1.9 Zentralgebiet des Moralischen

1.9 Zentralgebiet des Moralischen Yusuf Kuhn

Hallaq beginnt das letzte Kapitel mit folgender Feststellung:

Der moderne islamistische Diskurs nimmt an, dass der moderne Staat ein neutrales Werkzeug der Regierung ist, das dazu eingespannt werden kann, bestimmte Funktionen gemäß der Wahl und auf Geheiß ihrer Führer auszuführen. Wenn die Maschinerie der staatlichen Regierung nicht für Unterdrückung verwandt wird, kann sie von den Führern in eine Repräsentation des Volkswillens verwandelt werden, wodurch bestimmt wird, was der Staat werden wird: eine liberale Demokratie, ein sozialistisches Regime oder ein islamischer Staat, der die Werte und Ideale zur Anwendung bringt, die im Koran enthalten sind und die der Prophet einst in seinem »Mini-Staat« von Medina verwirklicht hatte. (155)

Dabei wird allerdings übersehen, dass der moderne Staat keineswegs so neutral ist, wie hier angenommen wird, sondern auf zahlreichen metaphysischen Voraussetzungen beruht, deren Verträglichkeit mit islamischen Normen und Werten, gelinde gesagt, äußerst fraglich ist. Der moderne Staat geht freilich mit einem ganzen Arsenal von metaphysischen Voraussetzungen einher. Seine spezifische Verfasstheit zieht daher Wirkungen nach sich, die sich auf alle Ebenen des Politischen, Sozialen, Ökonomischen, Kulturellen, Epistemischen und Psychologischen erstrecken. Der Staat schafft dadurch besondere Ordnungen des Wissens, die für die Bildung individueller und kollektiver Subjektivität bestimmend sind und damit auch für den Sinn des Lebens seiner Subjekte.

Darin spiegelt sich freilich auch die historische und geographische Herkunft des modernen Staates, der von seinem europäischen Kerngebiet aus in die Kolonien und den Rest der Welt exportiert wurde. Da dort die auch in Europa selbst über einen langen Zeitraum mit äußerster Gewalt erst hergestellten Bedingungen, derer der Staat für sein Funktionieren bedarf, weitgehend fehlen, gebricht es ihm an der Legitimität und der Fähigkeit, Gesellschaften zu beherrschen, welche die vorgängigen Prozesse der meist kriegerischen Homogenisierung und Nationalisierung noch nicht durchlaufen haben. Was dann als »schwacher« Staat erscheint, beweist nur die Fremdheit und Untauglichkeit des modernen Staates.

Natürlich heißt all dies nicht, dass sich der moderne Staat nicht verändert. Aber es zeigt sich, dass er bei aller Wandlung doch wesentliche Strukturen bewahrt, die sich stets als unvereinbar auch nur mit den aller elementarsten Erfordernissen der islamischen Gouvernanz erwiesen haben. Die Globalisierung hat diese Inkompatibilität nur noch verstärkt, die letztlich moralischer Natur ist.

1.9.1 Hauptsächliche Inkompatibilitäten

Hallaq führt nun fünf Inkompatibilitäten von modernem Staat und islamischer Gouvernanz an, die von besonderer Bedeutung sind. Da es sich dabei um eine Zusammenfassung von in den vorhergehenden Kapiteln ausführlich Dargestelltem handelt, wollen wir uns kurz fassen.

Erstens: Der Staat als anthropozentrische Entität besitzt eine Metaphysik, die als Produkt seines eigenen souveränen Willens die höchste Manifestation des Positivismus ist und als solche seinen Willen zur Macht widerspiegelt. Die islamische Gouvernanz hingegen schließt eine auf Positivismus und Willen zur Macht basierende Metaphysik aus, da für sie der Vorrang des Moralischen nicht nur die Metaphysik, sondern darüber hinaus alle Bereiche bestimmt. Die beiden Metaphysiken sind also unvereinbar.

Zweitens: Die islamische Gouvernanz ist durch die Souveränität Gottes gebunden, da ihre Prinzipien von Wahrheit und Gerechtigkeit sowie die uneingeschränkte Herrschaft des Rechts darauf beruhen, während die selbstgeschaffene Souveränität des modernen Staates keinerlei äußeren Schranken unterliegt. Daher sind die beiden Begriffe der Souveränität unvereinbar.

Drittens: Da in der islamischen Gouvernanz Gott die höchste Quelle der moralischen Autorität und des Rechts ist, ist zu deren konkreter Umsetzung eine strikte Trennung der Gewalten mit einer uneingeschränkten Herrschaft der »legislativen« Gewalt über die Judikative und Exekutive erforderlich. Im modernen Staat hingegen wird die Herrschaft des Rechts durch die beiden anderen Gewalten zumindest stark beschnitten. Daher sind diese beiden Konzeptionen der Gewaltenteilung weitgehend unvereinbar.

Viertens: Die Weltsicht der islamischen Gouvernanz geht davon aus, dass Welt und Mensch als Geschöpfe Gottes von Wert und Sinn erfüllt sind. Das durch religiös-moralische Praxis gebildete Subjekt unterliegt moralischen Imperativen und lebt in der Verantwortung vor Gott und für die Mitmenschen in der Gemeinschaft. Es ist aufgerufen, Gutes zu tun, und hat schließlich vor Gott als seinem gerechten und allwissenden Schöpfer und Richter Rechenschaft für sein Tun abzulegen. Das Subjekt des modernen Staates hingegen lebt in einer durch die Trennung von Sein und Sollen jeglichen Werts und Sinnes beraubten Welt und wird vom Staat mittels seiner disziplinierenden Technologien des Selbst zum folgsamen und opferbereiten nationalen Bürger abgerichtet, dessen Wert ausschließlich im endlosen Kampf um weltliche Interessen in einer sinnlosen Welt liegt. Das Subjekt des Seins und das Subjekt des Sollens sind grundlegend verschiedene Konzeptionen des Menschen, die in unüberwindlichem Gegensatz zueinander stehen und völlig unvereinbar sind.

Fünftens: Der moderne Staat und das kapitalistische Projekt der Globalisierung agieren in einer materiellen Welt der nackten Tatsachen und schaffen darin folgerichtig einen homo oeconomicus, der ausschließlich vom Streben nach materiellem Profit geleitet ist. Die islamische Gouvernanz bringt hingegen einen homo oeconomicus hervor, der von höheren moralischen Imperativen geleitet ist, der im Angesicht Gottes seiner sozialen Verantwortung verpflichtet ist, der keinen Begriff des beliebig und schrankenlos verfügbaren Eigentums kennt, da letztlich alles Gott gehört, der es ihm nur zur pfleglichen Behandlung anvertraut hat und eben nicht zur Profitmacherei und unendlichen Kapitalakkumulation in universeller Konkurrenz, die nur Feindschaft und keine Liebe kennt. Die Unvereinbarkeit der beiden Konzeptionen ist unübersehbar.

Aus dieser Diagnose ergeben sich vielfältige Schlussfolgerungen, von denen Hallaq einige herausstellt:

Die Gesamtheit dieser inhärenten und grundsätzlichen Gegensätze wirft ein erhebliches Problem auf. Wenn Muslime ihr Leben in sozialer, ökonomischer und politischer Hinsicht organisieren wollen, stehen sie vor einer entscheidenden Wahl. Entweder müssen sie sich dem modernen Staat und der Welt, die ihn hervorbrachte, ergeben, oder der moderne Staat und die Welt, die ihn hervorgebracht hat, muss die Legitimität der islamischen Gouvernanz anerkennen, das heißt die muslimische Konzeption von Politik, Recht und, von größter Bedeutung, Moralität wie auch ihrer untergeordneten politischen und ökonomischen Erfordernisse. Die erste Option erscheint auf den ersten Blick als realistischer, vorausgesetzt, dass sie gegenwärtig weithin von Muslimen und sogar ihren Intellektuellen akzeptiert wird, obgleich meist aufgrund der irrtümlichen Annahme, dass das System des modernen Staates beizeiten in einen islamischen Staat umgewandelt werden könne. Wie ich in den vorausgehenden Kapiteln zu zeigen versucht habe, gebricht es dieser Annahme an einem angemessenen Verständnis des Wesens des modernen Staates, seiner Formeigenschaften und seiner inhärenten moralischen Inkompatibilität mit jeglicher Form der islamischen Gouvernanz. Die zweite Option erscheint allen Anzeichen zufolge als weniger wahrscheinlich, da jede Form der islamischen Gouvernanz innerhalb eines Systems von Staaten wird leben müssen, das selbst unter dem Druck der Imperative einer globalisierten Welt steht. Wenn der moderne Staat, wie uns so viele Analysten sagen, selbst mit dem Druck der Globalisierung kämpfen und sich unter diesem Druck neu anpassen muss, so würde eine islamische Gouvernanz vielfältige und zunehmende Herausforderungen erleiden, die ziemlich wahrscheinlich ihren Niedergang und ebenso wahrscheinlich ihren völligen Zusammenbruch verursachen würden. (161-162)

1.9.2 Ein Ausweg?

Die Untersuchung muss jedoch über diese Realpolitik hinausgehen. Wie der moderne Staat fremd und drückend auf der muslimischen Welt – und einem großen Teil des »Rests« der Welt – lastet, so wirft die Modernität als Ganzes für die gesamte Welt einschließlich der westlichen, die sie ursprünglich hervorgebracht hat, eine Vielzahl von Problemen auf. Sie reichen von spiritueller Leere, Sinnlosigkeit, Nihilismus, Hedonismus und Narzissmus bis zur Zerstörung jeglicher Gemeinschaft, der Familie und der Natur.

Dazu merkt Hallaq an:

Nichts davon kann von dem übergreifenden Projekt des modernen Staates abgetrennt werden. Daher kommt die Infragestellung des modernen Projekts nicht umhin, den Staat in die vorderste Reihe der Kritik zu stellen. Und sie kommt ebenfalls nicht umhin, zugleich die Zerstörung der Umwelt und der natürlichen Welt in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu rücken, denn […] unsere Einstellung zu und unser Umgang mit dieser natürlichen Welt ist das Maß unseres Daseins, unserer Auffassung dessen, was es für uns heißt, Menschen zu sein. Die Folge dieser Einstellungen ist nicht, wie viele denken, bloß eine Tatsache des Lebens, eine lediglich bedauerliche Begleiterscheinung unserer ansonsten guten Absichten und Errungenschaften des Fortschritts. Sie ist vielmehr das eigentliche Maß des Menschen, da sie die niedrigste Richtgröße bildet, an der unsere moralische Verantwortlichkeit gegenüber allen Dingen in der Welt gemessen und beurteilt werden muss. Sie ist, mit anderen Worten, die zentralste Frage, die das bedrängt, was das Zentralgebiet des Moralischen sein sollte, eine Frage, deren Lösung alle anderen Fragen, Probleme und wiederum deren Lösungen innerhalb der Gesamtheit dessen, was wir die untergeordneten Gebiete genannt haben, vorherbestimmt. (162-163; Hervorhebungen im Original)

Da diese Probleme neben allen praktischen Herausforderungen, die damit einhergehen, letztlich auf eine Entstellung in der moralischen Auffassung der Natur zurückgehen, kann nur eine Berichtigung dieses Moralverständnisses zu echten Lösungen führen. Und das betrifft selbstverständlich nicht nur das islamische Denken, wie Hallaq herausstellt:

Und diese Lösungen haben unmittelbare Auswirkungen nicht nur auf jegliche Möglichkeit einer islamischen Gouvernanz in der modernen Welt, sondern auch und in erster Linie auf den modernen Staat und die Bedingungen, unter denen er besteht. […] Die grundlegendsten Probleme des modernen Islam sind nicht ausschließlich islamisch, sondern wohnen in der Tat gleichermaßen dem modernen Projekt selbst in Ost und West inne. (163; Hervorhebungen im Original)

Für eine Erörterung dieser Fragen ist es erforderlich, auf die durch die Aufklärung forcierte Trennung von Sein und Sollen zurückzukommen, denn durch sie wurde das in der Moderne vorherrschende Moralverständnis zutiefst geprägt. Bei der Behandlung dieses Themas stützt sich Hallaq neben Charles Taylor und Alasdair MacIntyre auch auf die Kritiken von H. A. Prichard und Charles Larmore.

Von hier ab bis zum Ende des Buches beschränke ich mich auf die Übersetzung, um Hallaqs abschließende Überlegungen in voller Länge sowie möglichst ungefiltert und getreu wiederzugeben. Denn sie entwerfen das Projekt einer Debatte, das wahrlich ernst genommen zu werden verdient.

Zu diesen moralphilosophischen Fragen von grundlegender Bedeutung führt Hallaq also aus:In dem folgenden übersetzten Abschnitt sind viele, obgleich nicht alle Fußnoten aus dem Original übernommen.

[…] die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen stand in einer dialektisch kausalen Beziehung mit der Trennung des Wertes von einer natürlichen Welt, die als »nackt« und »träge« betrachtet wurde. Wenn die Materie allen Wertes beraubt wird, hört sie auf, Teil eines anima mundi zu sein, und kann somit als ein Objekt behandelt werden. Sie kann erforscht und dem gesamten Arsenal unserer autonomen rationalen Analyse (und mithin unseren Handlungen) unterworfen werden, ohne dass sie moralische Forderungen gegen uns erheben könnte. Aber diese noch nie dagewesene paradigmatische Unterscheidung brachte eine weitere bedeutsame Konsequenz hervor, nämlich die Isolation der Vernunft von Gründen (the isolation of reason from reasons), wobei die Vernunft ein Instrument des Denkens über die Welt ist und Gründe die substantiellen »Ursachen« repräsentieren, die durch die Vernunft Denken generieren. Während vor der Aufklärung Vernunft und Gründe unterschiedslos zusammenarbeiteten, wurde nach der Aufklärung die Vernunft, im Unterschied zu Gründen, zu einem autonomen Status erhoben und von ihr erwartet, Gründe selbständig zu generieren. Daher das unerschütterliche Beharren der modernen Moralphilosophie darauf, dass die Moralität durch die autonome und selbstgesetzgebende Vernunft gerechtfertigt werden muss – das Rückgrat der kantischen Konzeption, die über das moderne Paradigma der Moral herrscht. Obgleich diese kantische Position wiederholten und vernichtenden Kritiken unterworfen worden ist, hatte sie weiter Bestand und hat nicht aufgehört, Anziehungskraft auszuüben. Der Grund dafür ist die Verschanzung der Unterscheidung zwischen Tatsache und Wert in allem modernen Denken, wo die Welt gesehen wird »als letztlich nichts mehr als die Materie in Bewegung ... normativ stumm, bar jeglicher Leitung, wie wir uns verhalten sollten.«Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge 2008, S. 111–112. Die Vernunft hat hier die Gründe auf eine Nichtigkeit reduziert und, wie Spengler sagte, leugnet alle Möglichkeiten außer sich.Siehe Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1983, S. 157.

Wie PrichardHarold Arthur Prichard, Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Mind, New Series, Bd. 21, Nr. 81 (Jan., 1912), S. 21-37. Deutsche Übersetzung von Günther Grewendorf: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Kurt Bayertz (Hg.), Warum moralisch sein?, Paderborn, 2002, S. 49–68. und LarmoreCharles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008; Charles Larmore, The Morals of Modernity. Cambridge, 1996. – und allgemeiner mit ihnen Taylor und MacIntyre,Charles Taylor, Justice After Virtue, in: John Horton / Susan Mendus (Hg.), After MacIntyre: Critical Perspectives on the Work of Alasdair MacIntyre, Cambridge, 1994, S. 16–43. Weite Teile dieses Aufsatzes sind in deutscher Übersetzung von Wolfgang Barus unter anderem Titel und in anderem Zusammenhang erschienen; die Kapitel I, II und III der englischen und der deutschen Version scheinen einander ziemlich genau zu entsprechen: Die Motive einer Verfahrensethik, in: Wolfgang Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt am Main, 1986, S. 101-135. unter anderen – in der Tat vorgebracht haben, ist es unmöglich, unseren Weg zur Moralität mittels autonomer Rationalität zu begründen, die, wie wir gesehen haben,Siehe den Abschnitt Moralität und der Aufstieg des Rechtlichen, S. 101 ff.; Paul Guyer, Kant on Freedom, Law, and Happiness. Cambridge, 2000; Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge 2008, S. 105. auf dem kantischen Begriff der Freiheit basiert. Prichard hat argumentiert, dass dieser wesenhaft kantische Ansatz »zum Scheitern verurteilt« ist, weil er auf »dem Irrtum« beruht, »zu glauben, man könne beweisen, was nur direkt durch einen Akt moralischen Denkens erfaßt werden kann.«Harold Arthur Prichard, Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Mind, New Series, Bd. 21, Nr. 81 (Jan., 1912), S. 36. Deutsche Übersetzung von Günther Grewendorf: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Kurt Bayertz (Hg.), Warum moralisch sein?, Paderborn, 2002, S. 68. Aber die Anziehungskraft der autonomen Rationalität, die in Freiheit gegründet ist, ist keineswegs zufällig, denn das Wesen dieser Art von Rationalität ist eben gerade der Wille zur Freiheit. Diese Freiheit erweist sich letztlich als nicht bloß unsere persönliche und private Freiheit – die sie natürlich ist -, sondern als die Freiheit des Menschen, über die Natur und allem, was sich in ihr befindet, zu herrschen, einschließlich »jegliches« Menschlichen, das als ein integraler Bestandteil von ihr definiert werden mag (z.B. der »edle Wilde«, jene Wesen, die »in einem Naturzustand« leben). Es ist die Freiheit von den Verpflichtungen eines Lebens unter den moralischen Forderungen dieser Welt als einer kosmischen Werteordnung, die uns als solche ihre eigenen Beschränkungen auferlegt. Die Ethik der Autonomie, die sich aus dieser Freiheit ableitet, ist derart vorherrschend gewesen, dass eine Philosophin so weit gegangen ist, sie zu »der einzigen, die mit der Metaphysik der modernen Welt verträglich ist,«Siehe Christine Korsgaard, Sources of Normativity, Cambridge, 1996, S. 5; und Larmores Kritik: Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 112. zu erklären. Wie Larmore und Prichard jedoch überzeugend aufgezeigt haben, macht diese Konzeption der selbstgesetzgebenden Vernunft »wenig Sinn«, da sie annimmt, dass die Vernunft oder der kantische »vernünftige Wille« ein Akteur und ein proaktiver Gesetzgeber ist, während die Vernunft in Wirklichkeit »nicht ein Akteur ist, sondern vielmehr ein Vermögen, das wir, die wir [die]Einschub in eckigen Klammern von Wael Hallaq eingefügt. Akteure sind, mehr oder weniger gut ausüben.«Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 109. Dieses Vermögen ist gewissermaßen eine Maschine des vernünftigen Denkens, das über das entscheidet, was wir als Gründe sehen, und das, nach der Durchführung dieser Entscheidung, die Gründe dafür anführt, von etwas überzeugt zu sein oder in einer bestimmten Weise zu handeln. Mit anderen Worten, die Vernunft kann nicht autonom sein, da sie, damit ihr latentes Potential verwirklicht werden kann, aktiviert werden muss, und dies kann nur durch das Antworten auf Gründe geschehen. Folglich erfordert die Vernunft »Empfänglichkeit für Gründe«, und deshalb »kann kein Prinzip als rational gelten, wenn nicht Gründe vorhanden sind, die für seine Annahme sprechen.«Ebenda, S. 109 u. 112.

Wenn es daher solche Dinge wie Gründe für Denken und Handeln geben soll, muss die Vernunft »sie in die Welt von außen einführen, indem sie von ihr selbst entworfene Prinzipien der neutralen Oberfläche der Natur auferlegt,«Ebenda, S. 112. das heißt anzunehmen, dass die Oberfläche der Natur neutral ist. Genau hier scheint dieser Ansatz eine naturalistische Konzeption der Welt zu verraten. Nachdem Larmore die hobbesianischen und kantianischen Argumente trefflich aufgelöst und die Unterscheidung zwischen Vernunft und Gründen kraftvoll und ebenso trefflich ausgearbeitet hat, konnte er schlussfolgern, dass der einzige Weg, die Autorität der Moralität anzuerkennen, darin besteht, - »von Anfang an« und »ohne jeden Umweg durch mein eigenes Wohl« – den Fokus zu richten auf »den bestimmenden Wert des moralischen Denkens – nämlich die Tatsache, dass das Wohl eines anderen an sich ein Grund für eine Handlung meinerseits ist [...] Unsere moralische Identität besteht nicht darin, unsere eigene Menschlichkeit wertzuschätzen und damit zu bestimmen, dass wir die Menschlichkeit in jedweder Person, in der sie erscheinen mag, wertschätzen sollten. Sie ist ein Grund, unseren Nachbarn in nicht weniger unmittelbarer Weise zu lieben, als wir natürlicherweise gewogen sind, uns um uns selbst zu sorgen. [...] Die [kantianische]Einschub in eckigen Klammern von Hallaq eingefügt. Ethik der Autonomie muss verworfen werden, und an ihre Stelle gehört das, was ich die Autonomie der Moralität genannt habe – womit ich meine, […] dass die Moralität einen autonomen, irreduziblen Wertbereich bildet, in den wir uns nicht von außen hineinvernünfteln können, sondern den wir einfach anerkennen müssen.«Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 122; Hervorhebungen im Original.

Welche Eigenschaft der Welt genau den Kontext der Gründe für diese Autonomie bilden mag, ist eine Frage, die Larmore in allgemeinen platonischen Begriffen beantwortet. Gründe »bilden eine intrinsisch normative Ordnung der Wirklichkeit, die nicht auf physikalische oder psychologische Tatsachen reduziert werden kann.«Ebenda, S. 123-129, insbesondere 129. Doch wohin gehen wir von hier aus, so dass wir Gründen eine spezifisch bestimmte Substanz und eine besondere Bedeutung zuschreiben können? Was in einer mit Werten gesättigten Welt ist es, das uns in konkreten und genauen Begriffen sagt, worin das Wohl eines anderen besteht? Und wie bestimmen wir dieses Wohl in einem spezifischen kulturellen Kontext und zu jedwedem konkreten Zeitpunkt?

Ironischerweise sind solche Fragen und Debatten des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, die aus formidabler moderner Wissenschaft und rationalem Denken hervorgehen, ein genauer Widerhall eben der Debatten, die Muslime vor über tausend Jahren führten. Die Fragen und Probleme, denen sie begegneten und die im wesentlichen denen gleichen, die von Kantianern, Neukantianern, Antikantianern und anderen erhoben wurden, waren für mehr als zwei Jahrhunderte geistige Kampfplätze. Von der Mitte des achten Jahrhunderts A.D. bis zum Ende des zehnten und darüber hinaus bildeten sich große rechtlich-intellektuelle Bewegungen heraus, die das gesamte Spektrum der intellektuellen Meinungsvielfalt hinsichtlich der Frage der Moralität, ihrer Autonomie und der Rolle der Vernunft bei der Bestimmung menschlicher Handlungen repräsentierten. Der einzige große Unterschied zwischen den beiden Debatten ist ihr Kontext: während die meisten Denker der Aufklärung – bei all ihrer Verschiedenheit – nur eine entzauberte Welt kannten, bewohnten die vormodernen muslimischen Intellektuellen eine Welt, die mehr oder weniger »verzaubert« war. Diese Intellektuellen, die über mehr als zwei Jahrhunderte ihre geistigen Kräfte miteinander maßen, kamen schließlich zu dem überein, was ich an anderer Stelle die »Große Synthese«Für eine eingehende Darstellung dieser Synthese siehe Wael Hallaq, The Origins and Evolution of Islamic Law. Cambridge, 2005 (Stellenangaben im Index unter »Great Synthesis«); Wael Hallaq, Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations, Cambridge, 2009, S. 55-60 u. 72. genannt habe, nämlich die Synthese zwischen Vernunft und Gründen.Dies wird auf dem Gebiet der Islamwissenschaft oftmals in die Begriffe eines Konflikts oder Gegensatzes zwischen »Vernunft und Offenbarung« gefasst, eine rudimentäre Konzeption, die dem Aufwerfen harter Fragen zuvorkommt. Wenn Gründe einmal auf »Offenbarung« reduziert sind, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, sie irrationaler Religion zuzuweisen, wodurch der »Wettstreit« zwischen Vernunft und Gründen so gestaltet wird, dass er vom Adel der Vernunft gewonnen werden müsste. Es konnte ebenso wenig eine Leugnung einer Welt, die mit Wert gesättigt ist, geben wie einer Welt, in der das menschliche Vermögen der Vernunft, Gottes eigene Schöpfung, sowohl stets gegenwärtig als auch kraftvoll ist. Und die Scharia, die bestimmende Überzeugung und Praxis der Muslime, war das Ergebnis einer Synthese zwischen den beiden.

Der Islam hat sich in der Tat von Beginn an selbst als al-umma al-wasat, die mittlere Gemeinschaft verstanden, ein Begriff, der seine Berechtigung vom Koran selbst bezieht und später in rechtlichen, theologischen und epistemischen Weisen weiter entwickelt worden ist. Die mittlere Gemeinschaft, wie sie in der Scharia durch das ausgefeilte und komplexe diskursive Feld der usūl al-fiqh (Rechtstheorie) bestimmt wurde, ist eben deshalb als solche betrachtet worden, weil sie eine mittlere Stellung einnahm zwischen den – sozusagen – »muslimischen Kantianern« und den Literalisten, also jenen, welche die menschliche Vernunft auf einen marginalen Status reduzieren wollten.Siehe dazu Wael Hallaq, Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations, Cambridge, 2009, S. 72-124. Sie wurde deshalb metaphorisch als mittlere Gemeinschaft bekannt, weil diese zwei »extremen« Lager zu Minderheiten herabgesetzt wurden, während die Mehrheit das Mittelfeld belegte, wo die Vernunft die Entdeckerin von Gründen sein muss, wobei letztere ihre moralischen Forderungen erheben und die erstere beschränken.

Aber woraus gehen die Gründe hervor? In den Kapiteln 4Siehe das Kapitel Das Rechtliche, das Politische und das Moralische, S. 100 ff. und 5Siehe das Kapitel Politisches Subjekt und moralische Technologien des Selbst, S. 120 ff. haben wir eine Antwort in einiger Ausführlichkeit dargelegt, indem wir die Quelle der Gründe als »eine kosmische Moralordnung« gekennzeichnet haben.Siehe den Abschnitt Moralität und der Aufstieg des Rechtlichen, S. 101 ff. Es sind genau die paradigmatischen Attribute dieser Ordnung, an denen es dem Koran gelegen war. Während das Erfüllen von Verträgen, die Verteilung der Erbteile und die Bestrafung des Übeltäters einen – wenn auch winzigen – Teil des koranischen Korpus bildeten, kann jeder einsichtige Leser des Textes nicht die Erkenntnis versagen, dass diese substantiellen »Urteile« beiläufige Nebenprodukte der übergreifenden koranischen Botschaft waren: dass wir Menschen nicht die Erde besitzen; dass es etwas oder jemanden Größeres als uns gibt; dass der Umstand, in Gemeinschaften erschaffen zu sein, damit einhergehend die Verpflichtung unsererseits schafft, gute Werke zu verrichten; dass Humanität und Moralität miteinander einhergehen; dass göttliche Allmacht, wie auch immer ewig und abstrakt, funktional und soziologisch in den Dienst dieser großen moralischen Imperative tritt. Es gibt keinen Sinn für diese Allmacht ohne den moralischen Imperativ, denn die Raison d’être dieser Allmacht hängt an der Forderung nach und dem Beharren auf den moralischen Bereich. Sollte der moralische Bereich eines Tages aus der kosmischen Ordnung verschwinden, dann hätte die Allmacht keinen Grund, weiter zu existieren. Die Welt wurde schon durch diese Allmacht erschaffen, einem Vermögen, das nun zurückgezogen oder beiseite gelegt werden kann, da die Aufgabe erfüllt worden ist. Wenn jedoch die Allmacht weiter besteht, dann kraft ihres Zwillings, der Allgegenwart, wobei letztere die Fortdauer der ersteren als Hüter des moralischen Bereichs gewährleistet.

Der Koran, die Scharia und die Rechtsgelehrten, die sie über Jahrhunderte repräsentiert haben, erkannten allesamt die Permanenz dieses moralischen Bereichs an. Doch alle von ihnen erkannten ebenfalls und mit gleicher Kraft die Tatsache an, dass die partikulären Rechtsnormen, die aus diesem moralischen Bereich abzuleiten sind, situativ sind und dem nie endenden idschtihād unterliegen. Dieser letztere umgreift die Seele und den Körper der Deckungsgleichheit von Vernunft und Gründen, der beständigen Dialektik zwischen ihnen, die dem ewigen moralischen Bereich erlaubt, sich entsprechend Zeit, Bedürfnis und Umstand auf unterschiedliche Weise zu manifestieren. Wenn der Koran in der Sprechweise der Araber offenbart wurde, so geschah dies, wie es wiederholt heißt, in der Absicht, ihnen den moralischen Bereich durch ihre Sprache und Gebräuche verständlich zu machen. Die Scharia folgte dieser Logik höchst getreu, indem sie die vielsagende Maxime – die sie über Jahrhunderte hindurch konsequent und beharrlich praktizierte – annahm, dass »die Scharia für alle Zeiten und Orte gut ist«.Die rechtlichen Manifestationen dieser Maxime werden detailliert erforscht in: Wael Hallaq, Authority, Continuity, and Change in Islamic Law. Cambridge, 2001. Und dies wurde möglich gemacht durch den Begriff und die Institution des idschtihād, der beständig erneuerten Anstrengung, das moralische Recht vernünftig zu bedenken, bei jeder Gelegenheit und in jedem Augenblick die Dialektik zwischen Vernunft und Gründen zu untersuchen. In dieser Tradition war die Vernunft unweigerlich durch und durch empfänglich für Gründe. (163-167; Hervorhebungen im Original)

1.9.3Handlungsoptionen

Hallaq schließt in diesem letzten Abschnitt, der ungekürzt wiedergegeben sei, mit folgenden Überlegungen zu Handlungsoptionen, die sich vor dem Hintergrund der vorstehenden Analyse ergeben:In dem folgenden übersetzten Abschnitt sind viele, obgleich nicht alle Fußnoten aus dem Original übernommen.

Die moralische Veranlagung der Scharia war, wie wir gesehen haben, ein Stachel in der Seite des Kolonialismus in der muslimischen Welt, ein Stachel, der herausgerissen werden musste. Die Dezimierung der Scharia ist dessen vollendeter Ausdruck: Die Modernität und ihr Staat konnten und können die Scharia in ihren eigenen Begriffen nicht hinnehmen, da diese Begriffe zutiefst moralisch und egalitär sind, wohingegen der Staat und die Welt, die ihn hervorgebracht hat, die Moral in einen untergeordneten Bereich verbannte. Um eine Minimalformulierung zu wählen: Das Zentralgebiet des Kolonialismus war das Ökonomische und das Politische, nicht das Moralische. Und so blieb das Ökonomische und Politische das Zentralgebiet der Modernität und ihrer fortschreitenden Globalisierung.

Doch trotz der zerstörerischen Wirkungen des Kolonialismus bleibt die historische Scharia, immer kraftvoller, der Ort des Zentralgebiets des Moralischen. Während ihre Institutionen, ihre Hermeneutik und ihr Personal allesamt ohne Hoffnung auf Rückkehr verschwunden sind,Siehe Wael Hallaq, Can the Shariʿa Be Restored?, in: Yvonne Y. Haddad and Barbara F. Stowasser (Hg.), Islamic Law and the Challenges of Modernity, Walnut Creek, Calif., Altamira Press, 2004, S. 21–53. bestehen ihre moralischen Wirkungen mit unverbrüchlicher Standhaftigkeit fort. Diese Moralordnung, ein Kapital von unermesslichem Wert, kann zumindest zwei Handlungsoptionen stützen, eine interne und eine externe.Es könnte freilich vieles darüber gesagt werden, welche Lösungen für die Herausforderungen und Probleme, die dieses Buch aufwirft, vorgeschlagen werden könnten, aber eine ausführliche Darlegung solcher Lösungen würde es erforderlich machen, ein weiteres und viel längeres Buch zu schreiben.

Erstens: Im Einklang mit dem Zentralgebiet des Moralischen und seinen Imperativen können Muslime nun beginnen – insbesondere im Licht des »Arabischen Frühlings« -, aufkeimende Regierungsformen zu artikulieren und zu konstruieren, die zu gegebener Zeit weiterer und robusterer Entwicklung entlang der gleichen Linien fähig wären. Das würde nonkonformistisches Denken und native Vorstellungskraft erfordern, da die sozialen Einheiten, aus denen sich die größere soziopolitische Ordnung zusammensetzt, in Begriffen von moralischen Gemeinschaften überdacht werden müssen, die, neben anderen Dingen, wiederverzaubert werden müssen. Historische moralische Ressourcen würden eine Blaupause für eine Bestimmung dessen liefern, was es heißt, sich mit den Belangen der Wirtschaft, Bildung, privaten und öffentlichen Sphären und vor allem der Umwelt und der natürlichen Ordnung zu befassen. Sie würden auch ein Konzept der gemeinschaftlichen und individuellen Rechte liefern, das ein klares Verständnis der Unzulänglichkeiten und Stärken des Begriffs der Rechte der liberalen Ordnung erfordern würde. Eine deutliche und verständliche Position zum Begriff der Rechte ist von wesentlicher Bedeutung, wie wir sogleich sehen werden. Aber interne, indigene Überlegungen der Gemeinschaft als dem Zentralgebiet des Moralischen wären die letztliche Basis, auf der eine überzeugende Theorie des Antiuniversalismus errichtet werden könnte, eine Theorie, die sich für die Einzigartigkeit der Weltgesellschaften ausspricht, die aber auch die geistige Lebenskraft und Widerständigkeit aufbringen muss, die erforderlich ist, um ein überzeugendes Gegenmittel gegen das vorherrschende liberale Konzept des Universalismus bereitzustellen. Dieser anfängliche, aber nachhaltige Prozess ist daher dialektisch, indem er sich hin und her bewegt zwischen den konstruktiven Anstrengungen des Aufbaus einer Gemeinschaft und einer diskursiven Verhandlung mit – und über – den modernen Staat und seine liberalen Werte, im Osten wie auch im Westen. Das Beharren auf die zweite Komponente dieser Dialektik ist, wie wir sehen werden, wesentlich für die Standfestigkeit, mit der die erste Komponente – der Daseinsgrund des gesamten Projekts – verfolgt wird. Solch ein sich beständig und langsam entwickelnder Ansatz hat die Aussicht, wenn nicht Gewissheit, auf anfänglichen Erfolg, indem es die Kräfte meidet (wenn nicht ihnen entgeht, dank seiner maßvollen und zurückhaltenden Programmatik), die wir in diesem Buch als antagonistisch und destruktiv gegenüber einer umfassenden islamischen Gouvernanz identifiziert haben.

Zweitens: Während des langen Prozesses der Bildung aufkeimender Institutionen – die eine erneute Darlegung der Scharia-Normen und eine nochmalige begriffliche Fassung der politischen Gemeinschaft verlangen – können und müssen Muslime und ihre intellektuellen und politischen Eliten mit ihren westlichen Gesprächspartnern eine Debatte über die Notwendigkeit der Erhebung des Moralischen zum Zentralgebiet aufnehmen, was wiederum von den Muslimen verlangen würde, ein Vokabular zu entwickeln, das diese Gesprächspartner verstehen können, ein Vokabular, das neben anderen Dingen dem Begriff der Rechte innerhalb des Kontextes der Notwendigkeit Rechnung trägt, Varianten der moralischen Ordnung zu konstruieren, die der jeweiligen Gesellschaft angemessen sind. Hier würden Muslime, die sich in diesem Prozess engagieren, davon überzeugt werden und die größte geistige Energie darauf verwenden, andere – einschließlich muslimischer LiberalerObwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass ein paradigmatischer Wandel in der westlichen liberalen Ordnung, nahezu automatisch, die muslimische und arabische liberale Bewegung schwächen wird, vielleicht bis hin zum Zusammenbruch, denn der islamische und arabische Liberalismus ist eine Strömung, die an noch tieferen Widersprüchen und Inkohärenz leidet als selbst die euro-amerikanische liberale Ordnung. – davon zu überzeugen, dass der Universalismus und eine universalistische Theorie der Rechte kein anderes Schicksal haben kann als letztliches Scheitern.

Mit anderen Worten, selbst während dieses anfänglichen Prozesses der Bildung von moralisch gegründeten Gemeinschaften gibt es vieles, was Muslime tun können,Wie beispielsweise im beachtlichen Werk von Taha Abdurrahman schon ersichtlich. um zur Reformierung moderner Moralitäten beizutragen. Ein solcher Vorschlag mag auf den ersten Blick kühn und weit hergeholt erscheinen, aber er ist es nicht, denn es gibt zumindest eine bedeutende moralische Strömung der westlichen Philosophie und des westlichen politischen Denkens, die eine weitgehende Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen islamischen Streben aufweist, da es geistige Energie zur postmodernen Kritik beisteuert, wie problematisch modern diese Kritik auch bleiben mag. Das moralische Streben des modernen Islam, das die fortgesetzte Bindung der heutigen Muslime an das Zentralgebiet des Moralischen widerspiegelt, findet, wie wir gesehen haben, seine Entsprechung in den dünnen, aber widerhallenden Stimmen der MacIntyres, Taylors und (sogar liberalen) Larmores der westlichen Welt. Diese Ähnlichkeit, ja Gemeinsamkeit, ist weder eine bloße Koinzidenz noch zufällig, da alle diese Stimmen – muslimische und christliche, östliche und westliche – auf die gleiche moralische Lage antworten,Siehe die »bemerkenswerte Fußnote«, S. 110. wie sehr ihre jeweiligen Vokabularien und Sprechweisen sich auch voneinander unterscheiden mögen.

Die ausschlaggebenden Fragen bleiben daher: Können diese Kräfte auf allen Seiten ihren Ethnozentrismus überwinden und sich zusammenschließen bei der Infragestellung des modernen Projekts und seines Staates? Können die Taylors genug geistigen Mut aufbringen, MacIntyres zu werden? Können sie alle, Westler und Nicht-Westler, den gefährlichen und bösartigen Mythos des Zusammenstoßes der Zivilisationen demontieren? Können sie ihre moralische Kraft und Stärke so steigern, um einen Sieg herbeizuführen, der das Moralische zum Zentralgebiet der Weltkulturen erhebt, ungeachtet ihrer »zivilisatorischen« Varianten? Denn genauso wie es keine islamische Gouvernanz ohne einen solchen Sieg geben kann, wird es von vornherein keinen Sieg geben, ohne dass die Modernität ein moralisches Erwachen erfährt. Das muss erst noch geschehen.

[John Gray schreibt:]

»Die politischen Formen, die in wahrhaft post-aufklärerischen Kulturen entstehen mögen, werden jene sein, die Diversität schützen und ausdrücken – die unterschiedliche Kulturen, von denen einige, aber keineswegs alle oder auch nur die meisten von liberalen Lebensformen, unterschiedlichen Weltanschauungen und Lebensweisen beherrscht sind, befähigen, in Frieden und Harmonie zu koexistieren. Damit dies eine wirkliche historische Möglichkeit wird, müssen gleichwohl gewisse Konzeptionen und Bindungen, die nicht nur für die Aufklärung und somit für die Modernität, sondern auch und noch grundlegender für die zentralen Traditionen der westlichen Zivilisation konstitutiv waren, berichtigt oder aufgegeben werden. Gewisse Konzeptionen nicht nur der Moralität, sondern auch der Wissenschaft, die zentrale Elemente in den Kulturen der Aufklärung sind, müssen fallengelassen werden. Gewisse Auffassungen der Religion, die in westlichen Traditionen lange Bestand haben, nicht als Gefäß einer besonderen Lebensweise, sondern als Träger von Wahrheiten, die universelle Autorität besitzen, müssen verworfen werden. Die grundlegendste westliche Bindung und Verpflichtung, die humanistische Konzeption der Menschheit als eines privilegierten Ortes der Wahrheit, das in der sokratischen Erkundung und in der christlichen Offenbarung Ausdruck findet und das in säkularen und naturalistischen Formen des Aufklärungsprojektes der menschlichen Selbstemanzipation durch das Wachstum des Wissens wieder auftaucht, muss aufgegeben werden […]

Durch die Gewinnung einer neuen Beziehung zu unserer natürlichen Umwelt, zur Erde und den anderen lebenden Wesen, mit denen wir die Erde teilen, in der die menschliche Subjektivität nicht als das Maß aller Dinge gilt, kann eine Wende in unseren ererbten Traditionen des Denkens erlangt werden, welche die Möglichkeit eröffnet, dass zutiefst unterschiedliche Formen menschlicher Gemeinschaft auf Erden in Frieden zusammenwohnen.«John Gray, Enlightenment's Wake: Politics and Culture at the Close of the Modern Age, Abingdon, 2007, S. 232 u. 229; Hervorhebungen von Wael Hallaq.

Auf Erden in Frieden Zusammenwohnen ist sicherlich ein hoher Anspruch, vielleicht eine weitere moderne Utopie, aber die Modernität einer restrukturierenden moralischen Kritik zu unterziehen, ist das wesentlichste Erfordernis nicht nur für den Aufstieg der islamischen Gouvernanz, sondern auch für unser materielles und spirituelles Überleben. Islamische Gouvernanz und Muslime haben nicht das Monopol auf Krise. (167-170; Hervorhebungen im Original)