1.5 Gewaltenteilung: Herrschaft des Rechts oder Herrschaft des Staates?

1.5 Gewaltenteilung: Herrschaft des Rechts oder Herrschaft des Staates? Yusuf Kuhn

Es hat sich gezeigt, dass der paradigmatische moderne Staat Politik, Recht und Gesellschaft zu einer eng verwobenen Einheit zusammenschweißt. Er ist überall, und nichts ist außerhalb seiner.

Hallaq argumentiert nun, dass diese Einheit nicht den Kriterien der islamischen Gouvernanz entspricht. Denn die Instanzen, die im Rahmen der islamischen Gouvernanz das Politische und Gesellschaftliche regeln, sind nicht so eng miteinander verflochten wie im modernen Staat.

Der moderne Staat bildet trotz aller relativen Heterogenität und inneren Konflikte eine strukturelle Einheit, die vom Recht als Ausdruck des souveränen Willens durchdrungen wird. Die Verteilung der rechtlichen Macht erreicht alle Elemente, aus denen sich der Staat zusammensetzt. Daher stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Recht als normativer Ordnung und den Institutionen als dessen Verkörperung, die auf Gesetzgebung, Rechtsprechung und Exekution seiner spezifischen Normen spezialisiert sind.

Es gilt daher, die Theorie und Praxis zu untersuchen, die sich in der sogenannten Gewaltenteilung manifestiert. Hallaq geht es dabei nicht um eine umfassende Darstellung, sondern lediglich darum, die strukturellen Probleme aufzuzeigen, auf die bereits viele Verfassungsrechtler hingewiesen haben:

Wenn es sich herausstellen sollte, dass die Probleme im westlichen Konzept der Teilung [der Gewalten] strukturell und vielfältig sind, dann können wir zu Recht sagen, dass Muslime, wie auch weitere nicht-westliche Andere, diesem Konzept mit der gebührenden Vorsicht begegnen sollten. (39)

1.5.1 Gewaltenteilung im Nationalstaat

In der modernen Staatstheorie wird gemeinhin vorgebracht, dass die Trennung der drei Staatsgewalten – Legislative, Judikative, Exekutive – die Grundlage von Freiheit, Demokratie und Verfassungsstaat bildet. Durch die wechselseitige Unabhängigkeit dieser Gewalten soll die Herrschaft des Rechts sichergestellt werden. Dafür ist neben der völligen Unabhängigkeit der Legislative auch erforderlich, dass sie ihre Befugnisse nicht an andere Organe, insbesondere die Exekutive, überträgt. Nur durch eine klare Bestimmung dieser Gewaltentrennung kann ein Staat daher konstitutionell und demokratisch sein.

In der am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verkündeten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen) heißt es daher in Artikel 16 sogar:

Eine Gesellschaft, in der die Gewährleistung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.Siehe den Wikipedia-Eintrag Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: https://de.wikipedia.org/wiki/Erkl%C3%A4rung_der_Menschen-_und_B%C3%BCr…

Hallaq fügt beiläufig, aber trefflich an:

Es sei zugleich festgestellt, dass diese geläufige Konzeption des Verhältnisses zwischen Demokratie und der staatlichen Herrschaft des Rechtes nie dazu fähig ist, solche Phänomene wie das Dritte Reich, Israel und die südafrikanische Apartheid richtig zu erklären, die allesamt starke Formen der Herrschaft des Rechtes darstellen. (39)

Wenn diese Staatstheorie ihren Ansprüchen gerecht werden könnte, wäre sie auch für Muslime als Ausgangspunkt für den Aufbau eines islamischen Staates von Interesse, da sie in Einklang mit den vormodernen islamischen Regierungsformen stünde und daher eine Anknüpfung an die eigene Tradition erlaubte. Bei genauerem Zusehen zeigt sich jedoch, dass die Rhetorik und Theorie der Gewaltenteilung keineswegs der realen Praxis entspricht. Sie verschleiert vielmehr eine Wirklichkeit, in der die Trennung ebenso problematisch erscheint wie die Behauptung, dass sie Grundlage einer demokratischen Regierung sei.

Hallaq führt nun eine ganze Reihe von Staatswissenschaftlern an, welche die in der Theorie und Praxis der Gewaltenteilung angelegten begrifflichen Probleme erkannt, anerkannt und beschrieben haben. Dabei ist die Rede von »notorischen Schwierigkeiten« bis hin zu völligem Versagen.

Die Probleme entspringen letztlich der strukturellen Einheit des Nationalstaats, wie sie oben beschrieben wurde und die sich in der vormodernen islamischen Gouvernanz nie herausgebildet hat. Die Vorstellung der gegenseitigen Kontrolle der drei Staatsgewalten zum Zweck der Machtbegrenzung führte, da eine vollständige Trennung in den Strukturen des modernen Staates offenkundig unmöglich ist, in das Dilemma der Verbindung von Trennung und Einheit. Da es sich nur noch um die Frage des Maßes der Trennung handeln konnte, wurde anstelle von Gewaltenteilung immer mehr von Gewaltenverschränkung gesprochen.

Wie viele andere Kritiker hat daher Hans Kelsen sich dafür ausgesprochen, dass der Begriff der Gewaltenteilung ungenau und falsch ist, da das Verhältnis der drei Gewalten eher durch Verteilung bestimmt ist. Denn es kann kaum von einer Trennung der Legislative von anderen Funktionen des Staates gesprochen werden. Die Legislative hat kein Monopol über die Gesetzgebung, sondern ist lediglich darauf spezialisiert. Das gilt entsprechend genauso für die beiden anderen Gewalten. Von einer echten Trennung der Staatsgewalten in der politischen Theorie und Praxis der westlichen Staaten zu sprechen, ist aufgrund ihrer realen Verschränkung vielmehr eine Übung in ideologischer Fiktion. Die Beispiele dafür sind Legion, und Hallaq listet eine ganze Reihe auf, worauf wir hier verzichten wollen.

Es sei nur stichwortartig auf die Rolle der immer mächtiger werdenden Verwaltung als geradezu vierter Gewalt im Verwaltungsstaat, die Einbettung der Richterschaft als Teil der herrschenden Elite in den Staatsapparat und der Parteienpolitik bei der zunehmenden Aushöhlung der Gewaltenteilung hingewiesen.

Hallaq fasst die Ergebnisse der Betrachtung von verschiedenen Beispielen der realen Verschränkung und Verstrickung der Staatsgewalten in mehr allgemeinen Aussagen zusammen:

Die vorstehenden Merkmale, die wir beschrieben haben, führen auf zwei Hauptpunkte zurück. Erstens: Die gesetzgebende Gewalt schafft nicht alle allgemeinen Normen der Staatsordnung; sie wird nur deshalb gesetzgebend genannt, weil sie ein Organ ist, das sich auf die Schaffung allgemeiner Normen spezialisiert hat. Zweitens: Ein Großteil der Gesetzgebung von allgemeinen und besonderen Normen entspringt außerhalb des Bereichs der legislativen Gewalt, nämlich in der Exekutive und Judikative. […] Wenn der souveräne Wille im Recht verkörpert ist, dann ist die Legislative (vermeintlich das Organ, das den Ausdruck dieses Willens in Gesetze formt) nicht dessen Sprecher im vollen Sinne des Wortes. Denn unter diesem System des souveränen Willens wird beispielsweise die Exekutive mit einer inkompatiblen Dualität ausgestattet: Gesetze zu erlassen und ihre eigene Gesetzgebung zu vollziehen. In dieser Hinsicht hat sie vieles gemeinsam mit der judikativen Gewalt, die eine ähnliche Rolle ausführt: Sie schafft Normen durch Präzedenz, hebt Gesetzgebung durch gerichtliche Überprüfung auf (was »negative Gesetzgebung« genannt wurde) und vollzieht sodann eine Kehrtwendung, um über Fälle auf der Basis eines Rechts, das sie teilweise selbst geschaffen hat, gerichtlich zu urteilen, und schreitet fort, Sanktionen zu erlassen. (46-47)

Die Praxis und selbst die Theorie der Gewaltenteilung werfen tiefe Fragen auf. Wie kann die Legislative als Vertretung der Souveränität des Volkes und des souveränen Willens nicht das alleinige gesetzgebende Organ des Staates sein? Wie können gesetzgebende Funktionen an Organe übertragen werden, deren Aufgabe darin besteht, das Recht anzuwenden und zu vollziehen? Wie kann derart Machtbegrenzung als eigentlicher Zweck der Trennung der Gewalten erreicht werden?

Die reale Entwicklung im modernen Staat führt indessen zu einer immer weiteren Konzentration der Macht in den Händen der Exekutive. Hallaq stellt daher fest:

Die grundsätzliche Frage ist: Wie kann es eine Herrschaft des Rechts geben, wenn eine Exekutive und eine Judikative ermächtigt werden, allgemeine Normen als Gesetze zu erlassen? Zumindest muss der Anspruch auf die Herrschaft des Rechts in Frage gestellt werden und damit der Anspruch auf Demokratie. (47-48)

Hallaq meint, dass dieses Paradox vielleicht niemand besser erfasst hat als Hans Kelsen, von dem er ein etwas längeres Zitat anführt, dessen Aussage ihn durch ihre außergewöhnliche Schärfe besticht und für das im weiteren Verlauf des Kapitels verhandelte Thema von unmittelbarer Relevanz ist:

Das Prinzip der Gewaltentrennung wörtlich verstanden oder interpretiert als ein Prinzip der Teilung der Gewalten ist nicht wesenhaft demokratisch. Der Idee der Demokratie entspricht im Gegenteil der Begriff, dass alle Gewalt im Volk konzentriert sein sollte; und wo nicht direkte, aber indirekte Demokratie möglich ist, dass alle Macht von einem einzigen Kollegiatsorgan ausgeübt werden sollte, dessen Mitglieder vom Volk gewählt sind und das dem Volk gesetzlich verantwortlich sein sollte. Wenn dieses Organ nur gesetzgebende Funktionen hat, sollten die anderen Organe, welche die vom gesetzgebenden Organ erlassenen Normen zu vollziehen haben, letzterem verantwortlich sein, auch wenn sie selbst ebenfalls vom Volk gewählt sind. Es ist das gesetzgebende Organ, dem es am meisten an einer strikten Vollziehung der generellen Normen, die es erlassen hat, gelegen ist. Kontrolle der Organe der exekutiven und judikativen Funktionen durch die Organe der legislativen Funktionen entspricht dem natürlichen Verhältnis, das zwischen diesen Funktionen besteht. Folglich erfordert Demokratie, dass dem legislativen Organ Kontrolle über die administrativen und judikativen Organe gegeben werden sollte. Wenn die Trennung von der gesetzgebenden Funktion von den gesetzanwendenden Funktionen oder einer Kontrolle des gesetzgebenden Organs durch die gesetzanwendenden Organe und insbesondere wenn die Kontrolle der legislativen und administrativen Funktionen durch die Gerichte von der Verfassung einer Demokratie vorgesehen ist, kann dies nur durch historische Gründe erklärt, nicht als spezifisch demokratische Elemente gerechtfertigt werden.Hans Kelsen, General Theory of Law and State. Cambridge, 1945, S. 282 (Übersetzung ins Englische von Anders Wedberg; deutsches Original unveröffentlicht); Hervorhebungen von Wael Hallaq.

1.5.2 Das Paradigma der islamischen Gouvernanz

Es hat nie einen islamischen Staat gegeben. Der Staat ist modern [...]. (48)

So beginnt Hallaq seine Erörterung der islamischen Gouvernanz. Mit »modern« ist hier nicht so sehr ein Abschnitt der Geschichte gemeint, sondern vielmehr eine »bestimmte Struktur von Verhältnissen« (48), die den Staat zu einem einzigartigen Phänomen machen. Dadurch ist der Staat von allen seinen »Vorgängern« und insbesondere der islamischen Gouvernanz grundsätzlich, strukturell und qualitativ unterschieden.

Die islamische Gouvernanz und der moderne Staat ruhen auf jeweils völlig unterschiedlichen rechtlichen, politischen, sozialen und metaphysischen Grundlagen. An der Stelle der Nation des modernen Staates steht die umma (Gemeinschaft), die in ihrer ideellen wie realen Gestalt von moralisch-rechtlichen Begriffen bestimmt und begrenzt wird, die in der Scharia zusammengefasst sind. Jedes Gebiet, auf dem die Scharia als paradigmatisches moralisches Recht angewandt wird, gilt als islamisch. Die Scharia gehört zum Wesen des Islam.

1.5.2.1 Souveränität im Lichte der Scharia

Der Nationalstaat ist als Verkörperung des souveränen Willens Selbstzweck. Die Gemeinschaft (umma) und ihre Mitglieder sind hingegen Mittel zu einem höheren Zweck und verfügen nicht über Souveränität und einen autonomen politischen oder rechtlichen Willen. Denn der Souverän ist Gott allein.

Die Gemeinschaft besitzt zwar die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Diese beschränken sich aber auf die Interpretation allgemeiner moralischer Prinzipien, die sich als Repräsentation des göttlichen moralischen Willens der Verfügung der Gemeinschaft entziehen. Die Scharia hat als Ausdruck dieses souveränen Willens die moralischen Prinzipien durch ein moralisch gegründetes Recht artikuliert.

Die Gemeinschaft besteht aus der Gesamtheit der Gläubigen, die als solche alle vor Gott und untereinander gleich sind. Die sozialen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft wie auch mit anderen Gruppen sind nicht durch äußerliche Faktoren wie Abstammung, Reichtum oder soziale Stellung bestimmt, sondern in erster Linie durch den Glauben, der das Wissen einschließt, dass die moralischen Werte, auf denen er gründet, von Gott als dem einzigen Souverän aufgestellt werden. Gott ist der höchste Zweck, dem gegenüber das irdische Dasein in seiner Vergänglichkeit seine höhere Bedeutung lediglich dadurch gewinnt, dass es in den kosmischen Zusammenhang der göttlichen Schöpfung eingebunden ist.

Der »Staat« oder vielmehr die sultanische Exekutive, wie Hallaq sagt, ist der Gemeinschaft und ihrer Scharia nachgeordnet. Die Exekutive besitzt nicht die religiöse Autorität. Und der Einzelne dient nicht dem »Staat« als höchstem Zweck zum Mittel, sondern letzterer hat vielmehr dem Wohl des Einzelnen zu dienen, der eigentlich nur Gott verpflichtet ist. Die Exekutive findet ihre Rechtfertigung letztlich in dem Maße, in dem sie die Anstrengungen des Einzelnen, Gott zu dienen, fördert.

Gott als Souverän gehört in Wahrheit alles. Menschlicher Besitz ist lediglich abgeleitet und geht daher mit Pflichten und Verantwortung einher. Da beispielsweise das Vermögen der Wohlhabenden in Wahrheit Gott gehört, kann Gott in Seiner Fürsorglichkeit den Bedürftigen ein Recht an diesem Vermögen zusprechen. Diese Beschränkung betrifft die Verfügung über jegliches Eigentum, auch den Besitz eines Gesetzes oder moralischer Regeln. Daher ist Gott der einzige Gesetzgeber. Und bei Gott allein liegt jegliche Souveränität.

Im modernen Staat ist das Recht der Ausdruck des souveränen Willens des Staates; im Islam ist das Recht der Ausdruck des souveränen Willens Gottes. Das von Gott kraft Seines moralischen Willens erlassene Recht ist die Scharia. Alles weitere wie die technische Ausarbeitung des Rechts und noch vielmehr jede Form der weltlichen politischen Herrschaft ist dem nach- und untergeordnet.

Die Scharia als moralisch gegründete Rechtsordnung, die sich aus hermeneutischen, begrifflichen, theoretischen, praktischen, pädagogischen und institutionellen Elementen zusammensetzt, geht aus der Absicht und dem Bemühen hervor, Gottes moralischen Willen auf Grundlage der Offenbarung zu entdecken. Hallaq spricht dabei von einer Dialektik zwischen dem Soziologischen und dem Metaphysischen, zwischen der Gemeinschaft (umma) als weltlicher Gesellschaft und ihrer anhaltenden Anstrengung, sich selbst in einer bestimmten moralischen Kosmologie zu verorten.

Auf dieser Grundlage trifft Hallaq nun folgende entscheidende Feststellung:

Es kann keinen Islam ohne moralisch-rechtliches System, das in einer Metaphysik verankert ist, geben; es kann kein solches Moralgefüge ohne oder außerhalb göttlicher Souveränität geben; und zugleich kann es keinen modernen Staat ohne seine Souveränität und seinen souveränen Willen geben, denn niemand kann meines Erachtens überzeugende Gründe dafür anführen, dass der moderne Staat ohne diese wesentliche Formeigenschaft der Souveränität auskommen kann. Wenn alle diese Prämissen wahr sind, wie sie es unausweichlich sein müssen, dann kann der moderne Staat ebenso wenig islamisch sein, wie der Islam zu einem modernen Staat kommen kann. (51)

Diese ebenso bedeutsame wie grundlegende Aussage besitzt wiederum zahlreiche Implikationen, von denen Hallaq einige mit besonderer Bedeutung für die Frage nach dem islamischen Staat ausführt. Dazu gehört die Frage nach der konstitutionellen Kraft der Scharia: Was ergibt sich aus der Scharia für die Verfassung eines politischen Gemeinwesens?

1.5.2.2 Scharia und Herrschaft des Rechts

Die Scharia als Ausdruck von Gottes souveränem Willen regelt alle Bereiche des menschlichen Lebens, alle gesellschaftlichen Institutionen. Daher ist auch jede politische Institution dem moralischen Willen der Scharia untergeordnet. Dies betrifft selbstverständlich auch die vollziehende und die richterliche Gewalt. Die Scharia selbst kann in dieser Hinsicht als die gesetzgebende Gewalt schlechthin betrachtet werden.

Im Gegensatz zum modernen Staat gibt es in der islamischen Gouvernanz keine andere Gewalt mit gesetzgebender Funktion neben der Scharia. Die Scharia allein ist gesetzgebend. Die Judikative kann nicht zur Gesetzgebung beitragen. Der Exekutive sind von der Scharia allenfalls in sehr beschränkten Bereichen gewisse Befugnisse zur Gesetzgebung übertragen worden, die aber immer abgeleitet und ergänzend sowie im Vergleich zum modernen Staat äußerst marginal blieben.

Die islamische Gouvernanz mit ihrer strikten Gewaltentrennung und der Vorherrschaft der Legislative könnte mithin im Vergleich zum modernen Staat die von Kelsen aufgestellten Voraussetzungen für eine demokratische Verfassungsordnung besser erfüllen.

Hallaq wirft nun einen näheren Blick auf diesen Themenkomplex, indem er die Rolle der Gewaltenteilung und somit der Herrschaft des Rechts im Rahmen der Scharia als gelebte Wirklichkeit untersucht. Bei der Beschreibung der Geschichte der Scharia geht er von der Frage aus: Wenn die Scharia nicht das Produkt des islamischen Herrschers oder des islamischen Staates ist, wer hat sie dann gemacht?

Die Scharia als gelebte Wirklichkeit ist aus der Verbindung von Offenbarung und menschlicher Anstrengung des Verstehens hervorgegangen, indem die Gemeinschaft (umma) ihre Rechtsgelehrten hervorgebracht hat, die eine Vielzahl von rechtlichen Aufgaben erfüllt haben, die in ihrer Gesamtheit wiederum die islamische Rechtsordnung geschaffen und entfaltet haben.

Die Rechtsgelehrten teilten die gleichen Werte und Normen wie die soziale Welt, der sie entstammten. Ihre Aufgabe selbst war eben durch diese Gebote bestimmt, wozu auch der starke Egalitarismus der koranischen Offenbarung gehört. So sahen sie sich selbst und so wurden sie von anderen gesehen als die Fürsprecher der Gesellschaft, insbesondere der Schwachen und Bedürftigen gegenüber den herrschenden Schichten.

Die Rechtsgelehrten und Richter kümmerten sich kraft ihrer Aufgabe um allerlei gesellschaftliche Belange und stiegen zu Führungspersönlichkeiten auf. Sie galten als Vorbilder der Gottesfurcht, Aufrichtigkeit und Bildung sowie des tugendhaften muslimischen Lebensstils. Sie wurden sogar als »Erben der Propheten« betrachtet, wie es in einem Wort des Gottesgesandten Muhammad (sas) heißt. Die einfachen Menschen erkannten in ihnen nicht nur Vertreter ihrer Interessen, sondern auch den paradigmatischen Ort der Legitimität sowie der religiösen und moralischen Autorität.

Als Rechtsgelehrte erfüllten sie viele Funktionen auf den Gebieten der Bildung, des Rechts, der sozialen Aufsicht usw., von denen in unserem Zusammenhang am wichtigsten die Rollen des muftī (Mufti) und des qādhī (Richter) sind. Dem Mufti kommt dabei die höchste sozialrechtliche Funktion zu, da er die zentrale Rolle spielte sowohl bei der frühen Entwicklung des islamischen Rechts als auch bei dessen fortlaufenden Weiterentwicklung und Anpassung über viele Jahrhunderte und Regionen der Welt hinweg.

Der Mufti war als privater Rechtsgelehrter nicht dem Herrscher und dessen Interessen, sondern der Gesellschaft, in der er lebte, rechtlich und moralisch verantwortlich. Die Aufgabe, die seine Rolle in erster Linie bestimmte, bestand darin, eine fatwā zu erlassen, nämlich auf eine Frage, die ihm gestellt wurde, eine schariarechtliche Antwort zu geben. Für seine Dienste nahm er keine Gebühren, so dass Rechtsberatung gleichermaßen für alle, für Arme wie Reiche, leicht zugänglich und erhältlich war. Die Fragen an den Mufti kamen von Mitgliedern der Gemeinschaft oder auch von Richtern, die mit für sie schwierig zu entscheidenden Problemen konfrontiert waren. Das islamische Recht hat sich von Anfang an ausgehend von solchen Fragen und Antworten entwickelt und ausgebildet. Mit der Zeit wurden die Antworten gesammelt, geordnet und schließlich mündlich wie schriftlich in Rechtskompendien überliefert.

Der Mufti gibt allerdings keine universell gültige Antwort. Er stellt vielmehr lediglich fest, was das Recht in einer bestimmten tatsächlichen Situation seiner Auffassung nach ist. Obgleich er die höchste rechtliche Autorität darstellt, ist seine Meinung (fatwā) nicht bindend. Gleichwohl trugen die Rechtsauskünfte der Muftis zur Beilegung vieler Streitigkeiten bei, auch vor Gericht. Das Gericht selbst konnte hingegen nicht gesetzgebend tätig werden, sondern unterstand immer der schariarechtlichen Autorität der Rechtsgelehrten und keinesfalls einer exekutiven Autorität.

Entscheidend war die Autorität der Fatwa (fatwā). Wenn eine Fatwa keine Beachtung fand, dann nicht, weil ein Richter sie schlichtweg abgelehnt hätte, sondern weil eine andere Fatwa eine überzeugendere Antwort bot.

Hallaq fasst zusammen:

[…] die Fatwa ist das Produkt von rechtlicher Expertise und hochentwickelter Rechtskenntnis und wurzelt insgesamt in einer tiefen Sorge für die Gesellschaft und ihre allgemeinen moralischen Prinzipien und nicht für einen Staat oder ein von oben verordnetes Recht. (54)

Hallaq betont dabei, dass das Recht in islamischen Gesellschaften ein soziales Phänomen ist und nicht ein politisches, das von oben, d. h. vom Staat verordnet wird und mit dem Staat geradezu gleichgesetzt werden kann. Nicht Recht und Staat, sondern Recht und Gesellschaft sind so eng miteinander verwoben, dass es kaum möglich ist, sie auseinanderzuhalten.

So waren beispielsweise auch die Gerichte leicht zugänglich. Die Parteien konnten ihren Fall ohne Zwang zu besonderen Formen vor den Richter bringen. Es bedurfte weder einer rechtlichen Vertretung, denn die Scharia kannte keine Rechtsanwälte, noch eines technischen Jargons. Dies wurde dadurch ermöglicht, dass das Gericht als Rechtsinstitution in die Gesellschaft eingebettet war, da beide die selbe moralische Welt der schariarechtlichen Werte und Gebote teilten.

Das moralische Recht der vormodernen muslimischen Gesellschaften war eine lebendige und gelebte Tradition, mit der die Menschen vertraut waren. Sie kannten das Recht, da Rechtskenntnisse weit verbreitet und zugänglich waren. Schließlich waren die Muftis und andere Rechtsgelehrte, ohne Gebühren zu verlangen, jederzeit bereit, Rechtsauskünfte zu erteilen.

Hallaq führt dazu näherhin aus:

Wenn das gemeine Volk vor Gericht erschien, sprach es eine »rechtliche« Sprache, die für den Richter ebenso völlig verständlich war, wie die volkstümliche »moralische« Sprache des Richters für sie verständlich war. Rechtliche Normen und gesellschaftliche Moralität waren weithin untrennbar, wobei sie zugleich aufeinander aufbauten und sich gegenseitig stützten. Das muslimische Gericht als ebenso soziale wie rechtliche Institution war in hohem Maße das Produkt eben der Gemeinschaft, der es diente und in deren Schoß es seine Funktion erfüllte.

Es trifft wohl zu, dass die Scharia gewisse Besorgnisse (oder in der amerikanischen konstitutionellen Redeweise »Misstrauen«) gegenüber der exekutiven politischen Gewalt entwickelte, Besorgnisse, welche die Fähigkeit der Scharia bezeugen, der Gesellschaft und Moralität, in der sie wirkte und lebte, Loyalität abzuverlangen. Es ist keineswegs eine Übertreibung, zu sagen, dass die Scharia und ihre Rechtsgelehrten aus der Mitte der Gesellschaft hervorgingen und dieser Gesellschaft fortgesetzt dienten, bis die Scharia effektiv niedergerissen wurde. (56)

Nach dieser Erörterung der legislativen Gewalt wirft Hallaq nun die Frage nach der richterlichen Gewalt auf:

Wenn die »legislative Gewalt« im Islam völlig eingebettet war in ein gesellschaftlich verankertes göttliches Gesetzeswerk (und daraus muss kein Widerspruch erwachsen) und wenn die Scharia eine unabhängige »legislative Gewalt« war, in welcher Art von Beziehung steht sie dann mit der judikativen Gewalt? (57)

Wie der Mufti war auch der Richter ein Mitglied der Gemeinschaft, der er diente. Ihm fielen dabei neben seiner Funktion, über Rechtsstreitigkeiten zu urteilen, viele verschiedene Aufgaben zu, zu denen auch die Aufsicht über etliche Belange des gesellschaftlichen Lebens wie etwa öffentliche Einrichtungen, Stiftungen, Märkte, Schließungen von Verträgen usw. gehörte. Er sah dabei seine Aufgabe vor allem in der Vermittlung und Schlichtung, um möglichst die sozialen Verhältnisse für ein geselliges Zusammenleben zu schützen und zu bewahren. Das islamische Gericht war mithin mit der Gesellschaft, der es diente, zutiefst verwoben.

Das von den Richtern angewandte Recht war das Ergebnis eines kumulativen hermeneutischen Projekts, das über Jahrhunderte hinweg von den Rechtsgelehrten selbst betrieben wurde. Sie entwickelten Methoden der Findung und der Interpretation des Rechts, die als usūl al-fiqh (Grundlagen des Rechts) bekannt wurden. Sie bildeten eine systematische Zusammenstellung von Wissen aus einer ganzen Reihe von Bereichen: Logik, Theologie (kalām), Sprache, Linguistik, Hermeneutik, Rechtsdenken und vieles mehr.

Hallaq erläutert:

Diese interpretativen Methoden bildeten die Werkzeuge des idschtihād, der Prozesse des kreativen Denkens, die der dazu befähigte Rechtsgelehrte einsetzt, um zu der besten Vermutung dessen zu gelangen, was seines Erachtens das Recht hinsichtlich eines besonderen Falles sein mochte. (58)

Bis auf einige Normen, die aus eindeutigen Texten der Offenbarung unmittelbar hervorgehen und als gewiss gelten, war der größte Teil des Rechts Produkt des idschtihād (selbständige Urteilsfindung), der auf Ableitungen basiert und daher in den Bereich des Wahrscheinlichen fällt.

Die Rechtsgelehrten konnten durch ihren idschtihād in der gleichen Frage also durchaus zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, wobei Gott allein weiß, wer die Wahrheit gefunden hat. Da die verschiedenen Meinungen der Rechtsgelehrten gleichwohl als richtig galten und für die Rechtsbildung zur Auswahl standen, bildete sich ein beachtlicher Rechtspluralismus heraus. Dieser Pluralismus wurde zur Grundlage für die Entstehung einer vielfältigen Rechtskultur, die sich sowohl durch unterschiedliche Rechtsschulen als auch eine Vielzahl von Rechtsmeinungen innerhalb einer Schule auszeichnete. Es gab also nicht die eine und einzige Rechtsetzung, die über ein Monopol oder ausschließliche Geltung verfügt, wie das im modernen Staat vorgesehen ist.

Dieser Pluralismus verlieh dem islamischen Recht drei seiner grundlegenden Eigenschaften: ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an sehr unterschiedliche soziale und regionale Bedingungen; die Fähigkeit der Berücksichtigung neuer Entwicklungen im sozialen und wirtschaftlichen Leben; die Widerspiegelung einer in Raum und Zeit schier endlosen Vielfalt von gesellschaftlichen Interessen, wobei immer diejenigen der Unterdrückten und Bedürftigen im Vordergrund standen, was auch für die Herrschenden rechtlich verpflichtenden Ausdruck fand.

Hallaq bemerkt:

Der muslimischen Richterschaft fiel daher nicht die Aufgabe zu, ein Recht anzuwenden, das von den herrschenden Gewalten eines Staates oder eines gebieterischen Herrschers bestimmt wurde, sondern vielmehr, ein Scharia-Recht zu verbürgen, dessen hauptsächliche Sorge die Regelung von sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen auf moralischer Grundlage war. Es war ein Recht des Volkes, wiewohl eines, das gleichermaßen dazu diente, den Herrscher in seiner Behandlung der Bevölkerung einzuschränken. (59)

Der Herrscher hatte zwar die Befugnis, Richter einzusetzen und zu entlassen, aber keinerlei Einfluss auf die Arbeit der Richter selbst. Außerdem beruhte die Ernennung der Richter durch den Herrscher auf dem Begriff der Delegation, der auf die Frühzeit der islamischen Geschichte zurückgeht, in der der Kalif als Vertreter des Propheten zugleich als Rechtsgelehrter galt und als solcher die Richter ernannte. Jedenfalls muss unabhängig von der Art der Ernennung betont werden, dass vom Richter verlangt wurde, die Scharia samt ihrer Normen und Regeln anzuwenden und keinesfalls irgendein anderes Recht. Die muslimische Richterschaft war in der Ausübung ihrer Aufgabe also völlig unabhängig von der Exekutive.

Dem steht eine Auffassung entgegen, die vom libanesischen Orientalisten Émile Tyan vertreten wurde und jahrzehntelang großen Einfluss hatte. Sie besagt, dass eine der Konsequenzen des Begriffs der Delegation das vollständige Fehlen der Trennung zwischen Judikative und Exekutive sei.

Hallaq begegnet dieser Auffassung mit vier Gegenargumenten. Erstens: Das Recht des Scharia-Gerichtes ist nicht vom Rechtswillen des Herrschers abhängig, sondern vielmehr untersteht der Herrscher bzw. die sultanische Exekutive dem Scharia-Recht. Zweitens: Der Richter wird nicht wirklich, sondern nur nominell vom Herrscher ernannt, da dieser als Repräsentant der Gemeinschaft (umma) gilt und somit die Ernennung und Entlassung von Richtern lediglich in Ausübung seiner Repräsentation in einer Vermittlerrolle durchführt. Drittens: Der Begriff der Delegation könnte auch als Kontrolle der Judikative durch die Exekutive verstanden werden, da die Entlassung aus dem Amt aus moderner Sicht als Untergrabung der richterlichen Unabhängigkeit gilt, aber die Richter und andere Rechtsgelehrte in muslimischen Gesellschaften waren nicht in der gleichen Weise von ihrem »Beruf« als Richter abhängig, da sie über andere Einkommensquellen beispielsweise als Handwerker, Lehrer, Schreiber oder Händler verfügten. Viertens: Neben diesen praktischen oder funktionalen Gründen lässt sich noch die paradigmatische moralische Kraft der Scharia anführen, die in der Regel Richter wie Herrscher gleichermaßen dazu anhielt, die richterliche Unabhängigkeit zu respektieren.

Hallaq kommentiert diesen Punkt folgendermaßen:

Die richterliche Unabhängigkeit war integraler Bestandteil der Kultur. Dass das moralische Argument in Tyans Analyse keine Rolle spielt, sagt weniger über die beschriebene Ordnung aus als über Tyans eigene modernistische und positivistische Konzeptionen. (62)

Die bisherige Betrachtung des auf die Scharia gegründeten Verhältnisses von gesetzgebender und richterlicher Gewalt hat gezeigt, dass die Legislative völlig unabhängig und souverän war, während die Judikative das moralische Recht der Scharia in Übereinstimmung mit dem Willen der gesetzgebenden Gewalt zur Anwendung brachte. Nun stellt sich die Frage: In welchem Verhältnis standen diese Gewalten zur Exekutive?

Hallaq beginnt die Antwort mit einer Beschreibung der Exekutive als einer gedungenen Klasse, die zur Ausübung bestimmter Funktionen verpflichtet war. An ihrer Spitze stand ein dynastischer Herrscher, der sich üblicherweise auf eine Söldnertruppe (»Sklaven«) stützte und die Vorschriften der Scharia ausführte, denen er selbst sich fügte im Austausch gegen eine Rente, die er von der Bevölkerung erhob. Diese Rente bestand vor allem aus Steuern, die unter Umständen zwar die schariarechtlichen Bestimmungen übersteigen konnten, aber allemal relativ niedrig waren.

Die einigermaßen provisorische Natur des exekutiven Sultanismus kommt auch in dessen üblicher Bezeichnung zum Ausdruck. Denn die dynastische Herrschaft wurde dawla genannt. Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert wurde dieser Ausdruck für den modernen Staat verwendet. Davor aber hatte er eine ganz andere Bedeutung. Er bezeichnete nämlich eine dynastische Herrschaft, die in irgendeiner Region, ob islamisch oder nicht, an die Macht kommt und dann wieder verschwindet. Der Wechsel und die Abfolge von Dynastien ist ein wesentliches Merkmal der dawla, das diese Regierungsform im Gegensatz zur Gemeinschaft (umma), die beständig ist bis zum Tag des Gerichts, als temporär und flüchtig erweist, ohne innere Bindung an die Gemeinschaft und deren Scharia. Sie ist lediglich ein Mittel zum Zweck, von der Gemeinschaft gedungen und in Dienst gestellt, um die von der Scharia geprägte Gesellschaft im Auftrag der Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Allerdings wurde das Ende einer dawla nicht durch eine Entscheidung der Gemeinschaft besiegelt, sondern durch den Aufstieg einer neuen und mächtigeren dawla, die sich gleichwohl wiederum in den Dienst der Scharia stellte.

Hallaq hebt hervor:

Diese provisorische Natur der dynastischen Herrschaft, die in krassem Gegensatz zur dauerhaften Beständigkeit der Gemeinschaft und ihrer Scharia steht, ist grundlegend für ein Verständnis des islamischen Begriffes der Gewaltentrennung und daher für die islamische Verfassungstheorie und -praxis. (63)

Besonders augenfällig wird dieser Kontrast, wenn man sich vergegenwärtigt, dass über zwölf Jahrhunderte der islamischen Geschichte hinweg, bis zur Zerstörung vieler islamischer Einrichtungen durch den Kolonialismus, die Gemeinschaft und ihre Scharia eine für die menschliche Geschichte herausragende Stabilität erlebten, während sich der Wechsel der Dynastien in rascher Abfolge vollzog.

Die Herrscher und ihre Söldnertruppen drangen zumeist von außen in die Gebiete vor, die sie unter ihre Herrschaft brachten. Oftmals waren es Nicht-Muslime, die sich erst nach einer gewissen Zeit zum Islam bekehrten. Da es ihnen in jedem Fall an der bürokratischen Maschinerie ermangelte, über die der moderne Staat verfügt, konnten sie die Gesellschaft nicht durchdringen und mussten sich der lokalen von der Scharia geprägten Kultur fügen. Sie erkannten daher die schariarechtlichen Gebote und ihre Pflichten gegenüber der Gemeinschaft an und versuchten ihren finanziellen Nutzen vor allem aus Steuern zu ziehen. Natürlich kam es dabei zu Konflikten verschiedener Art, wodurch jedoch die allgemeinen Strukturen dieses Verhältnisses im Kern nicht berührt wurden.

Hallaq legt zusammenfassend dar:

[…] der exekutive Herrscher hielt sich fern von der »legislativen« und sogar der judikativen Gewalt, während er in vielerlei Hinsicht ihren Geboten unterstand. Die islamische rechtlich-politische Theorie und Praxis (siyāsa scharʿiyya) verlangte eben dies, und die Theorie wurde weitgehend in die Praxis umgesetzt. Eine wesentliche konstitutionelle Tatsache ist hier, dass es die Scharia selbst war, die dem Herrscher gewisse Befugnisse zugestand. Während nicht jeder Herrscher jede einzelne Vorschrift der siyāsa scharʿiyya befolgte, so bleibt es doch eine Tatsache, dass das paradigmatische Recht eben dies war, nämlich paradigmatisch, d. h. dass die Handlungen des Herrschers nach Kriterien beurteilt wurden, die dem Geiste der Scharia folgten und auf dieser gegründet waren. Verrat der Prinzipien der siyāsa scharʿiyya war schlechte Regierung. (64-65)

1.5.3 Vergleiche und Schlussfolgerungen

Die Erörterungen dieses Kapitels münden in zwei Schlussfolgerungen, die sich auf vier der fünf Formeigenschaften des Staates beziehen.

Erstens: Der Islam als Weltzivilisation hat eine historisch verankerte paradigmatische moralisch-rechtliche Ethik entwickelt, die seine Identität bestimmt. Ohne sie kann es keinen Islam und keine muslimische Identität geben. Heute ein Muslim zu sein, heißt, auf ganz grundlegende Weise mit der durch die Scharia bestimmten Ethik verbunden zu sein. Die Entwicklung einer muslimischen Identität bedeutet die Anerkennung der übergeordneten Stellung der Scharia als Ethik, die das menschliche Handeln orientiert und regelt.

Hallaq erläutert näherhin:

Ebensosehr wie der moderne Staat und seine Bürger mithin das Produkt eines historisch bestimmten Phänomens sind, ist daher die heutige muslimische Identität unauflöslich verbunden mit einer besonderen moralisch-rechtlichen Ethik, die durch die übergeordneten zentralen Werte der Scharia historisch bestimmt wurde. (70-71)

Und zur zweiten Schlussfolgerung legt Hallaq dar:

[…] in dieser Geschichte und der Identität, die sie hervorbrachte, war die Scharia der Ausdruck von Gottes Souveränität, denn die paradigmatische Anrufung »la ilāha illā Allāh« (»Es gibt keine Gottheit außer Gott«) fasst das grundlegende Wissen sowie die religiöse und diskursive Praxis zusammen, dass Gott der einzige Souverän ist. Dieses Wissen war strukturell: es durchdrang das Gefüge des muslimischen Lebens, von der sozial-praktischen Ethik bis zur politischen Gouvernanz. (71)

Und das Konzept von Gottes Souveränität wiederum prägte ein besonderes Paradigma der Gewaltentrennung. Die »legislative« Funktion wurde von privaten Rechtsgelehrten ausgeführt, die in und mit der Gesellschaft und ihren Gemeinschaften lebten und ihre Stellung vor allem ihrem Ansehen als religiöse und moralische Vorbilder verdankten. Sie folgten dem Geist der Scharia, indem sie die einfachen Menschen und deren Belange gegenüber den herrschenden Schichten vertraten. Denn das auf die Scharia gegründete Recht selbst steht – im Gegensatz zum Recht des modernen Staates – auf der Seite der Schwachen und Bedürftigen.

Daraus ergibt sich für Hallaq:

Und wenn man somit die Repräsentation der Rechtsgelehrten zur privilegierten Stellung der gemeinen Gesellschaftsschichten im Recht hinzufügt, heißt dies, eine Repräsentation auf intensive, extensive und substantielle Weise zu gewährleisten. (71)

Hans Kelsen hat die Auffassung vertreten, dass »Demokratie verlangt, dass dem legislativen Organ die Kontrolle über die administrativen und judikativen Organe gegeben werden sollte.«Hans Kelsen, General Theory of Law and State. Cambridge, 1945, S. 282 (Übersetzung ins Englische von Anders Wedberg; deutsches Original unveröffentlicht). Nimmt man dies zum Maßstab, muss man feststellen, dass die islamische Gouvernanz diese Bedingungen für eine demokratische Ordnung erfüllt. Denn die Judikative und Exekutive blieben stets unter der Kontrolle der »legislativen« Gewalt. Für den hochgradig repräsentativen Charakter der islamischen Gouvernanz spricht auch, dass die vollziehende Gewalt von der Legislative nicht nur getrennt war, sondern deren Willen, dem übergeordneten moralischen Recht gänzlich unterstand. Auch das Recht der Gerichte war unabhängig von der Exekutive, da diese trotz ihrer eher nominellen Befugnis zur Ernennung und Entlassung der Richter keinen Einfluss auf das Recht selbst hatte. Das von den Richtern angewandte paradigmatische Recht blieb stets das Schariarecht.

Die Oberhoheit der Scharia verbürgte eine Herrschaft des Rechts, die ihrer westlichen Entsprechung überlegen war.

So kann Hallaq darlegen:

Für Muslime heute bedeutet das Trachten nach der Übernahme des Systems der Gewaltenteilung des modernen Staates, auf einen Handel zu setzen, der demjenigen unterlegen ist, den sie für sich selbst über die Jahrhunderte ihrer Geschichte gewährleisteten. Der moderne Handel repräsentiert die Macht und Souveränität des Staates, der […] für seine eigene Fortdauer und Interessen arbeitet. Die Scharia hingegen – weil sie nicht dafür bestimmt war – diente nicht dem Herrscher oder irgendeiner Form der politischen Macht. Sie diente dem Volk, den Massen, den Armen, Unterdrückten und Reisenden, ohne den Händler und seinesgleichen zu benachteiligen. In diesem Sinne war sie nicht nur zutiefst demokratisch, sondern menschlich in einer Weise, wie es für den modernen Staat und sein Recht nicht wiederzuerkennen ist. Wenn die Probe ist, »was die unveräußerlichen Rechte jenseits des Zugriffs jeglicher Regierung bilden sollte,« um die Worte von Robert DahlSiehe Robert A. Dahl, On Removing Certain Impediments to Democracy in the United States, in: Robert H. Horwitz (Hg.), The Moral Foundations of the American Republic, 3. Auflage, Charlottesville: University Press of Virginia, 1986, S. 230–252, hier S. 235; Hervorhebungen von Hallaq. zu entleihen, dann hat die Scharia die Probe bestanden, indem sie die Herrschaft des Rechts über die des Staates erhebt. (72; Hervorhebungen im Original)

Hallaq stellt abschließend fest, dass die paradigmatischen Strukturen der Scharia für eine »wohlgeordnete Gesellschaft« sorgten – ein Begriff von John Rawls, der meinte, dass unter den aktuellen Bedingungen eine solche Gesellschaft höchstens in »hochgradig idealisierter« Gestalt vorstellbar sei.

Hallaq kommentiert:

Er wusste wohl kaum, dass jedes Detail seiner Beschreibung einer »wohlgeordneten Gesellschaft« in der paradigmatischen islamischen Gouvernanz nicht nur, mutatis mutandis, gültig war, sondern auch als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. (72-73)

Hallaq bezieht sich auf die Kennzeichnung einer wohlgeordneten Gesellschaft, wie sie Rawls in seinem Buch Politischer Liberalismus vorgenommen hat:

Wenn wir sagen, eine Gesellschaft sei wohlgeordnet, so teilen wir dadurch drei Dinge mit: Erstens (und dies folgt aus der Vorstellung einer öffentlich anerkannten Gerechtigkeitskonzeption) handelt es sich um eine Gesellschaft, in der alle genau dieselben Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennen und in der jeder weiß, daß dies der Fall ist; zweitens (und dies folgt aus der Vorstellung, daß eine solche Konzeption wirksam regulativ ist) ist öffentlich bekannt oder wird aus guten Gründen geglaubt, daß ihre Grundstruktur – das heißt ihre wichtigsten politischen und sozialen Institutionen und die Art und Weise, in der sie sich zu einem System der Kooperation zusammenfügen – diesen Grundsätzen genügt; drittens haben ihre Bürger einen normal wirksamen Gerechtigkeitssinn und befolgen deshalb im allgemeinen die Regeln der grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen, die sie als gerecht betrachten. In einer solchen Gesellschaft bildet die öffentlich anerkannte Gerechtigkeitskonzeption eine gemeinsame Basis, von der aus die Ansprüche der Bürger an ihre Gesellschaft beurteilt werden können.

Wir haben es hier mit einem stark idealisierten Begriff zu tun. Doch jede Gerechtigkeitskonzeption, die nicht in der Lage ist, einen demokratischen Verfassungsstaat wohlzuordnen, ist für eine demokratische Konzeption unangemessen.John Rawls, Politischer Liberalismus, Übersetzt von Wilfried Hinsch, Frankfurt am Main, 2017 (Erste Auflage 1998), S. 105; Hervorhebungen im letzten Absatz von Hallaq.

Und Hallaq merkt abschließend dazu an:

Hier könnte Rawls leicht als muslimischer Rechtsgelehrter ausgemacht werden, der die Realität seiner eigenen Rechtskultur beschreibt, indem er die Unzulänglichkeiten der modernen konstitutionellen Demokratie scharfsichtig kommentiert. (73; Hervorhebung im Original)