziemlich gleich, wenn auch definiert durch die Parameter von Ptolemäus‛ geozentrischem Kosmos, in dem der Anfang der Welt nicht durch den Big Bang markiert ist, sondern durch das primum mobile (falak al-aflāk), die äußerste, sternlose Sphäre und den Intellekt, der sie regiert. Doch trotz seiner deterministischen Sicht des Universums vertrat al-Ghazālī unermüdlich die Auffassung, dass Gott frei handelt und dass Er der einzige »Macher« oder Wirkursache im ganzen Universum ist. Jedes Ereignis, sogar das Schlagen des Flügels einer Mücke, ist von Ihm gewollt und erschaffen. (12)
Um nicht den Rahmen völlig zu sprengen, wollen wir vorerst auf weitere Kommentare verzichten und zusehen, wie Griffel seine These weiter zu entfalten und zu begründen versucht.
7.4 Zum Leben al-Ghazālīs: Erstes Hindernis
7.4 Zum Leben al-Ghazālīs: Erstes Hindernis Yusuf KuhnZu Beginn des ersten Kapitels über al-Ghazālīs Leben macht Griffel nochmals deutlich, wogegen sich seine Darstellung richtet:
Jeder Student der Islamwissenschaften weiß, dass al-Ghazālī am Höhepunkt seiner Karriere seine prominente Lehrstelle verließ und ein Sufi wurde. In seiner Autobiographie Der Erretter aus dem Irrtum (al-Munqidh min al-ḍalāl) präsentiert al-Ghazālī diese Transformation in recht dramatischen Worten. [...] al-Ghazālīs beredte Abkehr in seiner Autobiographie von gewissen Einstellungen, die er früher in seinem Leben eingenommen hatte, hat immer die Phantasie angeregt. Zu verschiedenen Zeiten in seiner Karriere wurde al-Ghazālī betrachtet als ein Sufi, ein mutakallim, der die falsafa widerlegte, und, zu einem gewissen Maße, als ein echter Philosoph, der sich philosophischen Lehren anschloss. (19)
Auffällig ist, dass Griffel die These, die er dagegen selbst vertreten möchte, nicht mehr ausdrücklich zur Sprache bringt. In der Einführung ist sie uns bereits in verschiedenen Versionen begegnet. Aber irritierend ist, dass sie, soweit ich sehe, in diesem Kapitel nicht mehr ausgesprochen wird. Es wird dadurch nicht ganz klar, wofür Griffel letztlich argumentiert. Wir wollen gleichwohl die Frage stellen, ob er über die Argumente in der Einführung, die wir bereits besprochen haben, hinaus weitere Argumente zur Begründung der in der Einführung vorgebrachten These anführt, dass al-Ghazālī von Anfang an, stets und unveränderlich ein avicennistischer Philosoph im Gewand eines Theologen gewesen sei.
Bei meiner Durchsicht des Kapitels ist es mir indes bei aller Mühe nicht gelungen, weitere und weiterführende Gründe für diese These zu finden. Alles scheint sich im Rahmen des bereits in der Einführung Gesagten zu bewegen. Auch darin gab es ja schon einige Versuche, den Lebenslauf al-Ghazālīs in einzelnen Punkten zu berichtigen. Sie sind allerdings für die zentrale These nicht von entscheidender Bedeutung, da sie lediglich den zeitlichen Verlauf betreffen und die wesentlichen Ereignisse selbst unberührt lassen. Sollte beispielsweise al-Ghazālīs Geburt oder seine Hinwendung zum Sufismus tatsächlich zeitlich etwas vorverlegt werden müssen, so ergäben sich daraus keine wesentlichen Veränderungen. Selbst wenn alle Berichtigungen der Chronologie in einzelnen Punkten, die Griffel vorbringt, angenommen werden müssten, ließe sich damit seine zentrale These nicht stichhaltig begründen. Mehr als eher schwache Indizien lassen sich daraus schlicht nicht gewinnen.
Es erübrigt sich daher eigentlich, näher darauf einzugehen. Wir wollen dennoch ein paar Bemerkungen anfügen, die auf die Argumentationsweise Griffels ein gewisses Licht werfen können. So erwähnt er etwa, wie auch schon in der Einführung, dass al-Ghazālīs Hinwendung zum Sufismus früher stattgefunden haben soll, als letzterer selbst in al-Munqidh angibt:
al-Ghazālīs Autobiographie liefert immer noch den detailliertesten Bericht über die Gründe, die zu seiner plötzlichen Abreise aus Bagdad in Dhū l-Qaʿda 488 / November 1095 führten. Hier sagt er, dass er eine gewisse Zeit vor dem Monat Radschab / Juli dieses Jahres begann, die Schriften solcher Sufis wie al-Dschunayd […] zu studieren. (40)
Dem setzt Griffel nun ein Aussage von Abū Bakr ibn al-ʿArabī entgegen:
Ibn al-ʿArabī spezifiziert, dass sein Lehrer »den Sufiweg [...] angenommen und sich für das, was er erforderte, frei gemacht hatte« im Jahr 486, was grob 1093 entspricht. […] Wenn Abū Bakr ibn al-ʿArabīs Information korrekt ist – und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln – hätte al-Ghazālīs Abkehr von Ruhm und weltlichen Reichtümern und hin zur »Zurückgezogenheit« (ʿuzla) mindestens zwei Jahre, bevor er sein Lehren an der Niẓāmiyya aufgab und nach Syrien aufbrach, begonnen. (42)
Entscheidend für die ganze Argumentation ist freilich der Einschub in Gedankenstrichen »und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln«. Aber stimmt das? Ist es nicht vielmehr so, dass es guten Grund zum Zweifeln gibt, da ja al-Ghazālī selbst etwas anderes behauptet. Hier steht also Aussage gegen Aussage. Wer unter diesen Voraussetzungen sagt, dass es keinen Grund gibt, an der einen Aussage zu zweifeln, hat die andere Aussage implizit bereits entwertet, nämlich zur Falschaussage deklariert. Mit anderen Worten, Griffel gibt damit zu verstehen, dass al-Ghazālī gelogen hat. Dieses Vorgehen liegt ganz auf der Linie, die sich, wie wir gesehen haben, bereits in der Einführung abzeichnet. Mangels stichhaltiger Gründe wird versucht, die Glaubwürdigkeit von al-Ghazālīs Selbstdarstellung grundsätzlich zu untergraben. Und nicht zu vergessen, das Verschieben des Zeitpunktes einer Transformation ändert nichts daran, dass diese stattgefunden hat, was die von Griffel vertretene zentrale These von der keine Veränderung zeigenden Entwicklungslosigkeit al-Ghazālīs nicht nur nicht stützt, sondern dieser sogar nach wie vor widerspricht.
Ein Großteil dieses Kapitels dient denn auch genau diesem Zweck, indem Griffel unermüdlich und unablässig behauptet, dass die verschiedenen Phasen in al-Ghazālīs Lebenslauf gemäß seiner Selbstdarstellung in al-Munqidh wie Krise, Aufbruch, Rückzug, Umkehr, Reue usw. literarischen Mustern und Tropen entsprechen. Diese sollen der Selbststilisierung im Rahmen einer literarischen Fiktion dienen, die al-Ghazālī gewählt habe, um sich selbst in den Rang der großen Vorgänger zu erheben, die ihrerseits diese Stilmittel in Anspruch genommen haben. Kurz gesagt, al-Ghazālī habe in al-Munqidh sein Leben frei erfunden. Noch so häufig wiederholtes Aufzeigen, dass es sich dabei um literarische Muster handelt, ändert indes nichts daran, dass die Darstellung gleichwohl wahr sein könnte. Selbst wenn sich der gesamte Lebenslauf als eine einzige Ansammlung von Tropen erweisen sollte, ist dies noch längst kein Beweis für dessen Falschheit, zumal es sich ohnehin um einen eher typischen Verlauf einer krisenhaften seelischen Entwicklung handelt, wie sie bei vielen Menschen anzutreffen ist, die tiefgreifende Wandlungen ihres Denkens erfahren. Griffel möchte daraus jedoch den Schluss ziehen, dass dadurch al-Ghazālīs Glaubwürdigkeit insgesamt erschüttert ist und somit alles, was in al-Munqidh Griffels zentraler These widerspricht, angezweifelt und unschädlich gemacht werden kann. Aber lässt sich al-Ghazālīs Leben als Hindernis wirklich so leicht aus dem Weg schaffen? Wohl kaum! Dafür erweisen sich die vermeintlichen Argumente einfach als viel zu schwach.
Noch ein letzter Punkt sei erwähnt, der ebenfalls geeignet ist, ein bezeichnendes Licht auf Griffels Vorgehensweise zu werfen. Es hat sich bereits gezeigt, dass Griffel nahelegt, dass al-Ghazālī lügt. Er tut dies indes auch ganz ausdrücklich. al-Ghazālī hatte bei seiner plötzlichen Abreise aus Bagdad als Grund angegeben, zur Pilgerfahrt (hadschdsch) gehen zu wollen. Er ist aber zunächst nach Syrien gereist, um die Pilgerfahrt ein Jahr darauf anzutreten. al-Ghazālīs eigene Beschreibung, auf die sich auch Griffel stützt, lautet so:
Als ich meine Unfähigkeit spürte und meine Entscheidungsfreiheit völlig verlor, suchte ich Zuflucht bei dem erhabenen Gott. Es war die Zuflucht desjenigen, der in seiner Zwangslage keinen Ausweg mehr sah. Er antwortete mir als der, »der den erhört, der in Not ist, wenn er zu ihm betet.« Er erleichterte meinem Herzen die Abkehr von Ruhm und Reichtum, Familie und Freunden. Ich gab den Entschluß vor, nach Mekka abzureisen, während ich heimlich meine Reise nach Damaskus vorbereitete. Dies tat ich aus Furcht, daß der Kalif und alle meine Freunde meine Entscheidung, in Damaskus zu bleiben, erfahren könnten. Deshalb betrieb ich mit allen Kunstgriffen meine Abreise aus Bagdad, während ich entschlossen war, niemals dorthin zurückzukehren.
al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, al-Munqidh min adh-dhalāl. Aus dem Arabischen übersetzt von Elschazli, Hamburg, 1988, S. 44.
al-Ghazālī hat hier wohl zu einer List gegriffen, wie er ja selbst eindringlich beschreibt. Aber hat er auch gelogen? Griffel sagt dies ganz ausdrücklich, wenn er folgende Feststellung über al-Ghazālī trifft:
[…] er log über seine Pläne, bevor er Bagdad in 488/1095 verließ. (48; Hervorhebung von mir)
Man könnte versucht sein, anzunehmen, dass der Text diese Interpretation durchaus hergibt, da Elschazli die entscheidende Wendung übersetzt mit: »Ich gab den Entschluß vor, nach Mekka abzureisen […].« Denn vorgeben bedeutet laut Duden »etwas, was nicht den Tatsachen entspricht, als Grund für etwas angeben«. Doch diese Übersetzung erweist sich als missverständlich oder gar irreführend, wenn man auf den arabischen Wortlaut blickt. al-Ghazālī sagt nämlich adhhartu. Und das Verb adhhara bedeutet keineswegs »etwas tatsachen- oder wahrheitswidrig vorgeben«, sondern »sichtbar machen, erscheinen lassen, aufzeigen, enthüllen, bekannt geben«, um einige Einträge aus Arabisches Wörterbuch von Hans Wehr herauszugreifen. Kein einziger Eintrag verweist auf eine Bedeutung im Sinne von »wahrheitswidrig vorgeben, vortäuschen«. Eine angemessene Übersetzung der betreffenden Wendung wäre daher etwa: »Ich gab den Entschluss bekannt«.
Nun lernt schon jedes Kind, dass es durchaus nicht dasselbe ist, zu lügen und nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Die Moral, auch die islamische, verbietet grundsätzlich das Lügen und verpflichtet dazu, die Wahrheit zu sagen. Sie verpflichtet aber nicht dazu, immer die ganze Wahrheit zu sagen. Wenn al-Ghazālī also sowohl die Absicht hegte, nach Damaskus zu reisen, als auch die Absicht, die Pilgerfahrt zu verrichten, was er ja kurz darauf auch tatsächlich getan hat, was wiederum seine Absicht bestätigt, so kann daraus höchstens geschlossen werden, dass er nur die halbe Wahrheit gesagt hat, keineswegs indes, dass er gelogen hat. Das mag manchen haarspalterisch erscheinen, aber ist so viel Genauigkeit nicht von jeder Argumentation zu erwarten, die ernst genommen werden will und dramatische Konsequenzen nach sich ziehen kann? Mit so schweren Anschuldigungen sollte kein leichtfertiger Umgang erlaubt sein. Gebietet dies nicht auch jede rechte Hermeneutik? Wer solch wichtige Unterscheidungen so leichtfertig übergeht, muss sich die Frage nach seinen eigenen Absichten gefallen lassen.
7.5 al-Ghazālī und falsafa
7.5 al-Ghazālī und falsafa Yusuf KuhnGriffel überschreibt das dritte Kapitel seines Buches mit dem Titel »al-Ghazālī über die Rolle der falsafa im Islam«. Darin werden vor allem zwei Werke al-Ghazālīs behandelt, zunächst Tahāfut al-falāsifa (Inkohärenz der Philosophen) und sodann Faysal at-tafriqa (Das entscheidende Kriterium). Wenn von der These ausgegangen wird, dass al-Ghazālī stets ein, wenn auch verpuppter, aristotelischer Philosoph gewesen sei, ist es freilich erstaunlich zu sehen, dass er ausgerechnet die aristotelische Philosophie so energisch und tiefgründig kritisierte. Wir wollen zusehen, wie Griffel das zu vereinbaren versucht.
Tahāfut al-falāsifa
Griffel beginnt damit den Tahāfut als »Beginn einer bedeutenden Entwicklung in der mittelalterlichen Philosophie« (97) zu bezeichnen. Wir wollen davon absehen, ob es sinnvoll ist, denn Begriff des Mittelalters, der schon im Rahmen der europäischen Geschichte so viel berechtigte Kritik auf sich gezogen hat, auf die islamische Geschichte zu übertragen. Welche Entwicklung ist gemeint? Griffel erläutert:
Mit seiner Veröffentlichung begann die besondere neoplatonische Auslegung des Aristoteles, die sich in der Spätantike herausbildete und das Mittelalter bis ins vierzehnte Jahrhundert dominierte, von dem herausgefordert zu werden, was später als Nominalismus bekannt wurde. (97)
In dieser Aussage stecken verschiedene Thesen. Auf die fragwürdigen philosophiehistorischen Annahmen wollen wir nicht näher eingehen. So bleiben zwei zentrale Feststellungen. al-Ghazālīs Kritik richtete sich erstens gegen »die besondere neoplatonische Auslegung des Aristoteles«. Soll damit gesagt werden, dass sie nur darauf zielte und eben nicht auf die aristotelische Philosophie selbst? So wäre freilich diese Kritik schon kräftig entschärft, da sie nur noch auf neoplatonische Richtungen und Inhalte bezogen wäre. Sie beträfe allerdings weiterhin Avicenna, den Griffel selbst neoplatonisch geprägt sieht. Das Wort »neoplatonisch« tritt an dieser Stelle zum ersten Mal in Erscheinung und wird nicht näher erläutert. Warum es an dieser Stellt eingeführt wird, bleibt damit ungeklärt.
Und al-Ghazālīs Kritik geschah zweitens im Zeichen des Nominalismus. Was auch immer mit Nominalismus gemeint sein mag, so drängt sich gemeinhin dessen Gegensatz nicht nur zum Neoplatonismus, sondern insbesondere auch zur aristotelischen Philosophie selbst auf. Richtete sich al-Ghazālīs Kritik also doch auch gegen die aristotelische Philosophie? Und wie kann al-Ghazālī als Vertreter nominalistischer Positionen zugleich ein Vertreter von Aristotelismus und Avicennismus sein, wie Griffel doch behauptet? Es muss also gefragt werden, was Griffel unter Nominalismus versteht. Er gibt folgende Antwort:
Nominalismus ist die Position, dass abstrakte Begriffe und Universalien keine unabhängige Existenz von sich aus besitzen. (97)
Das klingt einigermaßen verblüffend, wenn es tatsächlich so gemeint sein sollte. Denn in dieser Kennzeichnung des Nominalismus fehlt zumindest ein entscheidendes Kriterium, das üblicherweise als wesentliches Element desselben gilt, nämlich dass nur individuelle Gegenstände existieren. Griffels Nominalismus, der lediglich die unabhängige Existenz universeller Begriffe ausschließt, hätte die Konsequenz, zwar mit einem Platonismus als Begriffsrealismus, der die unabhängige Existenz von Universalien in Gestalt von platonischen Ideen annimmt, unvereinbar zu sein, aber keineswegs mit dem aristotelischen Begriff des Begriffs, der den platonischen Ideen zwar ihre unabhängige Existenz gerade bestreitet, aber die Begriffe in den Einzeldingen verortet. Die Begriffe existieren mithin nicht unabhängig von den Einzeldingen, sondern immer nur in den Einzeldingen, in denen sie als deren Wesen und Entelechie wirksam sind. In diesem knapp skizzierten aristotelischen Verständnis des Begriffs, besitzen mithin »abstrakte Begriffe und Universalien keine unabhängige Existenz von sich aus«, was Griffels Erläuterung des Nominalismus entsprechen würde. Somit wäre diese aristotelische Konzeption als nominalistisch zu bezeichnen.
Wollte Griffel nur eine Erläuterung dessen geben, was gemeinhin unter Nominalismus verstanden wird? Oder ist es wirklich so gemeint, wie es da steht? Vielleicht ist es nur eine ungenaue Formulierung oder ein Versäumnis. Es ist allemal bemerkenswert, dass die von ihm gegebene Bestimmung des Nominalismus mit dem aristotelischen Begriff des Begriffs vereinbar wäre.
Jedenfalls stellt Griffel noch einmal ausdrücklich fest:
Wie wir sehen werden, sind viele der von al-Ghazālī verwendeten Argumente nominalistisch. (97)
Wenn der Nominalismus ohnehin mit dem Aristotelismus vereinbar sein sollte, wie ein wörtliches Verständnis seiner Erläuterung nahelegen würde, ergäbe sich daraus unmittelbar also kein Problem für Griffels These. Denn es ließe sich in der Tat sagen, dass al-Ghazālīs Kritik lediglich gegen neoplatonische Positionen gerichtet ist. Das wäre allerdings um den Preis einer ausgesprochen eigentümlichen Definition des Nominalismus erkauft, die sich kaum ernstlich aufrechterhalten lässt.
Haben wir Griffel hier also missverstanden, da sich diese Interpretation als recht unwahrscheinlich erweist? Dann allerdings muss sich seine Argumentation folgende Frage gefallen lassen, die sich mit aller Wucht stellt: Wie kann eine nominalistische Kritik, die an den Fundamenten der aristotelischen Philosophie selbst rührt, nämlich an ihrem Begriff des Begriffs und des Wesens, also ihrem Herzstück, gleichwohl mit ebendieser aristotelischen Philosophie vereinbar sein? Und diese Frage stellt sich entsprechend für die avicennistische und jede andere neoplatonische Philosophie freilich mit umso größerer Wucht. Diese missliche Konstellation ergibt sich aus der Darstellung der Problemlage, wie sie von Griffel selbst gegeben wird. Darauf und wie dieses Rätsel zu lösen sein könnte, erhalten wir allerdings keinerlei weiteren Hinweis und Aufschluss. Griffel scheint jedenfalls nicht des Bedürfnis zu empfinden, seine Argumentation so weit zu klären, dass sich ein Ausweg aus dieser Sackgasse, in der sich seine Argumentation verfangen hat, erkennen lässt.
Stattdessen wendet sich Griffel nun einem anderen Werk al-Ghazālīs zu, nämlich Maqāsid al-falāsifa (Die Lehren der Philosophen; Griffel übersetzt hingegen: Die Intentionen der Philosophen), und erörtert dessen Verhältnis zum Tahāfut. Meist wird angenommen, dass al-Ghazālī Maqāsid vor Tahāfut geschrieben hat, und zwar als vorbereitende Studie der Lehren der Philosophen, um sich im Tahāfut deren Kritik zu widmen. Dies steht auch im Einklang mit seiner Selbstdarstellung in al-Munqidh. Griffel widerspricht dem, so dass Maqāsid mehr als selbständiges philosophisches Werk erscheint und Tahāfut nicht als dessen Kritik. Wogegen richtet sich dann jedoch die Kritik?
Griffel will zuerst mit einem Missverständnis aufräumen:
al-Ghazālī beschreibt Die Inkohärenz der Philosophen als eine »Widerlegung« (radd) der philosophischen Bewegung. Diese erklärte Haltung hat zu dem wissenschaftlichen Missverständnis beigetragen, dass er sich dem Aristotelismus widersetzte und dessen Lehren verwarf. Seine Erwiderung auf die falsafa war in Wirklichkeit weit komplexer, erlaubte ihm sogar, viele ihrer Lehren zu übernehmen. Mit »Widerlegung« meint er nicht die bloße Verwerfung der philosophischen Lehren, die in diesem Buch erörtert werden. Es ist klar, dass al-Ghazālī in seinem Inkohärenz sich nicht daranmacht, die Falschheit aller – oder auch nur der meisten – philosophischen Lehren, die darin erörtert werden, zu beweisen. […] al-Ghazālīs Ziel ist, zu zeigen, dass die Metaphysik von al-Fārābī und Avicenna »unwissenschaftlich« ist, [..] womit gemeint ist, dass sie nicht von demonstrativen Beweisen gestützt ist. (98)
Davon ist sicherlich vieles richtig. al-Ghazālī war es in der Tat zunächst daran gelegen, die Lehren der Philosophen zu überprüfen, indem er ihre eigenen Maßstäben an sie anlegte. Dabei stellte er fest, dass viele ihrer Lehren diesen Kriterien nicht gerecht werden, also unbegründet sind. Griffel führt dazu weiter aus:
Die Behauptung, dass ihre Lehren auf demonstrative Argumente gegründet sind, ist von Generation zu Generation von Philosophen wiederholt worden, was sie dazu führte, die Behauptung als eine Tatsache zu akzeptieren, die vom Lehrer zum Schüler weitergegeben worden ist. al-Ghazālī hingegen vertritt die Auffassung, dass, wenn jemand, der nicht von der blinden Übernahme (taqlīd) der Autoritäten des Aristoteles und Platon verdorben ist, die Lehren der falāsifa gründlich untersucht, er herausfinden wird, dass die Argumente der falāsifa ihren eigenen Maßstab für apodiktische Beweise (Sing. burhān) nicht erfüllen. Dieser Maßstab wird in ihren eigenen Büchern der Logik, die dem Organon des Aristoteles folgen, dargelegt. (99)
So weit ganz treffend. Ich habe diese Erläuterungen so ausführlich zitiert, um den Hintergrund der Überlegungen möglichst klar aus Griffels Sicht selbst hervortreten zu lassen. Zurück nun zum vorletzten Zitat, in dessen Anschluss er eine entscheidende Wende vollzieht. Denn er fährt dort folgendermaßen fort:
Auch unbewiesene Positionen können dennoch korrekt sein. (98)
Das klingt auf den ersten Blick wie eine unverfängliche Aussage, ja wie eine Selbstverständlichkeit. Aber gilt dies auch im Rahmen der aristotelischen Philosophie? Und darin bewegen wir uns ja doch. Welchen Stellenwert kann eine unbewiesene Behauptung darin einnehmen? Da das aristotelische Denken nach den Regeln der syllogistischen Logik als System aufgebaut ist, bleiben nur zwei Möglichkeiten. Entweder es handelt sich um eine Prämisse, die aufgrund ihrer unmittelbaren Evidenz als absoluter, letzter Grund einer Schlusskette dienen kann – und das ist bei den im Tahāfut erörterten Thesen offenkundig nicht der Fall -, oder es ist eben eine – tja – unbewiesene Behauptung, der in der aristotelischen Philosophie als solche überhaupt keine Bedeutung zukommt, die nur bewiesene Aussagen als Wissen (episteme) anerkennt. Sie ist schlicht nichtig. Und es gäbe daher gar keinen Grund, eine solche Position zu übernehmen, ja sie könnte gar nicht übernommen werden, da dies voraussetzte, dass sie von der aristotelischen Philosophie selbst angenommen worden wäre. Es macht unter diesen Bedingungen also überhaupt keinen Sinn, zu sagen, al-Ghazālī habe Lehren aus der aristotelischen Philosophie übernommen, wenn damit unbewiesene Behauptungen in letzterer gemeint sind. Aber hatte Griffel nicht genau das gesagt? Blicken wir nochmals auf das obige Zitat zurück. Darin heißt es:
Seine Erwiderung auf die falsafa war in Wirklichkeit weit komplexer, erlaubte ihm sogar, viele ihrer Lehren zu übernehmen.
Als aristotelischer Philosoph könnte al-Ghazālī das nicht getan haben, wie sich gezeigt hat. Und darauf wäre Griffel für seine These von al-Ghazālī als verpuppter Philosoph doch angewiesen. Ist ihm das aus den Augen geraten? Man könnte es meinen, wenn man den Fortgang seiner Ausführungen betrachtet, denn es folgt ein weiterer, höchst erstaunlicher Schwenk:
Auch unbewiesene Positionen können dennoch korrekt sein. Ob diese Lehren falsch sind oder nicht, hängt von einem zweiten Kriterium ab: nur wenn diese unbewiesenen Lehren mit dem Wortlaut der Offenbarung inkompatibel sind, muss ihre Wahrheit verworfen werden. (98)
Achtung, möchte man da ausrufen, Sie verlassen den philosophischen Sektor! Die Wahrheit oder Falschheit dieser Lehren wird somit aus dem Zusammenhang mit der aristotelischen Philosophie herausgelöst, indem sie ohnehin als unbewiesen gelten müssen. Welchen Sinn macht es da, »ihre Wahrheit« zu verwerfen? Das klingt wie eine Karikatur und völlige Verkehrung von al-Ghazālīs Vorgehensweise. In Wirklichkeit geht al-Ghazālī von der Offenbarung aus. Er stößt dann auf Philosophen, die allerlei Behauptungen aufstellen, von denen manche ihm der Offenbarung zu widersprechen scheinen. Womöglich fordern die Philosophen sogar von ihm, seine Auslegung der Offenbarung entsprechend anzupassen. Dem begegnet er mit einer Prüfung dieser Behauptungen nach den Kriterien der Philosophen selbst. Dabei stellt er fest, dass viele dieser Behauptungen unbegründet sind. Damit ist das Problem des vermeintlichen Widerspruchs mit der Offenbarung behoben. Die unbewiesenen Lehren sind mithin als solche entlarvt und unschädlich gemacht. Es geht al-Ghazālī also nie darum, ob »ihre Wahrheit verworfen« werden muss, als würde ihre Wahrheit unterstellt und müsse ihre Falschheit bewiesen werden, sondern schlicht darum, ob der mit ihnen verbundene Wahrheitsanspruch der Philosophen nach ihren eigenen Kriterien erfüllt werden kann. Griffel selbst hat zutreffend festgestellt, dass es al-Ghazālī nicht um den Nachweis der Falschheit dieser Lehren geht. Die Beweislast sieht er nicht bei sich, sondern bei den Philosophen. Und letztere sind mit ihm da einer Meinung, da für sie unbewiesene Behauptungen wertlos sind.
Aber warum kommt Griffel zu dieser ganzen Verkehrung? Er zäumt das Pferd von hinten auf, um diese Lehren der Philosophen aus dem philosophischen Zusammenhang herauszulösen und dennoch ihre Wahrheit zu unterstellen sowie al-Ghazālī zu unterschieben, was er jedoch übernehmen nennt. Das wird noch deutlicher, wenn er zu zweien dieser Lehren, die er beispielhaft anführt, weiter darlegt:
Trotz seiner Kritiken teilt al-Ghazālī diese Positionen; was er angreift, sind die Argumente der falāsifa und nicht ihre Resultate. (98)
al-Ghazālī kommt jedoch zu seiner Kritik nur deshalb, weil er »diese Positionen« eben zumindest zunächst nicht teilt, da sie ihm der Offenbarung zu widersprechen scheinen. Und indem er die Argumente angreift und erschüttert, zieht er den vermeintlichen Resultaten die Gründe weg, auf denen sie angeblich basieren. Damit erweist er diese Lehren eben als unbewiesen. Und wenn er unter diesen Voraussetzungen als Kriterium der Wahrheit die Offenbarung einsetzt, kommt er für den Fall eines Widerspruchs zwischen diesen unbewiesenen Thesen und der Offenbarung zu dem Schluss, dass diese Thesen falsch sind. Und das zudem noch völlig unabhängig von der Frage, was wäre, wenn eine der Offenbarung anscheinend widersprechende These nach den Kriterien der Philosophen, also zum Beispiel der aristotelischen Logik, tatsächlich als bewiesen zu gelten hätte, was zur Thematik des qānūn at-taʾwīl (Regel der Interpretation) führt, auf die wir noch zurückkommen werden.
Aber nehmen wir einmal an, Griffels Beschreibung sei richtig. Was hätte er damit gewonnen? Glaubt er wirklich, al-Ghazālī als Philosophen ausweisen zu können, und das wie immer natürlich auch im Tahāfut, indem er zeigt, dass er Thesen vertreten hat, die zwar auch von Philosophen vertreten wurden, aber in der Philosophie selbst unbewiesen sind? Also selbst dann, wenn er den philosophischen Sektor doch verlassen hat? Dass er dies tut, sagt Griffel ganz ausdrücklich:
Nach Baneth war al-Ghazālīs explizites Ziel, »diese Fragen aus dem Bereich der reinen rationalen Erkenntnis zu entfernen und ihre Antwort einer anderen Quelle der Wahrheit zuzuweisen, nämlich der Offenbarung.« (98-99)
Und ein paar Zeilen weiter heißt es:
Indem er eine ausgewählte Zahl von Lehren in der Metaphysik und den Naturwissenschaften der falāsifa kritisiert, zielt al-Ghazālī darauf ab, Raum zu schaffen für die epistemologischen Ansprüche der Offenbarung. (99)
Sagt Griffel damit nicht genau das Gegenteil seiner eigenen These? Wird man dadurch Philosoph, dass man Auffassungen vertritt, die zwar in der Philosophie als unbewiesen gelten müssen, aber von manchen Philosophen gleichwohl zufälligerweise vertreten werden, und diese Auffassungen auf außerphilosophische Erkenntnisquellen stützt? Wenn al-Ghazālī seine eigenen Lehren auf die Offenbarung und eben nicht auf die »rein rationale Erkenntnis«, also die Philosophie als Erkenntnisquelle stützt, dann spricht er doch als Theologe und nicht als Philosoph, und zwar nach Griffels eigener Aufteilung der entsprechenden Bereiche. Wo bleibt dann die viel beschworene philosophische Theologie? Mir will es beim besten Willen nicht gelingen, diese Aussagen anders zu verstehen als einen eklatanten Widerspruch zur Hauptthese des Buches, wie sie von Griffel in der Einführung in aller Deutlichkeit vorgestellt wird.
Vielleicht lässt sich seinen Beispielen solcher unbewiesenen Lehren wenigstens ein Hinweis darauf entnehmen, was er damit meinen könnte. Er beschreibt al-Ghazālīs Kritik an den Argumenten der falāsifa folgendermaßen, und wir wollen für unsere Überlegung voraussetzen, dass diese Beschreibung richtig ist:
Er (al-Ghazālī) behauptet, dass diese Argumente nicht demonstrativ sind und kein sicheres Wissen über Gottes Einheit begründen […] (98)
Wie ist das zu verstehen? Der Philosoph behauptet, dass es nur einen Gott gibt, kann seine Lehre aber nicht beweisen und daher keine sichere Erkenntnis darüber gewinnen. Diese Erkenntnis lässt sich aber aus der Offenbarung gewinnen. al-Ghazālī »übernimmt« daher die unbewiesene philosophische Lehre und gründet sie in der Offenbarung. Er vertritt daher dieselbe Lehre wie der Philosoph und ist damit ein philosophischer Theologe. Schließlich sprechen beide, Philosoph und Theologe, denselben Satz: »Es gibt nur einen Gott.«
Sollte es wirklich das sein, was Griffel als al-Ghazālīs philosophische Theologie bezeichnet? Nimmt man alles zusammen, was Griffel in diesem Unterkapitel sagt, drängt sich dieser Eindruck tatsächlich auf. Nachdem er die unbewiesene philosophische Lehre schon ausdrücklich aus dem philosophischen Sektor verwiesen und in den Bereich der Offenbarung als Begründungszusammenhang verlegt hatte, wäre es zumindest angebracht gewesen, eine Überlegung anzustrengen, die es plausibel erscheinen lässt, dass die Bedeutung der dabei transponierten Begriffe und Urteile erhalten bleibt. Oder ist es etwas so offensichtlich und keinerlei Begründung bedürftig, dass der Gott der aristotelischen Philosophie identisch ist mit dem Gott der islamischen Offenbarung?
Auf dieser Grundlage meint Griffel nun immer wieder behaupten zu können, dass al-Ghazālī im Tahāfut Lehren kritisiert habe, die er selbst vertreten habe. Nach einer Reihe von Beispielen erläutert er dazu:
In diesen und in anderen Fällen akzeptiert al-Ghazālī die Wahrheit der Lehren der falāsifa, aber verwirft ihren Anspruch, sie durch Demonstration zu erkennen. Diese Dinge werden aus der Offenbarung erkannt, entgegnet er […] Das ursprüngliche Argument der Inkohärenz fokussiert auf apodeixis und den demonstrativen Charakter der philosophischen Lehren, die es widerlegt. Während das Buch die Wahrheit vieler dieser Lehren berührt, »widerlegt« es klarerweise zahlreiche Positionen, deren Wahrheit al-Ghazālī anerkennt oder zu denen er sich in seinen späteren Werken bekannte. In diesen Fällen möchte al-Ghazālī zeigen, dass, obwohl diese besonderen philosophischen Lehren stimmig und wahr sein mögen, sie nicht durch Beweise demonstriert sind. (100-101)
Selbst wenn wir trotz aller Einwände und Bedenken all dies zugeben würden, wäre damit keineswegs erwiesen, dass al-Ghazālī damit eine philosophische Theologie vertreten hat. Ganz im Gegenteil, Griffel selbst hätte somit vielmehr gezeigt, dass al-Ghazālī zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebenslaufes diese Lehren auf der Grundlage der Offenbarung, also eben nicht im Rahmen der Philosophie, sondern der Theologie vertreten hat.
Und es geht sogar noch eine Umdrehung weiter. Laut Griffel hängt al-Ghazālī nämlich einer noch viel weitgehenderen Auffassung an, indem er viele Lehren und Erkenntnisse der Philosophen, die sie im Rahmen der Philosophie nicht zu beweisen vermögen, letztlich auf Offenbarung zurückführt:
al-Ghazālī war der Ansicht, dass viele philosophische Lehren aus Quellen kommen, die von den falāsifa nicht eingestanden werden, in erster Linie aus den zu Abraham und Moses gesandten Offenbarungen, die für die Völker vor Jesus und Muhammad verfügbar waren. […] Die letztliche Quelle des Wissens der falāsifa über Gottes Natur, die menschliche Seele oder die Himmelssphären ist die Offenbarungen, die den frühen Propheten wie Abraham und Moses gegeben wurden. Ihre Information gelang in die Bücher der alten Philosophen, die fälschlich behaupteten, dass sie diese Einsichten durch Vernunft allein gewannen. (100-101)
Damit ist der Schwenk perfekt, so erstaunlich dies erscheinen mag. Griffel selbst vollzieht diese Kehrtwendung. Sie ließe sich mit seinen eigenen Worten vielleicht so formulieren: Von der Theologie, die auf Philosophie gründet und letztlich Philosophie ist, zur Philosophie, die auf Theologie gründet und letztlich Theologie ist. Nicht nur, dass al-Ghazālī sein Denken auf Offenbarung gründet, sondern sogar auch die Philosophie als solche! al-Ghazālīs philosophische Theologie entpuppt sich mithin als theologische Philosophie, ließe sich in ironischer Verkehrung sagen.
Die folgenden Abschnitte dieses Kapitels mit dem Titel al-Ghazālī über die Rolle der falsafa im Islam wenden sich im Anschluss an die sogenannte Fatwa auf der letzten Seite des Tahāfut etwas anders gelagerten Themen über Unglauben und Apostasie, so eine Überschrift, zu, die Griffel nicht in den Kontext der Frage der philosophischen Theologie stellt. Sie enthalten keine weiterführenden Anhaltspunkte für die Frage, wie Griffel seine zentrale These zu stützen versucht. Dies gilt auch für den letzten Abschnitt über al-Ghazālīs Schrift Faysal at-tafriqa (Das entscheidende Kriterium). Außer Hinweisen darauf, dass al-Ghazālī die Prophetologie von Avicenna übernommen habe, die an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden, finden sich keine direkten Bezüge zu den philosophischen Kernfragen, die uns vor allem interessieren. Wir wollen diese Abschnitte daher übergehen und die Suche fortsetzen im nächsten Kapitel mit dem vielversprechenden Titel Die Versöhnung von Vernunft und Offenbarung durch die »Regel der Interpretation« (Qānūn al-taʾwīl). Allerdings muss auch hier festgestellt werden, dass die Darstellung nicht wirklich weiterführend ist. Für eine vertiefte Auseinandersetzung wäre es wohl erforderlich, die verschiedenen Aufsätze, die Griffel zu diesen Themen geschrieben hat, heranzuziehen, was indes an dieser Stelle zu weit führen würde.
al-Ghazālī folgt Aristoteles und den falāsifa in ihrer Ansicht, dass Vernunft (ʿaql) am reinsten und präzisesten ausgeübt wird, indem demonstrative Argumente formuliert werden, die eine Stufe erreichen, auf der ihre Schlussfolgerungen jenseits des Zweifels sind. Er bleibt dem rationalistischen Ansatz, der von Aschʿariten wie auch falāsifa geteilt wurde, treu, dass unser Verstehen der Offenbarung durch das bestimmt wird, was durch Vernunft festgestellt werden kann oder nicht. Im Unterschied zu den falāsifa hingegen nimmt al-Ghazālī an, dass es einen Überschuss an Information auf der Seite der Offenbarung gibt, dem Rationalität nicht entsprechen kann. Seine Regel der Interpretation ist eine Antwort auf diese Situation und macht Raum für die epistemologische Autorität von Qurʾan und sunna. (116)
7.6 Zur Kosmologie al-Ghazālīs: Zweites Hindernis
7.6 Zur Kosmologie al-Ghazālīs: Zweites Hindernis Yusuf KuhnGriffel betrachtet die Interpretation von al-Ghazālīs Kosmologie als entscheidendes Hindernis für das Verstehen seiner Theologie. Sein Lösungsversuch besteht darin, die vermeintlich unvereinbaren Pole, zwischen denen sich diese Interpretation bewegte, als vereinbar zu erweisen und zu zeigen, dass al-Ghazālī selbst genau dies verfolgt habe. Denn okkasionalistischer Aschʿarismus und kausaldeterministischer Avicennismus müssten keineswegs in einem unversöhnlichen Gegensatz stehen. Und al-Ghazālī sei es gelungen, eine Synthese zu schaffen. Griffel behauptet nun, diese Synthese in seiner Lektüre verschiedener Schriften von al-Ghazālī nachweisen zu können und damit zugleich den Streit zwischen Richard M. Frank und Michael E. Marmura, die al-Ghazālī jeweils ausschließlich einem Pol zuordnen wollten, zu schlichten.
Im Gegensatz zu Griffel scheint al-Ghazālī selbst allerdings der Kosmologie keine große Aufmerksamkeit gewidmet zu haben, was Griffel mehrfach hervorhebt. So heißt es etwa:
Es ist wahr, dass es kein Werk gibt, in dem al-Ghazālī seine Kosmologie in klaren und unzweideutigen Worten erklärt. (275)
Das ist indes kein Hindernis für Griffel, der in einer merkwürdigen Gleichsetzung von Kosmologie und Theologie einen Satz darauf schreiben kann:
Aber wenn man seinen Korpus als ein Ganzes betrachtet, ergibt sich ein ganz kohäsives Bild seiner Theologie. (275)
al-Ghazālī schwaches Interesse an der Kosmologie ergebe sich daraus, dass er sich nie zwischen den alternativen Polen entschieden habe:
Die Tatsache, dass al-Ghazālī sich nicht auf eine der beiden Kausaltheorien festgelegt hat, ist ein wichtiges Element seiner Kosmologie. (278)
al-Ghazālī entscheide sich nicht für die eine oder andere Alternative, weil er zu der Auffassung gekommen sei, dass diese Frage auf der Grundlage sowohl der Offenbarung als auch der rationalen Demonstration unentscheidbar sei:
Als er einmal erkannt hatte, dass keine der beiden Hauptquellen seiner eigenen Epistemologie – Vernunft und Offenbarung – die Angelegenheit klären konnte, verlor al-Ghazālī einfach das Interesse an Kosmologie als einer wissenschaftlichen Frage. […] Weil er keine klare Position vorzubringen hatte, erklärte er nie seine Haltung zum Konflikt zwischen Okkasionalismus und sekundärer Kausalität. (122)
al-Ghazālī hat also einfach das Interesse an Kosmologie verloren! Ausgerechnet an dem Thema, das Griffel am meisten auf den Nägeln brennt? Ja, diese schwierige Aufgabe hat al-Ghazālī nämlich seinen Interpreten überlassen, die sich stets in den Fallstricken des Gegensatzes von Aschʿarismus und Avicennismus verfangen haben, bis es Griffel endlich gelang, Licht in die von al-Ghazālī absichtlich dunkel gehaltene Angelegenheit zu werfen. Dies versucht jedenfalls Griffel in den folgenden Kapiteln nach einer allgemeinen Einführung über Kosmologie im frühen Islam durch die Analyse einer ganzen Reihe von einschlägigen Texten al-Ghazālīs zu zeigen. Diesen reichhaltigen und verästelten Studien können wir hier freilich nur in einigen wenigen Aspekten schlaglichtartig nachgehen.
Kausalität
Griffel wendet sich zunächst wieder dem Tahāfut zu, und zwar dessen siebzehnten Kapitel, in dem das Problem der Kausalität verhandelt wird. Es beginnt mit dem berühmten einführenden Satz, der meist als klare Positionierung für den Okkasionalismus verstanden worden ist:
Die Verknüpfung zwischen dem, was gewöhnlich als Ursache, und dem, was gewöhnlich als Wirkung angesehen wird, ist für uns nicht notwendig […]
Siehe Al-Ghazālī, The Incoherence of the Philosophers. A parallel English-Arabic text translated, introduced, and annotated by Michael E. Marmura, Provo, Utah, 1997, S. 170.
Gegenüber der vorherrschenden Interpretation möchte Griffel zeigen, dass damit keineswegs eine Leugnung kausaler Verbindungen gemeint sein muss. al-Ghazālī wollte laut Griffel damit lediglich sagen, dass die Kausalverbindungen, die in der Welt angelegt worden sind und demgemäß darin unlöslich und unveränderlich bestehen, auch anders hätten angelegt werden können. Daher sind, die in der Welt notwendigen Kausalverbindungen aus einer außerweltlichen Perspektive betrachtet gleichwohl kontingent. Griffel legt dar:
al-Ghazālī erkennt an, dass Kausalverbindungen nie anders waren und nie anders sein werden, als wir sie heute erfahren. Aber selbst wenn Kausalverbindungen untrennbar sind und sich nie ändern, sind diese Verbindungen dennoch nicht notwendig. Die Verbindung zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung ist kontingent (mumkin), weil wir uns eine Alternative zu ihrem aktuellen Zustand vorstellen können. Wir können uns eine alternative Welt vorstellen, in der Feuer nicht verursacht, dass Baumwolle verbrennt. Natürlich wäre solch eine Welt wahrscheinlich eine radikal verschiedene Welt von derjenigen, in der wir leben. Doch solch eine Welt kann von unserem Geist vorgestellt werden, was bedeutet, dass sie eine mögliche Welt ist. Es ist daher in der Tat wahr, dass Feuer nicht notwendigerweise das Verbrennen von Baumwolle verursacht. (276)
Aus der Gottesperspektive sind Kausalverbindungen kontingent, da es mögliche Welten gibt, die Gott anstelle der wirklichen Welt hätte erschaffen können. Aus der menschlichen Perspektive hingegen sind sie notwendig, das heißt die Menschen leben in einer kausal determinierten Welt. Und selbst für Gott sind die einmal erschaffenen Kausalketten notwendig und determiniert, wenn er gewissermaßen seinen Blick auf eine innerweltliche Perspektive beschränkt. Entscheidend ist also die Vorstellung der möglichen Welt aus der Gottesperspektive. Damit kann in diesem Bild zwar die Welt als in sich kausal determiniert, also mit notwendigen Kausalverbindungen ausgestattet erschaffen werden, aber es bleibt eine kausale (?) Verbindung, die nicht notwendig ist, nämlich die zwischen dem erschaffenden Gott und der erschaffenen Welt, da Gott eben aus der Vielzahl möglicher Welten, die vor seinem geistigen Auge steht, eine andere mögliche Welt für die Erschaffung hätte auswählen können. Und die Welt, die Gott aus dieser Auswahl frei wählt und nach seinem freien Willen erschafft, ist eine kausal determinierte Welt, in der alles gemäß der durch die einmalige Entscheidung gesetzten unveränderlichen Weltordnung mit strengster Notwendigkeit geschieht.
Aber kann al-Ghazālī das wirklich so gemeint haben? Er spricht doch in dem einführenden Satz von der »Verknüpfung zwischen dem, was gewöhnlich als Ursache, und dem, was gewöhnlich als Wirkung angesehen wird«. Kann er damit die Verknüpfung zwischen Gott und der Schöpfung gemeint haben? Die Beispiele, die er sogleich im Anschluss anführt, sind gewöhnliche Beziehungen von Ursache und Wirkung innerhalb der Welt, wie etwa Sattsein und Essen, Brennen und Berührung des Feuers, Heilung und Einnehmen einer Arznei usw. Es geht ihm also um Verknüpfungen dieser Art, die er als nicht notwendig bezeichnet.
Zudem ist es al-Ghazālī ein wichtiges Anliegen, die Kausalitätstheorie der Philosophen zu widerlegen, da sie zur Leugnung der Wunder der Propheten führt und darüber hinaus jedes Eingreifen Gottes in das weltliche Geschehen ausschließt. Griffel versucht auf diese und andere mögliche Einwände gegen seine Auslegung Antworten zu finden, die aber meist eher gezwungen und wenig überzeugend wirken. Für eine Erörterung der damit verbundenen zahlreichen Fragen und Probleme ist hier nicht der Raum.
Es sei lediglich noch auf eine Konsequenz, die sich daraus ergibt, aufmerksam gemacht. Griffel selbst stellt dies ausdrücklich heraus. Die Bestreitung jeglicher menschlichen Freiheit geht ihm dabei mit bemerkenswerter Kaltblütigkeit von der Hand. Und er verwendet bei der Beschreibung der Position, die er al-Ghazālī zuschreibt, ein eigentümliches Wir, dessen Bezug ungeklärt bleibt, aber wohl als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Doch wen meint er damit? Sich und die Menschheit? Macht er sich die Position al-Ghazālīs zu eigen? Wem will er sie andienen? Darauf wird noch zurückzukommenn sein. Betrachten wir kurz, wie er im Schlussteil al-Ghazālīs Position noch einmal zusammenfasst und daraus einige Konsequenzen für dieses eigentümliche Wir zieht:
Für al-Ghazālī führt das Fehlen einer Demonstration, die eine der beiden alternativen Kosmologien beweist, zu einer agnostischen Position zu der Art von Verbindung zwischen Ursache und Wirkung. Sie führt auch zu einem kausalistischen Verständnis dieser Verbindungen in allen Kontexten, die nicht mit Kosmologie und Metaphysik verbunden sind. Was immer die korrekte Antwort auf die metaphysische Frage über die kosmologische Natur dieser Verbindungen sein mag, es hat keine Bedeutung dafür, wie wir mit diesen Verbindungen in unserem täglichen Leben umgehen. (278; Hervorhebung von mir)
Und ein paar Sätze weiter fährt er mit noch größerer Deutlichkeit fort:
Es ist irrelevant für uns, ob Gottes Gewohnheit sich in der permanenten Konkomitanz von bestimmten Schöpfungen oder in Ketten von sekundären Ursachen manifestiert; so oder so wären wir unfähig, den Unterschied zu nennen. Wir erfahren eine Welt, die von Ursachen und Wirkungen geprägt ist, und wir sind völlig daran gewohnt, auf diese Ereignisse mit der Terminologie der Wirkursächlichkeit Bezug zu nehmen. Diese Terminologie reflektiert in der Tat, wie Gott möchte, dass wir uns auf diese Ereignisse beziehen. Alle natürlichen Prozesse werden von notwendiger Verursachung beherrscht, wie etwa die Bewegungen der Himmelssphären und auch menschliche Handlungen. Willentliche Handlungen werden durch einen Willensakt und durch ihre zugrundeliegenden Motive verursacht. Die Motive werden durch das Wissen des Menschen und seine oder ihre Wünsche verursacht; und das menschliche Wissen ist das Ergebnis verschiedener Ursachen, von denen die wichtigste der Einfluss des aktiven Intellekts ist, der die sublunare Sphäre beherrscht. Erlösung oder Lohn im jenseitigen Leben ist die kausale Wirkung unserer Handlungen in dieser Welt, so dass wir sagen können, dass unser Schicksal in der nächsten Welt die kausale Wirkung unseres Wissens in dieser Welt ist. Deshalb wird der Erwerb der richtigen Art von Wissen – und Handeln gemäß diesem Wissen – zu einer der wichtigsten Aufgaben für Menschen in dieser Welt. (279; Hervorhebungen von mir)
Dazu gäbe es viel zu sagen. Wir wollen uns auf wenige Bemerkungen beschränken. Vielleicht liegt Griffel richtig, wenn er den gemeinsamen Kern von Aschʿarismus und Avicennismus aus menschlicher Perspektive im Determinismus erkennt. Aber gibt es keine Alternativen? Und warum sollten wir uns dem anschließen? Und warum klingt der Vortrag hier so predigerhaft? Und wenn schon alles determiniert ist, welchen Sinn macht es dann noch von »Aufgaben für Menschen in dieser Welt« zu sprechen? Was würde Griffel sehen, wenn er sich selbst den Spiegel vorhielte? Welcher Sinn käme dann noch einem Buch wie dem Griffels zu? Hätte es nicht lediglich als geistloses Resultat einer ziemlich langen Kausalkette zu gelten? Und welcher Sinn käme der Offenbarung und ihren Geboten zu? Fragen über Fragen, die hier nicht näher behandelt werden können. Aber der Horizont, der durch solche Positionen eröffnet oder besser verdunkelt wird, sollte hiermit wenigstens angedeutet werden.
Der, dem gehorcht wird
Zu den von Griffel in diesem Zusammenhang untersuchten Schriften al-Ghazālīs gehört auch Mischkāt al-anwār (Die Nische der Lichter).
Sie behaupten, daß der Herr derjenige ist, dem dieser Beweger gehorcht.
Ebenda, S. 62.
Doch darauf folgt wiederum eine vierte Gruppe – nämlich »diejenigen, die zu Gott gelangen« -, die erkennt, dass diese Stufe unzureichend ist und die höchste Stufe erklimmt, indem sie einsieht, dass es über »den, dem gehorcht wird« hinaus ein höheres Wesen gibt. Und erst dieses Wesen, das selbst »den, dem gehorcht wird,« erschaffen hat, ist der wahre Herr der Welten.
Griffel interpretiert dies nun derart, dass »der, dem gehorcht wird,« mit dem Gott an der Spitze der Stufenleiter der avicennistischen Kosmologie gleichgesetzt wird, womit zugleich das gesamte kosmische System der falāsifa übernommen werden kann. Dabei wird allerdings an dessen neue Spitze eine Stufe darüber der wahre Herr der Welten, der wahre Gott gesetzt, der dieses deterministische System aus freiem Willen erschaffen hat. Denn so soll die Freiheit Gottes mit der kausalen Notwendigkeit der erschaffenen Welt in Einklang gebracht werden können. Griffel führt dazu aus:
al-Ghazālī ist bereit, die (kosmologischen) Lehren von Avicenna und al-Fārābī zu akzeptieren. […] Im Unterschied zu diesen Philosophen nahm al-Ghazālī jedoch nicht an, dass die Himmelssphären und die vier ursprünglichen Elemente ur-ewig sind. Er glaubte, dass alles zu einem spezifischen Zeitpunkt in der Vergangenheit ins Dasein kam. Alle Dinge im Universum sind als das notwendige Ergebnis der Erschaffung eines einzigen Wesens erschaffen worden. al-Ghazālī bezeichnet dieses Wesen als »den, dem gehorcht wird« (al-muṭāʿ). (278-280)
Zwar geht alles in der Welt mit kausaler Notwendigkeit aus dem Wesen »dessen, dem gehorcht wird,« hervor, aber die Beziehung zwischen Gott und diesem Wesen ist nicht davon bestimmt:
Es ist gleichwohl wichtig zu bemerken, dass das Verhältnis zwischen Gott und dem Gehorchten (al-muṭāʿ) nicht von kausaler Notwendigkeit determiniert ist. Obwohl alle anderen Verhältnisse zwischen Dingen in der Welt kausal determiniert sein mögen, ist es dieses eine Verhältnis definitiv nicht. Für al-Ghazālī ist Gott nicht die Ursache der Welt, sondern ihr Schöpfer. Gott ist ein persönlicher Agent, der frei wählt und der Seiner Schöpfung vorausgeht zum Beispiel. (280; Hervorhebungen im Original)
Bevor wir einen näheren Blick darauf werfen, wie Griffel seine Interpretation entwickelt, wollen wir noch eine besonders prägnante Formulierung der These hören, die er damit zu begründen versucht:
Wenn wir den Schleier-Abschnitt von Die Nische der Lichter untersuchen, sehen wir, wie elegant al-Ghazālī Avicennas Kosmologie seinem eigenen theologischen System eingliedert. Hier entfernt al-Ghazālī Gott aus der Sphäre der philosophischen Analyse und weist Ihm einen Ort zu, der einen Schritt transzendenter ist als in Avicennas Kosmologie. Denn für al-Ghazālī ist das, was Avicenna das Erste Prinzip nennt, lediglich die erste Schöpfung des wirklichen Gottes. Avicennas Gott ist »der, dem gehorcht wird« (al-muṭāʿ), womit gemeint ist der höchste Intellekt, der einen Schritt über dem Intellekt steht, der das primum mobile oder die höchste Sphäre bewegt. Oder, wenn aus der Perspektive der »niedrigeren« Welt, der sublunaren Sphäre darauf geblickt wird: als Avicenna den Kosmos analysierte, gelangte er nur so hoch wie der höchste Intellekt. Er hat nicht verstanden, dass dieser Intellekt selbst lediglich die Schöpfung des wirklichen Gottes ist. (281)
Sehen wir nun zu, wie Griffel diese These am Text zu entwickeln versucht und ob sie tatsächlich mit dem Text in Einklang steht. Dafür müssen wir uns dem neunten Kapitel mit dem Titel »Kosmologie in nach Die Wiederbelebung geschriebenen Werken« zuwenden, und dabei insbesondere den beiden Unterkapiteln die sich mit Mischkāt al-anwār befassen. Das erste trägt den Titel »Die Nische der Lichter: Der Gott der Philosophen als das Erste Erschaffene Wesen«, das zweite »Die Kosmologie der ›Vierten Gruppe‹ im Schleier-Abschnitt von Die Nische der Lichter«.
Griffel charakterisiert Mischkāt al-anwār als »eines von al-Ghazālīs mystischsten Werken«. Was er mit »mystisch« meint, wird, soweit ich sehe, nirgendwo im Buch erläutert. Der Stelle ist zu entnehmen, dass es einen engen Bezug zu »Sufismus« gibt, was allerdings ebenfalls wohl keiner Erläuterung für bedürftig erachtet wird. So bleiben wir ihm begrifflichen Halbdunkel vermeintlicher Selbstverständlichkeiten. Worin sich die wiederholt verwendeten Kategorien Theologie, Philosophie, Mystik und Sufismus unterscheiden, wird nicht aufgeklärt.
Der Schleier-Abschnitt, auf den sich Griffels Interesse konzentriert, ist der dritte und letzte Teil von Mischkāt. Er kann als relativ unabhängig von den beiden anderen Teilen betrachtet werden. al-Ghazālī kommentiert darin einen hadīth, dessen Status nicht ganz klar ist
Bei Gott gibt es siebzig Schleier aus Licht und Finsternis; wenn man sie aufdeckte, so würde die Erhabenheit Seines Antlitzes alles verbrennen, was Sein Blick erfaßt.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 54.
al-Ghazālī beschreibt in seinem Kommentar die mit diesen Schleiern aus Licht und Finsternis verhüllten Menschen. Diese teilen sich in drei Klassen, sie sich je nach der Art des Schleiers unterscheiden: die durch reine Finsternis, die durch eine Mischung aus Licht und Finsternis sowie die durch reines Licht Verhüllten. Die Spannbreite reicht von der niedersten Klasse der »Ungläubigen, die nicht an Gott und den Jüngsten Tag glauben, weil sie überhaupt nicht an das Jenseits glauben«
Griffel gibt den Inhalt von al-Ghazālīs Kommentar folgendermaßen zusammenfassend wieder:
al-Ghazālī zielt darauf ab, die Schleier aus Licht und Finsternis zu erklären, die die Leute daran hindern, zu erfassen, wer oder was Gott ist. Er klassifiziert verschiedene religiöse Gruppen entsprechend der Art von Schleier, die sie daran hindert, die wahre Natur Gottes zu verstehen. (246)
Griffel legt sich damit in seiner Interpretation von Anfang an und ohne nähere Begründung auf einen Weg der Erkenntnis fest, in der näherhin die wahre Natur oder das wahre Wesen des Gegenstandes der Erkenntnis erfasst wird. Das tut al-Ghazālī selbst in dieser Allgemeinheit nicht. Zwar spricht er in bezug auf manche Gruppen ausdrücklich von Erkenntnis, aber eben nicht bei allen. In diesen Fällen wäre im einzelnen zu prüfen, ob es sich tatsächlich um Erkenntnis handelt oder möglicherweise um einen anderen Weg. Auch im hadīth ist davon nicht die Rede, wohl aber von »Verbrennen«. Darauf und auf die Frage, in welchem Verhältnis Erkenntnis und Verbrennen zueinander stehen könnten, geht Griffel hier mit keinem Wort ein. Könnte damit indes nicht etwas ganz anderes als Erkenntnis oder zumindest eine ganz andere Art von Erkenntnis oder Erfahrung gemeint sein? Hebt das Verbrennen womöglich die in der Erkenntnis vorausgesetzte Struktur von Subjekt und Objekt, von Erkennendem und erkanntem Gegenstand auf, wodurch ein radikal verschiedener Bereich eröffnet wird? Darauf wird zurückzukommen sein.
Griffel geht stattdessen sogleich auf die dritte Klasse über, da diese mit Blick auf das Thema der Kosmologie für ihn »von höchstem Interesse« ist. Er erwähnt, dass die Unterteilung der drei Gruppen, in welche die Klasse der durch reines Licht Verhüllten zerfällt, »dem Narrativ von Abrahams Entdeckung vom und Aufstieg zum Monotheismus eng folgt« (246). Den Hintergrund bildet die Schilderung im Koran, wie Allāh den Propheten Ibrahīm (as) durch das Zeigen der Zeichen der Himmel und der Erde rechtleitet. Ibrahīm erblickt nacheinander einen Stern, den Mond und die Sonne und sagt jeweils dazu: »Das ist mein Herr.« Doch da sie allesamt verschwinden, sagt er schließlich: »Ich wende mein Gesicht Dem zu, Der die Himmel und die Erde erschaffen hat, als Anhänger des rechten Glaubens, und ich gehöre nicht zu den Götzendienern.«
Wir können hier nicht in eine Auslegung dieser koranischen Schilderung eintreten. Es sei lediglich angemerkt, dass Griffels Beschreibung als »Abrahams Entdeckung des wahren Monotheismus durch das Studium der Himmel« (247) schon ziemlich voraussetzungsreich ist. Denn in welchem genauen Verhältnis steht hier, was in solchen Ausdrücken wie Entdeckung, wahrer Monotheismus und Studium der Himmel an Voraussetzungen und Bedeutungen bereits enthalten ist, zur koranischen Geschichte? al-Ghazālī seinerseits ordnet den besagten drei Gruppen in aufsteigender Stufenfolge jeweils Stern, Mond und Sonne zu. Bemerkenswert ist, dass sich, gerade wenn wir der Darstellung Griffels folgen, aus dieser Zuordnung ergibt, dass alle drei Gruppen zu den Götzendienern (muschrikūn) gezählt werden. Dies stellt Griffel indes nicht mit aller Deutlichkeit heraus, da er lediglich feststellt:
Nur die vierte Gruppe von Leuten, die nicht verhüllt sind, »diejenigen, die angelangt sind« (al-wāṣilūn), repräsentieren die Stufe derjenigen, die wahrhaft verstehen, wer der Herr ist. Nur diese Gruppe hat ein richtiges Verständnis von Gott (tawḥīd) gewonnen. (247)
al-Ghazālī sagt zunächst, dass es von denen, die durch reine Lichter verhüllt sind, unzählige Arten gibt, um sodann drei von ihnen näher zu beschreiben. Wir führen die Beschreibungen als Hintergrund für die weiteren Erörterungen ausführlich an, ohne indes in die Einzelheiten der oftmals vertrackten Interpretationsprobleme einzudringen, mit denen Griffel bei seinen Versuchen einer Zuordnung der besagten Gruppen zu bestimmten Positionen in der Philosophiegeschichte offensichtlich ringt, da dies an dieser Stelle zu umfangreich wäre. Zur ersten Gruppe heißt es:
Die (Mitglieder) der ersten Gruppe haben die wahre Bedeutung der göttlichen Eigenschaften erkannt und verstanden, daß die Anwendung der Begriffe »Rede«, »Wille«, »Allmacht« und »Allwissen« etc. in bezug auf Gott nicht in derselben Weise wie in bezug auf die Menschen angewendet werden können. Daher vermeiden sie es, Ihn mit diesen Eigenschaften zu bestimmen, sondern nur im Verhältnis zu den Geschöpfen, so wie Moses in seiner Antwort auf die Frage des Pharao: »Was soll das denn heißen, ›Der Herr der Welten‹?« Sie sagen: »Der Herr, der geheiligt wird und über alle solche Eigenschaften erhaben ist, ist der Beweger und Ordner des Himmels.«
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 61-62; vgl. Koran 26:23-24.
Diese erste Gruppe zeichnet sich also dadurch aus, dass sie ein richtiges Verständnis der göttlichen Eigenschaften erworben haben und daher vermeiden, diese in derselben Weise auf Gott wie auf die Menschen zu beziehen. Griffel versteht diese Passage als Verweis auf die Kritik der Aschʿariten an den Muʿtaziliten. Als ihren Herrn nennen sie allerdings den »Beweger und Ordner des Himmels«.
Diese Unzulänglichkeit der ersten Gruppe wird in der Beschreibung der zweiten Gruppe sogleich aufgezeigt:
Die (Mitglieder) der zweiten Gruppe erheben sich über diese (erste), insofern ihnen deutlich ist, daß es mehrere Himmel gibt und daß jeder einzelne Himmel seinen Beweger hat, den man »Engel« nennt, und daß die Zahl der Engel mannigfaltig ist. Sie stehen im gleichen Verhältnis zu den göttlichen Lichtern wie die Gestirne. Außerdem scheint ihnen, daß diese Himmel zu einer anderen Sphäre gehören, durch deren Bewegung sich alle (Körper) einmal pro Tag und Nacht drehen. Der Herr ist also (nach ihrer Meinung) der Beweger des äußersten Himmelskörpers, welcher alle Sphären umfaßt, denn die Vielheit wird bei ihm ausgeschlossen.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 62.
Da diese Gruppe mit der Einsicht in die Mehrzahl der Himmel und der ihnen jeweils als Beweger zugeordneten Engel ausgezeichnet wird, nimmt Griffel an, dass diese Gruppe mit Aristoteles und seinen Nachfolgern identifiziert werden könne, während die erste Gruppe für »die Aschʿariten oder die vor-aristotelischen Philosophen oder vielleicht sogar beide« (250) stehe. Wir wollen seine verzweigten, möglicherweise durchaus aufschlussreichen, aber mitunter relativ weit vom Text wegführenden Spekulationen nicht weiter verfolgen. Die zweite Gruppe ist jedenfalls dadurch gekennzeichnet, dass sie neben der Mehrzahl der Himmel mit ihren jeweiligen Bewegern annimmt, dass der Herr der Beweger des äußersten Himmelskörpers ist. Griffel müht sich sichtlich, seine These zu stützen, dass die zweite Gruppe »die Kosmologie des Aristoteles, wie al-Ghazālī sie versteht,« repräsentiert. Wie ist das Verhältnis der bewegenden Engel zu dem bewegenden Herrn zu verstehen? Bei Aristoteles gibt es in der Tat eine Vielzahl von unbewegten Bewegern. Aber gibt es auch einen herausragenden, ersten unbewegten Beweger? Und wenn ja, wäre der mit Gott zu identifizieren? Würde dies wirklich dem aristotelischen Gottesbegriff entsprechen?
Für Griffel ist diese These so wichtig, weil er meint, daraus ableiten zu können, dass »die Philosophen, die Gott als den Verleiher von Existenz betrachten statt als den ersten Beweger, nämlich al-Fārābī und Avicenna, die dritte und höchste Gruppe derjenigen sind, die von reinem Licht verhüllt sind« (252).
Die Kritik der nächsten Gruppe setzt an der Gleichsetzung dieses ersten Bewegers mit dem Herrn an, wie al-Ghazālī beschreibt:
Die (Mitglieder) der dritten Gruppe erheben sich über jene und sagen: »Das unmittelbare Bewegen der Körper soll ein Dienst für den Herrn der Welten, eine Anbetung und Gehorsamkeitsbezeugung durch einen seiner Diener sein, den man ›Engel‹ nennt und der im gleichen Verhältnis zu den reinen und göttlichen Lichtern steht wie der Mond zu den sinnlich wahrnehmbaren Lichtern.« Sie behaupten, daß der Herr derjenige ist, dem dieser Beweger gehorcht. Der erhabene Herr wird durch seinen Befehl, nicht aber unmittelbar zum Beweger aller Dinge. Über die Einzelheiten dieses Befehls und seine Beschaffenheit herrscht Unklarheit; der Verstand der meisten (Menschen) reicht nicht aus, dieses zu begreifen, und es würde auch den Rahmen dieses Buches sprengen.
Ebenda, S. 62.
Den Beweger, den die zweite Gruppe als Herrn ansieht, betrachtet die dritte Gruppe als »Diener, den man ›Engel‹ nennt«, als Diener also des wahren Herrn, »dem dieser Beweger gehorcht«. Und dieser Herr der dritten Gruppe wird bezeichnet als »der, dem gehorcht wird,« der Gehorchte (al-mutāʿ). Er führt die Bewegung nicht unmittelbar aus, sondern vermittelt über den Befehl (amr), mit dem er dem bewegenden Diener gebietet. al-Ghazālī selbst vermeidet es, auf das Wesen dieses Befehls näher einzugehen. Griffel müht sich gleichwohl, diese Unklarheit auf die Spur seiner These zu bringen:
Es gibt mehrere Weisen, zu verstehen, was dieser »Befehl« sein könnte. Die jüngeren Philosophen könnten ihn beispielsweise verstehen als den Befehl, zu existieren: »Sei!« (Koran 6:73). Diese Idee gleicht dem, was al-Fārābī tat, als er Aristoteles‛ Verursachung durch Bewegung in eine Verursachung durch Sein entwickelte. Desgleichen charakterisiert Avicenna Gott nicht als einen Beweger, sondern als das Wesen, das Seiner Schöpfung Existenz (wudschūd) verleiht. Doch nach al-Ghazālī sind auch diese Gelehrten – al-Fārābī, Avicenna und ihre Nachfolger – fehlgeleitet. (252)
Von all dem ist bei al-Ghazālī nicht die Rede. Und es ist auch nicht leicht einsehbar, warum dieser relativ einfache philosophische Gedanke, den Griffel in wenigen Worten darzustellen vermag, nicht auch von al-Ghazālī ausgesprochen werden könnte, der dies allerdings ganz anders zu sehen scheint. Statt sich lange damit aufzuhalten, geht al-Ghazālī sogleich zur nächsten Gruppe über, die als »diejenigen, die zu Gott gelangen« auch über den durch die reinen Lichter Verhüllten stehen und die Anschauungen selbst von deren höchster Gruppe einer scharfen Kritik unterziehen:
Nur diejenigen, die zu Gott gelangen, bilden eine vierte Gruppe. Ihnen ist klar geworden, daß derjenige, dem gehorcht wird, mit einer Eigenschaft ausgezeichnet ist, die der reinen Einzigkeit und dem höchsten Grade der Vollkommenheit widerspricht, und zwar wegen eines Geheimnisses, dessen Enthüllung den Rahmen dieses Buches übersteigen würde. Die Stellung desjenigen, »dem gehorcht werden soll«, gleicht der Stellung der Sonne inmitten der Lichter. Sie (die zu Gott gelangen) schreiten von demjenigen, der den Himmel bewegt, und von demjenigen, der den äußersten Himmelskörper bewegt, und von demjenigen, der befohlen hat, sie zu bewegen, zu demjenigen hin, der den Himmel, den äußersten Himmelskörper und auch denjenigen geschaffen hat, der befohlen hat, sie zu bewegen.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 62-63.
Der Herr der dritten Gruppe, also in Griffels Interpretation der Gott der Philosophen wie al-Fārābī und Avicenna erweist sich als »mit einer Eigenschaft ausgezeichnet [...], die der reinen Einzigkeit und dem höchsten Grade der Vollkommenheit widerspricht, und zwar wegen eines Geheimnisses«. Was mag damit gemeint sein? Was scheint in diesen so scharf wie dunkel klingenden Worten auf, mit denen al-Ghazālī den Gipfelpunkt seines Werkes mit kaum zu überbietender Dramatik einleitet?
Griffel geht darüber – zunächst? – einfach hinweg, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Er verweist lediglich auf den Vergleich des Gehorchten mit der Sonne in der Abraham-Geschichte und die Herabstufung des »Gottes der Philosophen«:
al-Ghazālī sieht den Gott von Philosophen wie al-Fārābī und Avicenna, die glauben, dass diese Welt aus Gott gemäß Seiner Natur emaniert, bloß als ein Geschöpf des wirklichen Gottes. Der wirkliche Gott ist der Schöpfer des Wesens, das die falāsifa für Gott halten. (253)
Darin erkennt Griffel nun den Keim der Kosmologie der vierten Gruppe, die »wahre Einsicht in die Natur Gottes besitzt« (253), und schreibt diese Kosmologie al-Ghazālī selbst zu:
al-Ghazālīs wahre Kosmologie beinhaltet zwei Hauptelemente: er eignet sich erstens die Kosmologie von al-Fārābī an, mit all ihren Sphären, Bewegern und ihrem Ersten Wesen, eine Kosmologie, die auch Avicenna übernommen hatte. al-Ghazālī fügt zweitens und entscheidend zu ihr eine weitere Schicht der Schöpfung hinzu. Das Wesen, das in al-Fārābīs und Avicennas Kosmologie anderen Existenz verleiht und dem von den Bewegern der Sphären gehorcht wird (muṭāʿ), ist die erste Schöpfung des wirklichen Gottes. Der wirkliche Gott tut in der Tat wenig mehr, als denjenigen, dem gehorcht wird, zu erschaffen und kontinuierlich Sein in ihn zu emanieren. Derjenige, dem gehorcht wird, vermittelt Gottes schöpferische Tätigkeit und konvertiert sie in »den Befehl« (al-amr), durch den die Schöpfung der Himmel und der Erde sich entfaltet. (253)
Wir haben dies so ähnlich schon öfter gehört, und Griffel wiederholt auch im weiteren Verlauf dieses Kapitels diese These immer wieder in leicht abgewandelten Formulierungen. Aber kann er dies auch durch den Text belegen? Worauf stützt er sich dabei genau? Gibt es denn überhaupt eine Kosmologie der vierten Gruppe? Kann dies wirklich aus dem Text abgeleitet werden? Bisher stützt sich seine Interpretation doch wohl in erster Linie oder gar ausschließlich auf folgenden Satz, den wir bereits angeführt haben:
Sie (die zu Gott gelangen) schreiten von demjenigen, der den Himmel bewegt, und von demjenigen, der den äußersten Himmelskörper bewegt, und von demjenigen, der befohlen hat, sie zu bewegen, zu demjenigen hin, der den Himmel, den äußersten Himmelskörper und auch denjenigen geschaffen hat, der befohlen hat, sie zu bewegen.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 63.
Das heißt verkürzt: Sie schreiten vom Beweger und Befehler zum Erschaffer des Bewegers und Befehlers hin. Drückt sich in dem Hinschreiten von dem einen zum anderen eine Kontinuität aus oder vielmehr ein Bruch? Was wird dabei übernommen? Was verworfen? Das lässt sich daraus nicht mit Bestimmtheit entnehmen.
Griffel selbst übersetzt diesen für seine Interpretation maßgeblichen Satz folgendermaßen:
Therefore, they have turned their faces from the one who moves the heavens [i.e. the Lord of the second group] and from the one who commands their movements [i.e. the Lord of the third group] to the one who created the heavens and who created the one who gives the command (al-āmir) that the [heavens] are moved. (253)
Die entscheidende Wendung lautet also wörtlich übersetzt: Sie haben deshalb ihre Gesichter von dem einen zu dem anderen gewendet. Mit Griffels eigener Übertragung lässt sich die Behauptung der Kontinuität eher noch schlechter belegen. Im Hinschreiten liegt vielleicht noch mehr Kontinuität als im Wenden der Gesichter. Jedenfalls lässt sich daraus allein die Kontinuität, die für die These von der Übernahme der gesamten Kosmologie erforderlich wäre, nicht einmal annähernd begründen.
Und weshalb wenden sie eigentlich ihre Gesichter von dem Gehorchten ab? Der Grund dafür wird im fast unmittelbar voranstehenden Satz genannt, der hier ebenfalls nochmals angeführt sei:
Ihnen ist klar geworden, daß derjenige, dem gehorcht wird, mit einer Eigenschaft ausgezeichnet ist, die der reinen Einzigkeit und dem höchsten Grade der Vollkommenheit widerspricht, und zwar wegen eines Geheimnisses, dessen Enthüllung den Rahmen dieses Buches übersteigen würde.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 62-63.
al-Ghazālī eröffnet also die Beschreibung der vierten Gruppe, indem er einen scharfen Bruch markiert. Wenn wir zudem den näheren Kontext berücksichtigen, aus dem sich ergibt, dass die dritte Gruppe zu den Götzendienern (muschrikūn) gehört, worauf bereits hingewiesen wurde, ihre Position also in den Bereich des schirk (Götzendienst) fällt, können wir den Hinweis auf den Widerspruch mit »der reinen Einzigkeit« so verstehen, dass ihre Position also dem tawhīd widerspricht (ich lasse tawhīd unübersetzt, da dessen Bedeutung für al-Ghazālī erst im Anschluss zu klären ist). Da ist die Frage doch wohl berechtigt, ob al-Ghazālī es sich hier so einfach macht, wie Griffel vorgibt: zum ausgemachten schirk eine weitere »Schicht der Schöpfung« hinzufügen! Ist es, wenn man sich al-Ghazālīs Text genau vor Augen führt, nicht recht unwahrscheinlich, dass er so verfahren sollte? Baut er tatsächlich seinen Kosmos wie in einem Bausatz aus vorhandenen Teilen zusammen, indem er ein Element hinzufügt? Gleicht sein Kosmos wirklich einer Matroschka-Puppe? Ist al-Ghazālī wirklich ein verpuppter Avicenna? Die genaue Betrachtung des Textes bis hierher dürfte gezeigt haben, dass Griffel sehr viel stärkere und bessere Argumente vorbringen müsste, um diese These zu stützen oder gar stichhaltig zu begründen. Kann er sie im weiteren Verlauf noch beibringen?
Verfolgen wir mit ihm al-Ghazālīs Text weiter, der nach dem Satz mit dem »Hinschreiten« beziehungsweise »Wenden der Gesichter« fortfährt, die Einsicht »derer, die angelangt sind,« in das wahre Wesen Gottes zu beschreiben:
Und so gelangen sie zu einem Wesen, das über alles erhaben ist, was das Sehvermögen (der Menschen) vor ihnen erblickt hat. Alsdann verbrennt die Erhabenheit seines ersten und höchsten Antlitzes alles, was (äußeres) Sehen und (inneres) Schauen jemals erreicht haben. So finden sie ihn heilig und erhaben über alles, womit wir ihn vorher beschrieben haben.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 63.
Da drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, dass der Bruch noch stärker betont wird. Und Griffel kommentiert diese Stelle nicht weiter. Sieht er nicht, dass diese Sätze im Gegensatz zu seiner Interpretation zu stehen scheinen? Er fragt wieder nicht, was Verbrennen bedeutet. Er fragt nicht, was mit »alles, womit wir ihn vorher beschrieben haben« gemeint sein könnte. Klingt das nicht so, als würde alles, was über den Gott der Philosophen gesagt wurde, nun negiert? Ist dieser Gott nun nicht ein radikal anderes Wesen als der Gott aller vorausgehenden Gruppen? Und was wird da eigentlich verbrannt? Ist es nicht zuletzt auch dieser falsche Gott? Und was bleibt dann von ihm? Kann ihm einfach eine weitere Puppe übergestreift werden, um zum wahren Gott zu gelangen? Fragen, auf die es hier nicht einmal einen Ansatz einer Antwort von Griffel gibt.
Wir wollen trotzdem noch einen Augenblick bei dieser Stelle verweilen. Denn Griffel wählt eine eigentümliche Übersetzung für das, was verbrannt wird, nämlich »burn up everything that the sight and the insight of the theologians (al-nāẓirūn) have perceived«, also: verbrennt alles, was die Sicht und die Einsicht der Theologen wahrgenommen hat«. Warum Theologen? Will er damit das, was verbrannt wird, drastisch einschränken, um die Einsicht der Philosophen davor zu bewahren? Gibt es dafür eine Berechtigung? Griffel sagt nichts dazu. Der Wortlaut spricht nicht für eine solche Einschränkung. Mit nādhirun können Theoretiker aller Art und sogar Schauende ganz allgemein bezeichnet werden. Elschazli verweist in einer Anmerkung auf eine alternative Übertragung, in der es heißt: »das Sehvermögen der Schauenden und ihre Scharfsichtigkeit«
So finden sie ihn heilig und erhaben über alles, womit wir ihn vorher beschrieben haben.
Denn »vorher beschrieben« wurden ja gerade, laut Griffel selbst, insbesondere die Positionen dieser Philosophen.
al-Ghazālī fährt sodann mit seiner Beschreibung der vierten Gruppe fort, indem er darauf hinweist, dass sie in kleinere Gruppen zerfällt, von denen er zwei näher vorstellt (wir wollen darüber hinwegsehen, dass Elschazli den Ausdruck »Mystiker« erläuternd in seine Übersetzung einfügt, da damit eher der Eindruck der Klärung erweckt wird, als wirklich den Sinn zu klären, denn dieser Ausdruck führt durch seine Scheinklarheit vielmehr zur Verdunkelung):
Diese teilen sich ebenfalls auf: Bei einigen wird alles, was sein Blick erfaßt, verbrannt, geht zugrunde und erlischt. Er aber (der Mystiker) bleibt derjenige, der die Schönheit und Heiligkeit wahrnimmt und der sich selbst in seiner eigenen Schönheit erblickt, die er durch die Teilnahme an der göttlichen Anwesenheit (Erscheinung) erlangt hat. Darin gehen die angeschauten Dinge, nicht aber der Schauende selbst zugrunde.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 63.
Es sei vorerst nur festgehalten, dass darin eine niedere Stufe der »Teilnahme an der göttlichen Anwesenheit« beschrieben wird, in der zwar die angeschauten Dinge verbrennen, vernichtet werden, nicht aber das Subjekt des Schauens, der Schauende selbst. Nebenbei bemerkt: Keine Spur davon, dass nur Theologen gemeint sein könnten. al-Ghazālī geht dann zur nächsten und höchsten Gruppe über, die etwas ausführlicher charakterisiert wird:
Eine weitere Gruppe überschreitet jene. Dies sind die Auserwählten unter den Auserwählten. Sie werden durch die Erhabenheit seines Antlitzes verbrannt und von der Macht seiner Herrlichkeit überwältigt, so daß sie zugrunde gehen und in sich selbst erlöschen. Sie nehmen keine Rücksicht auf sich selbst, weil ihr Selbst erloschen ist. Es bleibt nur der Einzige und der Wahrhaftige. Die Bedeutung des Verses: »Alles ist dem Untergang geweiht außer seinem Angesicht« ist für sie ein Schmecken und ein seelisches Erleben geworden. Wir haben darauf im ersten Kapitel verwiesen und erwähnt, wie sie (die Mystiker) den Begriff »Identität« verwenden und wie sie ihn verstanden haben. Dies ist die höchste Stufe derjenigen, die (zu Gott) gelangen.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 63-64.
Die Auserwählten unter den Auserwählten! Und nun werden auch sie, die Schauenden selbst durch die Erhabenheit des göttlichen Antlitzes verbrannt, so dass sie in sich selbst erlöschen: Ihr Selbst ist erloschen (fanāʾ). Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir im Zentrum und Gipfelpunkt von al-Ghazālīs Denken angelangt sind. Sollen wir es philosophische Theologie nennen? Sicher ist, dass hier von einer Kosmologie nicht mehr die Rede sein kann. Denn es bleibt kein Kosmos, kein Schauender, kein Ding, denn alles wird verbrannt außer dem Einzigen (al-wāhid) und Wahrhaftigen (al-haqq). Gleichwohl ist dies für die Auserwählten der Auserwählten zu einem Schmecken (dhawq), zu einem wirklichen »seelischen Erleben« (hāl) geworden. Doch sie sind nicht mehr nach ihrem Erlöschen. Wer schmeckt? Und was? Wer erlebt? Und was? Können diese Fragen überhaupt noch sinnvoll gestellt werden? al-Ghazālī verweist lediglich auf eine Stelle im ersten Kapitel, wo erläutert wird, wie der Begriff der Identität, wie Elschazli ittihād bemerkenswerterweise übersetzt, von ihnen verstanden wird.
Wie interpretiert nun Griffel diese Stelle? Dem Zitat hat er als Einführung folgende Sätze vorangestellt:
Diese höchste Stufe der Einsicht wird gleichgesetzt mit Abrahams Entdeckung, dass sein Herr Der ist, »Der die Himmel und die Erde erschaffen hat«, in Koran 6:79. Er ist die einzige wahre Existenz, und Er ist derjenige, der Seinen Geschöpfen wahrhaft Existenz verleiht. Nur »diejenigen, die angelangt sind,« wissen von Ihm und verstehen, dass Er die einzige Existenz ist. Unter ihnen ist eine Untergruppe derer, die verstehen, dass Er der Einzige ist, der wahrhaft existiert. Diese Erkenntnis führt zu ihrer »Annihilation« (fanāʾ). (254)
Diese Worte finden sich allerdings in der zitierten Stelle nicht. Insbesondere der Ausdruck Existenz kommt überhaupt nicht vor. Es heißt lediglich »es bleibt« (yabqa). Und von der Verleihung der Existenz kann noch weniger die Rede sein, da doch »nur der Einzige und der Wahrhaftige« bleibt. Welchen Geschöpfen sollte da Existenz verliehen werden? Und eben weil nichts ist außer Ihm, führt die Einsicht darein zur »Annihilation«, zur Vernichtung des Schauenden selbst, der sich als nichts und nichtig erkennt.
Griffel führt den Begriff der Existenz wie auch der Existenzverleihung ohne jegliche Begründung ein. Vielleicht hätte er eine finden können, wenn er al-Ghazālīs Verweis auf den Begriff der Identität gefolgt wäre. Denn im Umfeld dieser Stelle lassen sich durchaus passende Aussagen finden, die indes erst einzuordnen und zu interpretieren wären, denn sie stehen dort im Rahmen einer bestimmten Erörterung, deren genauer Zusammenhang mit dem uns hier interessierenden Zitat erst zu bestimmen wäre. Dass es einen engen Zusammenhang gibt, ist freilich nicht zu übersehen. Daher möchte ich die Stelle, die bei Elschazli etwa von Seite 21 bis 25 reicht (der Begriff der Identität findet sich auf Seite 24 und 25), teilweise zitieren, auch ohne in deren nähere Auslegung einzutreten:
Von hier aus steigen die Gnostiker aus der Niedrigkeit der Metapher zu der Höhe der Wahrheit auf. Sie vervollkommnen ihren Aufstieg, und so sehen sie mit eigenen Augen, daß es in der Existenz nichts anderes gibt als den erhabenen Gott, daß »alles dem Untergang geweiht (ist) außer seinem Angesicht (Aspekt)«. Nicht, daß Er zu irgendeiner Zeit vergänglich wäre - vielmehr ist Er derjenige, der vergänglich macht, immer und ewig wird Er nur so vorgestellt. Denn jedes andere außer Ihm ist - wenn man sein Wesen als Wesen betrachtet - reines Nichts. Von dem Aspekt aus betrachtet, unter dem die Existenz von dem Ersten und Wahren zu ihm (d. h. dem Ding) hinströmt, wird es als existent betrachtet, und zwar nicht an sich selbst, sondern von dem Aspekt seines Schöpfers aus (wörtl.: von dem, der es existent macht). So ist das Existente nur der Aspekt des erhabenen Gottes. Jedes Ding hat also zwei Aspekte, einen zu sich selbst und einen zu seinem Herrn. Wenn man es unter dem Aspekt zu sich selbst betrachtet, ist es nichts, aber in bezug auf den Aspekt des erhabenen Gottes ist es existent. Also gibt es kein Existentes außer dem erhabenen Gott und seinem Angesicht (Aspekt). Folglich ist alles dem Untergang geweiht außer seinem Angesicht (Aspekt) - immer und ewig.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 22-23.
Hier treten die Begriffe der Existenz und der Existenzverleihung ausdrücklich auf. Sie stimmen ziemlich gut mit den Aussagen Griffels überein. Es zeigt sich jedoch auch hier, dass letztlich nichts ist außer Gott. Denn die Erkennenden – Elschazli nennt sie Gnostiker – sehen, dass »es in der Existenz nichts anderes gibt als den erhabenen Gott«. Und es folgt sogleich der zentrale Satz, der besonders hervorgehoben sei:
Denn jedes andere außer Ihm ist - wenn man sein Wesen als Wesen betrachtet - reines Nichts.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 22.
Denn jedes andere außer Ihm ist reines Nichts! Also bestätigt sich auch hier, dass es letztlich keine Schöpfung gibt, und damit keinen Kosmos, und ohne Kosmos keine Kosmologie. Das Erlöschen (fanāʾ) ist sodann das Gewahrwerden der eigenen Nichtigkeit des Gewahrenden, der sich so als Nichts erkennt, was schließlich zur Identität oder Vereinigung (ittihād) führt. Die betreffende Stelle zum Begriff der Identität, auf die al-Ghazālī in obigem Zitat verweist, möchte ich ebenfalls anführen, da sie auch ohne nähere Auslegung zum Verständnis der Aussagen in diesem Zitat beizutragen vermag:
Wenn dieser Zustand vorherrscht, wird er in bezug auf denjenigen, der ihn erlebt, »Erlöschen« genannt, ja sogar »Erlöschen des Erlöschens (in Gott)«, weil sein Selbst erlischt und er in seinem Erlöschen (in Gott) erlischt. Denn er empfindet in diesem Zustand weder sein eigenes Bewußtsein noch die Unbewußtheit seines Bewußtseins. Denn wenn er seine Unbewußtheit empfinden würde, hätte er sein eigenes Bewußtsein empfunden. Dieses wird in bezug auf denjenigen, der sich in diesem Zustand befindet, im metaphorischen Sinne »Identität« oder in der Sprache der Realität »Vereinigung« genannt. Hinter diesen Wahrheiten stehen Geheimnisse, deren Erklärung jedoch sehr weit führen würde.
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 25.
Letzterem können wir uns nur anschließen. Kehren wir zur Interpretation Griffels zurück, auf die durch diesen kleinen Ausflug hoffentlich auch etwas Licht fällt. Griffel fährt also nach der Anführung der Beschreibung der Auserwählten der Auserwählten mit seiner Auslegung fort, indem er auch auf die eben zitierte Stelle anspielt:
Annihilation (fanāʾ) - das Ziel der Sufipraxis – ist erreicht, wenn einmal der Gläubige gewahr wird, dass alles Sein Gott ist, alle Handlungen Gottes Handlungen sind und alle Liebe Gottes Liebe ist. Für al-Ghazālī ist Annihilation (fanāʾ) nicht gleichbedeutend mit einer »Vereinigung« (ittihād) mit Gott. »Vereinigung«, so hatte al-Ghazālī zuvor in dem Buch gesagt, ist nur eine Metapher für das Verstehen der wahren Bedeutung von tawhīd, nämlich der Erkenntnis, dass alles Sein Er ist. Im zweiundreißigsten Buch der Wiederbelebung hatte al-Ghazālī bereits klargestellt, dass, wenn die Sufis sagen »Annihilation des Selbst« (fanāʾ al-nafs), sie meinen, auf die Welt zu blicken durch die Augen von jemandem, der die göttliche Einheit wahrhaft versteht (bi-ʿayn al-tawhīd). Dieser Gesichtspunkt beinhaltet die Erkenntnis, dass es in der Existenz nichts anderes als Gott gibt (laysa fīl-wujūd ghayruhu). Es ist falsch, anzunehmen, dass etwas existiert, das nicht Gott ist. Alles, was existiert, (al-wujūd) ist Er. (254)
Für diese Aussagen hätte Griffel, nebenbei bemerkt, wie wir gesehen haben, gar nicht auf al-Ghazālīs Ihyāʾ (Wiederbelebung) zurückgreifen müssen. So ist Griffel in seiner Interpretation denn doch von der Aussage, dass »nur Er wahrhaft existiert und wahrhaft Existenz verleiht«, schließlich zu der viel radikaleren Aussage gelangt, dass »nichts ist außer Gott«, die offenkundig der Einsicht der Auserwählten der Auserwählten sehr viel näher kommt. Damit lässt sich nun die Frage nicht mehr vermeiden, welcher Weg von da aus zur Kosmologie zurückführen mag. Der Kosmos in der Wirklichkeit und die Kosmologie in der Einsicht scheinen verbrannt zu sein. Nichts davon bleibt. Oder doch?
Griffel müht sich, eine Brücke über das Nichts zu bauen. Er setzt mit einer trefflichen Kritik an Ignaz Goldziher ein, um schließlich im Anschluss an Alexander Treiger zwei Begriffe einzuführen, in deren Wechselspiel er den Ausweg zu erkennen vermeint: Monismus und Monotheismus. Aber sehen wir zunächst näher zu, wie er dabei vorgeht. Wir wollen den Absatz vollständig zitieren, da von der darin enthaltenen Argumentation für die Begründung seiner These doch soviel abzuhängen scheint:
In einem Kommentar zu einer kurzen Glaubenslehre von Ibn Tūmart, in der ghazalische Lehren in einer leicht verständlichen Weise wiedergegeben wurden, bemerkte Ignaz Goldziher einst, dass ein »Hauch von Pantheismus« sie durchzieht. Für Goldziher liegt darin die Vorstellung, dass alle Dinge göttlich sind. Eine gründlichere Analyse würde hingegen sagen, dass für al-Ghazālī nicht alle Dinge göttlich sind, sondern vielmehr das Göttliche alle Dinge sind. Das ist nicht Pantheismus, sondern vielmehr Monismus. Alexander Treiger bemerkte, dass Monotheismus und Monismus bei al-Ghazālī einander sehr nahe kommen; Monotheismus verstanden als die Ansicht, dass Gott das einzige Existierende ist, das die Quelle des Seins für den Rest der Existierenden ist, und Monismus verstanden als die Idee, dass Gott das einzige Existierende überhaupt ist: »[D]as monistische Paradigma betrachtet das Verleihen der Existenz als im wesentlichen virtuell, so dass in der letzten Analyse Gott allein existiert, wohingegen das monotheistische Paradigma das Verleihen der Existenz als wirklich ansieht.«
Alexander Treiger, Monism and Monotheism in al-Ghazālı̄’s Mishkāt al anwār, in: Journal of Qur’anic Studies 9 (2007): 1–27, S. 1. Treiger schlussfolgert, dass in al-Ghazālīs Nische der Lichter beide Perspektiven präsent sind. In manchen Passagen ist Gott der Herr und der Schöpfer, und in anderen, wie etwa in derjenigen über die Einsicht »derjenigen, die angelangt sind«, ist Gott das einzige wahre Existierende, während die anderen Existierenden bloß geliehene und metaphorische Existenz besitzen. Diese zwei Perspektiven sollten nicht als bei al-Ghazālī einander entgegengesetzt betrachtet werden; sie ergänzen sich vielmehr gegenseitig. Zum wahren tawhīd zu gelangen, bedeutet, zu einer monistischen Perspektive Gottes zu gelangen. Diese wiederum beinhaltet die monotheistische Perspektive jener Stufen, die ein weniger vollständiges Verständnis von tawhīd darstellen. (254-255)
Kann damit die Brücke über das Nichts gestützt und errichtet werden, ohne die Griffels Argumentation in den Abgrund dieses Nichts zu versinken droht, in dem Kosmos und Kosmologie bereits verschwunden sind? Was bringt dieser lange Absatz nun wirklich an Argumenten? Angesichts der Begründungslast, die auf ihm liegt, um die Positionen, deren Gegensätzlichkeit Griffel zwar zunächst zu überdecken suchte, sich aber schließlich doch als unabweisbar entpuppt zu haben scheint, als miteinander vereinbar zu erweisen, erstaunlich wenig. Zunächst sei bemerkt, dass überhaupt keine textlichen Belege angeführt werden. Der Hinweis auf das Missverständnis als Pantheismus ist zutreffend. Der folgende Abschnitt, der sich auf Treiger bezieht, liefert im Kern allerdings nichts weiter als eine Reformulierung des Problems. Es ist sicher richtig, dass es in Mischkāt beide Perspektiven gibt. Wir haben die jeweiligen Passagen ausgiebig vorgeführt und dabei freilich ihre Widersprüchlichkeit und Unvereinbarkeit hervorgehoben, wie al-Ghazālī dies auch ja auch selbst tut, etwa in dem einleitenden Satz zur Beschreibung der vierten Gruppe. Griffel möchte das Gegenteil behaupten. Dies tut er auch, und zwar in Form eines Appells: »Diese zwei Perspektiven sollten...« Wie? – Tritt nun an die Stelle einer Begründung der bloße Appell, seiner These zu folgen? Aber warum sollten wir dies tun, wo doch nach all dem, was wir gesehen haben, fast alles dagegen spricht?
Ein neues Element, das wir bisher nicht in Betracht gezogen haben, ist gleichwohl hinzugekommen. Es soll wohl Griffels These verdaulicher erscheinen lassen, nämlich die Reformulierung mit dem Begriffspaar Monismus und Monotheismus. Monismus steht dabei, wie Griffel selbst sagt, für den wahren tawhīd in al-Ghazālīs Verständnis. Wofür steht dann Monotheismus? Verbirgt sich hinter diesem Titel mithin nicht die Position, die in al-Ghazālīs Darstellung in den Bereich des schirk (Götzendienst, Mitgötterei) fiel? Wie lässt sich das genau miteinander vereinbaren? Wie lässt sich schirk in tawhīd verwandeln? Indem man ihn Monotheismus nennt? Betrachten wir noch einmal die letzten beiden Sätze, die auf den besagten Appell folgen:
Zum wahren tawhīd zu gelangen, bedeutet, zu einer monistischen Perspektive Gottes zu gelangen. Diese wiederum beinhaltet die monotheistische Perspektive jener Stufen, die ein weniger vollständiges Verständnis von tawhīd darstellen.
Was ist ein »weniger vollständiges Verständnis von tawhīd«? Wenn der Gegensatz von tawhīd schirk ist und »die monotheistische Perspektive« nicht tawhīd ist – wäre sie dann nicht schirk? Diese Begriffe werden hier natürlich immer in dem Sinn verwendet, wie al-Ghazālī das in Mischkāt tut. Kann das al-Ghazālī so leicht und nahezu ohne Begründung unterschoben werden? Gehört das nicht zu dem, was dem Urteil »derjenigen, die angelangt sind,« verfällt, da es »der reinen Einzigkeit und dem höchsten Grade der Vollkommenheit widerspricht«
Widerspricht! Wenn wir Griffels Begriffe in seinem Sinne verwenden wollen, lässt sich dies entsprechend so umformulieren, dass al-Ghazālī ausdrücklich feststellt: Der Monismus widerspricht dem Monotheismus.
Griffel selbst scheint damit verständlicherweise nicht ganz zufrieden zu sein, denn zwei Absätze weiter setzt er noch einmal zum Brückenbau an und liefert, wie wir gleich sehen werden, sogar noch einen Textbeleg nach, um seine These zu stützen. Er schreibt also zunächst:
Diejenigen, die ein richtiges Verständnis von Gott erreichen, kombinieren ein monistisches Verständnis von Gottes Beziehung zur Welt mit dem Monotheismus der falāsifa. Sie haben, das ist am wichtigsten, das philosophische kosmologische System akzeptiert. (255)
Was ein »monistisches Verständnis von Gottes Beziehung zur Welt« sein mag, da es doch gemäß dem so verstandenen Monismus außer dem einen und einzigen Seienden, nämlich Gott, gar keine Welt gibt, und wie dieses Verständnis zudem mit dem »Monotheismus der falāsifa« zu »kombinieren« sein mag, verrät Griffel nicht. Aber er ist sich dessen sicher, was dabei herauszuspringen hat: die Akzeptanz nicht nur der Kosmologie, sondern gar des ganzen »philosophische[n] kosmologische[n] System[s]«.
Aber sehen wir von solcherlei Einzelheiten ab, die Griffels Aufgabe eher zu erschweren scheinen. Dann lässt sich doch auch hier schwerlich etwas anderes herauslesen als eine Reformulierung seiner These. Und das gilt auch für den Rest des Absatzes, vielleicht mit Ausnahme des einzigen Textbeleges, der in diesem Zusammenhang angeführt wird. Griffel nähert sich diesem Beleg an, indem er wiederholt betont, dass die Position der dritten Gruppe bereits ein »nahezu richtiges Verständnis« darstelle, um dann durch ein Zitat aufzuzeigen, dass al-Ghazālī selbst – gegen allen Eindruck eines radikalen Bruches, den der Text vermittelt, wie wir sehr deutlich gesehen haben – in Wahrheit hingegen die Kontinuität herausstreiche. Griffel fährt also fort:
Da die farabischen und avicennischen Philosophen ein nahezu richtiges Verständnis von demjenigen, dem gehorcht wird, entwickelt haben, sind viele Elemente ihrer Lehren über Kosmologie wahr – aber unter der Bedingung, dass es nicht Gott ist, den sie in ihren Lehren beschreiben, sondern den mutāʿ, das höchste erschaffene Wesen. Dieses Nahezu-Verständnis scheint der Grund zu sein, weshalb al-Ghazālī schreibt: »Ihnen [der vierten Gruppe] ist auch enthüllt worden.« Er impliziert, dass die vierte Gruppe viele Lehren der dritten akzeptiert hat, während sie ihre eigene höhere Einsicht integriert, dass alles Sein Gott ist. (255; Einschub in eckigen Klammern und Hervorhebungen im Original)
Es scheint, dass nunmehr die gesamte These der Kontinuität mithin an einem Wort in al-Ghazālīs Text hängt, das Griffel dementsprechend hervorhebt: »auch«. Einen anderen Versuch, sie am Text selbst aufzuweisen, konnten wir jedenfalls trotz aller Mühe bisher nicht ausfindig machen. Dass dies tatsächlich als Begründungsversuch zu verstehen ist, wird ausdrücklich betont in der an das Zitat anschließenden Aussage: »Er [al-Ghazālī] impliziert, dass...«. Damit soll wohl gesagt sein, dass der vierten Gruppe zusätzlich zu den Lehren der dritten Gruppe auch noch weitere Lehren enthüllt worden sind, die durch eine kleine Berichtigung miteinander »kombiniert« werden können. Wir haben den Satz, aus dem Griffel hier lediglich ein unvollständiges Teilstück zitiert, ohne dies deutlich zu kennzeichnen, samt seines Kontextes bereits ausgiebig betrachtet. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass darin nicht Kontinuität, sondern vielmehr ein radikaler Bruch zum Ausdruck kommt, der von al-Ghazālī sogar mit besonderer Dramatik inszeniert wird. Sollte dies völlig verfehlt gewesen sein? Hat Griffel hier doch noch einen Ansatzpunkt für seine These gefunden? Um diese Fragen zu klären, müssen wir den Text noch genauer betrachten. Zunächst sei Griffels englische Übertragung im Wortlaut wiedergegeben:
«To [the fourth group] it has also been disclosed.” (255; Einschub in eckigen Klammern und Hervorhebung im Original)
Es sei beiläufig vermerkt, dass der Punkt am Ende des Satzes innerhalb der Zitatzeichen steht, wodurch der falsche Eindruck entsteht, dass es sich hier um einen vollständigen Satz handele. An anderem Ort, wo Griffel das vollständige Zitat im Zusammenhang anführt, lautet es daher:
It has also been disclosed to them (tajallā lahum ayḍan) that […] (253)
Damit haben wir nun auch die Umschrift des arabischen Textes, der tatsächlich das Wort aydhan enthält, das Griffel mit auch übersetzt. In der Übersetzung von Elschazli hingegen taucht dieses Wort nicht auf. Sie sei zur Erinnerung nochmals angeführt:
Ihnen ist klar geworden, daß […]
al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, Hg. Elschazli, Hamburg, 1987, S. 62.
Selbst wenn Griffels Übersetzung indes richtig wäre, ließen sich kaum so weitreichende Schlussfolgerungen daraus ziehen, wie er es tut und für die Stützung seiner These benötigt. Aber ist sie überhaupt richtig oder zumindest alternativlos? Dass aydhan mit auch übersetzt werden kann, ist zweifellos richtig. Aber hat es auch andere Bedeutungen? Ein Blick ins Wörterbuch bestätigt diese Vermutung. So findet sich im Standardwerk »Arabisches Wörterbuch« von Hans Wehr folgender Eintrag dazu: »auch, gleichfalls; wiederum«. Und »wiederum« hat die Bedeutung »andererseits, dagegen, hingegen«. Und in der Tat findet sich diese Alternative in der englischen Übersetzung des Mischkāt von Gairdner:
But those who ATTAIN make a fourth grade, to Whom, in turn, it has been made clear that this Obeyed-One, if identified with, Allâh, would have been given attributes negative of His pure Unity and perfection, on account of a mystery which it is not in the scope of this book to reveal; […]
Siehe Mishkât Al-Anwar ("THE NICHE FOR LIGHTS") by AL-GHAZZALI, Translation and Introduction by W. H. T. GAIRDNER, S. 171-172, http://www.ghazali.org/books/mishkat/msh18.htm; Großschreibung im Original, Hervorhebung durch Kursivierung von mir.
Gairdner übersetzt aydhan mit in turn (wiederum). Im Zusammenhang also etwa: »Aber diejenigen, die anlangen, bilden einen vierten Rang, dem wiederum klar gemacht worden ist, dass [...]«. Diese Übersetzung von aydhan, die mit dem arabischen Text in jeder Hinsicht völlig in Einklang steht, fügt sich bestens in den Kontext, der allemal einen Bruch nahelegt, während Griffels Übersetzung mit auch als zumindest höchst unwahrscheinlich gelten muss. Damit erweist sich der Versuch Griffels, seine Kontinuitätsthese mit Hilfe dieses Belegs am Text selbst wenigstens eine gewisse Plausibilität zu verleihen, als äußerst schwach, wenn nicht gar völlig haltlos.
Wir wollen uns nicht ersparen, auch noch den Rest des Absatzes zu betrachten, um die Möglichkeit zur Überprüfung zu bieten, ob nicht doch weitere Argumente darin zu finden sein mögen. Griffel fährt also direkt im Anschluss an das oben erwähnte »Nahezu-Verständnis« der dritten Gruppe, nämlich der »farabischen und avicennischen Philosophen«, folgendermaßen fort:
Die dritte Gruppe versteht zum Beispiel, dass die Welt ein Produkt desjenigen, dem gehorcht wird, (al-muṭāʿ) ist und gemäß seiner Essenz erschaffen wird. Die vierte Gruppe verfeinert dieses Verständnis der falāsifa und postuliert, dass die schöpferische Kraft hinter dieser Welt nicht die Essenz desjenigen, dem gehorcht wird, ist. Derjenige, dem gehorcht wird, hat keine Wahl dessen, was zu erschaffen ist, und folgt der Notwendigkeit Seiner (His; sic!) eigenen Natur. Der wahre Gott jedoch ist nicht affiziert (affected). (255)
Mir will es abermals nicht gelingen, darin mehr als eine Ausführung der These zu erkennen, die zumal jeglicher Begründung ermangelt. Griffel scheint nunmehr seinerseits zur Ansicht gelangt zu sein, die Textanalyse erschöpft zu haben. Denn in Ermangelung von Textbelegen im Mischkāt geht er zu anderen Texten al-Ghazālīs über, die allerdings zur Aufklärung der uns hier interessierenden Fragen keinen wesentlichen Beitrag leisten können. Ich möchte lediglich noch auf eine Stelle in diesem Kapitel hinweisen, die mir für Griffels Vorhaben besonders erhellend zu sein scheint. Als Vorwarnung sei gesagt, dass es sich dabei wieder nicht vermeiden lässt, eine weitere Reformulierung seiner Kontinuitätsthese anzuführen, die indes manche neue Aspekte, wenn auch keine Begründung, zu bieten hat. Erläuternd sei vorausgeschickt, dass »der Befehl« (al-amr) dabei, wie Griffel vorausschickt, im Sinne des »platonischen Begriffs der intelligiblen Welt der Formen« oder Ideen verstanden wird. Griffel schreibt also:
In der Kosmologie der falāsifa ist Gott der letztliche Endpunkt aller Kausalketten. In der Nische der Lichter widerspricht al-Ghazālī dieser Ansicht nicht, indem er bereitwillig akzeptiert, dass der Gehorchte (al-muṭāʿ) der Endpunkt aller Kausalketten ist. Wenn »der Befehl« ein Ausdruck für die vollständige Menge der Klassen aller Wesen ist, aus denen die Schöpfung besteht, so beinhaltet seine Kategorie auch die Gesetze der Kausalität. Die immateriellen Universalien determinieren die Beziehung zwischen individuellen Wesen und daher beinhalten sie die Gesetze der Kausalverbindungen. Diese sind die »Naturgesetze« - eine Wendung, die sich nirgendwo in al-Ghazālīs Werk findet -, durch deren Notwendigkeit derjenige, dem gehorcht wird, die Welt regiert und erschafft. (257)
Zu den besagten neuen Aspekten gehört insbesondere der Versuch, aus dem Text des Mischkāt obendrein »die Gesetze der Kausalität« samt der »Naturgesetze« abzuleiten, was offensichtlich ziemlich starke Zusatzannahmen erfordert. Wir müssen dieser Ableitung nicht weiter nachgehen, da bereits gezeigt wurde, dass die Grundlage, auf der sie basiert, recht brüchig ist. Mir war es vor allem daran gelegen, darauf hinzuweisen, wie geschwind aus dieser Schachtel, wenn sie einmal aufgemacht ist, auch noch das ganze Paket von »Naturgesetzen« hervorgezaubert wird. Freilich taucht dieses Wort bei al-Ghazālī nicht auf. Griffel weist immerhin darauf hin. Aber hätte dies nicht Anlass wenigstens zu Nachfragen und Aufklärung sein sollen? Für Griffel jedenfalls nicht.
In diesem ganzen und allumfassenden kausalen Determinismus, den Griffel unermüdlich predigt, gibt es aber einen Punkt, der davon ausgenommen ist, weil er auf ganz besondere Weise – tja, denn doch – »determiniert« ist, wie Griffel direkt im Anschluss betont:
Doch in diesem Modell scheint die unmittelbare Verbindung zwischen dem Gehorchten und Gott vielmehr von Gottes freier Wahl determiniert zu sein als durch kausale Notwendigkeit. (257)
Unterhalb dieses Punktes ist allerdings alles maschinenhaft determiniert. Das gesamte Universum, das Griffel aus dem Schleier-Kapitel des Mischkāt mit geradezu magischen Kräften hervorzieht, ist eine wundersame Maschine, deren huldvolle Erklärung er sich angelegen sein lässt:
Dieses Universum des Schleier-Abschnitts kann wie ein Apparat verstanden werden, der dem gleicht, den al-Ghazālī mit dem Gleichnis der Wasseruhr beschreibt. Gott entwirft (designs) denjenigen, dem gehorcht wird, erschafft ihn und bringt ihn in Stellung und fährt fort, die richtige Menge an »Energie« für den Apparat zu liefern, um seine beabsichtigten Ziele zu erreichen. Der Apparat ist das ganze Universum. Denjenigen, dem gehorcht wird, (al-muṭāʿ) zu erschaffen, ist jedoch ein ausreichender Akt für Gott. Alle weitere Schöpfung folgt mit Notwendigkeit aus diesem erschaffenen Wesen. (257)
Der Gott dieser Maschine »liefert« zwar noch auf unerfindliche Weise »Energie«, aber damit hat sich sein Werk dann auch. Ist das also al-Ghazālīs philosophische Theologie? Oder zumindest seine Kosmologie? Sein Kosmos in Kombination mit seinem welt- und kosmoslosen Monismus? Im Mischkāt? Nach all den ausführlich dargelegten Gründen, die dagegen sprechen, dürften nun starke Zweifel bestehen. Und wenn es Griffel nicht gelingt, den Nachweis für die in immer neuen Anläufen lediglich reformulierte philosophische Theologie zu bringen – wessen philosophische Theologie ist sie dann? Griffels?
Und wenn al-Ghazālī wirklich eine philosophische Theologie haben sollte – welche wäre es dann? Die des Gottes, dem alles zum reinen Nichts wird? Ist das nicht eine durchaus mögliche Interpretation des Textes, die ihm keine Gewalt antun müsste? Dann hätten wir eine Philosophie in der Tradition der Identitätsphilosophie eines Parmenides und somit eine philosophische Theologie in ihrer strengsten und reinsten Gestalt. Hat Griffel sein Ziel also nur verfehlt? War er zu sehr auf Kausalität und Kosmos fixiert, um hinter dieser Welt den wahren, den weltlosen Gott der reinen Identität erkennen zu können? Freilich gäbe es in dieser nichtigen Welt auch keine Naturgesetze, keine Wissenschaften, keine Wissenschaftler...
Unter diesen Umständen kein Wunder auch, dass al-Ghazālī seinerseits das Interesse an der Kosmologie rasch verloren hat. Was wäre auch eine Kosmologie ohne Kosmos von Wert? Bei Griffel schlägt sich dies nur in der Aussage nieder, dass al-Ghazālī sich nicht habe entscheiden können und wollen zwischen einer deterministischen und einer indeterministischen Kosmologie, da er ja beide Modelle zumindest in einem Punkt mit einem Gott des freien Willens vereinbaren zu können vermeinte. Dass die Allmacht, ohne die ein freier Wille machtlos ist und die daher den Aschʿariten so teuer war, zu denen laut Griffel al-Ghazālī trotz oder wegen aller philosophischen Theologie weiterhin zählen soll, dabei auch auf einen Punkt zusammenschrumpft, scheint er im Dienste der Wissenschaft billigend in Kauf genommen zu haben. Akteur ist Gott in diesem Modell genau einmal, wenn er den Gehorchten »in Stellung bringt«. Aber es gibt in der aus dem Gehorchten mit aller Notwendigkeit hervorgehenden Welt gewiss keinen Akteur mehr. Ist es das, was Griffel zum Abschluss seines Buches als Quintessenz eröffnen möchte? Hören wir, was er da zu künden hat:
In meiner eigenen Schlussfolgerung argumentiere ich, dass al-Ghazālīs unentschiedene Position zwischen Okkasionalismus und sekundärer Kausalität nicht als Bruch mit dem Aschʿarismus gesehen werden sollte. […] Die aschʿaritische Epistemologie entwickelte einen nominalistischen Ansatz für menschliche Erkenntnis; und in diesem Sinne ist al-Ghazālī klar ein Aschʿarit.
Dass Gott der einzige Agent in dieser Welt ist, ist eine gemeinsame aschʿaritische These. Beide Interpretationen davon, wie Gott auf Seine Schöpfung einwirkt, sind ein bewusster Versuch, diese besondere Ansicht mit der wissenschaftlichen Erforschung der Welt kompatibel zu machen. […] al-Ghazālīs Hauptziel war, sowohl die Vorstellung von Gottes Omnipotenz als auch den Nutzen der Naturwissenschaft, Medizin und Psychologie zu vermitteln […]. (284-285; Hervorhebungen im Original)
Griffel meint also in der Tat, dass al-Ghazālī zwar unentschieden ist zwischen Okkasionalismus und sekundärer Kausalität, aber gleichwohl ein strikter kausaler Determinist, der die »Naturgesetze« im Dienste der Wissenschaft in Anschlag bringt. Gleich welche Interpretation man wählt, auf jeden Fall passt es zur »Naturwissenschaft«, also zum Ursache-Wirkung-Schema. Das ist das Hauptziel! al-Ghazālīs oder Griffels? Konnte al-Ghazālī überhaupt so denken? Standen ihm die Begriffe zur Verfügung, die Griffel ihm unterschiebt? Und wenn Griffel dabei von Wissenschaft spricht, tut er es in einer Weise, die nur den Schluss zulässt, dass er damit das meint, was er auch heute als Wissenschaft bezeichnet. War al-Ghazālī wirklich so modern?
Ein großes Problem, das Griffel mit Müh und Not überspielt, ist, dass es im Okkasionalismus ja gerade den strengen Begriff von deterministischer Kausalität und Naturgesetzlichkeit in ihrer ganzen Notwendigkeit gar nicht gibt. Daher ist Griffel gezwungen, den okkasionalistisch verstandenen Schöpfungsakt auf einen einzigen Punkt zu begrenzen: ab da kann dann getrost die Maschine laufen!
Ähnliches gilt auch für das, was Griffel kurz darauf zur Seele sagt. Auch hier müssen zwei grundsätzlich verschiedene Begriffe von Seele überspielt werden – angeblich im Dienst einer Ethik, deren Ziel darin bestehen soll, gute Taten zu produzieren. Aber abhängig vom jeweiligen Begriff der Seele ändert auch die Ethik ihre Bedeutung und könnte also auf etwas ganz anderes als »gute Taten« ausgerichtet sein – wie etwa Erkenntnis, Ideenschau oder Denken des Denkens. Da verrät sich Griffels »Argumentation« als Kunstgriff, der nur dank Ausblendung von Komplexität, Gleichmachung des Verschiedenen über Abgründe hinweg und mehr oder weniger gewaltsamer Zurichtung allen Materials nach Maßgabe des vorgegebenen Zwecks vermeintlich zum gewünschten Ziel zu kommen vermag.
Bei aller Suche nach al-Ghazālīs philosophischer Theologie scheint Griffel nur immer wieder seine eigene im Spiegel von al-Ghazālīs Texten wiedererkennen zu können. Dabei unterläuft es ihm, dass er hie, namentlich im Tahāfut, wo es keine philosophische Theologie gibt, seine vorgefertigte philosophische Theologie hineinprojiziert und dadurch die wirklich vorhandene theologische Philosophie übersieht, und da, namentlich im Mischkāt, wo es womöglich eine echte philosophische Theologie gibt, da er einmal mehr seine vorgefertigte philosophische Theologie hineinprojiziert, für diese blind bleibt, obwohl sie dort zu entdecken wäre als Identitätsphilosophie in ihrer strengsten und reinsten Gestalt in der Tradition des Parmenides.
7.7 Und was man heute daraus lernen könnte...
7.7 Und was man heute daraus lernen könnte... Yusuf KuhnDass Griffel einen bestimmten Zweck verfolgt, scheint im Text dieses Buches schon recht deutlich durch. Wer Zweifel daran hat, möge einen anderen Text Griffels lesen, den er als Vortrag an der Universität Osnabrück zur Feier von »900 Jahre al-Ġazālī« gehalten hat. Er trägt den vielsagenden Titel: Al-Ġazālīs Umgang mit der wissenschaftlichen Kosmologie seiner Zeit und was man heute daraus lernen könnte.
Neun Jahrhunderte trennen uns heute von al-Ġazālīs Leben und Schaffen und es scheint zuallererst schwer vorstellbar, dass ein Denker des weit entfernten Mittelalters uns Ratschläge oder Hilfe geben könnte, um mit den unsrigen Problemen umzugehen. (Griffel, Al-Ġazālīs Umgang, 89).
Aus »man« wird flugs »uns«, »wir«. Und das bleibt für den Rest des Textes auch so. Wen mag Griffel damit meinen? Geht daraus hervor, dass er selbst sich dazu rechnet? Was könnte er von al-Ghazālīs »Umgang mit der wissenschaftlichen Kosmologie« lernen? Manchen mag das penibel erscheinen, aber die Frage, wer aus al-Ghazālīs Umgang lernen könnte, ist keineswegs unerheblich. Zumindest setzt sie ja voraus, dass es jemanden gibt, der eines Lernprozesses auf dieser Basis bedarf. Das wiederum lässt indes vermuten, dass Griffel sich in das »Wir« nur aus rhetorischen Gründen einschließt. Die Frage wird weiter zu verfolgen sein.
Und warum sollten »wir« von al-Ghazālī lernen? Er könnte uns »Ratschläge oder Hilfen geben […], um mit den unsrigen Problemen umzugehen.« (89) Das Problem ist also »unser« Umgang mit der Wissenschaft. al-Ghazālī hat »uns« da etwas voraus. Hat Griffel ein Problem mit der Wissenschaft? Welche Wissenschaft betreibt er eigentlich? In seinen Texten nennt er sie manchmal beim Namen, meist so etwas wie »westliche Islamwissenschaft«. Aber dass es ein grundsätzliches Problem im Umgang mit dieser Wissenschaft geben könnte, habe ich keinem der vielen Texte, die ich mittlerweile von Griffel gelesen habe, entnehmen können. Jedenfalls habe ich nirgends grundsätzliche Fragen beispielsweise zur Wissenschaftlichkeit dieser Wissenschaft finden können. Hat sich überhaupt jemand von denen, die diese Wissenschaft betreiben, je solche Fragen gestellt? Es gibt dazu auffällig wenig Literatur. Zur Physik gibt es wissenschaftstheoretische Studien in Hülle und Fülle. Wenn es zur Königin der Wissenschaften ganze Bibliotheken gibt, die deren Probleme behandeln, so muss die Islamwissenschaft wirklich ziemlich unproblematisch sein. Dieser Befund lässt uns die Eventualität praktisch ausschließen, dass Griffel selbst hier eigene Probleme im Umgang mit der Wissenschaft meinen könnte. Nein, er hat nichts von al-Ghazālī zu lernen.
Dann müssen wir die Frage anders stellen: Von wem kann Griffel überhaupt erwarten, von al-Ghazālīs Umgang mit der Wissenschaft lernen zu können oder gar zu wollen? Da schrumpft das Zielpublikum des als rhetorisch erwiesenen »Wir« doch rasch zusammen. Wer hat Probleme im Umgang mit der Wissenschaft und wollte heute noch auf einen muslimischen Religionsgelehrten – Griffel über al-Ghazālī: »einer der einflussreichsten Religionsgelehrten seiner Zeit« (91) – »des weit entfernten Mittelalters« hören? Natürlich seine Kollegen von heute, die Griffel im Laufe des Textes unter verschiedenen Titeln wie »islamische Theologen« (gerne auch: »-innen«), »muslimische Religionsgelehrte« etc. immer wieder ermahnt, dass Wissenschaft »nicht von Religionsgelehrten angezweifelt werden sollte.« (99) Es fällt ihm dabei auch nicht schwer, sich auszumalen, wie al-Ghazālī seinen heutigen Kollegen – um nicht missverstanden zu werden: natürlich nicht den Kollegen Griffels, sondern al-Ghazālīs, nicht den Islamwissenschaftlern, sondern den Religionsgelehrten – begegnet wäre:
[…] und al-Ġazālī hätte wohl nur Hohn und Spott für heutige Religionsgelehrte übrig, die dies weiterhin in Frage stellen. (99)
Hohn und Spott! Dies, was »[s]olche Leute« - so betitelt Griffel im nächsten Satz etwas höhnisch die »heutigen Religionsgelehrten« - weiterhin in Frage stellen, ist übrigens die Wissenschaftlichkeit von »Darvins (sic!) Evolutionstheorie« (99). Mit solcher Infragestellung von Darwins Evolutionstheorie ließen sich gewiss auch ganze Bibliotheken füllen. Und sie wäre keinesfalls immer nur von »solchen Leuten« wie »Religionsgelehrten« verfasst. Da gibt es sehr ernste Problem, die beispielsweise in der Wissenschaftstheorie weithin verhandelt werden. Nicht so für Griffel: auch dafür nur Hohn und Spott?
Aber zurück zu den anfänglichen Problemen, die Griffel näher bezeichnet als »philosophische und theologische Probleme von solcher Art, dass die Zeit sie manchmal nur wenig verändert.« (89) Ja, so etwas mag es geben. Aber wie genau? Und welche? Und welche Zeit? Griffel meint offenbar, wie aus seinen Beispielen hervorgeht, vom antiken Griechenland über das, auch islamische, »Mittelalter« bis »heute«. Und er erläutert direkt im Anschluss:
Sicher, oft ändert sich die Terminologie, in der Probleme in diesen beiden Disziplinen diskutiert werden. (89)
Die Wörter ändern sich, aber der Inhalt bleibt gleich – soll das wohl heißen. Doch schon an dieser Formulierung verrät sich das Problem der vermeintlichen Kontinuität. Gab es über diese ganze Zeit hinweg überhaupt diese beiden Disziplinen Philosophie und Theologie, in denen die gleichen Probleme hätten diskutiert werden können? Nehmen wir den Begriff der Wissenschaft hinzu, wird es noch fraglicher. Was ist, historisch und kulturell differenziert betrachtet, unter Philosophie, Theologie und Wissenschaft zu verstehen? Wie können Grenzen gezogen werden? Wie kann das Problem des Verhältnisses von Philosophie und Theologie zur Wissenschaft bestimmt werden, wenn beide Bereiche gar nicht geschieden sind? Handelt es sich wirklich nur um verschiedene Wörter für das Gleiche, wenn griechisch von episteme, arabisch von ʿilm und deutsch von Wissen und Wissenschaft die Rede ist? Und wie ist das Verhältnis von Wissen zu Wissenschaft? Stehen diese Begriffe nicht in ganz unterschiedlichen Begriffsgefügen, die gemeinhin gerne mit griechischen Begriffen wie Metaphysik, Ontologie, Ideologie usw. bezeichnet werden, die ihnen jeweils andere Bedeutungen verleihen, die kaum auf einen Nenner zu bringen sind? Und setzt nicht schon diese Frage einen Begriff des Begriffs voraus, der den Blick für das Denken in seinen verschiedenen Gestalten verstellen könnte? Darf ein Gelehrter oder gar ein Religionsgelehrter solche Fragen stellen, die nicht nur Darwins Evolutionstheorie »weiterhin in Frage stellen«, sondern weit darüber hinaus das Problem der Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft ganz grundsätzlich aufwerfen, ohne Hohn und Spott zu verfallen?
Griffel hat es da leichter, denn er blendet all dies einfach aus. Als Beispiel führt er Sokrates und Darwin an:
Schon einer der ersten uns bekannten Philosophen, Sokrates nämlich, ging der Frage nach, was sicheres Wissen und was nur Vermutung ist. Sein Tasten in den Anfangsgründen der Epistemologie ist, was die Terminologie angeht, verschieden von heutigen Diskussionen darüber, ob es sich z.B. bei Charles Darwins Evolutionslehre um eine Hypothese, Theorie oder um gesichertes Wissen handelt. Dennoch ist die Grundfrage, die Sokrates sich gestellt hat und die wir uns heute stellen, die gleiche. (89)
Die Wörter sind verschieden, die Grundfrage hingegen die gleiche. So einfach kann man es sich machen. Es sei nebenbei bemerkt, dass, wenn wir das Spiel des Zeitsprungs weiter treiben wollen, Darwin wohl schwer beschädigt aus der Begegnung mit Sokrates hervorgegangen wäre, da er auf die sokratische Frage nach dem Wesen des Lebens – wie all die anderen vermeintlich Wissenden, die Sokrates befragte – letztlich nur sein Unwissen hätte bekunden können. Sokrates hatte dies immerhin ihm und allen anderen Wissenschaftlern voraus, sein Wissen des Unwissens. War Sokrates womöglich einer dieser Religionsgelehrten, die »weiterhin in Frage stellen«? Eher nicht, er hat nur einen anderen Begriff des Wissens, der ihn allerdings im Gegensatz zu Darwin durchaus in die höchsten Höhen führen konnte. Diese hat Platon in seinem Gefolge sicherlich erklommen und von dort aus auf das Leben, das Darwin und vielleicht »uns« so teuer ist, als wurmhaft-nichtige Erscheinung verächtlich herabgeblickt. Oder könnte Darwin in Wirklichkeit, nicht anders als diese erhabenen Geister, doch auch ein Verächter des Lebens sein, allemal des menschlichen? Zu Sokrates, Platon und »uns« sagt Griffel:
Es wäre Hochmut zu behaupten, wir wären heute um vieles klüger als Sokrates, oder zumindest als Plato, der uns die Lehren Sokrates’ überliefert hat. (89)
Wenn zutrifft, was da zu Sokrates und Platon gesagt wird, so wird Griffel kaum um diesen Hochmut herumkommen, wenn er die moderne westliche Wissenschaft in Anschlag bringen will. Damit soll nun keineswegs gesagt sein, dass es keine Kontinuitätslinien gibt. Doch diese lassen sich erst recht vor dem Hintergrund der Einsicht in die Differenzen bestimmen. Wer unbedacht von der Gleichheit der Probleme hinter den Wörtern ausgeht, kann die Phänomene nur verfehlen, da er sich von bloß oberflächlichen Ähnlichkeiten leicht irreführen lässt. Dieser Verführung erliegt Griffel offenbar, wenn er sagt:
Oft kommt es darauf an, die Sprache, in der frühere Philosophen und Theologen gedacht haben, in die unsrige zu übersetzen, um wirklich zu verstehen, mit welchen Problemen sie sich beschäftigt haben und welche Lösungen sie anstrebten. Eine solche Übersetzung in die Fragestellung unserer Tage mag dann auch deutlich machen, wie ein z. B. seit neun Jahrhunderten verstorbener Denker uns heute in den Aufgaben unserer Zeit zu Hilfe gehen kann. (89)
Wer voraussetzt, dass der Inhalt gleich ist, muss freilich nur noch Wörter übersetzen. So braucht er sich nicht um begriffliche Hintergründe und Abgründe zu scheren, wenn er episteme in ʿilm in Wissenschaft einfach übersetzen kann. Dann schreibt er fortan einfach nur noch von Wissenschaft – über alle Abgründe hinweg wird so der moderne Begriff von Wissenschaft umstandslos projiziert. Das gilt natürlich auch für die »wissenschaftliche Kosmologie« in al-Ghazālīs Zeit und in »unserer« Zeit. So beschreibt Griffel denn sein Vorhaben:
Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen, eine Übersetzung von al-Ġazālīs Denken über Kosmologie in unsere Zeit zu erstellen. Ich greife dabei auf meine ausführliche Studie über al-Ġazālīs Kosmologie zurück, die vielleicht weiterführend erklären mag, was auf diesen Seiten unklar bleibt. (89-90)
In der besagten Studie schien diese Absicht durch. Hier wird sie ganz ausdrücklich formuliert. Die Hindernisse, die einer solchen Übersetzung im Wege stehen könnten, werden ausgeblendet oder gelangen gar nicht zu Bewusstsein. Probleme sieht Griffel anderswo, wie auch aus der folgenden Selbstbeschreibung hervorgeht:
In jenem Buch habe ich versucht aufzuzeigen, wie al-Ġazālī als ein Denker, der gewissen Prinzipien in der islamischen Theologie verpflichtet ist, auf die Herausforderungen reagiert hat, die ein anderer Denker mit einer wissenschaftlich begründeten Kosmologie gestellt hat. (90)
Hier tritt die Problemstellung, ungetrübt durch das irreführende »Wir«, klar hervor: Islamische Theologie versus Wissenschaft. Das Problem mit der Wissenschaft haben die islamischen Theologen. Auch al-Ghazālī hatte es schon, hat es aber einer Lösung zugeführt. Die heutigen islamischen Theologen haben dieses Problem immer noch, trotz der Lösung al-Ghazālīs, die offenbar ihre Wirkung nicht so recht entfalten konnte. Dem möchte Griffel nun abhelfen. Er möchte die islamischen Theologen von ihrem Problem befreien. Und diese schwierige Aufgabe, der er sich mit so viel Hingabe widmet, ist nun in der Tat sein Problem. Wir sehen also, dass er doch zu Recht von »den unsrigen Problemen« spricht, wenn auch nicht alle die gleichen Probleme haben.
Den anderen Denker, der al-Ghazālī mit seiner Wissenschaft herausfordert, benennt Griffel als Avicenna – warum er die »latinisierte Form« des Namens von Ibn Sīnā bevorzugt, bleibt unerklärt -, der sich als »treugläubiger Muslim« und daher als »muslimischer Gelehrter« verstanden habe. Was immer dies sein mag, so scheint damit irgendwie ein Gegensatz zur Wissenschaft verbunden zu sein, denn Griffel fährt mit »dennoch« fort:
Dennoch war Avicenna nicht wie al-Ġazālī an gewisse theologischen Prinzipien gebunden, sondern betrachtete sich als einer (sic!) dem Erkenntnisgewinn in den Wissenschaften verpflichteter Gelehrter. Avicenna nahm die Methoden wissenschaftlicher Forschung sehr ernst, die er in den Lehrbüchern des Aristoteles exemplarisch manifestiert fand. Auf Basis seiner wissenschaftlichen Forschung, die ihn auch durchaus in Felder führte, die wir heute nicht mehr mit den »exakten« Wissenschaften verbinden, wie z.B. die Lehre, wie Propheten ihre Offenbarung empfangen, und auch Metaphysik und Theologie – also die Lehre von Gott und seinen Attributen -, hat Avicenna eine rationalistische Deutung des Islam geschaffen. Er hat, so würde man heute sagen, einen Islam auf wissenschaftlicher Basis schaffen wollen. (90-91)
Das klingt programmatisch: »rationalistische Deutung des Islam« und, noch besser, »Islam auf wissenschaftlicher Basis«. Der Islam verliert in dieser Version tatsächlich und ganz ausdrücklich die Basis, auf der die Muslime gemeinhin den Islam zu gründen wähnen, nämlich die Offenbarung durch Gottes Wort. Denn sie wird zu einem »durchaus natürlichen Vorgang« (91). Diese wundersame Wandlung eines »an gewisse theologischen Prinzipien gebunden[en]« Islam in einen »Islam auf wissenschaftlicher Basis« bleibt zum Glück von den meisten Muslimen unbemerkt. Denn dies ist schließlich der Kanal, über den spätestens seit Platon alle Philosophenkönige dem »einfachen Volk« durch die Hintertür und von diesem unbemerkt Ruhe und Ordnung beibringen sollten. Die Offenbarung wird mithin so natürlich, dass sie nicht mehr die Unterwerfung unter einen Gott, der ohnehin der Wissenschaft zum Opfer gefallen ist, gebietet, sondern unter die jeweils bestehende Macht. Manche verstockte Muslime mögen da an Pharao denken. Aber Griffel weiß sie zu beruhigen, denn der wahrhaft philosophische Theologe, der zu seinem guten Ende schließlich zum Wissenschaftler des Islam mutiert, will dem »einfachen Volk« doch nur zu seinem Besten durch den Mund des Propheten Weisheiten und Handlungsmaximen vermitteln, auf die es »anderweitig« nie käme. Also fährt Griffel direkt im Anschluss fort:
Dieser Islam war für die meisten Menschen nichts anderes als das, was sie bisher kannten. Für die Wissenschaftler unter ihnen jedoch, die sich wie Avicenna mit den Prinzipien des Aristoteles verbunden fühlten, gab es eine Reihe von besonderen Lehren, darunter z. B. eine, die das Ereignis göttlicher Offenbarung als durchaus natürlichen Vorgang beschreibt, in dem ein außerordentlich begabter Mensch Inspiration und auch Wissen über die Zukunft von den himmlischen Seelen empfangen kann. Dank seiner besonderen Gabe kann ein solcher Prophet sein Wissen in einen literarisch äußerst hochwertigen und didaktisch wertvollen Text fassen. So kann der Prophet dem einfachen Volk Weisheiten und vor allem Handlungsmaximen vermitteln, die ihnen anderweitig verschlossen bleiben würden und an die sie sich anderweitig nicht halten würden. (91)
Und an die sie sich anderweitig nicht halten würden – das gemeine Volk möge dem um sein Wohl besorgten Wissenschaftler also für diese moralischen Wohltaten durchaus dankbar sein! Das Ergebnis dieses Zauberwerks nennt Griffel »Avicennismus« und meint damit falsafa übersetzen zu dürfen. al-Ghazālī sehe darin so manche Vor- und Nachteile. Aber entscheidend sei für ihn letztlich, was sich »beweisen« lässt, denn das ist »über jeden Zweifel erhaben« (92). Daher dürfen die »Religionsgelehrten« der Wissenschaft nicht ablehnend gegenüberstehen:
Die Religionsgelehrten müssen vielmehr genau unterscheiden was unter den Lehren der Avicennisten korrekt ist und was falsch. Unter den korrekten Lehren ist zuallererst all jenes, so al-Ġazālī, was sich seinem Verständnis nach »beweisen« lässt. Avicenna und al-Ġazālī übernahmen wie viele Gelehrte ihrer Zeit den Begriff des »Beweises« (arab. burhān) von den logischen und wissenschaftstheoretischen Werken Aristoteles’ (dort heißt es griech. apódeixis). (92)
Im Vergleich zu Aristoteles und Avicenna war al-Ghazālī, laut Griffel, im Hinblick auf diesen Beweis »etwas kritischer«. Er hielt solche Beweise in Metaphysik und Theologie, wenn auch »nur sehr selten«, sowie in den »Naturwissenschaften« wie etwa der Astronomie für möglich. Und was geschieht mit dem, was tatsächlich auf diese Weise bewiesen werden kann, wie »die Erklärung von Sonnenfinsternissen«, die als Beispiel angeführt wird? Griffel stellt dazu fest:
Al-Ġazālī sagt ganz deutlich, dass alles, was wirklich bewiesen werden kann, auch von Religionsgelehrten anerkannt werden muss und damit Teil der Lehren des Islam wird. (93)
Wirklich »Teil der Lehren des Islam«? Lässt sich belegen, dass al-Ghazālī das »ganz deutlich« sagt? Griffel verweist auf eine Stelle im Faysal, in der dies keineswegs so »ganz deutlich« zum Ausdruck kommt. Auch der allgemeine Hinweis auf al-Ghazālīs Regel der Interpretation (qānūn at-taʾwīl) reicht dafür nicht hin, denn deren Anwendung ist viel komplexer als die Formulierung »und damit Teil der Lehren des Islam wird« suggeriert. Aber darauf wollen wir jetzt nicht näher eingehen, sondern Griffels Gedankengang weiter verfolgen. Und dafür ist entscheidend, dass »alles, was wirklich bewiesen werden kann, auch von Religionsgelehrten anerkannt werden muss«.
Neben den bewiesenen Lehren, die zu übernehmen, und den definitiv falschen, die abzulehnen sind, unterscheidet Griffel eine weitere Kategorie von falschen Lehren, die zu korrigieren sind. Diese Kategorie ist für seine Interpretation von al-Ghazālīs Kosmologie von größter Bedeutung, da damit auch die Übernahme des Falschen gerechtfertigt werden soll. Dabei ist natürlich in erster Linie an den Gott Avicennas, namentlich al-mutāʿ (dem Gehorchten), zu denken, der durch eine kleine Korrektur in das System al-Ghazālīs integriert werden könne. Um einen Nachweis für diese Vorgehensweise zu erbringen, stützt Griffel sich auf eine Stelle aus dem Munqidh, wo al-Ghazālī von der »Ähnlichkeit des Falschen mit dem Wahren« (94) im Sinne der besagten Korrigierbarkeit sprechen soll. Griffel interpretiert diese Stelle folgendermaßen:
In seiner viel gelesenen Autobiographie weist al-Ġazālī darauf hin, dass die korrekte Lehre von einer Irrlehre oft nur sehr schwer zu unterscheiden ist, weil beide sich sehr ähnlich sein können. Man muss ein Experte in der Theologie sein, um hier genau die Grenze bestimmen zu können. (93)
Von einem »Experten in der Theologie« ist bei al-Ghazālī indes nicht die Rede, sondern vom Vernünftigen, der das Wahre erkennt. Jedenfalls ist die Unterscheidung des Wahren vom Falschen, wenn es aus der selben Quelle stammt, – und darum geht es al-Ghazālī hier – für den »Einfältigen« schwierig, nicht aber für den, der das Wahre erkannt hat. Die Nähe des Wahren und Falschen, die al-Ghazālī meint, bezieht sich auf die Quelle, auf den Mund, aus dem die Aussagen stammen. Dort liegt Wahres und Falsches so nahe beieinander wie Falschgold und echtes Gold im Geldbeutel des Fälschers. Für den Geldwechsler, der sich damit auskennt, ist es gleichwohl leicht zu unterscheiden. Das ist das Gleichnis im Munqidh, aus dem ein Ausschnitt zitiert sei, um Sinn und Kontext dieser Stelle zu verdeutlichen:
Der Vernünftige, der wahrhaftig nach Erkenntnis strebt, erkennt zuerst das Wahre und reflektiert über die Aussage selbst. Wenn sie tatsächlich wahr ist, akzeptiert er sie, unabhängig davon, ob sie aus dem Munde eines Schwätzers oder eines Wahrhaftigen stammt. Er wird sogar danach streben, das Wahre aus den Aussagen der Irrenden herauszuholen, weil er weiß, daß Gold im Schlamm zu finden ist. Es ist nichts gegen den Geldwechsler einzuwenden, wenn er seine Hand in den Geldbeutel des Fälschers steckt, um das reine Gold dem falschen und unechten zu entreißen, sofern er sich auf seinen Scharfsinn verläßt. Denn es ist der naive Bauer, nicht aber der erfahrene Geldwechsler, der vor dem Verkehr mit dem Geldfälscher gewarnt wird.
al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, al-Munqidh min adh-dhalāl. Aus dem Arabischen übersetzt von Elschazli, Hamburg, 1988, S. 27.
Griffel zitiert daraus einen Halbsatz über den Geldwechsler und schließt daran folgende Interpretation an:
Wahre und falsche Lehren liegen also häufig sehr eng beieinander, so wie sich das Falschgold zusammen mit dem echten im Geldbeutel des Fälschers findet und nur von Experten unterschieden werden kann. Manchmal muss eine falsche Lehre nur an einer kleinen Stelle korrigiert werden, um so zur wahren Lehre zu werden. (94)
Was macht der Geldwechsler wohl mit dem Falschgold im Gleichnis von al-Ghazālī? Wird es ihm gelingen, es durch eine Korrektur »an einer kleinen Stelle« in Gold zu verwandeln? Daran wird al-Ghazālī eher nicht gedacht haben. Der ehrliche Geldwechsler wird Falschgold zweifellos vielmehr aus dem Verkehr ziehen. Griffel sieht sich gleichwohl berechtigt, diesen Zaubertrick zu unterstellen. Er scheint sich indes am Gleichnis vergriffen und al-Ghazālīs Gold in Falschgold verwandelt zu haben. Denn nichts deutet darauf hin, dass al-Ghazālī gemeint haben könnte, dass »eine falsche Lehre nur an einer kleinen Stelle korrigiert werden [muss], um so zur wahren Lehre zu werden.« Das mag im Einzelfall schon mal vorkommen, aber gewiss nicht, wenn der ehrliche Geldwechsler Falschgold in die Finger bekommt. Griffel legt seine Ansicht, sie ein weiteres Mal beschwörend, sodann zusammenfassend dar:
Es gibt unter den nicht beweisbaren Lehren Avicennas also solche, die al-Ġazālī vollends abgelehnt hat, andere, die er problemlos übernommen hat und schließlich drittens solche, die er mit einer oftmals nur geringfügige (sic!) Veränderung in sein eigenes Lehrsystem integriert hat. Mir scheint, dass al-Ġazālī diese dritte Kategorie meint, wenn er in seiner Autobiographie davon spricht, dass das Wahre dem Falschen so ähnlich ist wie echtes Gold dem Falschgold. (95)
al-Ghazālī sagt zwar, dass das Falsche dem Wahren täuschend ähnlich und sehr nahe, nämlich im selben Geldsack, sein kann, aber nicht, dass es durch den Zaubertrick einer geringfügigen Veränderung in Wahres verwandelt werden kann. Würde ein Kenner Falschgold »übernehmen«? Vielleicht, wenn er zudem Alchemist wäre. Nicht wir bemühen dieses Gleichnis, sondern Griffel, der beschreibt, wie diese Alchemie al-Ghazālī gelungen sein soll bei der Übernahme von Avicennas Kosmologie:
Er hat dabei Avicennas Lehren zu diesem Thema aufgenommen und sie an einer einzigen Stelle verändert. Diese eine Veränderung hat alle Fehler, die Avicenna gemäß al-Ġazālī in seiner Kosmologie gemacht hat, mit einem Mal korrigiert. Die falsche Lehre Avicennas lag für al-Ġazālī also ganz nahe am Wahren. (95)
Diese Alchemie schreibt Griffel al-Ghazālī zu, indem er mit der Bedeutung des Wortes »Nähe« spielt. Für al-Ghazālī ist zwar Gold im Schlamm zu finden, aber Falschgold mag echtem Gold noch so nahe kommen – es lässt sich dennoch nicht darein verwandeln, ohne über die Mächte der Alchemie zu verfügen. Aber wir wollen von dem Gleichnis absehen, da mittlerweile deutlich genug geworden sein dürfte, dass Griffel in seiner Interpretation dieses Gleichnisses aus dem Munqidh Falschgold erzeugt hat, und fragen, wo und wie genau al-Ghazālī eine solche Verwandlung durchgeführt und beschrieben haben soll. Offen hat er darüber nie gesprochen, sagt Griffel. Welcher Alchemist gäbe auch sein Geheimnis preis! Bei anderen »Übernahmen« von Falschgold, die Griffel zuvor beispielhaft erwähnt, wie etwa die von Avicennas Theorie der Prophetie und Offenbarung als Naturphänomene, habe er dies getan,
[…] ohne dass er über dieses Thema allzu offen geschrieben hat. Allerdings hat Al-Ġazālī (sic!) Übernahmen wie diese auch nie offen zugegeben. (94-95)
Und das gilt auch im Fall der Kosmologie:
Al-Ġazālī ist, was diese Korrektur an Avicennas kosmologischem System angeht, abermals nicht offen. Er schreibt darüber einzig in einem seiner schwierigsten Bücher, Die Nische der Lichter (Miškāt al-anwār), in einer Passage, die schon vielen Interpreten Kopfzerbrechen bereitet hat. Dies ist die sogenannte »Schleiersektion« (engl. »veil section«) am Ende dieses Buches. (96-96)
So erfahren wir nebenbei zudem, dass al-Ghazālī »einzig« an dieser Stelle darüber geschrieben hat. Von der Interpretation derselben hängt also in der Tat sehr viel ab, wenn Griffel seiner These von der kompletten Übernahme von Avicennas Kosmologie durch al-Ghazālī auch nur einigermaßen plausibel begründen möchte. Wir glauben, bereits sehr ausführlich nachgewiesen zu haben, dass ihm dies nicht gelingt, und können uns daher ersparen, die folgende Argumentation Griffels, die nur Bekanntes rekapituliert, noch einmal zu betrachten. Nicht ersparen können wir uns, das Ergebnis in Erinnerung zu rufen, um es bei der Untersuchung der Schlussfolgerungen, die Griffel daraus ziehen zu können meint, prägnant vor Augen zu haben. Griffel fasst das von ihm al-Ghazālī zugeschriebene Vorgehen folgendermaßen zusammen:
Er erkennt diesen Kosmos samt und sonders an, fügt jedoch am oberen Ende eine Stufe der Kreation hinzu. Avicennas Gott, den al-Ġazālī »jener, dem gehorcht wird«, (al-muṭāʿ) nennt, wird zu einem Geschöpf des wahren Gottes, der im Rang über diesem steht, ihn schafft und ihm Existenz gibt. (98)
Griffel erkennt darin eine Lösung vieler Probleme, da freilich dann, wenn alle Wissenschaften in die »Lehren des Islam« integriert worden sind, kein Streit mit derselben mehr auftreten wird. Kein Religionsgelehrter könnte schließlich dann die Wissenschaften »weiterhin in Frage stellen«. Griffel führt aus:
Dies ist nicht nur eine sehr originelle Lösung vieler Probleme, die sich für al-Ġazālī aus der Kosmologie Avicennas ergeben haben, sondern sie ist auch sehr elegant. Al-Ġazālī braucht sich mit den Anhängern Avicennas nicht über die Details ihrer Kosmologie zu streiten. Er erkennt sie einfach an als Lehren, die in den Wissenschaften erwiesen sind. Was er nicht anerkennt, ist die metaphysische und theologische Deutung des so auf wissenschaftliche Weise Gefundenen. (98-99)
Das Endresultat der magischen Verwandlung von Falschgold in Gold, des Falschen ins Wahre ergibt einen »Islam auf wissenschaftlicher Basis« dem »am oberen Ende« eine theologische Stufe hinzugefügt wird. Wissenschaft einerseits und Theologie und Metaphysik andererseits sind fein säuberlich geschieden. An der Basis herrscht metaphysikfreie Wissenschaft, aus der die gesamte Kosmologie hervorgeht, die mithin als wissenschaftlich erwiesen übernommen werden muss. Der Theologe mag nun den Gott seiner Wahl an die Spitze setzen, um diese Wissenschaft mit seiner Theologie in Einklang zu bringen. Griffels al-Ghazālī wählt eine Abart des aschʿaritischen Gottes. Prinzipiell lässt sich indes jeder beliebige Gott darüber setzen, über den sich sagen lässt, dass er auf irgendeine Weise mit diesem gemäß der wissenschaftlichen Kosmologie gestalteten Kosmos vereinbar ist – eine Bedingung muss freilich gewährleistet sein: Er darf nicht in das hehre Werk des Wissenschaftlers pfuschen. So lässt sich sagen, dass der Gott an der Spitze Kosmologe steht, wie auch, dass der Kosmologe die Gedanken Gottes liest. Natürlich gilt diese Wandlung nicht nur für die Kosmologie, sondern prinzipiell für jede wissenschaftliche Theorie. Der Wissenschaftler mag also die Theorie seiner Wahl an die Basis setzen, genauso wie der Theologe den Gott seiner Wahl an die Spitze.
Aber gemach! Sind wir da nicht etwas voreilig? Haben wir nicht übersehen, dass die Wissenschaft zumindest bewiesen sein muss? Ja, das gilt allemal für al-Ghazālī. Ist also die avicennische wissenschaftliche Kosmologie »samt und sonders« bewiesen? Wo findet sich der Beweis? Einen Beweis müsste es doch geben, nach den Regeln der aristotelischen Logik fein ziseliert. Denn wer wollte, nachdem er so strenge Kriterien aufgestellt hat, blinder Nachahmung huldigen und darauf verzichten, den Beweis in allen Einzelheiten zu überprüfen? Gibt es einen solchen Beweis bei Avicenna? Konnte al-Ghazālī glauben, dass es einen solchen Beweis bei Avicenna gibt? Hat er ihn je genannt, vorgeführt und gar überprüft? Kein Wort dazu bei Griffel. Wo doch schon die Beweisbarkeit, geschweige denn die Bewiesenheit einer solch umfassenden Theorie des Kosmos recht fraglich erscheint. Griffel teilt uns dazu lediglich mit:
Was aber die Naturwissenschaften oder auch die Astronomie angeht, so glaubte auch al-Ġazālī, dass in diesen Wissenschaften Beweise möglich sind, und die Erklärung von Sonnenfinsternissen aufgrund der Konfiguration von Erde, Mond und Sonne galt sowohl al-Ġazālī wie auch Avicenna mit geometrischen Beweisen unzweifelhaft belegt. (92)
Beweise möglich? In diesen Wissenschaften? Das ist recht dürftig. Ging es denn lediglich um einzelne Beweise innerhalb einer Wissenschaft? Oder doch um die »Übernahme« der Wissenschaft der Kosmologie »samt und sonders«? Und die »Erklärung von Sonnenfinsternissen […] mit geometrischen Beweisen«, was auch immer dies heißen mag, macht noch keinen Kosmos samt bewiesener Kosmologie. Die Möglichkeit von Beweisen und das Vorhandensein eines spezifischen Beweises innerhalb der Kosmologie – ist das alles? Ohne Beweis bleibt die Kosmologie schlicht unbewiesen. Da hilft es auch nichts, wenn al-Ghazālī an die Möglichkeit von Beweisen in dieser Wissenschaft, wie Griffel sagt, »glaubte«, was auch immer dies heißen mag. An die Möglichkeit von Beweisen in der Wissenschaft »glauben«! Wenn der Beweis nicht bloß in der, sondern für die Wissenschaft nicht vorgebracht werden kann – fällt dann nicht alles in sich zusammen? Warum sollte al-Ghazālī einen »Islam auf wissenschaftlicher Basis« übernehmen, der sich als ebenso unbewiesen erweist wie viele andere Lehren Avicennas, was al-Ghazālī selbst mit großem Scharfsinn und Energie nachgewiesen und diese Lehren dementsprechend zurückgewiesen hat? Haben wir etwas Wesentliches übersehen? Oder hat Griffel noch einen schlagenden Fund in der Hinterhand? Wir sind gespannt.
Wir wollen nunmehr trotz alledem unterstellen, dass es eine Lösung für dieses Problem geben mag, um Griffels Gedankengang weiter verfolgen zu können. Was also könnte »man heute daraus lernen«, wie es im zweiten Teil des Titels heißt, wenn »al-Ghazālīs Umgang mit der wissenschaftlichen Kosmologie seiner Zeit« tatsächlich so, wie von Griffel behauptet, aussähe? Hier tritt bei aller vorgeblichen Kontinuität der »Wissenschaft« indes ein entscheidender Unterschied hervor, mit dem Griffel sich die Arbeit erheblich erleichtern wird. Denn er lässt das strenge Kriterium der Beweisbarkeit nach den Regeln der aristotelischen Wissenschaftstheorie, dem al-Ghazālī sich nach Griffel, vielleicht etwas weniger vertrauensselig als Avicenna, verpflichtet gefühlt habe, fahren zugunsten seines »heutigen« Pendants, das der Wissenschaft einen ungleich größeren Spielraum verschafft. Griffel schreibt zu dieser Abkehr vom Beweis:
Heute sind wir noch kritischer als al-Ġazālī und die Methode des systematischen Beweises, die eine Lehre jeder möglichen Kritik entzieht, die im selben Denksystem vorgebracht werden kann, gilt heute nur noch in der Mathematik. Die Wissenschaftler in den Naturwissenschaften und vor allem in der Metaphysik und der Theologie suchen heute nicht mehr nach Beweisen, sondern nur noch danach, wie sie ihre Kollegen in diesen Wissensfeldern mit möglichst schlagkräftigen Argumenten von ihren Positionen und Erklärungen überzeugen können. Die Art der Argumente ist dabei sehr vielfältig und übersteigt bei weitem die grade einmal vierzehn verschiedenen Arten von Argumenten (also die Syllogismen), die in der Wissenschaftstheorie des Aristoteles benutzt werden konnten. Das Kriterium der Beweisbarkeit, das noch zu Zeiten von Avicenna und al-Ġazālī in den Naturwissenschaften galt, ist heute durch jenes der weithin überzeugenden Erklärung ersetzt worden. (92-93)
Wie sind diese befremdlichen Aussagen zu verstehen? Handelt es sich um die intimen Bekenntnisse eines Wissenschaftlers, der einen Einblick in sein Selbstverständnis gewähren möchte? Oder ist es ein Versuch in Wissenschaftstheorie, dem allerdings kaum Spuren der wissenschaftshistorischen und wissenschaftsphilosophischen Debatten der letzten Jahrzehnte beispielsweise um Paradigmenwechsel und Erklärungsbegriff anzumerken sind? Um nur einen Aspekt herauszugreifen: Wie sollte auf der Suche nach einem Kriterium für Wissenschaftlichkeit, also nach einem normativen Begriff der Wissenschaft das »Kriterium der weithin überzeugenden Erklärung« eine ausschlaggebende Rolle spielen? Zur Auszeichnung von Wissenschaft kann es offensichtlich kaum dienen, da es »weithin überzeugende Erklärungen« in vermutlich allen Bereichen des menschlichen Lebens gibt. Ohne nähere Bestimmung ist dieses Kriterium daher für den Zweck der Entwicklung eines normativen Begriffs von Wissenschaft gänzlich ungeeignet. Das gilt übrigens auch schon für das rein formal verstandene »Kriterium der Beweisbarkeit«, das in der aristotelischen Wissenschaftstheorie laut Griffel diesen Zweck erfüllt haben soll.
Ist es nicht gar sonderbar für jemanden, der so große Stücke auf Wissenschaftlichkeit hält, so unwissenschaftlich über Wissenschaft zu reden? Gilt ihm die Wissenschaftstheorie nicht als Wissenschaft der Wissenschaft, auf die in solchen Fragen Bezug zu nehmen wäre? Griffel verrät jedenfalls nicht, wie er zu seinen wissenschaftstheoretischen Ansichten kommt, die ihm so selbstverständlich zu sein scheinen, dass sie keiner Verweise und Begründungen bedürfen, und zudem in welchem Verhältnis sie zu seiner eigenen (islam-) wissenschaftlichen Praxis stehen, was ein Mindestmaß an Selbstreflexion erfordern würde. Hier einen gewissen Zusammenhang zu vermuten, dürfte allerdings nicht ganz unberechtigt sein. Doch verfolgen wir das nicht weiter und halten lediglich das neue Kriterium fest: »weithin überzeugende Erklärung«. Auf den ersten Blick schießt einem freilich der Gedanke in den Kopf: Kann er das wirklich ernst meinen? Ja, alles deutet darauf hin, denn er wiederholt diese »Einsicht« noch mehrmals und leitet in der Tat Schlussfolgerungen daraus ab, die unumstößliche Gebote oder – sagen wir lieber – Handlungsmaximen, natürlich nicht für Islamwissenschaftler, sondern für »Religionsgelehrte« implizieren. Denn »solche Leute« haben ja noch einiges zu »lernen«, um sich endlich von ihren unberechtigten Zweifeln befreien zu können, wie Griffel weiß und lehrt:
Was kann uns al-Ġazālī heute über den Umgang mit den Erkenntnissen in den »exakten« Wissenschaften, also der Biologie, Chemie, Physik oder auch der Astrophysik lehren? Zuallererst, dass das, was in diesen Wissenschaften weithin überzeugend als Erklärung vorgebracht wird, nicht von Religionsgelehrten angezweifelt werden sollte. (99)
Wir halten fest: »zuallererst« sollten die »Religionsgelehrten« nicht anzweifeln, »was in diesen Wissenschaften weithin überzeugend als Erklärung vorgebracht wird«. Vermutlich gilt das für das gemeine und ungelehrte Volk erst recht. Etwas in den Wissenschaften, was diesem »Kriterium« genügt, anzuzweifeln, wird aber doch nicht ganz verboten sein? Nein, wahrscheinlich wird selbst Griffel sich nicht zu solchem Dogmatismus versteigen wollen, aber »anzweifeln« wird somit zum exklusiven Recht der Gemeinde der Wissenschaftler. Da es sich um lediglich weithin überzeugende Erklärungen handelt, darf angenommen werden, dass es durchaus anzweifelnde Wissenschaftler, vermutlich derselben Disziplin, geben wird. Wo bliebe sonst auch der Fortschritt? Und was »sollte« der Religionsgelehrte seinerseits in dieser vertrackten Situation nun tun? Welchen Wissenschaftlern sollte er angesichts bestehender Meinungsverschiedenheiten folgen? Könnte er nicht auf die verrückte Idee kommen, die Zweifel des einen Wissenschaftlers gegen den anderen vorzubringen? Wie lassen sich »weithin« und »überzeugend« so präzisieren, dass der nun schon etwas verwirrte Religionsgelehrte ein operables Kriterium in die Hand bekommt, um sich in der mitunter verwirrenden Vielfalt wissenschaftlicher Thesen, Hypothesen und Theorien entscheiden zu können? Mit dem Problem solcher Begriffe wie Erklärung – von dem der »weithin überzeugenden Erklärung« ganz zu schweigen – oder Gesetz oder gar der wissenschaftlichen Theorie, über das unzählige Fässer wissenschaftstheoretischer Tinte vergossen wurde, ohne auch nur annähernd zu weithin überzeugenden Erklärungen geführt zu haben, sollten wir ihn besser gar nicht belästigen, um ihn nicht gänzlich zu überfordern. Daran haben sich schließlich schon ganze Horden von Wissenschaftstheoretikern die Zähne ausgebissen, die es doch besser wissen müssten als unser im wissenschaftlichen Geiste so armer Religionsgelehrter.
Und gilt das nur in den »exakten« Wissenschaften oder auch in den inexakten wie der Islamwissenschaft? Gibt es in letzteren nicht auch »weithin überzeugende Erklärungen«? Dann hätte weder das gemeine Volk noch der gemeine Muslim noch der gemeine Religionsgelehrte dem Islamwissenschaftler dareinzureden. Das sagt Griffel nicht. Diese Schlussfolgerung zieht er nicht. Aber lässt sie sich unter diesen Voraussetzungen vermeiden? Griffel setzt seine Schlussfolgerungen hingegen mit einem so schlichten wie unbestimmten Merksatz fort:
Für al-Ġazālī galt: Was bewiesen werden kann, muss auch in der Religion gelten. Wir hatten schon gesagt, dass wir heute in den Wissenschaften nicht mehr von Beweisen reden, sondern das Konzept des apodiktischen Beweises mit dem der weithin überzeugenden Erklärung ersetzt haben. (99)
Daraus folgt mit logischer Notwendigkeit der modernisierte, ebenso schlichte, aber noch viel unbestimmtere Merksatz, der für heutige Religionsgelehrte »gilt«: Was weithin überzeugend erklärt werden kann, »muss auch in der Religion gelten«. Vielleicht sollten wir im vorstehenden Halbsatz ergänzen »in der Wissenschaft« - also: Was in der Wissenschaft bewiesen werden kann… -, um die Dämme nicht vollends zu brechen, die Griffel mit seinem »Kriterium« schon gefährlich rasiert hat. Und was heißt eigentlich »in der Religion gelten«? Damit dürfte so etwas wie »Religion auf wissenschaftlicher Basis« gemeint sein. Wir wollen uns mit den bereits gestellten Fragen begnügen und in diesem Zusammenhang auf weitere verzichten. Griffel erläutert diese Idee nun am Beispiel der Evolutionstheorie:
Darvins (sic!) Evolutionstheorie ist z. B. eine weithin überzeugende Erklärung der Vielfalt und der Entwicklung der Arten und Spezies auf diesem Planeten, und al-Ġazālī hätte wohl nur Hohn und Spott für heutige Religionsgelehrte übrig, die dies weiterhin in Frage stellen. (99)
Es muss wohl nicht betont werden, dass es innerhalb der Evolutionstheorie selbst, in der Biologie, in der Wissenschaftstheorie und in der Philosophie heiße Debatten von einzelnen Details bis hin zum Status der Evolutionstheorie als wissenschaftlicher Theorie ganz allgemein zuhauf gibt. Hier so zu tun, als gäbe es »eine weithin überzeugende Erklärung«, ist einfach unredlich, wenn es denn nicht auf Unwissen beruht. Dem Religionsgelehrten wäre mitnichten damit gedient, wenn er sich ernstlich um eine Orientierung auf diesem Terrain bemühen sollte. Und »Hohn und Spott« über »heutige Religionsgelehrte«, die auch nur »dies weiterhin in Frage stellen« ist billige und gänzlich unwissenschaftliche Wissenschaftspropaganda, für die sich der Wissenschaftler Griffel zu schade sein sollte. Diese durchaus nicht so unvernünftige und unwissenschaftliche Haltung des Infragestellens versucht Griffel hingegen unter Einsatz eines Zitates von al-Ghazālī weiter zu verunglimpfen:
Solche Leute waren für al-Ġazālī schon vor neun Jahrhunderten der Grund, warum sich einige Wissenschaftler von der Religion abgewandt haben: »Der Schaden an der Offenbarung (šarʿ), den jene ihr zufügen, die sie ohne Methode verteidigen, ist größer als jener, der von jenen zugefügt wird, die sie mit Methode angreifen.«
Siehe Al-Ghazālī, The Incoherence of the Philosophers. A parallel English-Arabic text translated, introduced, and annotated by Michael E. Marmura, Provo, Utah, 1997, S. 6. (99)
Ja, al-Ghazālī meint freilich, dass die Offenbarung nicht »ohne Methode«, sondern »mit Methode« verteidigt werden sollte, worin er eine seiner wichtigsten Aufgaben sah. Und das kann möglicherweise auch darin bestehen, eine Wissenschaft wie die Evolutionstheorie kritisch in Frage zu stellen, aber bitte mit Methode, was für al-Ghazālī beispielsweise voraussetzt, sich auf den Stand der wissenschaftlichen und wissenschaftsphilosophischen Forschung und Debatte in ihrer ganzen Breite und Tiefe zu bringen, um nicht in Gefahr zu geraten, oberflächlicher Verurteilung oder umgekehrt blinder Lobeshymnen zu verfallen. So beschreibt er sinngemäß im Munqidh seine eigene Vorbereitung auf die Kritik der Philosophie (falsafa), die er im Tahāfut vorgenommen hat.
Bis hierher haben wir uns mit dem ersten Punkt (»zuallererst«) dessen befasst, was heutige Religionsgelehrte von al-Ghazālī lernen könnten, sozusagen mit der wissenschaftlichen Basis, die nicht anzuzweifeln, sondern zu übernehmen sei. Nun springt Griffel von der Basis an die Spitze, also dahin, wo eine kleine Korrektur Falschgold in Gold, falsche Lehren in wahre verwandeln kann. Er erläutert das so:
Zweitens lehrt al-Ġazālī, dass wissenschaftlich erwiesene Kosmologien, die auf den ersten Blick mit den Lehren einer Religion kollidieren, von Religionsgelehrten durchaus überzeugend und elegant in ihre epistemologischen Schranken gewiesen werden können. (99)
Das ist der Ort, wo der Religionsgelehrte endlich ein Wörtchen reden darf. Welches Wörtchen dies ist, verrät Griffel allerdings erst im nächsten Absatz. Zunächst wird nämlich geklärt, worin der höchste Punkt besteht, der noch der wissenschaftlichen Basis entspringt, der also vom Religionsgelehrten gerade nicht berührt werden darf. Während der »mittelalterliche Theologe« al-Ghazālī noch an die höchste Sphäre der avicennischen Kosmologie anschloss und diese um ein Stockwerk aufstockte, knüpft der heutige Theologe an den Urknall an. Ohne Scherz, Griffel meint das ganz im Ernst:
Was im Weltbild von Aristoteles, Ptolemäus und Avicenna die höchste Sphäre war, kann heute durchaus als der Urknall (Big Bang) verstanden werden. Für jene Wissenschaftler in der Antike und im Mittelalter war die höchste Sphäre das von uns aus gesehen am weitesten entfernt liegende physikalische Objekt oder Ereignis. Es war unter allen Dingen, die durch wissenschaftliche Methoden – nämlich durch die Beobachtung und mathematische Auswertung der Himmelsbewegungen – wahrgenommen werden konnten, das, was Gott am nächsten stand. In diesem Sinn ist die äußerst entfernte Sphäre mit dem Urknall vergleichbar, ein Ereignis, das in der heutigen Kosmologie als zeitlich am weitesten von uns entfernt liegt. Beide haben in ihren jeweiligen Kosmologien die Stellung eines »Beginns« der uns bekannten Schöpfung. Auch wenn Aristoteles und Avicenna einen zeitlichen Beginn abgelehnt haben, so steht die äußerst entfernte Sphäre und der mit ihr verknüpfte Beweger auch bei ihnen ontologisch am Anfang. (99-100)
In einer aberwitzigen Angleichung werden hier Kosmologien, die zutiefst verschieden sind – darauf können wir jetzt nicht näher eingehen, ohne den Rahmen zu sprengen -, in einer Weise über einen Leisten geschlagen, dass einem der Atem stockt. Es scheint nur darauf anzukommen, dass sich irgendwie ein »Anfang« ausmachen lässt, der dann beliebig ausgetauscht werden kann. Raum und Zeit werden durcheinander geworfen, um davon sprechen zu können, dass der vermeintliche »Beginn« in beiden Fällen »Gott am nächsten stand«. Doch was, wer, wo und wann ist Gott in der aristotelischen Kosmologie und in der modernen, der die Allgemeine Relativitätstheorie zugrunde liegt? Was ist darin jeweils Raum, Zeit und Materie? Alles gleich?
Für Griffel steht dessen ungeachtet irgend etwas auf geheimnisvolle Weise »auch bei ihnen ontologisch am Anfang«. So kommt es, dass der heutige Religionsgelehrte nun nicht wie al-Ghazālī mit dem Gehorchten zu tun bekommt, sondern mit dem Urknall. Griffel macht sich keinerlei Mühe zu erläutern, was darunter zu verstehen ist. Es scheint für ihn ganz einfach eine wissenschaftliche Tatsache zu sein. Ja, er spricht vom Urknall in der Tat wie von einer Tatsache, nicht einmal wie von einer Hypothese im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie, die folglich als »weithin überzeugende Erklärung« zu betrachten wäre. In einer Fußnote verweist er auf ein Buch von Bruno Binggeli mit dem rätselhaften Titel Primum Mobile. Dantes Jenseitsreise und die moderne Kosmologie. Laut Griffel hat Binggeli darin »am Beispiel von Dante die Parallelität der äußerst entfernten Sphäre im (sic!) mittelalterlicher Kosmologie mit dem Urknall heute aufgezeigt.« (100; Fn. 27) Mir ist dieser Hinweis erst jetzt aufgefallen, und mir lag das Buch beim Abfassen dieses Textes leider nicht vor. Wie wichtig die Kategorie der Mittelalterlichkeit werden kann, zeigt sich hier, da Griffel wohl meint, dadurch einen bruchlosen Bogen von Dante zu al-Ghazālī und Avicenna sowie weit darüber hinaus schlagen zu können.
Und als letzte Bemerkung zu diesem Zitat, das so viele Fragen auf sich ziehen könnte, sei lediglich noch nachgefragt: Was ist wohl gemeint mit »der uns bekannten Schöpfung«? Wieder dies dunkle »uns« - wer kann das sein? Und welche Schöpfung? Wer schöpft da was? Wem ist da was bekannt? Spricht Griffel hier als Islamwissenschaftler? Welche Schöpfung mag dem bekannt sein? Gehört zur Islamwissenschaft die Annahme einer »uns bekannten Schöpfung«? Oder ist Griffel doch ein verkappter Theologe? Oder gibt er sich nur als ein solcher aus? Lügt er gar? Letzteres scheint aus pädagogischer Absicht nicht unwahrscheinlich. Denn es wäre sodann eine weiße Lüge, im ehrenvollen platonischen Geist notgedrungen in Anschlag gebracht bei »solchen Leuten«, die für feinere Mittel einfach nicht empfänglich sind.
Aber weiter im Text. Nehmen wir an, unser Religionsgelehrte sei populärwissenschaftsgläubig genug, um sich von alldem nicht irritieren zu lassen und die gerade in Schwange befindliche, vielleicht von einer Mehrheit von Wissenschaftlern in einem bestimmten Fach vertretene, also »heutige« - nicht gestrige und auch nicht morgige, die Wissenschaft soll ja zuweilen einen rasanten Fortschritt erleiden – und »weithin überzeugende Erklärung« zu übernehmen. Dann gibt Griffel dem Wissenschaftler erst einmal tapfer Bescheid, sich nicht auf das Terrain des Theologen vorzuwagen:
Wenn Wissenschaftler heute z. B. sagen, dass die zeitgenössische Kosmologie keinen Platz für Theologie lässt, so gehen sie damit über den Bereich ihres Sachverstandes hinaus. (100)
So erkräftet zu neuem Selbstbewusstsein, darf der Theologe sich endlich der rückhaltlosen Übernahme widmen. Denn – so fragt Griffel suggestiv und rhetorisch – was sollte ihn davon abhalten? Ich verzichte auf die von Griffel verwendete weibliche Form unseres armen Theologen, der ohnehin eine so unrühmliche Rolle spielt, dass wohl kein Geschlecht sich gerne mit ihm identifiziert sähe. Also fragt Griffel:
Was hält einen oder eine zeitgenössische Theologin/einen zeitgenössischen Theologen davon ab, mit den Lehren der heutigen Astrophysiker ähnlich umzugehen wie al-Ġazālī mit denen Avicennas umgegangen ist? Der Theologe/die Theologin kann durchaus alle Details dieser Lehren akzeptieren und gleichzeitig eine weitere Stufe der Schöpfung um sie herum legen und annehmen, dass das, was die Kosmologen als erstes Ereignis und als allererste Ursache der uns bekannten Welt bezeichnen, nur eine Wirkung ist, die aus anderen Ursachen hervor gegangen ist, die jenseits wissenschaftlicher Erkenntnismethoden stehen. (100)
Vieles, so könnte man meinen, könnte den Theologen abhalten. Wir haben viele, viele Fragen und Bedenken genannt. Viele weitere ließen sich hinzufügen. Und warum sollte der Theologe, der doch die Wissenschaft mittlerweile so hoch schätzt, dass ihm das Anzweifeln derselben vergangen ist, geheimnisvolle »andere« Ursachen postulieren und unwissenschaftliche Erkenntnismethoden zum Einsatz bringen wollen? Ein merkwürdiger Theologe muss das wohl sein. Ein solches Verfahren einem »mittelalterlichen« Theologen zu unterstellen, mag noch eine gewisse Plausibilität besitzen, da er vielleicht über einen Begriff der Ursächlichkeit verfügt, der solch eine Verlängerung der Ursachenkette um »eine weitere Stufe«, die »um die Schöpfung herum gelegt« wird, erlauben könnte. Doch dies einem modernen Theologen anzutun, der durch das Feuer der Kritik an der klassischen Metaphysik nicht nur eines Kant gegangen ist, um sich endlich auf den sicheren Pfad der Wissenschaft zu begeben, also diesem modernen Theologen eine solche Naivität anhängen zu wollen, ist ganz besonders arg.
Ich könnte niemandem verdenken, spätestens jetzt auf die Idee zu kommen, dass ich hier eine Satire schriebe. Weit gefehlt indes, denn wenn dieser Eindruck zu Recht entstünde, wäre es viel schlimmer – es handelte sich um Realsatire. Um diesem falschen Eindruck vorzubeugen, zitiere ich so viel. Und so möchte ich auch die letzten Zeilen des Aufsatzes von Griffel vollständig anführen, in denen beschrieben wird, wie der nunmehr bekehrte Theologe zur konkreten Anwendung der allgemeinen Handlungsmaxime auf den Fall des Urknalls schreitet – und sich dabei glücklicherweise von keinerlei Zweifel oder Bedenken aufhalten lässt:
Der Urknall ist heute die Grenze zwischen Physik und Metaphysik, so wie es zu Zeiten al-Ġazālīs die äußerst entfernte Sphäre war. Nichts hält die Theologin oder den Theologen davon ab, anzunehmen, dass alles, was als kausale Wirkungen aus dem Urknall hervorgegangen ist - unser Universum also, und alle darin enthaltenen Dinge und Ereignisse – auch eine Folge von Gottes Wille sind, mithin also alles so von Gott gewollt ist. Bei al-Ġazālī hat Gott direkt nur ein einziges Wesen geschaffen, nämlich »jenen, dem gehorcht wird« (al-muṭāʿ). Alle anderen Schöpfungen gehen aus diesem Wesen, das unkörperlich ist, das wir uns aber im Rang jenseits der äußerst entfernten Sphäre vorzustellen haben, kausal hervor. Die Art und Weise von Gottes Schöpfung wurde dadurch determiniert, wie Gott die Natur »dessen, dem gehorcht wird« (al-muṭāʿ) geschaffen hat. Ähnlich kann man heute annehmen, dass die Art und Weise, wie die Materie im Urknall konfiguriert war, und wie sie sich daraufhin entsprechend den physikalischen Gesetzen entfaltet hat, alle weiteren Ereignisse in unserem Universum determiniert hat. Nichts hält heutige Theologen davon ab, anzunehmen, dass diese Konfiguration und diese physikalischen Gesetze von Gott gewollt waren. Wenn aber diese Dinge ganz am Anfang von Gott gewollt waren, dann ist alles weitere, was daraus kausal hervorgegangen ist und weiterhin hervorgeht, auch von Gott gewollt, ohne dass Er jemals direkt in seine Schöpfung eingreifen müsste. Dies ist eine Deutung von Gottes Omnipotenz und Gottes Wille, die al-Ġazālī mit Hinweis auf die Koranverse 33:62 und 48:23 - »Du wirst am Verfahren Gottes keine Abänderung feststellen können« (lan tağida li-sunnati Llāhi tabdīlan) - auch durchaus vertreten hat. (100-101; Hervorhebungen im Original)
Wir können darauf verzichten, auf die vielen Einzelheiten dieses Schauspiels näher einzugehen, da wir mit den meisten, wenn nicht allen Elementen im Laufe dieser langen Abhandlung bereits ausführlich Bekanntschaft gemacht haben. Am Ende steht ein Gott, der aus freiem Willen alles genauso gewollt hat, wie der Wissenschaftler es dem Theologen vorgegeben und letzterer vom ersteren übernommen hat. Dieser Gott ist frei und mächtig, genau an einem Punkt, nämlich da er »diese Dinge ganz am Anfang« konfiguriert und gewollt hat, wie der Wissenschaftler seine Theorie entwirft. Der Weltlauf ist dem Lauf einer kausal determinierten Maschine gleich, ohne dass dieser Gott »jemals direkt in seine Schöpfung eingreifen müsste«. Zum Glück, müssen wir hinzufügen, denn er könnte es ja auch nicht. So bleibt dem armen Religionsgelehrten, der freilich noch viel weniger als dieser Gott in den Weltlauf einzugreifen vermag, wie jedem anderen Erdenwurm auch nur, mit Welt und Wissenschaft, wie sie nun einmal sind, sich zu bescheiden.
Das bleibt also in dieser »Deutung von Gottes Omnipotenz und Gottes Wille«, von Macht und Wille des Menschen ganz zu schweigen. Und was für den Menschen im allgemeinen, gilt auch für den einzelnen: Wie sähe Griffel in dieser Welt eigentlich sich selbst? Könnte es nicht ein böser Dämon gewesen sein, der seinen Stift bei der Abfassung seiner Gedanken zu solchen Elaboraten verführt oder eben konfiguriert und kausal determiniert haben mag? Wäre es dann nicht ein Fehler, letzteren die Aufmerksamkeit einer sorgfältigen Untersuchung zu widmen, die doch nur den Gedanken eines vernünftigen und verantwortlichen Menschen im ganz unwissenschaftlichen Sinne gebührte? Wir wollen hoffen, uns darin zu täuschen. Dass Griffel sich so sehr müht, um »uns« samt heutigen Theologen und Religionsgelehrten von seinem »Islam auf wissenschaftlicher Basis« zu überzeugen – zu ihm zu bekehren? -, deutet doch darauf hin, dass er sich und uns noch nicht ganz dem Maschinengott geopfert hat.
8 Ein bedeutender Leser von al-Ghazālī: Ibn Taymiyya
8 Ein bedeutender Leser von al-Ghazālī: Ibn Taymiyya Yusuf KuhnVorbemerkung
Ibn Taymiyya (gest. 728/1328) war ein fleißiger Leser von al-Ghazālī (gest. 505/1111). Das stellt Yahya Michot in einem Artikel fest, in dem er Texte aus dem Werk von Ibn Taymiyya vorstellt, in denen es vorwiegend um die Einschätzung von al-Ghazālīs Denken und dessen Wirkungsgeschichte geht. Dieser Artikel trägt den Titel An Important Reader of al-Ghazālī: Ibn Taymiyya (Ein bedeutender Leser von al-Ghazālī: Ibn Taymiyya).
8.0 Einführung: Komplexes Bild und breite Kenntnis
8.0 Einführung: Komplexes Bild und breite Kenntnis Yusuf KuhnIbn Taymiyya interessierte sich für al-Ghazālī als herausragenden Denker und Schlüsselfigur für die Entwicklung des islamischen Denkens, auf das al-Ghazālī einen kaum zu überschätzenden Einfluss ausübte. Ibn Taymiyya erweist sich dabei im Gegensatz zu verbreiteten Zerrbildern keineswegs als einseitiger Polemiker, sondern vielmehr als ausgewogener Kritiker, der Lob und Tadel miteinander zu verbinden und aufzuzeigen versteht, wo al-Ghazālī seines Erachtens richtige wie auch falsche Positionen vertritt. So zeichnet er ein durchaus komplexes und vielschichtiges Bild, das einem Denker, über den es kaum einverständliche Meinungen gibt, jedenfalls viel eher entspricht als alle vorschnellen Vereinseitigungen, von denen es bis heute nur allzu viele gibt. Die Spannbreite der einseitigen Darstellungen deckt dabei alle Extreme ab: Vom rechtgeleiteten Muslim bis zum Verräter am Islam, vom aufgeklärten Philosophen bis zum finsteren Fundamentalisten ist alles dabei. Ibn Taymiyya hat sich diesem Sog erfolgreich widersetzt.
Yahya Michot schickt seiner Untersuchung folgende einführenden Worte über Ibn Taymiyya voraus:
Viele der simplistischen Bilder des Damaszener Theologen Ibn Taymiyya (gest. 729/1328), die heutzutage im Umlauf sind, sind schwere Entstellungen seiner Gedanken, gleichermaßen im Bereich der Politik wie auch im islamischen Denken im allgemeinen, insbesondere hinsichtlich Sufismus und falsafa. Es wird wahrscheinlich lange Zeit brauchen, um diese Bilder zu berichtigen, besonders unter gewissen islamistischen Gruppen und mediokren Neo-Orientalisten. Mehrere jüngere Studien haben gleichwohl bereits den Weg geebnet in Richtung auf ein genaueres Verständnis seiner Gedanken. Zudem haben Werke wie sein meisterliches Darʿ taʿārudh
Ibn Taymiyya, Darʿ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql aw muwāfaqa sahı̄h al-manqūl li-sarı̄h al-maʿqūl, Hg. M. R. Sālim, 11 Bände, Riyādh: Dār al-Kunūz al-Adabiyya, [1399/1979]. Siehe Yahya Michot, Intellektuelle Nichtigkeiten… Die Sackgasse der Rationalismen gemäß der Widerlegung des Widerspruchs von Ibn Taymiyya, in: Ibn Taymiyya, Islam – Weg der Mitte. Texte von Ibn Taymiyya, Aus dem Arabischen übertragen, eingeführt und kommentiert von Yahya Michot, Hamburg, 2017, S. 191-229. begonnen, die Aufmerksamkeit zu erhalten, die sie verdienen als Quellen aus erster Hand für die Geschichte der intellektuellen, religiösen und spirituellen Debatten während der klassischen Periode des Islam. (Michot, S. 131)Siehe für reichhaltige Literaturangaben die Fußnoten zu diesem Abschnitt im Artikel von Yahya Michot.
Vor diesem Hintergrund ist Ibn Taymiyyas Beurteilung von al-Ghazālī zu verstehen. Sie beruht auf einer erstaunlich breiten Kenntnis von dessen Werk. Michot gibt eine Liste von mehr als zwei Dutzend Werken von al-Ghazālī an, deren Titel Ibn Taymiyya zitiert. Diese Liste ist allerdings keineswegs erschöpfend. Denn darüber hinaus führt Ibn Taymiyya lange wörtliche Auszüge aus mehreren Büchern al-Ghazālīs an, die er zudem mit Kommentaren versieht. Das kann so weit gehen, dass mehrseitige Textausschnitte aus al-Ghazālīs Werken wie Faysal at-tafriqa, Miʿyār al-ʿilm oder Mischkāt al-anwār wiedergegeben und erörtert werden.
Michot wird durch seine Untersuchung zu einem erstaunlichen Schluss geführt, der seines Erachtens gegen die Gefahr des Irrtums gefeit ist: Ibn Taymiyya verfügte über eine weit bessere Kenntnis und Auffassung von al-Ghazālīs Werk als seine Widersacher aus den Reihen der falāsifa wie Ibn Tufayl und Ibn Ruschd. Und Michot fügt hinzu:
Es ist demgemäß umso erstaunlicher, dass Ibn Taymiyya in der al-Ghazālī-Forschung nicht öfter Berücksichtigung gefunden hat. Die vorliegende Untersuchung wird hoffentlich dazu beitragen, diese Voreingenommenheit zu berichtigen. (133)
Michot, der sich in vielen seiner Arbeiten dafür eingesetzt hat, Ibn Taymiyya größeres Gehör zu verschaffen, bleibt auch hier einem Grundsatz treu, den er folgendermaßen formuliert:
Wie in anderen Publikationen habe ich es vorgezogen, Ibn Taymiyya für sich selbst sprechen zu lassen. (133)
Sieben der neun Texte, die Michot in diesem Geiste übersetzt hat, beziehen sich auf vier bekannte Bücher al-Ghazālīs: Mustasfā, Ihyaʾ, Tahāfut und Madhnūn. Die übrigen beiden Übersetzungen bieten allgemeine Einschätzungen seines Denkens als Ganzes und erörtern sowohl dessen Quellen als dessen Einfluss. Den Anfang macht al-Mustasfā und die Frage nach dem Stellenwert der aristotelischen Logik.
8.1 al-Mustasfā und griechische Logik
8.1 al-Mustasfā und griechische Logik Yusuf KuhnDen ersten übersetzten Text von Ibn Taymiyya hat Michot unter den Titel al-Mustasfā und griechische Logik gestellt. Ibn Taymiyya stellt darin fest, dass sich seit der Zeit von al-Ghazālī der Gebrauch der Methode der Logiker stark verbreitet hat. al-Ghazālī hat eine Einführung in die griechische Logik an den Anfang seines Buches al-Mustasfā min ʿilm al-usūl (Ausgewählte Themen von der Wissenschaft der Grundlagen) gestellt. Und er stellt darin die weittragende Behauptung auf, dass jemandem, der diese Logik nicht, kennt, in seinen Wissenschaften nicht vertraut werden darf:
Der Gebrauch der [Methode der Logiker] ist seit der Zeit von Abū Hāmid [al-Ghazālī] häufig geworden. Er hat eine Einführung in die griechische Logik am Beginn seines Buches Die ausgewählten Themen (al-Mustasfā) eingefügt und behauptet, dass dem Wissen von niemandem zu vertrauen ist, außer er kennt diese Logik.
Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. IX, S. 184–185. (133)
Michot zitiert als Beleg für die Aussage Ibn Taymiyyas in einer Anmerkung einen Ausschnitt aus al-Mustasfā von al-Ghazālī, der auch hier zur Erläuterung wiedergegeben sei:
In dieser Einführung werden wir von den Dingen sprechen, die von den Intellekten wahrgenommen werden, und darlegen, dass sie auf die Definition und die Demonstration (burhān) zurückführbar sind. Wir werden von den Bedingungen sprechen [die erfüllt sein müssen] von der wahren Definition, von den Bedingungen [die erfüllt sein müssen] von der wahren Demonstration und von den Unterteilungen beider, in einer knapperen Weise (minhādsch) als das, was wir erwähnt haben im Buch vom Prüfstein des Studiums (Mihakk an-nadhar) und im Buch vom Kriterium des Wissens (Miʿyār al-ʿilm). Diese Einführung ist nicht Teil der Wissenschaft von den Grundlagen (ʿilm al-usūl) als einem Ganzen, noch unter den für sie speziellen Einführungen. Sie ist vielmehr die Einführung zu allen Wissenschaften, und jemand, der sie nicht versteht (ahāta bi-), dem darf in seinen Wissenschaften grundsätzlich nicht vertraut werden.
al-Ghazālī, al-Mustasfā min ʿilm al-usūl, Būlāq, 1322/1904, Bd. I, S. 10. (133)
Das ist in der Tat ein sehr weitgehender Anspruch, der die griechische Logik zur notwendigen Voraussetzung aller Wissenschaften – und damit auch allen Wissens? - zu erheben scheint. Doch wäre das nicht schon eine Auslegung, die durch den Text selbst nicht wirklich gerechtfertigt ist? Was meint denn al-Ghazālī genau damit? Und wie versteht Ibn Taymiyya diese Aussage? Darauf gibt es keine Antwort, denn Ibn Taymiyya führt die Stelle nur an, ohne sie weiter zu erläutern.
Ibn Taymiyya nennt sodann mehrere Bücher, die al-Ghazālī der Darstellung der griechischen Logik gewidmet hat:
Er verfasste über sie Das Kriterium des Wissens (Miʿyār al-ʿilm) und Der Prüfstein des Studiums (Mihakk an-nadhar). Er verfasste auch ein Buch, das er betitelte Die gerade Waage (al-Qistās al-mustaqīm) und in dem er von fünf »Skalen« (mīzān) sprach: die drei kategorischen (hamlī) [Syllogismen], die konditional konjunktiven (schartī muttasil) und die konditional disjunktiven (schartī munfasil). Er hat ihre Terminologie durch Gleichnisse (mithāl) ersetzt, die er aus den Worten der Muslime übernommen hat, und erwähnt, dass er sich damit an einige der Taʿlīmiten (ahl at-taʿlīm, »Adepten der Lehre«) wandte. Er verfasste auch ein Buch über ihre Lehren (maqāsid) und ein anderes über ihre Inkohärenz (tahāfut).
Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. IX, S. 184–185. (133-134)
Ibn Taymiyya bezieht sich hiermit auf zwei Bücher von al-Ghazālī, Maqāsid al-falāsifa über die Lehren der Philosophen sowie Tahāfut al-falāsifa über die Inkohärenz der Philosophen. Er fährt sodann damit fort, ihren Inhalt zu beschreiben:
Er machte ihren Unglauben [kufr] klar, aufgrund [ihrer Ansichten über] die Frage der Ewigkeit der Welt, ihrer Leugnung des [göttlichen] Wissens der Einzeldinge und ihrer Leugnung der [künftigen] Wiederkehr.
Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. IX, S. 184–185. (134)
Darin legte al-Ghazālī also sowohl die Unvereinbarkeit mit dem Islam als auch die Unhaltbarkeit der Thesen der falāsifa hinsichtlich der Fragen der Ewigkeit der Welt, ihrer Leugnung von Gottes Wissen der Einzeldinge und ihrer Leugnung der Rückkehr (d.h. der leiblichen Auferstehung) dar. Diese Lehren hat al-Ghazālī in Tahāfut al-falāsifa in der Tat als kufr bezeichnt. Ibn Taymiyya schreibt weiter über al-Ghazālīs Kritik der falāsifa:
In seinen letzten Büchern hat er klargemacht, dass ihr Weg (tarīq) verderbt ist, und nicht dazu befähigt, Gewissheit zu erlangen. Er hat sie mehr getadelt als den Weg (tarīqa) der Kalām-Theologen.
Zu Anfang hat er in seinen Büchern viele von ihren Worten erwähnt, entweder in ihrer eigenen Terminologie oder in einer anderen. Später, gegen Ende seines Lebens, ist er in seinem Tadel an ihnen sehr weit gegangen. Er hat klargemacht, dass ihr Weg, was Unwissen und Unglauben [kufr] betrifft, Dinge beinhaltet, die es erforderlich machen, ihn zu tadeln und als verderbt zu betrachten, und zwar noch ernster als den Weg der Kalām-Theologen. Er verstarb, während er sich mit al-Bukhārī und Muslim beschäftigte.
Die Logik, über die er gesagt hat, was er gesagt hat, hatte ihn mithin nicht befähigt, sein Ziel zu erreichen. Und sie hatte auch nicht dem Zweifel und der Verwirrung ein Ende gesetzt, worin er sich befunden hatte. Für ihn war die Logik nutzlos gewesen.
Dennoch begannen viele Denker (nādhir) aufgrund dessen, was er während seines Lebens hervorgebracht hatte, und auch aus anderen Gründen die griechische Logik in ihre Wissenschaften aufzunehmen; und zwar so sehr, dass diejenigen der späteren [Gelehrten], die den Weg dieser [Leute] einschlugen, zu der Auffassung gelangten, dass es keinen anderen Weg gibt als diese [griechische Logik], und dass, was sie hinsichtlich Definition und Demonstration behauptet hatten, etwas Richtiges war, dem verständige Leute zustimmen mussten. Die[se späteren Gelehrten] wussten nicht, dass die verständigen und bedeutenden Leute unter den Muslimen und anderen nicht aufgehört hatten, diese [Logik] zu beschuldigen und zu bestreiten. Muslimische Denker haben in der Tat zahlreiche Werke darüber verfasst. Und die Mehrheit der Muslime beschuldigt sie kategorisch aufgrund dessen, was sie von ihren [schädlichen] Wirkungen und notwendigen Begleiterscheinungen sehen, die zeigen, was die Anhänger [der Logik anerkennen] hinsichtlich der Dinge, die dem Wissen und Glauben widersprechen, ein Umstand, der sie zu allerlei Arten von Unwissen, Unglauben [kufr] und Irregehen führt.Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. IX, S. 184–185. (134-135)
Ibn Taymiyya erkennt also ganz genau, dass al-Ghazālī eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der aristotelischen Logik im islamischen Denken zukommt. Er ist sich dessen sehr bewusst, welch große Bedeutung die Logik für al-Ghazālī hatte. Und er erklärt ihren Erfolg durch die oberflächlichen Änderungen, die er in die ursprüngliche Terminologie der Logik eingeführt hat, um ihr einen islamischen Anschein zu verleihen. Schon dieser kleine Textausschnitt verrät viel über den erstaunlichen Umfang der Kenntnisse von al-Ghazālīs Werk, über die Ibn Taymiyya verfügt.
Ibn Taymiyya verweist auch auf den paradoxen Charakter der Entwicklung, die schließlich zur Verbreitung der Logik geführt hat. al-Ghazālī selbst hat sich im Zuge seiner spirituellen Entwicklung immer weiter von Philosophie und Kalām entfernt, indem er deren Grenzen und Irrungen immer deutlicher erkannte und sich verstärkt dem Studium der Sunna zuwandte. So gewann er die Einsicht, wie nutzlos die Logik letztlich für ihn war. Allerdings hatte er die Logik in einigen Büchern so sehr angepriesen und befördert, dass es deshalb sowie aus anderen Gründen schließlich dazu kam, dass die späteren muslimischen Gelehrten sie gleichwohl weitgehend unkritisch übernahmen, ohne den Kritiken und Widerlegungen Beachtung zu schenken, die bedeutende Denker gegen sie vorgebracht hatten.
Dieser Umstand dürfte ein wichtiger Grund dafür sein, dass Ibn Taymiyya sich genötigt sah, selbst eine eingehende Kritik der griechischen Logik zu verfassen. Da kommt ihm sein Verständnis der geistigen Entwicklung von al-Ghazālī sehr zupass, die seine eigene Kritik in gewissem Maße vorzeichnet, ohne auch nur annähernd die gleiche Tiefe der Einsicht in die metaphysischen Grundlagen und Voraussetzungen der Logik zu erlangen. Jedenfalls kann al-Ghazālīs Entwicklung so verstanden werden, dass er sich immer mehr von Philosophie, Logik und Kalām abwandte und reumütig zu den Grundlagen des Islam zurückkehrte. Michot macht darauf aufmerksam, dass Ibn Taymiyya dabei die Echtheit und Wahrhaftigkeit der autobiographischen Erzählung, die al-Ghazālī in seinem al-Munqidh min adh-dhalāl (Der Erretter aus dem Irrtum) gibt, nicht in Zweifel zieht.
8.2 Ihyāʾ und Philosophie
8.2 Ihyāʾ und Philosophie Yusuf KuhnIm zweiten Textausschnitt, einer undatierten fatwā, spricht Ibn Taymiyya über al-Ghazālīs Hauptwerk Ihyāʾ ʿulūm ad-dīn (Wiederbelebung der Wissenschaften der Religion). Michot hat als Titel gewählt: Ihyāʾ und Philosophie. Wir wollen nur einige Aspekte herausgreifen, die in unserem Rahmen von besonderem Interesse sind.
Ibn Taymiyya weist zunächst auf eine gewisse Abhängigkeit von al-Ghazālīs Ihyāʾ von Werken von Abū Tālib al-Makkī und al-Hārith al-Muhāsibī hin. Dann stellt er fest, dass der Ihyāʾ viele Vorzüge besitzt, aber auch viel tadelnswertes Material beinhaltet. Zu letzterem gehören die Aussagen der Philosophen über die Einheit und Einzigkeit Gottes (tawhīd), das Prophetentum und das jenseitige Leben:
Die Wiederbelebung ist von vielerlei Nutzen (fāʾida), aber beinhaltet auch tadelnswerten Stoff (mawādd). Verderbte Stoffe sind wahrlich darin zu finden: Aussprüche der Philosophen bezüglich der göttlichen Einheit, des Prophetentums und der [künftigen] Wiederkehr. Wenn Abū Hāmid [al-Ghazālī] über die Dinge spricht, welche die Sufis erkannt haben (maʿārif), gleicht er jemandem, der einen Feind der Muslime nimmt und ihn in die Gewänder der Muslime kleidet (albasa). Die Imame der Religion haben Abū Hāmid dafür kritisiert, dass er dies in sein Buch aufgenommen hat. »Seine Krankheit ist die Heilung« (maradhuhu asch-schifāʾ), sagten sie, und meinten damit [das Buch von] der Heilung [Kitāb asch-schifāʾ], das Ibn Sīnā in der Philosophie [verfasst hat].
In [Der Wiederbelebung] gibt es schwache Hadithe (hadīth) und Überlieferungen (athar); viele sind sogar gefälscht. Darin findet man auch einige der verfänglichen Fragen (aghālīt) der Sufis und ihrer Streiche (turrahāt).Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. X, S. 551–552. (136-137)
Ibn Taymiyya erkennt in al-Ghazālīs großem Werk eine Verbindung aus Sufismus, falsafa, fragwürdigen Überlieferungen und noch zweifelhafteren Sufi-Geschichten. Den Sufismus hat er al-Makkī und al-Muhāsibī entliehen; und er ist folglich von gleichem Wert wie die Schriften dieser beiden Sufi-Meister. Die Philosophie hat er weitgehend von Ibn Sīnā übernommen. Ibn Taymiyya bringt eine scharfe Kritik unter verschiedenen Aspekten vor. al-Ghazālīs Behandlung des Sufismus ist so missraten, dass sie eher den Feinden des Islam dient. Er ist von den »Imamen der Religion« kritisiert worden. Und der Ihyāʾ ist das Werk eines Kranken, der von Ibn Sīnās Heilung angesteckt wurde.
Dabei lässt es Ibn Taymiyya allerdings nicht bewenden, sondern endet in einem etwas anderen Ton über den Ihyāʾ:
Darin sind gleichwohl auch, vermittels Worten der Sufi-Schaykhs, die hinsichtlich der Taten des Herzens wissend (ʿārif) und auf dem geraden Weg sind, Dinge, die mit dem Buch und der Sunna übereinstimmen. Hinsichtlich der gottesdienstlichen Handlungen und des guten Benehmens (adab) findet man darin auch Dinge, die mit dem Buch und der Sunna übereinstimmen. Diese Dinge sind zahlreicher als jene, die zu verwerfen sind. Und das ist der Grund, weshalb Leute unterschiedliche Meinungen über dieses Buch gefasst (idschtihād) und miteinander darüber gestritten haben.
Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. X, S. 551–552. (137)
Ibn Taymiyya erweist sich mithin durchaus nicht nur als zu einer besonnenen und ausgewogenen Beurteilung fähig, sondern vermag auch Kritik und echte Wertschätzung miteinander zu verbinden. Die gegensätzlichen Haltungen zum Ihyāʾ erklärt er mit dem vielschichtigen und uneinheitlichen Charakter dieses Werkes. Überdies ist nicht zu übersehen, dass es sich bei aller Kritik mitnichten um eine pauschale Verurteilung des Sufismus handelt. Im Gegenteil, er wird im Rahmen seiner Übereinstimmung mit den Grundlagen des Islam als solcher anerkannt.
8.3 Kausalität und Ethik
8.3 Kausalität und Ethik Yusuf KuhnDer dritte Text behandelt die Frage der Kausalität im Kontext des Tahāfut. Ibn Taymiyya schreibt dazu:
Es geschieht gewöhnlicherweise (al-ʿada dschāriya), dass ein Mensch isst und gesättigt ist, trinkt und sein Durst gestillt ist, mit einem Schwert schlägt und schneidet. Die [Aschʿariten] pflegten zu sagen, dass es einzig die ewige [göttliche] Macht (qudra) ist, die Sättigen, Stillen, Schneiden usw. geschehen lässt (muhdith), mit (ʿinda) diesen Dingen, die mit ihnen verbunden (muqāran) sind, nicht durch (bi-) sie. Und dass es hier weder ein Vermögen (quwwa) noch eine Natur noch eine Handlung gibt, die in irgendeiner Hinsicht einen Einfluss (taʾthīr) auf solche geschehende Dinge (hādith) hat. Deshalb ist das, was sie demgemäß über die Wunder zu sagen haben, machtvoller und evidenter.
Ibn Taymiyya, Kitāb as-Safadiyya. Hg. M. R. Sālim, 2 Bände, Mansoura: Dār al-Hady al-Nabawi - Riyādh: Dār al-Fadhīla, 1421/2000, Bd. I, S. 148-149. (138)
Michot fügt an dieser Stelle folgende Erläuterung ein:
Machtvoller und evidenter insofern, als Gottes Allmacht nicht durch ein System von natürlichen Wirkursachen begrenzt ist. (138)
Ibn Taymiyyas Text fährt sodann fort:
In dem Buch Die Inkohärenz der Philosophen (Tahāfut al-falāsifa) ordnet Abū Hāmid al-Ghazālī diese Frage den Grundlagen zu, über die er mit den Philosophen disputierte. Das ist der Grund, weshalb Ibn Ruschd in Der Inkohärenz der Inkohärenz (Tahāfut at-tahāfut) ihn stark kritisierte. Er machte dies zu einem der Themen, über die er Abū Hāmid auf hochmütige Weise angriff, indem er diese Gelegenheit ergriff, um ihn zu widerlegen und den Philosophen zum Sieg zu verhelfen.
Ibn Taymiyya, Kitāb as-Safadiyya. Hg. M. R. Sālim, 2 Bände, Mansoura: Dār al-Hady al-Nabawi - Riyādh: Dār al-Fadhīla, 1421/2000, Bd. I, S. 148-149. (138)
Michot kommentiert diesen Textausschnitt wie folgt:
Die Kritik der sekundären Kausalität, die in der siebzehnten Erörterung des Tahāfut entwickelt wird, ist eines der berühmtesten Kapitel des Buches und bleibt Gegenstand scharfer Debatte unter Spezialisten. In dieser Passage sieht Ibn Taymiyya al-Ghazālī als einen traditionellen aschʿaritischen okkasionalistischen Theologen, der die ausschließliche Macht Gottes verkündet und dementsprechend jegliche reale Wirksamkeit der anscheinenden natürlichen Ursachen, Vermögen und Handlungen auf ihre angenommenen Wirkungen bestreitet. Es ist daher keine Überraschung, dass Ibn Ruschd ihn so scharf angegriffen hat. (138)
Die Kritik allerdings, die Ibn Ruschd an der Position al-Ghazālīs vorgebracht hat, hält Ibn Taymiyya für fehlerhaft und falsch, wohingegen er bei al-Ghazālī eine richtige Auffassung erkennt. Er schreibt in einem anderen Text, den Michot in einer Anmerkung zitiert, nämlich dazu:
[Ibn Ruschd] widerlegte Abū Hāmid [al-Ghazālī] in Tahāfut at-tahāfut mit einer Widerlegung, in der er sehr viele Fehler machte, während die richtige Meinung diejenige von Abū Hāmid ist. Einen Teil [seiner Widerlegung] entnahm er den Worten von Ibn Sīnā, nicht den Worten seiner Vorfahren. Und er befand [den Tahāfut] als irrig aus Ibn Sīnā[s Gesichtspunkt]. In einem [anderen] Teil von seiner [Widerlegung] wurde er überheblich gegenüber Abū Hāmid und beschuldigte ihn eines Mangels an Gerechtigkeit (qillat al-insāf), da er diesen [Teil von seiner] Widerlegung auf verderbte Prinzipien des Kalām stützte, zum Beispiel die [Idee], dass der Herr nichts für einen Grund tut, noch für einen weisen Zweck, und die [Idee], dass der Allmächtige, Der wählt, einem von zwei Objekten Seiner Macht (maqdūr) das Übergewicht gegenüber dem anderen gibt ohne irgend etwas, das es überwiegend (muradschdschih) macht. In [einem weiteren] Teil seiner Widerlegung fiel er in völlige Verwirrung aufgrund der unklaren Natur von [al-Ghazālīs] Position.
Ibn Taymiyya, Minhādsch as-sunnat an-nabawiyya fī naqd kalām asch-schīʿa wa al-qadariyya, Hg. M. R. Sālim, 9 Bände, Kairo: Maktabat Ibn Taymiyya, 1409/1989, Bd. I, S. 356. (137-138, Fn. 37)
Hier verteidigt Ibn Taymiyya also ganz offenkundig al-Ghazālīs Kritik der Philosophie gegenüber der vermeintlichen Widerlegung dieser Kritik durch Ibn Ruschd. Aber werfen wir nochmals einen Blick auf den Text und dessen Kommentar durch Michot. Ist die Interpretation wirklich gerechtfertigt, dass Ibn Taymiyya in al-Ghazālī einen Anhänger des traditionellen aschʿaritischen Okkasionalismus sieht, wie Michot kommentiert? Der entscheidende Satz sei zur Erinnerung nochmals angeführt:
In dem Buch Die Inkohärenz der Philosophen (Tahāfut al-falāsifa) ordnet Abū Hāmid al-Ghazālī diese Frage den Grundlagen zu, über die er mit den Philosophen disputierte.
Streng genommen geht daraus lediglich hervor, dass al-Ghazālī »diese Frage« erörtert, jedoch nicht, dass er die zuvor beschriebene aschʿaritische Lehre selbst vertritt. Das sagt Ibn Taymiyya jedenfalls nicht ausdrücklich. Und die ganze Passage macht durchaus Sinn, wenn sie lediglich so verstanden wird, dass al-Ghazālī dieses Thema erörtert und dabei die Position der Philosophen widerlegt, ohne sich selbst auf eine der möglichen Positionen festzulegen. Das wäre indes Grund genug für die scharfe Replik durch Ibn Ruschd, der zur Verteidigung der Philosophen gegen die vernichtende Kritik al-Ghazālīs antritt. Aus dieser Stelle kann also nicht zwingend abgeleitet werden, dass Ibn Taymiyya al-Ghazālī als aschʿaritischen Okkasionalisten betrachtet hat.
Demgemäß erscheint dann auch folgende Feststellung, mit der Michot seinen Kommentar zu dieser Stelle fortsetzt, in einem etwas anderen Licht:
Interessanterweise bemerkt der Damaszener Theologe an anderer Stelle, dass al-Ghazālī nicht immer ein aschʿaritischer Okkasionalist ist, sondern in der Frage der sekundären Kausalität eine Position annimmt, die den Erfordernissen sowohl der Vernunft wie auch der Religion näher kommt, insbesondere im Ihyāʾ. (139)
Damit ist zugleich die Überleitung zum nächsten Text gegeben, den Michot unter den Titel stellt: Kausalität im Ihyāʾ. Es sei zuvor noch darauf aufmerksam gemacht, dass Michot hier zum zweiten Mal den Begriff der sekundären Kausalität verwendet, der in diesem Zusammenhang üblicherweise immer wieder auftaucht, ohne dass wirklich geklärt wäre, was genau damit gemeint ist. Michot bietet leider keine Erläuterung. Da eine Erörterung der vielen und schwierigen Fragen, die damit einhergehen und die für eine Klärung angesprochen werden müssten, zu weit führen würde, müssen wir uns auf diesen Hinweis beschränken, der zumindest darauf aufmerksam machen sollte, dass hinter einem mit einer gewissen Selbstverständlichkeit verwendeten Begriff allerlei ungelöste Probleme stecken können. Entsprechendes ließe sich freilich auch zum Begriff der Kausalität im allgemeinen sagen.
8.4 Kausalität im Ihyāʾ
8.4 Kausalität im Ihyāʾ Yusuf KuhnUnd das führt uns zum vierten Text, dessen Titel lautet: Kausalität im Ihyāʾ. Ibn Taymiyya beginnt mit einer Kritik von Positionen, die den Gedanken der Ursächlichkeit untergraben, und somit sowohl mit der Offenbarung wie auch mit der Vernunft in Konflikt geraten:
Manche Leugner […] haben geleugnet, was Gott [Allāh], der Erhabene, als Ursachen (sabab) gesetzt hat, und zwar so sehr, dass sie [die Bereiche] der Offenbarung (scharʿ; Michot übersetzt Law) und der Vernunft verlassen haben [indem sie dies taten]. Gott, so sagten sie, lässt Sättigung und Durststillen eintreten mit (ʿinda) Speise und Trank, nicht durch (bi-) sie. Er lässt desgleichen die Pflanze hervorkommen mit dem Regenfall, nicht durch ihn, usw. Dies steht im Gegensatz zu dem, was das Buch und die Sunna gelehrt haben […] Die Leugnung, über erschaffene Dinge, dass diese Ursachen Ursachen sind, gleicht der Leugnung, seitens mancher Gruppen von Sufis und ihresgleichen, der Handlungen des Herzens und anderer Angelegenheiten, die von der Offenbarung vorgeschrieben sind und die ihnen [zu tun] geboten sind, in Anbetracht der [göttlichen] Fügung (qadar) und unter dem Vorwand des Vertrauens [auf Gott], wie wir an anderer Stelle ausführlich erklärt haben.
Das ist der Grund, warum Leute, die diese zwei Abweichungen untersucht haben, wie Abū Hāmid [al-Ghazālī], Abū al-Faradsch al-Dschawzī und andere, gesagt haben, [wie] in [al-Ghazālīs] Buch des Vertrauens (Kitāb at-tawakkul): »Wisse, dass den Ursachen Beachtung zu schenken (iltifāt ilā), Beigesellung ist, insofern die Verkündigung von Gottes Einheit betroffen ist [schirk fī at-tawhīd]. Die Ursachen auszulöschen (mahw) [durch die Leugnung], dass sie Ursachen sind, ist Verändern der Tragweite (taghyīr fī wadschh) der Vernunft. Die völlige Abwendung von den Ursachen ist Schmähung der Offenbarung (qadh fī asch-scharʿ).«
Die Alten (salaf) und die Imame waren einer Meinung über die Setzung [der Existenz] dieser Vermögen. Die Vermögen, durch die man denkt, sind wie die Vermögen, durch die man sieht. Gott [Allāh], der Erhabene, ist der Schöpfer von all dem, genauso wie der Diener das durch seine Macht (qudra) tut (faʿala) – darüber gibt es unter ihnen keine Meinungsverschiedenheit. Gott, der Erhabene, ist sein Schöpfer und der Schöpfer seiner Macht, und es gibt keine Kraft und keine Stärke außer in Gott! (139-140)
Ibn Taymiyya, Bughyat al-murtād fī ar-radd ʿalā al-mutafalsifa wa al-qarāmita wa al-bātiniyya ahl al-ilhād min al-qāʾilīn bi-l-hulūl wa al-ittihād, Hg. M. b. S. ad-Duwaysch, ohne Ort: Maktabat al-ʿulūm wa al-hikam, 1408/1988, S. 261-263.
Es sei hervorgehoben, dass Ibn Taymiyya sich hier auf al-Ghazālīs Kritik an der Negation der Ursächlichkeit zustimmend bezieht, diese übernimmt und sie weiter ausführt.
Michot weist zunächst darauf hin, dass das, was al-Ghazālī schreibt, sich von Ibn Taymiyyas Zitat leicht unterscheidet, was seiner Bedeutung aber keinen Abbruch tut, um sodann zu kommentieren:
In metaphysischer Hinsicht führt das Problem der sekundären Kausalität zu einer Aporie: Wenn sie anerkannt wird, ergibt sich daraus, dass Gott etwas beigesellt wird; wenn sie verneint wird, ist es irrational. Allerdings bedarf es gleichwohl einer wirksamen sekundären Kausalität, damit das Prophetentum und die Gebote der Offenbarung (the Law) überhaupt Sinn machen und praktische Folgen nach sich ziehen. Etwas, das in der Metaphysik nicht entschieden werden kann, wird somit in die Debatte wiedereingeführt und als ein Erfordernis der Religion oder der Ethik validiert. Eine solche Wiederbegründung der sekundären Kausalität durch die Ethik, jenseits der Grenzen der Metaphysik, hat einen sehr modernen Aspekt. (140)
Das ist eine ziemlich freie Interpretation in philosophischen Begriffen, von denen in Ibn Taymiyyas Text keine Rede ist. Michot verlagert das Thema in den Bereich der Metaphysik, in dem es sodann zu vermeintlichen Problemen wie Aporie, sekundäre Kausalität, Unentscheidbarkeit usw. kommen soll. Es mag sein, dass diese Probleme in diesem Rahmen tatsächlich auftreten. Aber ist es auch der Rahmen, in dem Ibn Taymiyya sich bewegt? Im Text selbst gibt es jedenfalls kaum einen Hinweis darauf. Im Gegenteil, Ibn Taymiyya hebt vielmehr hervor, dass es keine derartigen philosophischen Probleme gibt, indem er einerseits auf den Einklang von Vernunft und Offenbarung und andererseits auf die einmütige Position der salaf und Imame, die für problemlos erachtet wird, verweist. Und natürlich würde sich demnach auch die ganze Idee einer Wiedereinführung von etwas, das in der Metaphysik unentscheidbar sein soll, durch die Ethik erübrigen. Dem hier näher nachzugehen, würde indes zu weit führen. Verfolgen wir daher weiter den Kommentar von Michot:
Ebenso faszinierend ist die Parallele, die Ibn Taymiyya zwischen einem Okkasionalismus der aschʿaritischen Art und dem Antinomismus der prädeterministischen Sufis zieht. Die Konsequenzen einer exzessiven Erhöhung der Omnipotenz Gottes durch die Leugnung von sekundären Ursachen sind sogar schwerwiegender in praktischen Angelegenheiten als in theologischen Debatten. Ein solcher falscher tawhīd unterminiert in der Tat das ganze Gefüge der religiösen Praxis, indem er es realer Wirksamkeit beraubt und dadurch sinnlos macht. Daher die Affirmation von sekundärer Kausalität als einem Erfordernis der Ethik. (140)
Auch hier wäre eine größere Nähe zum Text wünschenswert, in dem die für diesen Gedanken grundlegende Unterscheidung von Theorie und Praxis so gar nicht zu finden ist. Gleichwohl ist der Grundgedanke der schädlichen Wirkung der Leugnung von Ursachen seitens sowohl des aschʿaritischen Okkasionalismus als auch des sufischen Determinismus auf Offenbarung und Vernunft, wenn nicht sogar deren Unvereinbarkeit mit Offenbarung und Vernunft klar herausgestellt.
Es sei noch bemerkt, dass all dies nicht nur auf den Text Ibn Taymiyyas zutrifft, sondern auch auf das Zitat von al-Ghazālī, dem sich Michot in seinem Kommentar nun wieder zuwendet:
Aber kommen wir zu al-Ghazālī zurück. So wie Ibn Taymiyya ihn versteht, sind seine Ansichten über sekundäre Kausalität im Ihyāʾ der Position der Philosophen, die er im Tahāfut widerlegt, näher als dem aschʿaritischen Okkasionalismus, den er darin einsetzt, um sie anzugreifen. (140)
Das von Ibn Taymiyya angeführte Zitat spricht aber eher dafür, dass al-Ghazālī weder die eine noch die andere Position vertreten hat, sondern beiden gleichermaßen kritisch gegenüberstand, nicht anders als Ibn Taymiyya selbst, der sich deshalb ja so zustimmend darauf beziehen kann. al-Ghazālī schwankte daher nicht unentschlossen zwischen diesen beiden Positionen, wie Michot nahelegt, gestützt auf ein Zitat von Frank Griffel, der die angebliche Unentschiedenheit al-Ghazālīs in dieser Frage betont, um seine These von al-Ghazālīs philosophischer Theologie oder Kosmologie darauf zu stützen.
Die rein theoretische Natur der Diskussionen im Tahāfut erlaubt einen okkasionalistischen tawhīd, an den zu halten sich für seinen Autor als viel schwieriger erweist, wenn er in der Spiritualität des Ihyāʾ praktische Zwecke verfolgt. Könnte es sein, dass Abū Hāmid, statt unentschieden zu sein, okkasionalistisch oder nicht in Abhängigkeit von einem theoretischen oder praktischen Kontext sein könnte? (140-141)
Zum einen deuten Griffels Äußerungen am Ende seines Buche über al-Ghazālīs philosophische Theologie darauf hin, dass er in diesem Punkt von Michot gar nicht so weit entfernt ist, da er genau diese These selbst auch vertritt.
Was immer die Antwort auf diese Frage sein mag, Ibn Taymiyya muss umso zufriedener mit al-Ghazālīs Position zu sekundären Ursachen im Buch des Vertrauens gewesen sein, als dies ziemlich genau seine eigene Ansicht zu dem Thema ist, wie aus seinem Sendschreiben über die Mittler zwischen den Geschöpfen und dem Wirklichen (Risālat al-wāsita bayna al-khalq wa al-Haqq) erhellt – und es ist nicht von Belang, dass es in diesem Fall eine Ansicht ist, die mit Ideen übereinkommt, die bereits von Avicenna zum Ausdruck gebracht wurden und die teilweise auf ihn zurückgeführt werden können. (141)
Wir müssen es uns versagen, auf diese komplexen Zusammenhänge und deren Problematik näherhin einzugehen, da dies den Rahmen sprengen würde.
8.5 Authentizität des Madhnūn
8.5 Authentizität des Madhnūn Yusuf KuhnIm fünften Text wie auch in den beiden darauf folgenden Texten werden Fragen bezüglich eines Werkes von al-Ghazālī behandelt, das betitelt ist: al-Kitāb al-madhnūn bihi ʿalā ghayr ahlihi (Das Buch, das von denen fernzuhalten ist, die seiner nicht würdig sind). Wir müssen uns dabei auf die bündige auszugsweise Wiedergabe von Text und Kommentar beschränken, da eine inhaltliche Erörterung zu weit führen würde.
Ibn Taymiyya weiß um die Kontroverse über die Autorschaft des Madhnūn, aber er hat keinen Zweifel daran, dass al-Ghazālī sein Verfasser ist. Er schreibt dazu:
Was al-Kitāb al-madhnūn bihi ʿalā ghayr ahlihi (Das Buch, das von denen fernzuhalten ist, die seiner nicht würdig sind) betrifft, so bestreitet eine andere Gruppe von Gelehrten seine Authentizität. Aber die Spezialisten für [al-Ghazālī] und seine Umstände (hāl) wissen, dass diese allesamt seine Worte sind, da sie die Stoffe kennen, über die er spricht, und ihre Ähnlichkeit untereinander. Er und seinesgleichen, wie schon gesagt, waren verwirrt (mudhtarib) und hielten nicht an einer bestimmten Aussage fest.
Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. IV, S. 65. (141)
Michot weist darauf hin, dass diese Auffassung mit den Ergebnissen der jüngeren Forschung übereinstimmt und die Frage der Autorschaft des Madhnūn als geklärt gelten kann.
8.6 Fürsprache im Madhnūn
8.6 Fürsprache im Madhnūn Yusuf KuhnMichot führt unter dem Titel Fürsprache im Madhnūn den sechsten Text von Ibn Taymiyya an:
Die Bedeutung von »Fürsprache« (schafāʿa) ist für [diese Philosophen] nicht, Gott [Allāh] und Seinen Gesandten anzurufen, wie es [in] der Lehre der Muslime ist. Fürsprache nach ihnen ist vielmehr, dass das Herz an [einige] Mittel geheftet ist, und zwar so sehr, dass durch die Vermittlung (bi-wāsita) von diesen Mitteln etwas auf sie strömt (fādha), was ihr nützt, genauso wie die Strahlen der Sonne durch die Vermittlung ihres Strömens auf einen Spiegel auf eine Mauer strömen. Nun, dies ist eine Fürsprache der Art, [deren Existenz] die Beigeseller setzen, und es ist diejenige, die Gott in Seinem Buch verworfen hat.
Dinge sind in das hineingelangt, was Abū Hāmid [al-Ghazālī] in Das Buch, das von denen fernzuhalten ist, die seiner nicht würdig sind und in anderen seiner Bücher sagt, die von der Art dessen sind, was diese [Philosophen] über Fürsprache, über Prophetentum usw. sagen – er setzt sogar [die Zahl der] Eigenschaften des Propheten auf drei fest, wie zuvor erwähnt, und [übernimmt] andere Dinge, die sie sagen.
Die Kritik (nakīr) dieser Worte durch die Gelehrten des Islam war stark, und sie sagten über Abū Hāmid und seinesgleichen Dinge, die wohlbekannt sind. […] Abū Bakr ibn al-ʿArabī, sein Schüler, schrieb etwas darüber und sagte sogar: »Unser Schaykh Abū Hāmid ging in den Bauch der Philosophen hinein; er wollte dann aus ihnen herauskommen, aber er war nicht fähig [dies zu tun].« […]
Unter den schwerwiegendsten Dingen, aufgrund derer die Imame der Realisierende [der Wahrheit] (muhaqqiq) über ihn sprachen, ist das, worin er mit diesen philosophierenden Sabäern übereinstimmte. Danach widerlegte er nichtsdestotrotz die Philosophen und legte ihre Inkohärenz (tahāfut) und ihren Unglauben (kufr) dar. Er legte auch dar, dass ihr Weg (tarīqa) [einen] nicht dazu befähigt, zur Wahrheit zu gelangen. Überdies widerlegte er die Kalām-Theologen und gab dem Weg der Hingabe (riyādha) und dem Sufismus den Vorzug. Als er dann durch diese beiden Wege nicht erlangte, wonach er auf der Suche war, verblieb er unter den Leuten der Suspension (waqf) und neigte zum Weg der Anhänger des hadīth. Er verstarb, während er sich mit al-Bukhārī und Muslim beschäftigte.Ibn Taymiyya, Kitāb as-Safadiyya. Hg. M. R. Sālim, 2 Bände, Mansoura: Dār al-Hady al-Nabawi - Riyādh: Dār al-Fadhīla, 1421/2000, Bd. I, S. 209-212. (143-144)
Michot hat die zahlreichen Gelehrten, die an den ausgelassenen Stellen von Ibn Taymiyya als Vertreter dieser Kritik an al-Ghazālī aufgelistet werden, einer näheren Betrachtung unterzogen und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sie allen vier großen Rechtsschulen angehören. Damit wollte Ibn Taymiyya offensichtlich aufzeigen, wie einmütig diese Kritik geteilt wurde.
8.7 Prophetentum im Madhnūn
8.7 Prophetentum im Madhnūn Yusuf KuhnDen siebten und letzten der drei Texte zum Madhnūn stellt Michot unter den Titel Prophetentum im Madhnūn. Ibn Taymiyya unterzieht darin die philosophische Konzeption des Prophetentums einer Kritik im Lichte der islamischen Offenbarung:
[Diese Philosophierer] sind der Meinung, dass, wenn es in einem Menschen Bereitsein für die Perfektion der Reinigung seiner Seele und für ihre Besserung (islāh) gibt, deshalb Wissenschaften aus dem aktiven Intellekt auf ihn strömen (fādha), genauso wie die Strahlen auf einen polierten Spiegel strömen, wenn er gereinigt ist und die Sonne ihm gegenübersteht. [Sie denken auch,] dass die Ankunft (husūl) des Prophetentums nicht etwas ist, das Gott [Allāh] durch Seinen Willen und Seine Macht geschehen lässt (ahdatha), sondern nur die Ankunft dieses Stroms (faydh) auf diese bereite [Seele] ist, gleich der Ankunft der Strahlen auf diesem polierten Körper. Viele von ihnen begannen daher, das Prophetentum zu suchen, wie über eine Gruppe von alten Griechen berichtet wird und wie dies auch einer Gruppe von Leuten unter dem Islam geschieht.
Das ist der Grund, weshalb Leute den Autor von Kīmiyāʾ as-saʿāda (Die Alchemie der Glückseligkeit) und den Autor von al-Kitāb al-madhnūn bihi ʿalā ghayr ahlihi (Das Buch, das von denen fernzuhalten ist, die seiner nicht würdig sind) und Mischkāt al-anwār (Die Nische der Lichter) ernstlich kritisiert haben. Es gibt in der Tat in dem, was er sagt, Dinge, die von der Art dessen sind, was von jenen Häretikern (mulhid) gesagt wird. Er äußerte sie in in islamischen Terminologien (ʿibāra) und sufischen Andeutungen (ischāra), und aus diesem Grund wurden der Autor von Khalʿ an-naʿlayn (Das Ausziehen der zwei Sandalen), Ibn Sabʿīn, Ibn al-ʿArabī und ihresgleichen unter jenen, die [ihr Denken] auf dieser verderbten Grundlage errichteten, irregeführt (ightarra).
Dahingegen muss es für das Prophetentum unerlässlich eine göttliche Offenbarung geben, durch die Gott besonders auszeichnet, wen auch immer Er dadurch unter Seinen Dienern durch Seinen Willen und Seine Macht auszeichnet. Er, Der gepriesen sei, kennt diesen Propheten und das, was Er ihm als Offenbarung offenbart. Durch seine Macht zeichnet Er ihn besonders durch das aus, wodurch von Seinen Wundern (karāma) Er ihn besonders auszeichnet.Ibn Taymiyya, Kitāb as-Safadiyya. Hg. M. R. Sālim, 2 Bände, Mansoura: Dār al-Hady al-Nabawi - Riyādh: Dār al-Fadhīla, 1421/2000, Bd. I, S. 229-230. (144-145)
Michot, der den Akzent wiederum auf den Begriff der sekundären Ursachen sowie den Gegensatz von Okkasionalismus und Determinismus legt, kommentiert die letzten beiden Textausschnitte:
In diesen Texten 6 und 7, wie auch in Text 1, erwähnt Ibn Taymiyya eine Reihe von al-Ghazālīs Schriften, spielt kurz auf Abū Hāmids spirituelle Entwicklung an und untersucht den Einfluss, den er auf spätere Denker hatte. Obgleich Text 6 mit einer Erörterung der Bedeutung der Fürsprache und Text 7 mit einer Erörterung der Prophetologie der Philosophen beginnt, ist in beiden die wirkliche Frage wieder die Wirksamkeit von sekundären Ursachen in al-Ghazālīs Denken. Und diesmal könnte es, nach Ibn Taymiyya, so scheinen, als wäre Abū Hāmid von einem Extrem in sein Gegenteil übergegangen.
Denn statt illusorische Agenten zu sein, wird den sekundären Ursachen nun die Wirksamkeit eines natürlichen Prozesses zuerkannt, der von Gott unabhängig ist und in dem die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung automatisch ist, genauso wie wenn die Strahlen der Sonne, die in einem Spiegel reflektiert werden, auf eine Mauer fallen oder wirklich in diesem Spiegel erscheinen können, weil er gereinigt und poliert worden ist. Ohne diese Vorbereitung des Spiegels würden die Strahlen der Sonne nicht in ihm erscheinen, und ohne dass der Spiegel als ein Mittler agiert, würden sie nicht die Mauer erreichen. Das ist, nach Ibn Taymiyya, das physikalische Modell, das der Autor des Madhnūn den Philosophen entleiht, um den Begriff der Fürsprache und das Empfangen von Offenbarung zu erklären. In beiden Fällen wird eine Wirksamkeit »Mitteln« zugeschrieben – einem Fürsprecher oder einer gereinigten Seele – und diese ist so wirklich, dass sie Gott zwingt, entsprechend zu handeln – das heißt, zu vergeben oder eine prophetische Offenbarung herabzusenden. (146)
Diese Interpretation mag in gewissem Maße berechtigt sein und die Intention Ibn Taymiyyas widerspiegeln. Von sekundären Ursachen, ja von Ursachen und Kausalität überhaupt, ist in diesen Texten indes gar nicht die Rede. Vielleicht steckt hinter dem vermeintlich »physikalischen Modell«, das die Rede von Ursachen nahelegen mag, etwas anderes, das nicht in den begrifflichen Rahmen von Kausalität und schon gar nicht in den von Wirkursächlichkeit fällt. Denn das »Modell« von Licht, Spiegel und Seele wird schon in der griechischen Philosophie, auf die Ibn Taymiyya ausdrücklich hinweist, nicht als natürlicher Vorgang verstanden, sondern als Metapher gebraucht für den Prozess der Erkenntnis, die in ihrer Vollendung als höchster Erkenntnis der Wahrheit das Schema von Ursache und Wirkung weit unter sich lässt. Die höchste Erkenntnis als geistige Schau mündet in die absolute Identität des Denkens des Denkens, in dem Denken, Denkender und Gedachtes zur absoluten Einheit verschmelzen. Vieles deutet darauf hin, dass die Kritik Ibn Taymiyyas also vielmehr gegen diesen Gott der Philosophen gerichtet ist. Wir müssen uns leider versagen, dies näher aufzuklären, da hier der Ort dafür nicht ist. Es wäre dabei auch zu zeigen, dass die Zitate aus al-Ghazālīs Werken, die Michot im Anschluss als Belege für Ibn Taymiyyas Kritik anführt und die wir hier auslassen, viel eher in diesem Sinn zu verstehen sind denn als Absage an ein Denken, das vermeintlich von einem aschʿaritischen zu einem deterministischen Gottesbegriff übergegangen ist.
Michot fährt in seinem Kommentar indes in letzterem Geiste fort:
Die Weise, in der al-Ghazālī seine Ansichten in diesen Passagen ausdrückt und für die Ibn Taymiyya ihn tadelt, verzichten auf die Ideen von Gottes ausschließlicher Macht und Bestimmung, die im Aschʿarismus angeblich so zentral sind. Eine volle Ermächtigung dieser Mittler […] ist an die Stelle ihres Untergangs getreten. Theologie wird der Geometrie der Optik untergeordnet. Es kommt daher nicht überraschend, dass Leute, die von solchen Prämissen irregeführt sind, zu behaupten begannen, dass das Prophetentum durch spirituelle Übungen erworben werden könne, und anfingen, nach ihm zu streben. Und was al-Ghazālī selbst anbelangt, so ist es kein Wunder, wenn seine Kritiker zu der Auffassung kamen, dass er, statt den Philosophen im Tahāfut den Todesstoß versetzt zu haben und was immer seine letztliche reuevolle Umkehr (tawba) bedeutet haben mag, sich so tief in falsafa verstrickt hat, dass er nie mehr dazu fähig war, sich von ihr zu erholen. (148)
Ob al-Ghazālī sich wirklich nie von den Fesseln der Philosophie zu lösen vermochte, muss freilich fraglich bleiben. Dass er sich in der Philosophie verfangen hat, ist sicher richtig. Nur wird in dieser Darstellung das wahre Wesen der Philosophie, der al-Ghazālī verfallen war, hinter der falschen Alternative eines okkasionalistischen und deterministischen Gottes mehr verschleiert als erhellt. Wenn Ibn Taymiyyas Kritik vorwiegend so verstanden wird, dass sie auf den Machtverlust des ersteren Gottes zugunsten des letzteren Gottes zielt, verfehlt sie ihr Ziel, wenn der eigentliche Gegenstand der Kritik ein Gott der Philosophen ist, der unendlich mächtiger ist, da er über absolute Macht verfügt, sowie eine Erkenntnis dieses Gottes, die in die absolute Identität mündet.
8.8 Alte und neue Kritiken
8.8 Alte und neue Kritiken Yusuf KuhnDem achten Text hat Michot den Titel Alte und neue Kritiken gegeben. Ibn Taymiyya stellt darin ältere Kritiken an al-Ghazālī vor und bezieht dazu Stellung. Wir wollen uns dabei wieder auf einige bestimmte inhaltliche Aspekte konzentrieren. Die hauptsächlichen Kritikpunkte sind al-Ghazālīs unkritische Förderung der aristotelischen Logik und seine Übernahme philosophischer Begriffe vor allem im Ihyaʾ.
Hören wir Ibn Taymiyya selbst:
In dem, was al-Ghazālī sagt, gibt es eine Widerlegung der Philosophen, eine Bezichtigung des kufr (takfīr) der letzteren, eine Lobpreisung (taʿdhīm) des Prophetentums usw. Es gibt in seinen (Worten) auch Dinge (die) richtig (sahīh), gut (hasan) oder sogar von großem Wert (ʿadhīm al-qadr), nützlich (nāfiʿ) (sind). Trotz alledem gibt es in manchen seiner Worte auch philosophisches Material und Dinge, die ihm zugeschrieben worden sind, die mit den verderbten Grundlagen (asl) der Philosophen übereinstimmen, die im Widerspruch zum Prophetentum oder sogar zur klaren Vernunft (sarīh al-ʿaql) stehen. [...]
Ibn Taymiyya, Scharh al-ʿaqīdat al-isfahāniyya, Kairo, ohne Jahr, S. 132-136. (148)
Daraufhin nennt Ibn Taymiyya eine ganze Reihe von Gelehrten, die al-Ghazālī in der einen oder anderen Form kritisiert haben. Inhaltliche Erwähnung findet dabei beispielsweise seine unkritische Übernahme der griechischen Logik und insbesondere seine Behauptung, dass sie eine notwendige Voraussetzung aller Wissenschaften (oder gar allen Wissens) sei. Als Beleg werden wieder al-Ghazālīs Worte über diese Logik aus der Einführung in den Mustasfā angeführt:
Sie ist vielmehr die Einführung zu allen Wissenschaften, und jemand, der sie nicht versteht, dem darf in seinen Wissenschaften grundsätzlich nicht vertraut werden.
Siehe Text 1 oben.
Da drängt sich, so Ibn Taymiyya, manchem Gelehrten die Frage auf: »Und was ist dann mit den Gefährten des Propheten wie etwa Abū Bakr und ʿUmar?« Sie verfügten doch über großes Wissen und Gewissheit, »obwohl sie diese Einführung und ähnliche Dinge nicht verstanden hatten«.
Dann folgt eine Erinnerung an die große Debatte über Logik zwischen dem christlichen Philosophen und Logiker Mattā und dem Grammatiker as-Sīrāfī. Ibn Taymiyya gibt die berühmte Geschichte folgendermaßen wieder:
Die Versammlung (madschlis) des Wesirs Ibn al-Furāt in Bagdad lud häufig allerlei bedeutende Persönlichkeiten ein – Kalām-Theologen und andere. Mattā, der christliche Philosoph, war einmal in dieser Versammlung zugegen und der Wesir sagte: »Ich möchte, dass einer von euch sich dessen widmet, mit Mattā über seine Aussage zu diskutieren, dass es keine andere Weise gibt, das Wirkliche vom Nichtigen, den Beweis vom Fehlschluss sowie Zweifel von Gewissheit zu unterscheiden, außer mittels dessen, was wir von der Logik verstehen und was wir von ihrem Gründer schrittweise lernen.« Abū Saʿīd as-Sīrāfī, der in (verschiedenen) anderen Wissenschaften neben der Grammatik bedeutend war, widmete sich dessen. Er sprach darüber zu (Mattā), bis er ihn mit seinen Argumenten zum Schweigen brachte und ihn beschämte.
Ibn Taymiyya, Scharh al-ʿaqīdat al-isfahāniyya, Kairo, ohne Jahr, S. 132-136. (149-150)
Die geschilderte Debatte ist von großer Bedeutung für die Geschichte der Logik im islamischen Denken. Die gegen die Logik vorgebrachten Argumente können nicht nur als Vorläufer der von Ibn Taymiyya entwickelten Widerlegung der griechischen Logik gelten, sondern ihre Bedeutung reicht sogar noch weit darüber hinaus, wenn man sie im Lichte der jüngeren Entwicklungen in der Logik und deren philosophischer Interpretation seit der Mitte des 19. Jahrhunderts betrachtet.
Ibn Taymiyya zitiert sodann die Aussage des Gelehrten Abū ʿAmr ibn as-Salāh über die Logik:
Vor dem Gründer der Logik, Aristoteles, und nach ihm sorgten sich die Denker und die Gelehrten mit ihrem reichen Wissen nicht, ohne das Erlernen der Logik auszukommen. Für sie war Logik lediglich, wie sie zu sagen pflegten, ein regulatorisches, technisches Werkzeug (āla qānūniyya sināʿiyya), das den Geist vor Irrtum bewahrt. Nun, jede Person mit einem gesunden Geist ist von Natur aus logisch.
Ibn Taymiyya, Scharh al-ʿaqīdat al-isfahāniyya, Kairo, ohne Jahr, S. 132-136. (150)
Es folgt ein weiteres Zitat desselben Gelehrten, der zunächst feststellt, dass al-Ghazālī alle Gelehrten, die ihm vorausgegangen sind, mit Missachtung und Herabsetzung strafte. In Wirklichkeit jedoch hatten sie große Fähigkeiten entwickelt und Leistungen vollbracht:
[…] doch keiner von ihnen hat der Logik irgend eine Aufmerksamkeit geschenkt oder bei seinen Unternehmungen irgend eine Grundlage auf ihr errichtet. Indem er [al-Ghazālī] die Logik mit den Grundlagen des Rechts vermischte, beging er eine Neuerung, deren verheerender Charakter von den Rechtsgelehrten als schwerwiegend betrachtet wurde; und dies umso mehr, da hernach die Philosophierer unter den [Rechtsgelehrten] zahlreich wurden.
Ibn Taymiyya, Scharh al-ʿaqīdat al-isfahāniyya, Kairo, ohne Jahr, S. 132-136. (150)
Damit wird ein tiefgreifender Umbruch im islamischen Denken, nämlich die Beförderung und Normalisierung des Gebrauchs der griechischen Logik nicht nur im Kalām, sondern auch in anderen islamischen Wissenschaften, mit dem Einfluss al-Ghazālīs in Zusammenhang gebracht.
Ibn Taymiyya weist darauf hin, dass parallel dazu die von al-Ghazālī betriebene Vermischung von Sufismus und Philosophie ebenfalls eine radikale Veränderung in der islamischen Spiritualität hervorgerufen hat. Auch wenn al-Ghazālī selbst nicht so weit gegangen ist, wurde damit eine Entwicklung ausgelöst, die schließlich zum Auftreten eines neuen Sufismus führte, der sich so weitgehend ins Philosophieren verlor, dass er für das Verständnis des Islam sehr schädliche Konsequenzen nach sich zog. Zu den Thesen dieses neuen Sufismus, die ausdrücklich genannt werden, gehören das Innewohnen Gottes in den Geschöpfen (hulūl), die Einheit des Schöpfers und des Erschaffenen (ittihād), Prädeterminismus und Antinomismus (ibāhiyya). Für Ibn Taymiyya gehören zu den Vertretern dieses neuen Sufismus, dem von al-Ghazālī der Weg geebnet wurde, beispielsweise Ibn Tufayl, Ibn Ruschd, Ibn Qasī, Ibn al-ʿArabī und Ibn Sabʿīn. Ibn Taymiyya hebt hervor, dass sie nur noch sehr wenig gemein hatten mit dem guten alten Sufismus von al-Dschunayd und seinesgleichen.
Ibn Taymiyya gibt an dieser Stelle keine Erklärung dafür, welche Entwicklungen im islamischen Denken, in Philosophie und Kalām dazu geführt haben, dass das vielschichtige und heterogene Denken al-Ghazālīs eine so grundlegende Wandlung des Sufismus auslösen konnte. Michot versucht sich jedoch in einer Anmerkung an einer solchen Erklärung im Geiste Ibn Taymiyyas:
Man könnte sich vorstellen, dass das, was für ihn stattfand, ein scheinbar paradoxaler Vorgang war, wobei die Verwischung der Grenze zwischen dem göttlichen und dem erschaffenen Bereich hervorging sowohl aus dem okkasionalistischen Monismus des göttlichen Handelns wie auch aus der Idee der automatischen Erlangbarkeit des Prophetentums, oder der Auslöschung des Selbst (fanāʾ) durch Kontemplation, durch die angemessenen Mittel der Reinigung. (S. 156, Fn. 136)
Um diese Frage aufklären zu können, wäre, so Michot, ein Studium mehrerer anderer Texte von Ibn Taymiyya erforderlich. Wir müssen es daher bei dieser Andeutung belassen.
Die radikalen Umbrüche oder Mutationen, wie Michot sagt, die al-Ghazālī in Gang gesetzt hat, machten sich in verschiedener Gestalt schon auf seinem eigenen Lebensweg bemerkbar. Und wie er mit sich selbst und seiner eigenen geistigen Entwicklung in ihren verschiedenen Phasen rang, so stellte sich auch schon bald die Frage, die nie mehr verschwinden sollte: Wie ist al-Ghazālīs Denken eigentlich zu verstehen? Ist er Philosoph? Mutakallim? Aschʿarit? Sufi? Oder gar ein Verwirrter? Und noch etliche weitere Fragen wurden aufgeworfen, wie auch vielerlei Antworten, oftmals völlig gegensätzliche, gegeben.
Ibn Taymiyya berichtet, dass alle Beobachter verwirrt und verblüfft waren. Weder die Gelehrten der alten Schule noch die Denker, die den neuen geistigen Entwicklungen anhingen, wie etwa die Philosophen, erkannten al-Ghazālī als einen der ihren an. Für manche war er eine Art von Chamäleon, das sich seinem geistigen Umfeld umstandslos, vielleicht gar opportunistisch anpasste, während andere meinten, er sei einer geistigen Verwirrung zum Opfer gefallen. Er wurde oft geschmäht und kritisiert, aber auch nicht weniger oft gepriesen und für allerlei Zwecke in Anspruch genommen.
Wie dem auch sei, al-Ghazālī ebnete jedenfalls den Weg für ein Verständnis der Grundlagen des Islam, das sich immer weiter für Einflüsse aus Philosophie und Logik öffnete, ohne dass eine Prüfung dieser neuen Ideen für notwendig gehalten wurde. Diese oft unkritische Übernahme konnte sich allzu leicht auf die mitunter missverstandene Autorität des großen Gelehrten al-Ghazālī stützen, der selbst immerhin noch vieles geprüft und nach bestimmten Kriterien selektiv übernommen hatte. So hatte al-Ghazālī selbst schon aus allerlei mehr oder weniger heterogenen Bestandteilen eine Mischung hergestellt, die aus Philosophie, Logik, Kalām, Sufismus usw. ein neues islamisches Denken hervorgehen ließ. Dabei kam es zu einer zunehmenden Entschränkung und Vervielfältigung im Verständnis der islamischen Grundlagen und daraus resultierend zu einer Vielzahl von Glaubenslehren (ʿaqīda), die je nach Denker und Zielpublikum variierten.
Auch diesen Weg hatte al-Ghazālī mit vorbereitet, indem er die grundlegende Idee einer philosophischen Religion zwar einerseits kritisierte, aber andererseits gleichwohl wesentliche Elemente von den Philosophen übernahm. Die Grundidee hat äußerst tiefe Wurzeln in der griechischen Philosophie spätestens seit Parmenides oder Platon und findet sich auch bei den falāsifa wie al-Fārābī und Ibn Sīnā. Sie lässt sich stark gerafft folgendermaßen auf den Punkt bringen: Philosophische Religion für die Wenigen der verständigen Elite; offenbarte Religion für die Masse der einfältigen Menschen. Die eigentliche Wahrheit erschließt sich einzig der begrifflichen Erkenntnis der Wenigen; für die Vielen, die dazu nicht in der Lage sind, ist deshalb eine bildliche Darstellung vorgesehen, die der Prophet den Massen überbringt, die ihrer zur Regelung der praktischen Belange ihres Lebens und zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung bedürfen.
8.9 Drei Glaubenslehren: Zwischen Islam und Philosophie
8.9 Drei Glaubenslehren: Zwischen Islam und Philosophie Yusuf KuhnUnd damit wären wir thematisch beim neunten und letzten Text angelangt, den Michot mit dem Titel versieht: Die drei Glaubenslehren al-Ghazālīs, zwischen Islam und Philosophie.
Hören wir zunächst wieder Ibn Taymiyya:
Jene, die hinter al-Ghazālī gingen oder ihn nachahmten, indem sie den Weg austraten, wie Ibn Sabʿīn und Ibn al-ʿArabī, erklärten offen die Wirklichkeit dessen, bei dem sie angelangt waren, nämlich dass das Sein eines ist.
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (157)
Damit gemeint ist die Lehre, die meist mit dem Namen wahdat al-wudschūd (Einheit des Seins) benannt wird. Sie besagt in stark verkürzter und vereinfachter Form, dass es nur ein Sein gibt, das letztlich Gott und eine möglicherweise vorhandene Schöpfung in einer Einheit umschließt: Gott ist alles, und alles ist Gott. Hier ist nicht der Ort, um darauf näher einzugehen. Wichtig ist jedenfalls zu bemerken, dass diese Lehre späteren Denkern und nicht al-Ghazālī selbst zugeschrieben wird.
Michot führt als Beleg für diese These ein Zitat von Ibn Sabʿīn an:
Es ist, als ob du du selbst bist – und du bist Nichtsein -, und als ob du Er bist – und Er ist das Sein.
Ibn Sabʿīn, Budd al-ʿārif, Beirut, 1978, S. 94–95. (157, Fn. 139)
Und zudem einen etwas längeren Text von Ibn al-ʿArabī:
Doch keiner erlangt die Vereinigung außer dem, der seine eigenen Attribute als die Attribute Gottes (t) sieht und sein eigenes Wesen als das Wesen Gottes (t), ohne dass seine Attribute oder sein Wesen überhaupt in Gott eintreten oder aus Ihm hervorgehen oder in Gott aufhören oder in Ihm bleiben. Und er sieht sich selbst als niemals seiend gewesen, nicht als seiend gewesen und dann nicht mehr seiend. Denn es gibt keine Seele außer Seiner Seele, und es gibt kein Sein außer Seinem Sein.
Ibn ʿArabī, »Whoso Knoweth Himself ...« from the Treatise on Being (Risalet-ul-wujūdiyyah), übersetzt von T. H. Weir, Abingdon, 1976, S. 10. (157, Fn. 139)
So weit also das Zitat von Ibn al-ʿArabī als Beleg und Veranschaulichung der Lehre von der Einheit des Seins (wahdat al-wudschūd). Sehen wir nun zu, wie Ibn Taymiyya fortfährt:
Sie wussten, dass al-Ghazālī darin nicht mit ihnen übereinstimmte. Sie erachteten ihn daher für schwach und beschuldigten ihn, durch die Offenbarung und den Intellekt [in seinem Denken] beschränkt (muqayyad) gewesen zu sein.
Abū Hāmid [al-Ghazālī] ist [eingeklemmt] zwischen den ʿulamāʾ der Muslime und den ʿulamāʾ der Philosophen. Die ʿulamāʾ der Muslime tadeln ihn für Dinge, die gegen die Religion des Islam verstoßen, worin er der Genosse der Philosophen ist. Die Philosophen verschmähen ihn für das, was bei ihm vom Islam verbleibt, und dafür, dass er sich nicht völlig davon freigemacht hat (insalakha) zugunsten der Aussagen der Philosophen.Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (157)
Sodann führt Ibn Taymiyya einige Verse eines bekannten Gedichtes an, in denen al-Ghazālī vorgeworfen wird, ein Philosoph zu sein:
Wir sagen uns los, mit Blick auf Gott, von einer Gruppe von Leuten, die von Krankheit befallen sind durch das Buch von der Heilung.
Wie oft sagte ich zu ihnen: »O Leute, ihr seid am Rande eines Abgrunds, vom dem es keine Heilung gibt!«
Da sie Licht aus unserer Lehre machten, kehrten wir zurück zu Gott. Er ist unser Genüge.
Sie starben in der Religion des Aristoteles, und wir lebten gemäß der Sunna der Erwählten. (158)
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82.
Die Anspielung auf das Buch der Heilung (Kitāb asch-schifāʾ) von Ibn Sīnā ist uns bereits begegnet. Ibn Taymiyya setzt hinzu:
Deshalb sagten sie, dass Die Heilung Abū Hāmid krank gemacht hatte.
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (158)
Ibn Taymiyya macht darauf aufmerksam, dass es Ibn Sabʿīn im Gefolge von al-Ghazālī und dem bereits beschriebenen Prozess der Entschränkung zu fünf Glaubenslehren (ʿaqīda) gebracht hat, die in fünf Stufen dem jeweiligen Träger zugeordnet werden:
Die niedrigste ist der fiqh-Wissenschaftler, dann der Kalām-Theologe, dann der Philosoph, dann der Sufi-Philosoph – d.h. der Reisende (sālik) -, dann der Realisierende (muhaqqiq).
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (158)
Und Ibn Taymiyya sieht auch Ibn al-ʿArabī auf diesem Entwicklungspfad, der seinen Ausgang mit al-Ghazālī nahm und ihn schließlich zu vier Glaubenslehren führte:
Und was Ibn al-ʿArabī betrifft, so hat er vier Glaubenslehren (ʿaqīda). Die erste ist die Glaubenslehre von Abū al-Maʿālī [al-Dschuwaynī] und seinen Anhängern, ohne Beweis (hudschdscha). Die zweite ist die Glaubenslehre, die mit ihren kalām-theologischen Beweisen demonstriert wird. Die dritte ist die Glaubenslehre der Philosophen – Ibn Sīnā und seinesgleichen -, die eine Unterscheidung zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen treffen. Die vierte ist die Realisierung (tahqīq) [der Wahrheit], zu der er gelangte, nämlich dass das Sein eines ist.
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (158-159)
Im letzten Absatz, den wir noch zitieren wollen, kehrt Ibn Taymiyya zum Ausgangspunkt zurück:
Jene schlugen den Pfad (maslak) der Philosophen ein, auf die al-Ghazālī sich in Mīzān al-ʿamal (Das Kriterium des Handelns) bezieht, und der [darin besteht, zu sagen] dass ein Vortrefflicher (fādhil) drei Glaubenslehren hat: eine Glaubenslehre mit dem einfachen Volk, gemäß derer er in dieser Welt lebt, wie fiqh zum Beispiel; eine Glaubenslehre mit Studenten, die er sie lehrt, wie kalām-Theologie; und eine dritte, über die er niemanden in Kenntnis setzt außer der Elite. Deshalb hat er das Buch al-Kutub al-madhnūn bihā ʿalā ghayr ahlihā (Die Bücher, die von jenen fernzuhalten sind, die ihrer nicht würdig sind) verfasst. Ihr [Inhalt] ist reine Philosophie, für die er den Pfad von Ibn Sīnā genommen hat. Das ist der Grund, weshalb er die Wohlverwahrte Tafel [lawh mahfūdh; siehe Koran 85:22] als die Seele der [himmlischen] Sphäre betrachtet, und andere Dinge, die ich andernorts erklärt habe.
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (159)
Yahya Michot knüpft daran folgenden Kommentar an, mit dem er zugleich seinen Artikel beschließt:
Drei Glaubenslehren werden in al-Ghazālīs Mīzān al-ʿamal [Das Kriterium des Handelns] genannt, vier Glaubenslehren von Ibn al-ʿArabī unterschieden und fünf religiöse Ränge in Budd al-ʿārif [Das Ziel des Wissenden] von Ibn Sabʿīn... al-Ghazālī war wirklich der Initiator eines inflationären Prozesses der Verwässerung der islamischen Orthodoxie in Entsprechung zu einer hierarchischen Aufgliederung der Gesellschaft, wobei die Wahrheit des tawhīd schließlich gleichgesetzt wurde mit wahdat al-wudschūd, einer post-avicennischen Doktrin von der Einheit des Seins, die einzig der Elite zugänglich ist. Der große Theologe [Ibn Taymiyya] war in seinen Kritiken an al-Ghazālī freilich nicht immer originell. Er konnte sich auf eine reiche anti-ghazālīsche Literatur aus dem 6./12.-7./13. Jahrhundert stützen – manches davon geht sogar auf al-Ghazālīs Lebenszeit zurück -, und er setzte sie wirkungsvoll ein. Er trug gleichwohl auch seine eigenen, oftmals hellsichtigen Analysen als Historiker der Ideen und virtuoser Komparativist der verschiedenen Strömungen des islamischen Denkens bei. Wie andere Philosophen, Theologen oder Sufis interessierte ihn al-Ghazālī nicht an sich selbst, sondern als eine ideologische Schlüsselfigur in der zunehmenden Distanzierung der islamischen Gesellschaften nicht nur von den kanonischen Quellen des Islam, sondern auch von der klaren Vernunft (sarīh al-ʿaql). Ibn Taymiyya war gewillt, al-Ghazālī das Lob zu spenden, das er verdiente, wie am Anfang von Text 8 ersichtlich [siehe Alte und neue Kritiken]. Er gestand außerdem zu, dass ihm Schriften und Ideen zugeschrieben worden sind, die nicht von ihm stammten. Er war nichtsdestoweniger von seiner großen Verantwortung für die Mutation der Religion durch Philosophie überzeugt. Aus dieser Sicht war al-Ghazālī das muslimische Gegenstück jenes anderen Anhängers von Avicenna, Maimonides (gest. 1204), der im Judaismus »die prophetischen Worte mit den philosophischen« vermischte »und sie entsprechend auslegte«
Ibn Taymiyya, Darʿ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql aw muwāfaqa sahı̄h al-manqūl li-sarı̄h al-maʿqūl, Hg. M. R. Sālim, 11 Bände, Riyādh: Dār al-Kunūz al-Adabiyya, [1399/1979], S. 131–132. . Wäre er wie der andere Jude, Abū al-Barakāt al-Baghdādī (gest. in Bagdad, nach 560/1164), gewesen und wie er »auf dem Weg der rationalen Untersuchung (tarīq al-nadhar al-ʿaqlī)« geschritten, »ohne ein blinder Anhänger (bilā taqlīd)«Ibn Taymiyya, Minhādsch as-sunnat an-nabawiyya fī naqd kalām asch-schīʿa wa al-qadariyya, Hg. M. R. Sālim, 9 Bände, Kairo: Maktabat Ibn Taymiyya, 1409/1989, Bd. I, S. 348. des Schaykh ar-Raʾīs [Avicenna] zu sein, wäre es ihm gewiss besser ergangen. (159-160)
Ohne auf Einzelheiten einzugehen, wofür hier nicht der Ort ist, fällt ins Auge, dass es ausgehend von den beiden Glaubenslehren der Philosophen über die drei von al-Ghazālī und die vier von Ibn al-ʿArabī bis hin zu den fünf von Ibn Sabʿīn einen geradezu inflationären Prozess der Entschränkung und fortgesetzten Vervielfältigung gegeben hat, der im islamischen Denken nicht nur von den falāsifa, sondern vor allem von al-Ghazālī befördert worden ist. So konnten im Gefolge die wesentlichen Eigenschaften der philosophischen Religion mit ihrer ausgeprägten Hierarchisierung und restriktiven Rationalisierung durch die Festlegung auf den Vernunftbegriff der griechischen Philosophie in das ursprünglich egalitäre und auf einen weit gefassten Vernunftbegriff gestützte islamische Denken eindringen – mit weitreichenden und vielfach zerstörerischen Folgen nicht nur für das islamische Denken, sondern durch ihren bislang in ihrem wahren Ausmaß kaum richtig zu ermessenden Einfluss vor allem auch für das europäische Denken.
Ibn Taymiyya war sich der großen Verantwortung, die Denker wie al-Ghazālī für diese Entwicklung tragen, und der daraus resultierenden Gefahren auf bemerkenswert hellsichtige Weise bewusst und hat alles daran gesetzt, ihrer zu wehren, indem er nach den tief verborgenen Grundlagen dieses Denkens forschte und sie sichtbar zu machen suchte. Er hat daran eine zugleich so weitsichtige und tiefgründige Kritik geübt, dass sie weit über ein rein historisches Interesse hinaus von größter Aktualität ist, wenn wir unsere Gegenwart verstehen wollen. Diese wenigen Zeilen mögen eine erste Ahnung davon vermittelt haben.
Anhang
Anhang Yusuf Kuhnal-Ghazālī - Qānūn at-taʾwīl
Übersetzung ins Deutsche
al-Ghazālī - Qānūn at-taʾwīl
al-Ghazālī - Qānūn at-taʾwīl Yusuf KuhnVorbemerkung des Übersetzers
Nicolas Heer hat den Text Qānūn at-taʾwīl von al-Ghazālī ins Englische übersetzt und als Artikel mit dem Titel The Canons of Tawil in einem Sammelband veröffentlicht.
Da dieser Text meines Wissens auf Deutsch nicht verfügbar ist, habe ich ihn auf dieser Grundlage unter dem Titel Regel der Interpretation ins Deutsche übertragen und mit dem arabischen Text abgeglichen, woraus sich einige Veränderungen ergeben haben.
Heer gibt an, dass seine Übersetzung auf der von Muhammad Zāhid al-Kawtharī edierten und in Kairo 1359/1940 veröffentlichten Ausgabe mit dem Titel Qānūn at-taʾwīl basiert.
Die Zwischenüberschriften habe ich eingefügt. Es folgt die deutsche Übersetzung von al-Ghazālīs Schrift Qānūn at-taʾwīl:
al-Ghazālī - Regel der Interpretation
al-Ghazālī - Regel der Interpretation Yusuf KuhnEs ist mir zuwider, in diese Fragen einzutauchen und zahlreiche Antworten zu geben; aber da diese Ersuchen wiederkehren, nenne ich eine allgemeine Regel (qānūn kullī), aus der man bei dieser Gelegenheit Nutzen ziehen mag, und ich sage:
Vernunft und Offenbarung
Auf den ersten Blick hat man den oberflächlichen Eindruck, dass es einen Konflikt zwischen Vernunft (maʿqūl) und Offenbarung (manqūl) gibt.
Diejenigen, die sich mit dieser Frage befassen, haben sich aufgespalten in:
1. diejenigen, die an einem Extrem ihre Untersuchungen auf die Offenbarung beschränken;
2. diejenigen, die am anderen Extrem ihre Untersuchungen auf die Vernunft beschränken;
3. die Gemäßigten in der Mitte, die danach streben, (Vernunft und Offenbarung) zu vereinigen und zu versöhnen.
Die Gemäßigten haben sich wiederum aufgespalten in:
1. diejenigen, die Vernunft grundlegend und Offenbarung sekundär gemacht haben;
2. diejenigen, die Offenbarung grundlegend und Vernunft sekundär gemacht haben und die sich daher nicht besonders mit der Untersuchung der Vernunft beschäftigt haben;
3. diejenigen, die Vernunft und Offenbarung gleichermaßen grundlegend gemacht haben und danach strebten, die beiden zusammenzubringen und zu vereinbaren.
Es gibt also fünf Gruppen.
Fünf Gruppen
Die erste Gruppe: Sie besteht aus denen, die ihre Untersuchungen auf die Offenbarung beschränkt haben. Sie stehen auf der ersten Stufe des Weges, da sie sich mit dem begnügen, was sie von der äußeren Bedeutung der Offenbarung bereits verstehen. Sie haben als wahr angenommen, was die Offenbarung (naql) in ihren Einzelheiten und in ihren Grundlagen beinhaltet. Wenn sie aufgefordert werden, einen Widerspruch in der äußeren Bedeutung (dhāhir) der Offenbarung (manqūl) zu erklären und eine Interpretation (taʾwīl) zu geben, weigern sie sich, indem sie sagen, dass Gott (Allāh) Macht über alle Dinge hat.
Wenn jemand sie zum Beispiel fragt, wie die Person des Satan zur gleichen Zeit an zwei Orten und in zwei verschiedenen Gestalten gesehen werden kann, antworten sie, dass angesichts der Macht Gottes (Allāh) nichts erstaunlich ist, denn Gott (Allāh) hat Macht über alle Dinge. Und vielleicht würden sie sich nicht scheuen, zu sagen, dass es in der Macht Gottes (Allāh), des Erhabenen, steht, dass eine Person zur gleichen Zeit an zwei Orten ist.
Die zweite Gruppe: Sie entfernte sich von der ersten ans entgegengesetzte Extrem von ihnen. Sie beschränkten ihre Untersuchungen auf die Vernunft (maʿqūl) und befassten sich nicht mit der Offenbarung (naql). Wenn sie in der Offenbarung (scharʿ) etwas hören, dem sie beipflichten, so nehmen sie es an. Wenn sie hingegen etwas hören, das in Konflikt mit ihrer Vernunft (ʿuqūluhum) steht, behaupten sie, dass es etwas ist, das von den Propheten (mit ihrer Einbildungskraft) imaginiert worden ist, denn die Propheten mussten auf die Ebene der gewöhnlichen Leute herabsteigen; und manchmal war es für sie notwendig, Dinge auf eine Weise zu beschreiben, die nicht der Wirklichkeit entsprach. Daher interpretierten sie alles, was nicht mit ihrer Vernunft übereinstimmte, auf diese Weise. Sie übertrieben es mit der Vernunft (fī al-maʿqūl) derart, dass sie Ungläubige wurden (kafara), insofern sie den Propheten (sas) Lügen zuschrieben, um des allgemeinen Wohls (maslaha) willen. Es gibt in der (islamischen) Gemeinschaft (umma) keine Meinungsverschiedenheit darüber, dass derjenige, der so etwas in bezug auf die Propheten, der Segen Gottes (Allāh) sei auf ihnen, gutheißt, enthauptet werden sollte.
Wie auch bei der ersten Gruppe bestand ihre Unzulänglichkeit darin, Sicherheit vor der Gefahr der Interpretation und Untersuchung zu suchen. Sie gerieten schließlich in den Bereich des Unwissens, fühlten sich darin aber sicher. Allerdings ist die Position der ersten Gruppe näher (an der Sicherheit) als die der zweiten Gruppe. Die erste Gruppe suchte Zuflucht vor den Schwierigkeiten, indem sie sagte, dass Gott (Allāh) Macht über alle Dinge hat und dass wir die Wunder von Gottes (Allāh) Befehl nicht ergründen können. Die zweite Gruppe suchte Zuflucht, indem sie sagte, dass der Prophet um des allgemeinen Wohls willen Dinge auf andere Weise beschrieb, als er wusste, dass sie sind. Es ist offensichtlich, wie groß der Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Zuflucht hinsichtlich Gefahr und Sicherheit ist!
Die dritte Gruppe: Sie machte die Vernunft (maʿqūl) grundlegend und untersuchte sie ausführlich. Sie widmeten jedoch der Offenbarung (manqūl) wenig Aufmerksamkeit und stießen nicht auf jene Stellen, die auf den ersten Blick und oberflächlichen Eindruck hin in Widerspruch und Konflikt miteinander oder mit der Vernunft zu stehen scheinen. Sie begaben sich nicht in die Wucht der Problematik; wenn sie jedoch Stellen hörten, die mit der Vernunft in Konflikt standen, verwarfen und ignorierten sie diese oder bezichtigten ihre Überlieferer des Lügens, außer wenn die Überlieferung durch tawātur
Die vierte Gruppe: Sie machte die Offenbarung grundlegend und behandelte sie ausführlich. Sie waren mit einer großen Zahl von Schriftstellen im äußeren Sinn (dhawāhir) vertraut, aber sie vermieden die Vernunft und begaben sich nicht in sie hinein. So erschien ihnen ein Konflikt zwischen der Offenbarung (manqūl) und den Dingen, die oberflächlich betrachtet in den Randgebieten der rationalen Wissenschaften (maʿqūlāt) gelten.
Man muss hier einen weiteren Punkt hinzufügen, und zwar, dass sie glaubten, dass sie alles als möglich betrachten konnten, solange nicht bekannt war, dass es unmöglich ist. Sie erkannten nicht, dass es drei Kategorien gibt:
1. eine Kategorie, deren Unmöglichkeit durch einen Beweis (dalīl) erkannt ist;
2. eine Kategorie, deren Möglichkeit durch einen Beweis erkannt ist;
3. eine Kategorie, von der weder die Möglichkeit noch die Unmöglichkeit erkannt ist.
Es war bei ihnen üblich, diese dritte Kategorie als möglich zu beurteilen, da ihre Unmöglichkeit ihnen nicht ersichtlich war. Das ist ein Fehler, ebenso wie es ein Fehler ist, zu schlussfolgern, dass etwas unmöglich ist, weil seine Möglichkeit nicht ersichtlich ist. Es gibt in der Tat eine dritte Kategorie, die weder als möglich noch als unmöglich erkannt ist, entweder weil sie jenseits der Vernunft ist und mit menschlichem Vermögen nicht erfasst werden kann oder aufgrund der Unzulänglichkeit eines einzelnen Forschers wegen seiner Unfähigkeit, den Beweis selbst zu entdecken, oder weil er niemanden hat, um ihm den Beweis darzulegen.
Ein Beispiel für Ersteres aus dem Bereich des Sehsinnes ist die Unfähigkeit des Sehvermögens, zu bestimmen, ob die Zahl der Sterne gerade oder ungerade ist, oder ihre wirklichen Größen aufgrund ihrer Entfernung zu erkennen.
Ein Beispiel für Zweiteres, nämlich die Unzulänglichkeit des einzelnen (Forschers), ist die Unfähigkeit mancher Leute, die Stellungen des Mondes wahrzunehmen wie auch die Sichtbarkeit von vierzehn von ihnen zu jeder gegebenen Zeit (der Nacht) und die Verborgenheit von vierzehn von ihnen im entgegengesetzten Lauf zu den (sichtbaren) Stellungen, wie sie auf- und untergehen, wie auch andere Dinge, die manche Leute mit dem Sehsinn erfassen und andere nicht. Solche Unterschiede (in der Fähigkeit) betreffen auch das Fassungsvermögen der Vernunft (idrāk al-ʿaql).
Da diese (d. h. die vierte Gruppe) sich nicht tief in die rationalen Wissenschaften (maʿqūlāt) hinein begab, stießen sie nicht auf viele dieser Unmöglichkeiten. Ihnen blieb daher die große Mühe erspart, die meisten Interpretationen vorzunehmen, denn sie waren sich nicht irgendeiner Notwendigkeit der Interpretation bewusst. Sie ähneln jemandem, der nicht weiß, dass Gottes (Allāh) Sein an einer Örtlichkeit unmöglich ist, und der daher auf die Interpretation von fawqa (»über«; wörtlich: al-fawq, »das Über«)
Die fünfte Gruppe: Sie ist die mittlere Gruppe, welche die Untersuchung von Vernunft (maʿqūl) und Offenbarung (manqūl) miteinander verbunden hat. Sie machten jede von beiden zur wichtigen Grundlage und bestritten einen Widerspruch (taʿārudh) zwischen Vernunft (ʿaql) und Offenbarung (scharʿ) und dessen wirkliches Bestehen. Wer die Vernunft verwirft, verwirft auch die Offenbarung, denn nur durch die Vernunft wird die Wahrhaftigkeit (sidq) der Offenbarung erkannt. Würde die Wahrhaftigkeit (sidq) des Beweises der Vernunft (dalīl al-ʿaql) nicht erkannt, würden wir den Unterschied zwischen dem wahren Propheten (nabī) und dem falschen Propheten (mutanabbī) nicht erkennen, noch zwischen dem Wahrhaftigen (sādiq) und dem Lügner (kādhib).
Wie kann die Vernunft durch die Offenbarung verworfen werden, wenn die Offenbarung nur durch die Vernunft als wahr erwiesen werden kann?
Diese bilden die Gruppe, die Recht hat. Sie sind einer richtigen Methode gefolgt. Sie haben allerdings eine schwierige Stufe erklommen, ein erhabenes Ziel erstrebt und einen mühsamen Weg beschritten. Wie schwierig ist das Ziel, das sie erstrebt haben, und wie hart ist der Weg, den sie beschritten haben! Er mag an manchen Stellen eben und leicht sein, aber an den meisten mühsam und schwierig.
Ja, wer sich eingehend mit den Wissenschaften (ʿulūm) befasst und sich ausführlich mit ihnen beschäftigt hat, wird dazu fähig sein, Vernunft und Offenbarung in den meisten Fällen mit naheliegenden Interpretationen zu versöhnen. Es bleiben dennoch unvermeidlich zwei Fälle (in denen die Interpretation schwierig ist): der eine ist der Fall, in dem man gezwungen ist, weit hergeholte Interpretationen zu verwenden, vor denen Verständige (afhām) zurückschrecken; und der andere ist der Fall, in dem es nicht ersichtlich ist, wie überhaupt irgendeine Interpretation vorzunehmen ist.
Dieser letztere Fall ist ein ähnliches Problem wie das der Buchstaben, die am Anfang der Suren (des Koran) stehen,
Drei Empfehlungen
Ich möchte daher drei Empfehlungen geben:
Die erste Empfehlung ist, dass man nicht begehren soll, die Erkenntnis von alledem zu gewinnen, und das war der Zweck, auf den meine Rede ausgerichtet war. Das ist nicht etwas, das begehrt werden sollte, und man sollte vorsprechen das Wort des Erhabenen: »Und euch wurde vom Wissen nur wenig gegeben.« (Koran 17:85)
Es gehört sich nicht, dass man es für weit hergeholt hält, dass den großen Gelehrten manche dieser Dinge verborgen blieben, und damit erst recht auch den mittelmäßigen Gelehrten. Man muss wissen, dass der Gelehrte, der behauptet, in allen Dingen, die der Prophet (sas) gesagt hat, seine Intention verstanden zu haben, dies aufgrund seines mangelhaften Verstandes behauptet, und nicht etwa aufgrund von Genialität.
Die zweite Empfehlung ist, dass man nie den Beweis (burhān) der Vernunft (ʿaql) verwerfen sollte, denn die Vernunft lügt nicht. Würde die Vernunft lügen, so könnte sie bei der Bestätigung (ithbāt) der Offenbarung (scharʿ) lügen, denn durch sie erkennen wir die (Wahrheit der) Offenbarung. Wie kann die Wahrhaftigkeit eines Zeugen (schāhid) erkannt werden durch das Zeugnis (tazkiya) eines lügenden Glaubwürdigkeitszeugen (muzakkī)? Die Offenbarung ist ein Zeuge (schāhid) für die Einzelheiten, und die Vernunft ist der Glaubwürdigkeitszeuge (muzakkī) für die Offenbarung.
Wenn es mithin unerlässlich ist, der Vernunft Glauben zu schenken (tasdīq al-ʿaql), kann man nicht bestreiten, (dass) Örtlichkeit und Gestalt von Gott (Allāh) verneint werden müssen. Wenn dir gesagt wird, dass Taten gewogen werden,
Wenn du hörst, dass der Tod in Gestalt eines fetten Schafbockes gebracht wird, der sodann geschlachtet wird,
Die dritte Empfehlung ist, dass man darauf verzichten sollte, eine Interpretation zu spezifizieren, wenn die (verschiedenen) Möglichkeiten (der Interpretation) unvereinbar sind. Ein Urteil hinsichtlich der Intention Gottes (Allāh), des Gepriesenen, und der Intention Seines Propheten (sas) mittels Vermutung oder Mutmaßung ist gefährlich. Man erkennt die Intention eines Sprechers nur dann, wenn er seine Intention bekundet. Wenn er seine Intention nicht bekundet, wie kann man sie dann erkennen, außer wenn die verschiedenen Möglichkeiten begrenzt sind und alle außer einer von ihnen ausgeschlossen werden? Diese eine (Intention) ist dann durch Beweis (bi-l-burhān) spezifiziert. Allerdings sind die verschiedenen Möglichkeiten in der Rede der Araber und die Weisen ihrer Erweiterung zahlreich. Wie können sie also begrenzt werden? Verzicht auf Interpretation ist daher sicherer.
Zum Beispiel: Wenn es für dich klar ist, dass Taten nicht gewogen werden können, und das Wort vom Wiegen der Taten kommt auf, so hast du nun das Wort »Wiegen« und das Wort »Taten« vorliegen. Es ist möglich, dass die Metapher (madschāz) das Wort »Taten« ist und dass es stellvertretend für das Verzeichnis der Taten verwendet wurde, in dem sie festgehalten wurden bis zum Wiegen dieser Verzeichnisse der Taten. Andererseits ist es auch möglich, dass die Metapher das Wort »Wiegen« ist und dass es stellvertretend für seine Wirkung verwendet wurde, nämlich die Bestimmung der Menge der Tat, denn das ist der Nutzen des Wiegens, und Wiegen und Messen sind Weisen der Bestimmung (von Mengen). Wenn du daraufhin schlussfolgerst, dass das, was zu interpretieren ist, eher das Wort »Taten« ist als das Wort »Wiegen«, oder eher »Wiegen« als »Taten«, ohne dich entweder auf die Vernunft oder die Offenbarung zu stützen, triffst du ein Urteil über Gott (Allāh) und Seine Intention durch Mutmaßung. Und Mutmaßung und Vermutung sind gleichbedeutend mit Unwissen.
Mutmaßung und Vermutung sind erlaubt als notwendig für die Verrichtung von gottesdienstlichen Handlungen, Handlungen der Frömmigkeit und anderen Handlungen, die durch selbständige Urteilsfindung (idschtihād) ermittelt werden. Auf keinerlei Handlung bezogene Angelegenheiten fallen hingegen in die gleiche Kategorie wie die reinen Wissenschaften und die Glaubensüberzeugungen. Auf welcher Grundlage wagt man es dann, Urteile über diese Angelegenheiten allein mittels Vermutung zu machen? Das meiste von dem, was in den Interpretationen (taʾwīlāt) gesagt worden ist, besteht aus Vermutungen und Mutmaßungen. Der Vernünftige (ʿāqil) hat die Wahl, entweder durch Vermutung zu urteilen oder zu sagen: »Ich weiß, dass seine äußere Bedeutung nicht ist, was intendiert ist, weil sie etwas beinhaltet, was im Widerspruch zur Vernunft steht (takdhīb li-l-ʿaql). Was jedoch genau intendiert ist, erfasse ich nicht, und ich benötige auch nicht, es zu erfassen, da keine Handlung davon abhängig ist und es darin keinen Weg zur wahren Einsicht und Gewissheit gibt. Zudem halte ich nichts davon, durch Mutmaßung zu urteilen.« Und das ist richtiger und sicherer für jeden Vernünftigen. Es ist auch näher an der Sicherheit für die Auferstehung, denn es ist nicht fernliegend, dass er bei der Auferstehung befragt und zur Rechenschaft gezogen wird und dass zu ihm gesagt wird: »Du hast über Uns durch Vermutung geurteilt.«
Er wird hingegen nicht gefragt werden: »Warum ist es dir nicht gelungen, Unsere verborgene und dunkle Intention, in der es kein Gebot für eine Handlung gibt, zu erschließen? Es liegt darin für dich keine Verpflichtung hinsichtlich der Glaubenslehre (iʿtiqād) außer unbedingtem Glauben (al-īmān al-mutlaq) und grundsätzlichem Fürwahrhalten (at-tasdīq al-mudschmal).« Das bedeutet, dass man sagt: »Wir glauben daran; alles ist von unserem Herrn.« (Koran 3:7)