1.7 Politisches Subjekt und moralische Technologien des Selbst

1.7 Politisches Subjekt und moralische Technologien des Selbst Yusuf Kuhn

Jede Gesellschaft bedarf ordnender Strukturen und Formen der Disziplin. Bei aller Unterschiedlichkeit ist den meisten Gesellschaften gemeinsam, dass sie ihre Ordnung organisch herausgebildet haben. Vormoderne Gesellschaften, also vorstaatliche und außereuropäische, waren weitgehend autonom und haben sich selbst geregelt. Sie waren nur selten und oberflächlich von bürokratischen Apparaten durchdrungen. Der Herrscher war fern und machte sich vor allem durch seine gelegentlichen Versuche der Besteuerung bemerkbar. Abgesehen davon praktizierten diese Gesellschaften Selbstregierung.

Davon unterscheidet sich grundsätzlich die Ordnung und Disziplin, die der moderne Staat der Gesellschaft auferlegt. Hallaq geht es nun vor allem darum, was diese Unterschiede für die Formation besonderer Subjekte bedeuten. Da der moderne Staat einzig das Produkt der europäischen Geschichte ist, sind auch seine Systeme der Ordnung und Disziplin geschichtlich einzigartig. Und da der Staat eine durchdringende Kontrolle über seine Bevölkerung ausübt, erzeugt er Individuen mit einer völlig neuartigen Subjektivität. Wie ist diese Subjektivität beschaffen? Und ist sie mit der von der islamischen Gouvernanz hervorgebrachten Subjektivität vereinbar?

1.7.1 Die Produktion der Staatssubjekte

Die vom europäischen Staat geschaffene einzigartige Form der Disziplin zielte darauf ab, die Subjektivität des neuen Bürgers zu formen, der sich mit dem Staat identifiziert und willens ist, für ihn zu sterben. Der Ursprung dieses Staates geht auf den Aufstieg mächtiger Monarchien zurück, denen es an der Aufrechterhaltung ihrer Kontrolle über die Bevölkerung gelegen war, um sich ungestört bereichern zu können. Durch Industrialisierung und Kolonialismus wuchsen die Profite der herrschenden Klasse, während die arbeitenden Klassen verarmten. Der Staat entwickelte sich im Dienst dieser Klassenherrschaft.

Angesichts zunehmender sozialer Ungleichheit und daraus entspringender Unruhen sollte die Klassenherrschaft mithilfe des Staates gesichert werden, der deswegen Systeme der Ordnung einführte. Ein ausgefeilter Polizeiapparat, der allmählich die gesamte Gesellschaft überwachte, allein reichte dafür nicht aus. Neben der physischen Gewalt bedurfte es subtilerer Mechanismen, welche der Bevölkerung gutes Verhalten im Dienst der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung beibrachten. Unter kapitalistischen Verhältnissen schließt dies freilich zudem die Fähigkeit ein, zu arbeiten und zu produzieren. Die Disziplinierung des Subjekts verlangte daher ein System der Ordnung und instrumentellen Nützlichkeit.

Das System, das zu diesem Zweck eingerichtet wurde, war die Schule. Sie wurde gesetzlich zur Pflicht erhoben, damit kein Kind als angehender Bürger sich dem staatlichen Eintrichtern bestimmter Ideen und Ideale entziehen konnte. In rascher Folge kamen weitere Institutionen der staatlichen Kontrolle, Überwachung, Erziehung, sozialen Wohlfahrt und Gesundheitsversorgung hinzu: Armeen, soziale Einrichtungen, Gefängnisse, Schulen, Krankenhäuser usw. Sie bildeten zusammengenommen eine bürokratische Maschinerie, die bestimmte ideologische Ziele verfolgte und die Gesellschaft mit einer spezifischen Handlungsweise und »Ordnung der Dinge« (Foucault) überzog und durchdrang.

Bei der Disziplinierung der Operationen des Körpers ging es vor allem um Unterwerfung und Nützlichkeit. Dazu wurde der Körper erforscht und dadurch kolonisierbar gemacht, um ihn nach den Erfordernissen eines bestimmen Willens nach Belieben formen und manipulieren zu können. Dieser Wille war neu, denn er entsprang nicht dem Innern des Subjektes oder der lokalen Gemeinschaft, sondern einer äußeren Macht, einem politischen Willen, der von außen auf es einwirkte.

Michel Foucault beschreibt diesen Prozess so:

Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine »politische Anatomie«, die auch eine »Mechanik der Macht« ist, ist im Entstehen. Sie definiert, wie man die Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken, mit der Schnelligkeit, mit der Wirksamkeit, die man bestimmt.Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, 1989, S. 176-177.

Das ist nicht nur Kontrolle, sondern Abrichtung durch die Techniken der Disziplinierung, die dem Körper von außen ihre Imperative diktieren und ihn dadurch umformen. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen modernen Techniken und vormodernen Formen der Disziplin besteht eben darin, dass sie dem Körper von außen aufgezwungen werden, während die klassische Askese darin besteht, durch inneren Willen und Anstrengung die Beherrschung über den Körper zu gewinnen und zu vergrößern.

Wenn die Institutionen der Disziplinierung voll ausgebildet sind und das Staatssubjekt dadurch geschaffen ist, kann der Staat sich des abgerichteten Subjekts bedienen, das sich im Erfolgsfall durch selbstauferlegte Loyalität und effiziente Nützlichkeit auszeichnet. Dieses Subjekt ist nun ebensosehr Produkt wie Teil des Staates, so dass der Eindruck entsteht, dass nicht mehr eine bestimmte Gruppe, sondern die Gesamtheit der sozialen und bürokratischen Institutionen, die freilich immer auf dem Staat basieren, regieren. Das ist der Hintergrund für eine beliebte Erklärung des Erfolgs westlicher Demokratien, nämlich dass Machtteilung die Macht vergrößert, die zugleich zur ideologischen Rechtfertigung dieser Herrschaftsform dient. Übersehen werden dabei nicht zuletzt die vorgängigen Prozesse der Disziplinierung, die allererst das fügsame Subjekt erschaffen, das dem Geheiß des Staates willenlos Folge leistet.

Das ist kaum irgendwo anders so offensichtlich wie in der akademischen Welt, die sich doch ihrer geistigen Unabhängigkeit rühmt und einer wissenschaftlichen Methode folgt, die objektive Erkenntnis der Welt verspricht. Gleichwohl ist der Wissenschaftsbetrieb eine staatliche Institution aus zumindest drei Gründen. Denn er übernimmt erstens fraglos den Positivismus des Staates und erhebt ihn zum wissenschaftlichen Paradigma; er erkennt zweitens den Staat als selbstverständliches Phänomen an und nimmt ihn als unhinterfragte Voraussetzung in den Diskursen der Sozial- und Geisteswissenschaften an; und er spielt drittens eine große Rolle im Staatsbetrieb, und zwar nicht nur durch seine direkte Zuarbeit durch Forschung im Dienste von Militär und Politik, sondern weit darüber hinaus.

Denn in einem viel tieferen Sinn verhilft der Wissenschaftsbetrieb der modernen Regierung dazu, sich als problemlösende Maschine zu präsentieren. Dieses Merkmal ist immer hintergründig im Spiel, wenn die Regierung ihre Aufgabe bekundet, »im Dienst des Volkes« zu stehen. Der historische Ursprung dieses ideologischen Musters geht auf die Entstehung des Staates selbst zurück, der im Zuge seiner Herausbildung die traditionellen Gesellschaften gewaltsam aufgelöst hat. Durch die Zerstörung dieser Ordnung und ihre permanente Reorganisation durch Reformen in Wirtschaft, Erziehung, Bildung, Recht usw. wurden sicherlich einige als solche deklarierte Probleme behoben, aber oftmals eben auch neue und völlig unvorhergesehene geschaffen.

Hallaq erläutert:

Die Wahrnehmung, dass ein »Problem« besteht und dass es daher einer Lösung bedarf, muss auch im Verhältnis zu den Wissensformen des Staates gesehen werden, nämlich dass »Probleme« ontologisch nur dann möglich werden, wenn der Staat möglich wird. So kommt es, dass eine große Mehrheit von diesen »Problemen« die normale und sogar natürliche Ordnung der vormodernen Gesellschaften waren, »Probleme«, mit denen diese Gesellschaften seit unvordenklichen Zeiten gelebt hatten (ohne sie als Probleme zu betrachten). Das Attribut der »problemlösenden Maschine« gehört daher zum Wesen des paradigmatischen Staates. (103)

Der Regierungsapparat setzt bei der Lösung der allgegenwärtigen Probleme stets auf die unvermeidlichen Experten, die meist Wissenschaftler sind. Damit etwas als Lösung überhaupt in Betracht kommen kann, muss es sich im Rahmen der vom Staat geforderten Ideologie des positivistischen Realismus bewegen.

Der Wissenschaftsbetrieb muss unentwegt unter Beweis stellen, dass er den Interessen des Staates dient, indem er die Nation und ihre Elite im rechten Geiste erzieht. Die diversen Wissenschaften wie etwa Soziologie, Ökonomie und Psychologie stellen dazu eine Art intellektuelle Maschinerie für die Regierung zur Verfügung. Die Erziehung im modernen Staat, in der diese wissenschaftlich gestützten Verfahren zum Einsatz kommen, ist das Gebiet, auf dem das Subjekt sein Leben lang in »Obhut« genommen wird. Der Bildung in den entscheidenden Lebensjahren der Kindheit kommt dabei größte Bedeutung zu.

Dazu führt Hallaq aus:

Es beginnt damit, dem Kind Fertigkeiten und Wissen von der Nützlichkeit und Effizienz, von der Liebe zum Heimatland und seiner Güte einzuflößen, und es wird darauf aufbauend und schrittweise mit dem erwachsenen Studenten fortgefahren, um staatliche Interessen, staatliche Prioritäten, staatliche Programme, Nationalismus und die staatliche »problemlösende« Ideologie einzuschärfen. Das ist keine eindimensionale Macht, die einem außen gelegenen Objekt eine Menge von fremden Regeln auferlegt, sondern vielmehr eine Macht, die sich in das Subjekt einschreibt, das durch Bildung und Abrichtung mit der Fähigkeit ausgestattet worden ist, politisch und willentlich reguliert zu werden. (104)

Der paradigmatische Staat produziert den paradigmatischen Bürger und umgekehrt. Der Bürger lebt nicht nur im Staat, sondern gehört dem Staat und ist Teil des Staates, so dass eine totalisierende Subjektivität erzeugt wird, die auf der sozialpsychologischen Ebene wesentliche Eigenschaften des Staates widerspiegelt.

Hallaq stellt pointiert fest:

Das bedeutet die Einführung einer Subjektivität in das menschliche Subjekt, da der Staat relativ neu ist. Es bedeutet die Produktion des einzigartigen homo modernus. (104)

Dafür durchdringt der Staat auch die Familie, die ihm als Produktionseinheit gilt, deren Erzeugnis der Bürger, das nationale Subjekt ist. Die Familie wird kraft des souveränen Rechtswillens umgeformt, um in den Dienst des Staates genommen werden zu können. Diese Umformung wird vorgeblich im Interesse des Kindes vollzogen, das über die Interessen der Eltern und insbesondere des Vaters gestellt wird.

Hallaq beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen:

Das Kind wird der Ort, auf dem die Autorität des Staates ein Reformprogramm durchführt, bevölkert von Recht, Psychologen, Psychiatern, Sozialarbeitern und Technikern. Das Patriarchat der Familie wird durch das des Staates ersetzt: Gericht, Schule, Psychiater und Sozialarbeiter lösen weithin die Eltern ab. (105)

Die Krise der modernen Familie, die einst eine Säule der Gesellschaft war, und die Auflösung der Familienstrukturen ist das Ergebnis der staatlichen Politik, mittels derer die Familie in den Disziplinarapparat des Staates eingespannt wird.

Hallaq legt dar:

Ebenso wie der Staat den Bereich des Politischen hervorgebracht hat, so hat er auch durch seine disziplinierende Sozialtechnik den Bereich des Sozialen geschaffen, wo die Gesellschaft sich nach dem Bild des Staates entwickelt. (105)

Das Soziale ist der Bereich, in dem das Politische die Gesellschaft, insbesondere ihre Kinder, nach dem Modell des Bürgers des Nationalstaats samt all der Eigenschaften, welche die nationale Identität erfordert, formt.

Der Aufbau der staatlichen Maschinerie zur Erzeugung des fügsamen Staatssubjekts ging mit dem Aufstieg des Nationalismus einher, der durch die politische Integration der Subjekte deren Unterwerfung weiter verstärkte, indem an die Stelle der traditionellen sinnstiftenden Moralordnung die Metaphysik des Staates und der Nation gesetzt wurde. Die dadurch geschaffene Nation ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Staates.

Der Nationalismus ist die wichtigste Quelle von Sinn für den nationalen Bürger und seine Identität. Die Bürger sind die Nation, und die Nation ist ihre Bürger. Damit wird sowohl die individuelle wie auch die kollektive Identität gebildet. Die Nation erzeugt das »Ich« und »Wir«, die unlöslich ineinander verwoben sind.

Der Nationalismus als sinnstiftende Kraft bildet die Gemeinschaft als Sozialordnung und wird umgekehrt von dieser gebildet. Das Individuum ist in diese Gemeinschaft in einer Weise eingebettet, dass es weitgehend von deren Kultur, Geschichte und Ethos bestimmt und gestaltet wird.

Das führt Hallaq folgendermaßen aus:

Wie das Recht ist auch der Nationalismus überall: Er schafft die Gemeinschaft und verleiht der Weltgeschichte Gestalt, noch bevor der Nationalismus in sie eintritt. Hier liegt kein Widerspruch vor, denn der Nationalismus ist eine Metaphysik. Er hebt die Geschichte nicht nur auf; er macht und schreibt sie nach Belieben um. […] Der Staat und sein Nationalismus, welche die Gemeinschaft sowohl als politisch opferbare wie auch sozialpsychologisch untertänige Mitglieder einberuft, sind zwei Götter in einem. Das ist der politische Bezugsrahmen und die Metaphysik, innerhalb derer der Bürger geboren wird. Sie gestalten ihn nach ihrem Bild, so dass er sie reproduzieren kann, ewig, um ihrer selbst willen. (107)

Die der disziplinierenden Abrichtung des modernen Subjekts auf instrumentelle Nützlichkeit und Effizienz entsprechende Form der Rationalität wurde von Max Weber als »stählernes Gehäuse« bezeichnet, in dem die Moralität des modernen Subjekts mittels Recht, Bürokratie, Mechanisierung, Materialismus und Instrumentalismus gefangen ist. Das »stählerne Gehäuse« ist auch der Ort der modernen Pädagogik, wo Heere von technischen und intellektuellen Experten die Individuen auf deren Funktionieren in der bürokratischen und kapitalistischen Maschinerie einschwören, statt im Rahmen einer umfassenden praktischen Ethik zur Bildung des Menschen zu einer rundum ausgebildeten Persönlichkeit zu verhelfen, über die der technische Experte selbst freilich schon lange nicht mehr verfügt.

Diese moderne Pädagogik wird von Hallaq so beschrieben:

Sie weist Disziplin, Effizienz und Arbeit höchste Bedeutung zu, drei der vielen Lektionen, die der Staat seinen Bürgern als zweite Natur eingeimpft hat. Arbeit um der Arbeit willen, genauso wie das Geld des Kapitalismus um der Anhäufung des Reichtums willen gemacht ist, genauso wie der Staat um seiner selbst willen existiert und sich selbst erhält um seiner Selbsterhaltung willen. Weber sah im Anspruch der Moderne auf Fortschritt einen Begriff, der gleichbedeutend ist mit der »Produktion und Akkumulation von Reichtum und der Beherrschung der Natur … sowie der Idee der Emanzipation des rationalen Subjekts.«Lawrence A Scaff, Weber on the Cultural Situation of the Modern Age, in: Stephen Turner (Hg.), The Cambridge Companion to Weber, Cambridge, 2000, S. 103. Doch der Preis des Fortschritts war das, was er »Entzauberung« nannte, ein tiefes Empfinden von Verlust, des Verlustes des Heiligen, eines Zustandes der Ganzheit, der spirituellen Verankerung des Selbst in der Welt, in der Natur und in dem, was ich moralische Kosmologie genannt habe. (108)

Das durch die Standardisierung und Automatisierung seiner Psychologie und Rationalität verarmte moderne Subjekt, das immer weiter isoliert und fragmentiert wird, erhält als Ersatz für den Verlust an Sinn die Produkte der Kulturindustrie, die für es eine neue Identität schaffen.

Hallaq erläutert:

Die Spaltungen des inneren Selbst haben ein narzisstisches Individuum hervorgebracht, dessen Bezugsrahmen und Sinn von den unpersönlichen, von den idealen Machttypen (repräsentiert in Nationalismus, Faschismus, Nazismus usw.) abgeleitet sind, die es in einen Zustand der Betäubung verführen.Siehe Theodor W. Adorno, Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda (Freudsche Theorie und das Muster der faschistischen Propaganda), in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden - Band 8: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main, 1972, S. 408-433. In diesen Machttypen findet das narzisstische Ego Zuflucht, Stabilität und sogar Zufriedenheit. (109)

Der Nationalismus kann so als vermeintlich heilsame Kraft in Erscheinung treten, die der Auflösung des modernen Subjekts, dem Sinnverlust und der Entzauberung entgegenwirkt, eben den Effekten, die der Staat durch die Zerstörung und den sozialtechnischen Umbau der Gesellschaft selbst ausgelöst hat.

Diesen Prozess beschreibt Hallaq so:

Durch die Übernahme von Vergangenheit und Zukunft und die Schaffung einer eigenen universalen Historiographie wird die Nation zu einer natürlichen Ontologie, die nicht nur Werte enthält, die alle Werte zersetzen und ersetzen, sondern auch, wie wir gesehen haben, eine historische Transzendenz, eine Metaphysik. […] Die metaphysische Dimension des Nationalismus und seiner psychologischen Investition in die Sozialordnung schaf­fen für das Subjekt nicht nur einen Bezugsrahmen, sondern eine Welt des Sinns, welche die nunmehr verlorene Welt ersetzt. Deshalb kann es einen Staat ohne Nation nicht geben, und deshalb muss der moderne Staat stets ein Nationalstaat sein, denn ohne Nationalismus hätte der Staat eine so geringe Aussicht auf Überleben wie der Krebspatient ohne Behandlung. Aber wie bei jeder modernen Behandlung hat die Kur Nebenwirkungen. Im Falle des Nationalismus waren diese so schwerwiegend, dass es unmöglich ist, nicht den Schluss zu ziehen, dass die Genozide und Greuel des zwanzigsten Jahrhunderts (und die gegenwärtigen) das direkte Produkt des Phänomens des Nationalstaats sind. (109)

1.7.2 Die moralischen Technologien des Selbst

Das Paradigma des modernen Staates samt seiner Fähigkeit zur Produktion von Subjekten hat keine Gemeinsamkeit mit dem Paradigma der islamischen Gouvernanz. Im Gegensatz zur europäischen Erfahrung, die den modernen Staat hervorbrachte, beruht die islamische Gouvernanz auf einer ganz anderen historischen Erfahrung mit ihrer eigenen Kultur, Werteordnung und Denkweise. Von entscheidender Bedeutung für die Differenz ist das Fehlen von Monarchie oder Staat, der die Gesetzgebung beherrschte und diese in den Dienst schrankenloser Bereicherung der kleinen herrschenden Schicht und der Unterdrückung der großen Masse stellte, was schließlich Revolutionen notwendig machte. Die muslimischen Gesellschaften waren hingegen von weit geringerer Ungleichheit und vor allem von einer Herrschaft des Rechts geprägt.

Die islamische Gouvernanz kannte keine den Disziplinierungsapparaten des modernen Staates wie Polizei, Gefängnis, Überwachung usw. vergleichbaren Einrichtungen. Die Bildung blieb stets privat, informell und leicht zugänglich. Die sultanische Exekutive gründete zwar Bildungseinrichtungen wie die madrasa, hatte aber keinen Einfluss auf Inhalt und Form der Lehre. Die Bildungsinhalte waren auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ausgerichtet und standen im Dienst des Strebens nach dem guten Leben. Die Bildung war daher wie die Scharia selbst weitgehend unabhängig vom Willen der Exekutive. Die politische Macht verfügte nicht über die Fähigkeit, Subjekte zu produzieren, die sich mit dieser Macht identifizierten und sich selbst darin wiedererkannten.

Die islamische Gouvernanz brachte allerdings sehr wohl Subjektivitäten hervor, die paradigmatisch auf der Scharia als Ausdruck der Souveränität Gottes auf Erden gründeten und sich daher grundsätzlich vom Subjekt des modernen Staates unterschieden. Während es dem modernen Subjekt vor allem um die Erkenntnis des Selbst ging, stand hier die Sorge um das Selbst im Vordergrund.

Hallaq wendet sich nun einer methodologischen Frage zu, die sich aus der orientalistischen Betrachtung der Scharia ergibt, welche die Bereiche des Rechtlichen und Moralischen strikt voneinander trennte. Indem diese Trennung auf die Scharia projiziert wird, in der Recht und Moral unauflöslich miteinander verschmolzen sind, wird der islamischen Kultur eine ihr fremde Konzeption aufgezwungen, die das Verstehen verhindert, da der Gegenstand der Untersuchung dadurch verzerrt und entstellt wird. Dieser epistemische Eingriff bleibt nicht nur oberflächlich, sondern führt weit darüber hinaus geradezu zu einer Rekonstitution des Untersuchungsgegenstandes.

Hallaq führt dazu aus:

Die Unterscheidung zwischen – und die Trennung von – dem Rechtlichen und dem Moralischen bildete in der Tat den ersten Akt in der Heraufkunft des akademischen Themas des »islamischen Rechts« im kolonialen Europa des neunzehnten Jahrhunderts. Von diesem »Recht« – eine weitere Fehlbezeichnung – wurde und wird bis auf den heutigen Tag weiterhin behauptet, dass es »versagt« habe, zwischen dem Moralischen und dem Rechtlichen zu unterscheiden. Dieses vermeintliche Versagen – ein begriffliches Urteil, dessen Maßstab das paradigmatische Modell des europäischen Rechts war – lief auf eine Anklage hinaus, die fest auf den vom modernen Staat geschaffenen ideologischen Grundlagen aufruhte. Die Wissenschaftler, die das Wissen schufen, welches das »islamische Recht« ist, und deren Maß einer Rechtskultur eine solche ist, die von der zudringlichen und allgegenwärtigen Aktivität des Staates erfüllt ist, hielten ein »Recht« für unverständlicherweise mangelhaft, das nicht nur nahtlos mit Moralität verwoben war, sondern für seine Durchsetzung von Moralität abhing. Denn in ihrer rechtlichen Weltanschauung zählte eine Durchsetzung durch Moralität nur wenig, wenn überhaupt. (112)

Diese Geringschätzung des Moralischen passt zu einer Kultur, in deren Moralphilosophie eine Frage zentrale Bedeutung gewinnen konnte, die in der islamischen Tradition niemals ernstlich gestellt wurde, nämlich: »Warum überhaupt moralisch sein?« Diese Frage kann nur einem Denken entspringen, in dem die Moral als gesonderter Bereich und nicht als selbstverständlich gilt. Darin spiegelt sich ein grundsätzliches Dilemma der Modernität. Die Frage ist schlechterdings modern und hätte sich so wohl in keiner vormodernen Kultur gestellt.

Dieser Unterschätzung der »moralischen« Kraft, die in der islamischen Tradition als wesentlicher und integraler Bestandteil des »Rechts« gilt, liegt eine ideologisch bedingte Geringschätzung der Religion, zumindest der islamischen, zugrunde. Die Abscheu gegen die Religion als moralischer Kraft macht blind gegen die Einsicht in die Rolle, welche die Moral tatsächlich auf dem Gebiet des Rechts und umgekehrt spielt. Im Rahmen der modernen moralfeindlichen Denkweise mussten daher andere Erklärungen gesucht und die Geschichtsschreibung entsprechend angepasst werden.

Hallaq richtet dagegen seine Aufmerksamkeit gerade auf die Verwobenheit von Moral und Recht in der islamischen Kultur. So stellt sich nicht die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?«, deren Antwort für muslimische Rechtsgelehrte allzu offensichtlich war, um eine entsprechende Stellung wie in der modernen Moralphilosophie einnehmen zu können, sondern vielmehr die Frage: Wie wird das moralische Subjekt gebildet?

Diese Frage untersucht Hallaq aus einer Perspektive, welche die Herausbildung des moralischen Subjekts in einer Sphäre ansetzt, die dessen Kontakt mit dem »Recht« im engeren Sinne und insbesondere der Judikative vorausliegt:

Denn das moralische Subjekt wurde vorausgesetzt als bereits gebildet qua moralisches Subjekt innerhalb des »Rechts« zum Zeitpunkt des rechtlichen Ereignisses (judicial event), also zu dem Zeitpunkt, da das »Recht« die Präsenz der moralischen Kraft – wie es dies immer tat – als gegeben ansah. Wenn die Moralität sich innerhalb des Habitats des »Rechts« ununterscheidbar verortete, so deshalb, weil das Subjekt dieses »Rechts« in seinen individuellen und kollektiven Formen uneingeschränkt als moralischer Akteur angenommen wurde. Sonst hätten die allgemeinen Weisungen der Scharia im Kontext der sozialen Verhältnisse keine Bedeutung gehabt und wären nicht mehr als ein Gespinst in der Einbildung der Rechtsgelehrten gewesen. (114; Hervorhebung im Original)

Und Hallaq setzt hinzu:

Unser schematischer Ansatz nimmt eine theoretische und praktische Interaktion zwischen der Rechtslehre und dem individuellen muslimischen Subjekt als Mitglied der Gemeinschaft voraus. Es wird als gegeben angesehen, dass die Scharia, wie sie sich durch die Rechtslehre (in ihren substantiellen wie auch prozeduralen und verfahrensrechtlichen Vorgaben) manifestierte, in muslimischen Gesellschaften die höchste Form der Legitimität erworben hatte, dass sie als exemplarisch für das akzeptiert wurde, was das »Recht« sein sollte und ist, dass sie die vollkommen legitime kontextuelle Struktur und Paradigma war, in der die »wohlgeordnete Gesellschaft« funktionierte und lebte, und dass die richtige und gute Praxis das war, was ihren Vorschriften entsprach. Diese Interaktion, eine sozialrechtliche Dialektik erster Ordnung, findet umfassende Bestätigung insbesondere in der Weise, in der ich die Frage nach der Bildung des moralischen Subjekts angehe. Meine Betonung auf die sogenannten rituellen Aspekte des Rechts bestärken Annahmen über die historische Existenz dieser Dialektik, denn meines Wissens hat niemand die Behauptung erhoben, dass diese Aspekte der Scharia irgendeine Abtrennung von der praktischen und sozialen Realität erlitten hätten. Auch wenn der skeptische Orientalismus (fälschlicherweise) eine Trennung zwischen dem »substantiellen Recht« der Scharia einerseits und den sozialen und politischen Praktiken andererseits behauptet hat, so hat er doch nie die spirituelle und religiöse (und, so können wir hinzufügen, praktische) Bedeutung des »Rituellen« für Muslime infrage gestellt. (114-115; Hervorhebungen im Original)

Wie die religiöse und soziale Moralität die Scharia stützte, so bestärkten sich die verschiedenen Teile der fiqh-Lehre (Rechtslehre) gegenseitig in moralischer Hinsicht. Dies kommt in der sorgfältig angelegten, reich ausgearbeiteten und hochgradig strukturierten Darlegung der Rechtslehre zum Ausdruck und ist ein erheblicher Faktor in ihrer Wirksamkeit.

Dass die moderne Wissenschaft diesem Umstand keine Aufmerksamkeit schenkte, führt Hallaq darauf zurück, dass die Schaffung des Untersuchungsgegenstandes »islamisches Recht« unter der Voraussetzung vorgenommen wurde, einen Bereich der »Riten« vom eigentlichen Recht trennen zu können und zu müssen. Als das »islamische Recht im eigentlichen Sinne« galt dabei der Teil der Scharia, der Gebiete des Rechts behandelte, die dem entsprachen, was im westlichen Verständnis als »Recht« galt.

Hallaq erläutert:

Diese Gebiete des »eigentlichen Rechts« waren als muʿāmalāt bezeichnet worden, um darauf hinzuweisen, dass diese Bereiche die Rechtsverhältnisse zwischen und unter Individuen betrafen, wie etwa Familienrecht, Handelsrecht und Strafrecht. Im Gegensatz dazu bezogen sich die ʿibādāt auf jene Gesetze, die vermeintlich die Beziehung des Menschen zu Gott regelten, offensichtlich eine Reihe religiöser Praktiken. Dieser Bereich des Rituellen wurde daher in der Wissenschaft weitgehend außer Acht gelassen bis zum Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als sehr wenige Schriften, die sich mit Waschung und Reinheit befassten, schließlich erschienen. (115-116)

Hallaq weist darauf hin, dass diese Unterscheidung zwar ursprünglich vormodern ist, aber im modernen Diskurs zwangsläufig eine ganz andere Bedeutung gewinnt.

Im Orientalismus wurden jedenfalls die »Rituale« nie als Teil des »Rechts« betrachtet, geschweige denn als konstitutiv für das »eigentlich Rechtliche«. Die Trennung des Rechtlichen vom Moralischen beruht auf einer Blindheit gegenüber der moralischen Kraft des Rechts, welche den Blick für die rechtlichen Wirkungen der »gottesdienstlichen« ʿibādāt wie auch die moralischen Wirkungen der »strikt rechtlichen« Vorschriften der muʿāmalāt verstellt.

Dass es schon einer fortgeschrittenen Schwachsichtigkeit bedarf, um dies nicht zu sehen, beweist bereits die Tatsache, dass alle muslimischen Rechtswerke mit fünf großen Kapiteln beginnen, in denen der Reihe nach die fünf Säulen des Islam (arkān al-islām) ausführlich behandelt werden, d.h. neben der Glaubensbezeugung (schahāda) insbesondere die vier grundlegenden religiösen, gottesdienstlichen Praktiken des Gebets (salāt), der sozialen Pflichtabgabe (zakāt), der Pilgerfahrt (hadschdsch) und des Fastens (sawm).

Aus dem Aufbau der Rechtswerke lässt sich unschwer die vorrangige Bedeutung dieser religiösen Praktiken ersehen. In ihnen kommt die enge und unmittelbare Beziehung des Gläubigen zu Gott zum Ausdruck. Indem sie als Erfüllung eines Abkommens zwischen Gott und dem Gläubigen verrichtet werden, wird nicht nur diese Beziehung bestärkt und stets erneuert, sondern durch ihre tiefen psychologischen Wirkungen zugleich die Grundlage für die willige Befolgung des Rechts geschaffen, das in den Rechtswerken im Anschluss daran dargelegt wird.

Am Anfang steht immer das Gebet, das die Hingabe an Gott ausdrückt und durch seine Regelmäßigkeit beständig übt. Beim Fasten wird ebenfalls die Selbstbeherrschung eingeübt, und durch den erfahrenen Verzicht entsteht zudem ein Mitgefühl für das Leid anderer Menschen und zugleich Dankbarkeit für Gottes Gaben, mit denen Er die Menschen in Seinem Großmut und Seiner Fürsorge bedenkt. Auch die Zakat weckt durch die reinigende Gabe das Mitgefühl und das Verantwortungsgefühl gegenüber den bedürftigen Mitmenschen sowie das Bewusstsein, nichts wirklich selbst zu besitzen, da alles letztlich Gottes Eigentum ist und dem Menschen nur zum rechten Gebrauch anvertraut wurde. Und die anspruchsvolle Pilgerfahrt stellt überdies die Demut und Geduld der Gläubigen gegenüber Gott und in ihrer Gleichheit vor Gott auf die Probe. Schon in dieser rudimentären Skizze einiger weniger Aspekte dieser Praktiken, die angesichts ihrer wahren Tiefe nur eine winzige Andeutung sein können, erweist sich unübersehbar ihr »moralischer« Gehalt.

Die Scharia kann ohne ihre moralischen Stützen gar nicht verstanden werden, und auch nicht, wie sie ihre Wirkung in der Gesellschaft entfalten und diese zu einer wohlgeordneten bilden konnte. Die Moralität, auf der die Scharia gründet, hat ihre Quelle in großem Maße in der performativen Kraft der fünf Säulen.

Hallaq legt dazu weiterhin dar:

Die Moralität, welche die willige Unterwerfung unter die Autorität des »Rechts« beflügelte, wurde durch diese performativen Handlungen konstituiert. Dass ihnen eine hervorragende Stellung und Vorrang eingeräumt wurde, war nicht nur Zeugnis ihrer rituellen religiösen Bedeutung, sondern auch, wenn nicht primär, ihrer grundlegenden moralischen Kraft. Diese Säulen aus dem fiqh zu vertreiben, heißt, die moralischen Grundlagen des Rechts aufzulösen, letzteren den stärksten Antrieb für Rechtsgehorsam zu entziehen. Ein muʿāmalāt-Recht, das seines ʿibādāt-Untergrunds beraubt wurde, ist daher ein Recht, das nicht nur der moralischen Kraft ermangelt, sondern ein Recht, das nicht anwendbar, unwirksam und häufig nicht durchsetzbar ist. (118; Hervorhebung im Original)

Wir können die anschließende Beschreibung der islamischen Praxis der »fünf Säulen« (arkān al-islām) als moralische Grundlage der Scharia, die in viele Einzelheiten geht, hier nicht wiedergeben, da dies zu großen Raum einnehmen und eigentlich eine eigene Darstellung erfordern würde. Daher sei nur noch der Satz zitiert, mit dem Hallaq seine Darlegung zusammenfassend beschließt:

In ihrer vereinigten Kraft sorgen diese performativen Handlungen für die Vorbedingungen, durch welche die moralische Grundlage und moralische Dimension des Rechts konstituiert werden. (129)

Diesen Verzicht auf eine breitere Darstellung müssen wir desgleichen üben, was die darauf folgende Vertiefung der Untersuchung betrifft, die im Anschluss an den großen muslimischen Denker Abū Hāmid al-Ghazālī (gest. 505/1111) und dessen vielschichtige Verbindung von Scharia, Sufismus und Philosophie zu einer umfassenden Ethik vorgenommen wird. Für Hallaq spiegelt diese Ethik die »scharʿi-sufische Orthopraxis, die vieles von dem ausmachte, was der Islam als eine gelebte spirituelle und weltliche Erfahrung war.« (129) Und sie gilt ihm daher als paradigmatisch.

Wie Kant das Zeitalter der Moderne überschattete, so überschattete al-Ghazālī etliche Jahrhunderte in der Mitte der islamischen Geschichte. Da für eine eingehendere Darstellung und Erörterung hier nicht der Ort ist, wollen wir uns auf ein für unseren Zusammenhang unmittelbar relevantes Zitat beschränken, das dem Kontext von reiner Absicht (niyya), Ehrfurcht gegenüber und Liebe zu Gott sowie dem Wissen um die eigene Beschränktheit im Gebet entstammt:

Letzteres repräsentiert ein denkendes Bewusstsein des beständigen Wunsches und Strebens nach der »Sorge um das Selbst«, das heißt ein Bewusstsein einer grundlegenden Ethik, die allen anderen Handlungen und Verrichtungen zugrunde liegt. Eingebettet in das Gebet (die erste Säule von allen) legt der Wunsch nach Übung des Selbst und stetiger Verbesserung die logische und chronologische Grundlage für die angemessene Ausführung anderer Pflichten. Hierin liegen daher die Samen des ethischen Verhaltens. […] Liebe zu Gott überwiegt für Ghazālī offenkundig die Furcht vor göttlicher Bestrafung […] Gott zu lieben, heißt, für das Selbst zu sorgen, es zu üben und es einer selbstreflektiven und bewusst beabsichtigten Routine performativer Handlungen zu unterziehen. (134; Hervorhebungen im Original)

1.7.3 Unvereinbarkeit der Subjektivitäten

Die Verbindung von Recht, Moral und maßvollem Sufismus führt eine Vertiefung des Sinns der religiösen Praxis mit sich.

Hallaq erläutert:

Liebe und Furcht verbinden sich, um ein tiefes Gefühl der Ergebenheit gegenüber einer höheren Macht zu wecken, die alles in diesem Universum erschaffen hat – und daher besitzt. In Ghazālīs Konzeption wie in der sufischen Tradition, welche die Begriffe des moralischen Rechts zutiefst durchdrungen haben, gewann die Liebe eine herausragende Stellung im Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Die Sorge für das Selbst und die Übung des Selbst sind Mittel, um diese Liebe auszudrücken, denn der Ausdruck selbst repräsentiert eine Gewähr der qurba, das Erlangen eines Platzes in Gottes Nähe. (135-136)

In diesem Denken stellt sich nicht die Frage, warum man überhaupt moralisch sein sollte, sondern vielmehr die Frage, wie man sich selbst als moralisches Wesen bildet. Und der Weg dieser Bildung besteht aus einer Reihe von sich gegenseitig unterstützenden Handlungen, die am Selbst verrichtet werden. Diese Übungen wirken zugleich auf Körper und Geist des Gläubigen, der dadurch lernt, den moralischen Imperativen des Herzens zu folgen.

In der modernen Kultur ist durch eine epistemische Transformation an die Stelle der Sorge für das Selbst die bloße Selbsterkenntnis getreten, in deren Verlauf die Technologien des Selbst in Technologien des Körpers verwandelt wurden. Die Betonung des Selbst, des Ich und seiner Interessen und Wünsche, die Verlagerung des Ortes der Bildung des Individuums vom inneren Selbst zum äußeren Körper führen zu den modernen Phänomenen des Narzissmus und Hedonismus. Da die neuen Technologien des Körpers die Imperative der materiellen Welt in den Mittelpunkt stellen, tragen sie zur Entzauberung und Fragmentierung des Selbst bei. Statt wie in den Technologien des Selbst Körper und Geist zu üben, stärken die Technologien des Körpers ausschließlich den Körper und setzen ihn so zur seelenlosen Hülle herab.

Das gleiche Schicksal widerfährt darüber hinaus der äußeren Welt insgesamt. Indem ihr jeglicher Sinn und Wert ausgetrieben werden, verkommt sie als natürliche Ressource zum beliebig verfügbaren Spielball der beschränkten Interessen des seinerseits sinnentleerten Menschen.

Hallaq führt aus:

Das ist der Mensch, der in einer modernen Welt Einzug gehalten hat, die nicht viel anderes anerkennt als das Politische, als die Eroberung der Welt, die normativ stumm und bar aller moralischen Weisungen ist. Das ist der Mensch, der die Welt sieht »wie sie ist«, ein positivistisches Wesen, das Macht und Stärke als einzige Logik und Gesetz der soziopolitischen Verhältnisse zulässt. [...]

Das ghazālische Projekt stellt daher nicht nur eine intellektuelle Synthese von Moralität, Recht, Theologie, Mystik und Philosophie dar, sondern auch einen »anthropologischen« Streifzug in die muslimische Subjektivität, der die geistigen, sozial-gemeinschaftlichen und psychologischen Kräfte, die diese Subjektivität geformt haben, in ein Paradigma zusammenfasst. Die juristischen Erörterungen der fünf konstitutiven Säulen – die unzweifelhaften Grundlagen des Konzepts, was es heißt, ein Muslim zu sein – werden nicht nur als selbstverständlich angenommen, sondern auch in soziopsychologische Werkzeuge der Bildung von Denken und Handeln verwandelt. (137)

So erstreckt sich die Scharia weit über das »Recht« hinaus in den Bereich der Kultur. In der gesamten vormodernen islamischen Tradition ist das Recht nicht nur in eine Dialektik mit sozialen und kulturellen Normen verwoben, sondern insbesondere im Bereich des Sufismus auch mit der Psychologie, dem Seelenleben.

Diese Dialektik beschreibt Hallaq folgendermaßen:

Wenn die Scharia auch ein psychologisch-mystisches Unternehmen war und wenn sie die paradigmatische und unbestrittene »legislative« Gewalt der islamischen Gouvernanz bildete, dann betraf diese Gouvernanz nicht nur Recht, Moralität und deren organischen Zusammenfluss; sie betraf auch und gleichermaßen die mystische Wahrnehmung der Welt, eine Wahrnehmung, die tief in einer Gesellschaft – repräsentiert von einer Klasse von Mystiker-Rechtsgelehrten – verankert war, die in der Lebenspraxis nicht zwischen den Bedeutungen des Rechtlichen, des Moralischen und des Mystischen unterschied. (137-138; Hervorhebungen im Original)

Hallaq beschließt dieses Kapitel sodann mit folgender Bemerkung:

Die Frage, die sich hier stellen sollte, lautet: Wie würde unsere Welt sein, wenn die legislative Gewalt im modernen Staat unbestreitbar und ausschließlich das Recht des Landes bestimmten würde, ein Recht, das – im Bereich der zivilen Bevölkerung – von der Judikative und Exekutive durchgängig respektiert werden würde? Und wie würde, diese echte Trennung vorausgesetzt, unsere Welt sein, wenn dieses Recht zugleich sowohl moralisch als auch maßvoll mystisch wäre? Die westliche Moralphilosophie hat, wie wir gesehen haben, gewisse kritische Denkströmungen entwickelt, aus denen ein Aufruf resultiert, auf das moralische Repertoire des europäischen geistigen Erbes zurückzugreifen, doch dies bleibt ein ziemlich dürftiger Versuch, der nirgendwo auch nur annähernd zu einer aufsteigenden paradigmatischen Kraft geworden ist, und noch viel weniger zu einem Paradigma. Der Staat und sein erfolgreich erzeugtes modernes Subjekt – und auch, wie wir sogleich sehen werden, der Kapitalismus und die Kapitalgesellschaft – haben beständig und zunehmend darauf hingearbeitet, sicherzustellen, dass kein solches Paradigma ins Dasein treten kann, einbegriffen und ganz besonders ein islamisches. Der homo modernus des Staates steht kraft seines Wesens im Gegensatz zum homo moralis unserer Vorstellung. (138; Hervorhebung im Original)