2 Über Wissen, Macht und intellektuelle Sklaverei: Ein Interview mit Wael Hallaq

2 Über Wissen, Macht und intellektuelle Sklaverei: Ein Interview mit Wael Hallaq Yusuf Kuhn
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 28

Vorbemerkung

Dieses Interview mit Wael Hallaq erschien 2014 in der Zeitschrift JadaliyyaSiehe die Website der Zeitschrift Jadaliyya: http://www.jadaliyya.com. in englischer Sprache; die Veröffentlichung dieser Übersetzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers von Jadaliyya, dem gedankt sei. Aus dem Englischen übertragen von Yusuf Kuhn.

Der folgende Text ist die Übersetzung eines Interviews mit Wael HallaqSiehe Zur Person von Wael B. Hallaq im Anhang, S. 399., das von Hasan Azad geführt und in der Zeitschrift Jadaliyya veröffentlicht wurde: Teil 1 am 16. Mai 2014 unter dem Titel Knowledge as Politics by Other Means: An Interview with Wael Hallaq (Part One) und Teil 2 am 7. Juni 2014 unter dem Titel Muslims and the Path of Intellectual Slavery: An Interview with Wael Hallaq (Part Two). Die Anmerkungen in Fußnoten und eckigen Klammern sind vom Übersetzer eingefügt.Es gibt übrigens auch eine französische Übersetzung dieses Interviews: Teil 1: http://indigenes-republique.fr/le-savoir-ou-la-politique-par-dautres-mo…; Teil 2: http://indigenes-republique.fr/les-musulmans-et-le-sentier-de-la-servit….

2.1 Wissen als Politik mit anderen Mitteln

2.1 Wissen als Politik mit anderen Mitteln Yusuf Kuhn

2.1.1 Vorbemerkung von Hasan Azad zu Teil 1 des Interviews mit Wael Hallaq in Jadaliyya

Im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte ist Wael Hallaq zu einem der führenden Gelehrten des islamischen Rechts in der westlichen akademischen Welt aufgestiegen. Er hat maßgebliche Beiträge nicht nur zur Erforschung der Theorie und Praxis des islamischen Rechts geliefert, sondern auch zur Entwicklung einer Methodologie, mittels derer islamische Gelehrte befähigt wurden, den Herausforderungen, mit denen die islamische Rechtstradition konfrontiert war, zu begegnen. Hallaq ist daher in einzigartiger Weise positioniert, um umfassendere Fragen hinsichtlich der moralischen und geistigen Grundlagen konkurrierender moderner Projekte zu behandeln. Mit seinem letzten Buch The Impossible State Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013. Für eine ausführliche Vorstellung dieses Buches siehe das Kapitel Der unmögliche Staat: Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität, S. 33 ff. deckt Hallaq die Machtdynamiken und politischen Prozesse auf, die an der Wurzel von Phänomenen liegen, die sonst lediglich durch die Linse des Rechtlichen untersucht werden. In diesem Interview, dem ersten einer zweiteiligen Reihe mit ihm, führt Hallaq Überlegungen zu einigen Implikationen dieser Debatten und den Herausforderungen, die sie für die Zukunft des intellektuellen Engagements über verschiedene Traditionen hinweg darstellen, aus. Er beschäftigt sich insbesondere mit dem Versagen westlicher Intellektueller, sich mit Gelehrten in islamischen Gesellschaften auseinanderzusetzen, wie auch mit den intellektuellen und strukturellen Herausforderungen, mit denen muslimische Gelehrte konfrontiert sind. Hallaq kritisiert zudem das zugrunde liegende hegemoniale Projekt des westlichen Liberalismus und seine unkritische Übernahme durch manche muslimische Denker.

2.1.2 Interview mit Wael Hallaq - Teil 1

Hasan Azad: Eine der Debatten, die heutzutage grassieren, drehte sich um das Desinteresse, das muslimischen Intellektuellen im Westen zuteil wird. Es lässt sich sagen, dass, mit ziemlich unbedeutenden Ausnahmen, die moderne muslimische Präsenz in – oder der Beitrag zu – der intellektuellen Welt des Westens nahezu null ist. Auf den letzten Seiten deines Buches Impossible State hast du darauf aufmerksam gemacht, dass ein robustes intellektuelles Engagement zwischen muslimischen Denkern und ihren westlichen Pendants wesentlich ist, nicht nur für ein besseres westliches Verstehen des Islam, sondern auch für eine Erweiterung des Bereichs der intellektuellen Möglichkeiten innerhalb des euro-amerikanischen Denkens. Dein Argument verfolgt, glaube ich, das Ziel, den Gedanken zu vermitteln, dass die islamische Weltsicht und das islamische Erbe einen großen Beitrag zur Bereicherung unserer Reflexionen über das Projekt der Moderne zu leisten haben, im Westen nicht weniger als im Osten. Worin besteht dieser Beitrag? Und warum geschieht er nicht? Was sind die Hindernisse, die dem im Wege stehen?

Wael Hallaq: Von den möglichen Beiträgen des Islam zu einer Kritik und Restrukturierung des Projekts der Moderne zu sprechen, ist eine ziemliche große Herausforderung, die erst nach einer Diagnose der gegenwärtigen modernen Verfassung und ihrer Ursachen kommen sollte. Die Hindernisse, die du angesprochen hast, sind zahlreich und vielschichtig, und sie entspringen auf beiden Seiten der Scheidelinie. Wenn es Versagen gibt – und es gibt in der Tat eine Menge -, dann kann es nicht auf einer Seite allein verortet werden. Das erste und offensichtlichste ist natürlich das Hindernis der Sprache, das einzige Mittel, um Gedanken zu kommunizieren. Der Westen – damit meine ich hier Europa, seine Aufklärung, seine spezifisch modernen Institutionen und Kultur sowie die Ausbreitung von alledem hauptsächlich nach Nordamerika – hat es für ausreichend gehalten, seine zwei oder drei großen Sprachen als so universal zu erachten, um sich nicht darum bemühen zu müssen, andere Sprachen gut zu lernen, wenn überhaupt. Sogar der Orientalismus als akademische Disziplin war darin nicht erfolgreich, eine anhaltende Beherrschung islamischer Sprachen Damit gemeint sind Sprachen, die sich insbesondere im Rahmen der islamischen Kultur entwickelt haben, wie etwa Arabisch, Persisch oder Türkisch. herzustellen, trotz der Tatsache, dass er Individuen hervorbrachte, deren sprachliche Kompetenz sogar in mehr als einer islamischen Sprache nicht weniger als meisterhaft war. Es bleibt aber eine Tatsache, dass diejenigen, die sich in einer islamischen Sprache oder einem entsprechenden Text bewegen können, in den westlichen Gesellschaften eine winzige – und freilich unbedeutende – Minderheit sind.

Aber dem Orientalismus ist hier eine weitere Bedeutung zu geben. Das Feld des Orientalismus ist auf vielerlei Weisen von einer äußeren, ungeheuer ausgedehnten Schicht umgeben, nämlich von unzähligen einflussreichen Stimmen, die sich nie darum geschert haben, in irgendeiner Weise die harte geistige und philologische Arbeit über den Islam zu verrichten. Doch sie fühlen sich gleichwohl im vollen Besitz der Berechtigung und selbstsicheren Befähigung, sich über den »Orient« auszulassen, sowohl in den Klassenzimmern der akademischen Welt wie auch als sogenannte »Experten« in den Massenmedien. Dieser »periphere« Orientalismus entgeht meist unseren gebräuchlichen Definitionen dieser Disziplin, auch wenn er den Großteil des verbreiteten und populären westlichen Wissens über den Rest der Welt, insbesondere den Islam, bildet. Dies ist jedenfalls grob angedeutet das sprachliche Hindernis.

Hasan Azad: Würdest du sagen, dass dies ein technisches Hindernis ist, eines der Logistik und der Überwindung von sprachlich-pädagogischen Problemen bei der Übermittlung von Gedanken?

Wael Hallaq: Es kann freilich als ein technisches Problem beginnen, aber in Wirklichkeit ist es viel mehr als das. Den Zugang zu einer anderen Kultur durch die Sprache zu suchen, ist eine Wahl, welche die westlichen Mächte und ihre intellektuellen Eliten zu einem bestimmten Zeitpunkt im Dienst ihrer kolonialen Vorhaben wirkungsvoll ausgeführt haben. Hier bildete der Zugang zu den islamischen Sprachen keine große Schwierigkeit, noch viel weniger eine technische. Der Kolonialismus erforderte die Erzeugung des klassischen Orientalismus, denn ohne den ersteren wäre der letztere nicht in der Weise und Gestalt entstanden, die er schließlich angenommen hat und in der er sich weiterhin entwickelt. Desgleichen ist das Versagen, den Zugang zu einer Sprache zu finden, im Grunde eine substanzielle Angelegenheit, nicht bloß eine technische im engeren Sinne. Meine Entscheidung beispielsweise, auf Englisch und nicht Indisch oder Chinesisch zu schreiben, - wenn dies überhaupt meine Entscheidung ist – ist eine komplexe substanzielle Angelegenheit, die unmittelbar mit dem Verhältnis zwischen Macht und Wissen, zwischen meinem Hintergrund als einem kolonisierten Subjekt und den Machern dieser kolonialen Geschichte verknüpft ist. Und es gibt nichts Aufschlussreicheres über die substanzielle Komplexität dieser Frage der Sprache als den westlichen Universitätsprofessor, der den »Islam« reproduziert, ohne das Bedürfnis und Erfordernis zu empfinden, »ihn« durch eine eingehende textuelle, soziologische oder – unter anderem – anthropologische Untersuchung dieses Phänomens zu verstehen. Und alle diese akademischen Unterfangen bedürfen, um wirklich engagiert zu sein, einer ordentlichen Beherrschung der einen oder anderen islamischen Sprache, ja sie verlangen sogar, sie zu sprechen und zu leben. Die Wahl dieses Professors, sich um keines dieser Erfordernisse zu scheren – die in nahezu jedem anderen Kontext als selbstverständlich vorausgesetzt zu werden scheinen -, ist eine Sache, die mit der Konstitution und Struktur der Macht zu tun hat, nicht mit bloßer persönlicher Inkompetenz, eine Sprache zu beherrschen.

Hasan Azad: Was wäre ein anderes zentrales Hindernis?

Wael Hallaq: Ein weiteres sehr wichtiges Hindernis besteht darin, dass, abgesehen von seltenen Ausnahmen, muslimische Denker mit Prämissen beginnen, die sich grundsätzlich von denjenigen unterscheiden, von denen westliche Autoren ausgehen, wie sehr sie auch immer bewusst oder unbewusst westliches Denken und philosophisches Schreiben nachahmen. Sogar die »Utilitaristen« oder »Quasi-Utilitaristen« des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts – wie etwa Muhammad Abduh und insbesondere Raschid Rida – dachten in einem Bezugsrahmen, der zwei Dinge zum Ausgangspunkt hatte: (a) einen religiösen Kontext, von dem aus sie sprechen können und der die Grenzen, wenn nicht gar Konturen ihrer Narrative definiert; und (b) einen historischen Kontext oder, genauer gesagt, einen substanziellen Rahmen der Geschichte, der weiterhin eine Quelle der Autorität zur Legitimation von modernen Lebensformen ist. Und wenn ich hier sage »Geschichte« oder »historisch«, meine ich ein ziemlich ausgeprägtes historisches Engagement, das sich auf viele vergangene Jahrhunderte als Quelle von Wissen und Leitung bezieht, indem es danach trachtet, aus dieser Geschichte oder durch sie eine Interpretation wiederzugewinnen, die dem Leben in der modernen Welt entspricht (dies zog freilich beträchtliche Probleme nach sich, auf die ich hoffentlich später eingehen kann). Oder man könnte es auch anders darstellen und sagen, dass wenig auf dem Weg des Engagements mit dem Modernen erreicht werden konnte, ohne diese Geschichte und jene religiösen Texte eine Wirkung auf eine besondere – sehr besondere – Interpretation entfalten zu lassen, nämlich diejenige, die spezifisch modern ist. Und diese zwei miteinander verbundenen Verpflichtungen – die religiöse im besonderen – standen und stehen weiterhin in Konflikt mit einem heiligen Prinzip des modernen westlichen intellektuellen Milieus – und ich gebrauche »heilig« mit Bedacht. Um in diesem intellektuellen Milieu, das heutzutage das unsrige ist, ernst genommen zu werden, kannst du eine traditionelle Metaphysik nicht als grundlegende Prämisse annehmen, wie intellektuell raffiniert sie auch immer sein mag und unangesehen des Ausmaßes, in dem sie liberale Doktrinen und Praktiken aufnimmt (widrigenfalls wirst du dich nur in noch größere Probleme verstricken). Und selbst wenn du all dies versuchst, was manche sicherlich getan haben, wird dein Argument kein Gehör finden, außer es wird mit aller Deutlichkeit den diskursiven Bedingungen eines »säkular-rationalistischen« Narratives unterworfen. Die Verteidiger des Naturrechts im heutigen Westen sind ein ausgezeichnetes Beispiel, aber diese besondere Gruppe ist mit relativ weniger und minder substanziellen Hindernissen konfrontiert als ihre muslimischen Pendants.

Zweitens, der Geschichtsbegriff der Aufklärung – mit dem wir auch heute noch leben – verleugnet, obgleich er selbst noch zutiefst historisch ist, paradoxerweise gewisse Aspekte der Geschichte. Es gibt beispielsweise einen Widerspruch innerhalb der westlichen Theorie des Fortschritts selbst – nämlich eine bestimmte Art der Geschichte in Anspruch zu nehmen, während sie sich selbst zugleich gegen das, was wir heute traditionelle Geschichte nennen – die von der Aufklärung und ihrer Theorie des Fortschritts allererst hervorgebracht wurde -, in Stellung bringt, wenn sie diese nicht sogar unterminiert. Geschichte war also immer eine problematische Angelegenheit in einer Modernität, die auf die paradigmatische Übernahme einer Theorie des Fortschritts dringt. Die muslimische intellektuelle Elite andererseits hat erst in jüngerer Zeit begonnen, sich mit den tieferen Bedeutungen dieser Weltsicht auseinanderzusetzen, was – in der besonderen Weise, in der dies getan wurde – meines Erachtens kein begrüßenswerter Schritt ist. Das Konzept des Fortschritts selbst ist zutiefst problematisch, und muslimische Intellektuelle und Historiker gleichermaßen sind bislang nicht dazu in der Lage gewesen, seine inneren ideologischen Strukturen zu analysieren. Und wir sehen die Auswirkungen dieses Versagens in mindestens einem wichtigen Bereich. Im Laufe der vergangenen zwei oder drei Jahrzehnte ist in der muslimischen Welt ein neuer Trend entstanden, der dazu neigt, die islamische Geschichte als »dunkel und gewalttätig« zu verurteilen, womit das europäische Narrativ der Verurteilung der Gewalttätigkeiten der katholischen Kirche und des monarchischen Absolutismus nahezu detailgetreu reproduziert wird. Der Trend – um sein eigenes intellektuelles Erbe und Geschichte fast völlig unwissend – begann zwar schon früh im zwanzigsten Jahrhundert schwache Zeichen zu zeigen, aber richtig in Schwung kam er erst mehr als ein halbes Jahrhundert später. Wie mit vielen liberalen Werten und Doktrinen, mit denen die Theorie des Fortschritts eine organische Verbindung bildet, dauerte es einige Zeit, sie in das zu internalisieren, was zu einem »nativen Diskurs« geworden ist. Obwohl die geschichtlichen Welten des mannigfaltigen und vielgestaltigen Islams und Europas nicht hätten unterschiedlicher sein können, beginnt die »islamische Geschichte« allmählich wie das europäische dunkle Mittelalter auszusehen. Als Geschichten der Unterdrückung und von politischer und »rechtlicher« Gewalttätigkeit treten sie wenig überraschend als nahezu identisch in Erscheinung. Vielleicht kann ich später etwas erläutern, wie sich dies mit Blick auf das Thema, das uns hier besonders interessiert, auswirkt.

Nichtsdestotrotz bleibt das Beharren auf historischen und religiösen Narrativen, die eine legitimierte und legitimierende Tradition bilden, das grundlegende Merkmal, das weiterhin die westlich-aufgeklärten Denker von ihren muslimischen Pendants trennt und sie in Gegensatz zu ihnen bringt – ganz zu schweigen von den notorischen epistemischen, politischen und ideologischen Schwierigkeiten, die dieses Merkmal hervorgebracht hat. Die ersteren erklären eine – vermeintlich – abstrakte »Vernunft« zum Werkzeug der menschlichen Leitung schlechthin, während die letzteren, selbst die liberalsten unter ihnen, dieses historisch-religiöse Narrativ bei nahezu jeder Gelegenheit in Anspruch nehmen, selbst wenn sie es verurteilen. Man betrachte nur Figuren wie Muhammad Arkoun, M. Abed al-Jabiri, Ali Harb, Hasan Hanafi, Muhammad Shahrur, selbst den Christen George Tarabishi, und zahlreiche andere aus den iranischen, malaysischen und subkontinental indischen Welten (sie und ihresgleichen, die den Großteil der Kategorie bilden, die ich als muslimische Intellektuelle bezeichne). Schlussendlich sind sie nicht dazu in der Lage, ohne den Koran auszukommen, gelinde gesagt. Und das heißt auch, dass diese Autoren niemals Anklang finden können bei einer säkularen, radikal nicht-skripturalistischen Tradition wie derjenigen des Hauptstroms des aufgeklärt-westlichen Denkens.

Hasan Azad: Es scheint mir, nach einigen deiner Vorträge zu urteilen, dass das, was du über die skripturalen Grundlagen gesagt hast, lediglich die Spitze des Eisbergs ist. Könntest du zu diesem Thema etwas mehr ausführen?

Wael Hallaq: Selbstverständlich. Ich sollte auch anmerken, dass die Art des Diskurses, in dem moderne muslimische Denker sich ausgedrückt haben und weiterhin ausdrücken, wahrscheinlich nicht dazu angetan ist, die Aufmerksamkeit – und somit das Engagement – der westlichen akademischen Welt oder auch des westlichen Denkens im Allgemeinen zu erwecken. Lass mich erklären warum. Grob (sehr grob) gesprochen, gibt es zwei Lager oder Strömungen innerhalb des modernen islamischen und islamistischen Denkens (für meine spezifischen Zwecke hier sind »islamisch« und »islamistisch« voneinander nicht sehr unterscheidbar). Das eine ist eine große Mehrheit, die schon allzu lange ein – sowohl intern wie extern – auf verlorenem Posten stehendes Unterfangen verficht, nämlich das Unterfangen der Rationalisierung des Islams (in nahezu allen seiner Aspekte) in Begriffen der liberalen Philosophie und Kategorien des liberalen Denkens. Ein tiefes Verständnis dieses Projekts würde gewichtige Gründe für sein unausweichliches Scheitern aufzeigen, aber dies ist heute nicht mein Thema. Stattdessen möchte ich herausstellen, dass der Liberalismus als ein System des Denkens und der Praxis von den führenden Intellektuellen der muslimischen Welt noch nicht durchdacht und verarbeitet worden ist – abgesehen von bemerkenswerten, aber seltenen Ausnahmen.

Dieses Scheitern des Verstehens ist in Wirklichkeit ein doppeltes: muslimische Intellektuelle müssen erst noch die scharfe – und zuweilen radikale – Kritik des Liberalismus, die sich innerhalb der euro-amerikanischen Tradition selbst entwickelt hat, - ob liberal oder nicht – verstehen und schätzen lernen. (Und hier wie andernorts schließt »euro-amerikanisch« auch Australien neben anderen Orten mit ein, da diese ebenfalls einige wichtige Beiträge in dieser Hinsicht geleistet haben.)

Die andere Strömung oder das andere Lager im modernen islamischen Denken ist stark beschränkt und bildet sich langsam, aber hoffentlich stetig und sicher heraus. Das ist die islamische kritische Schule, an deren Spitze der marokkanische Sprach-, Logik- und Moralphilosoph Taha Abdurrahman steht, der den Denkweisen der Aufklärung nicht verfallen ist. Sein kritisch-konstruktiver Ansatz signalisiert einen vielversprechenden innovativen Anfang, von dem aus ein neuer Pfad des Denkens und der Re-Artikulation seinen Ausgang nehmen kann.

Nun möchte ich folgenden Punkt herausstreichen: keines der beiden Lager kann wahrscheinlich in kürzerer Zeit die Aufmerksamkeit von westlichen Denkern auf sich ziehen, teilweise weil die »muslimischen Liberalen« (die die überwältigende Mehrheit bilden) von ihren westlichen Pendants als zweitklassige, wenn nicht drittklassige Intellektuelle und als eine Art von Nachahmern erachtet werden. In Denken und Praxis dieser muslimischen Liberalen gibt es nichts, was für die heftige Debatte über den Liberalismus von Wert wäre, die im Westen grassiert (wie auch immer problematisch und selbstzentriert sie sein mag). Wenn überhaupt, so stellt ihre kollektive Position im Endeffekt eine Unterstützung von liberalen Ansprüchen und Werten dar, eine Tatsache, die sich unvermeidlich dahingehend auswirkt, erstens diese Ansprüche zu stärken und sie gegenüber Kritik widerstandsfähig zu machen und zweitens liberale Staaten mit der Rechtfertigung zu versehen, sich an islamischen Ländern weiterhin unerbittlich zu vergehen. Darüber hinaus wird das Schicksal dieser Nachahmer unausweichlich der Verachtung gleichen, mit der die vormodernen muslimischen mudschtahidūn Wael Hallaq erläutert im Glossar seines Buches An Introduction to Islamic Law (Eine Einführung in das islamische Recht) den Ausdruck mudschtahid (Pl. mudschtahidūn) folgendermaßen: »mudschtahid: ein hochgelehrter Rechtsgelehrter, der zum idschtihād befähigt ist, d. h. zum vernünftigen Urteilen über das Recht durch die Anwendung komplexer Methoden und Prinzipien der Interpretation.« Siehe Wael B. Hallaq, An Introduction to Islamic Law, New York, Cambridge University Press, 2009, S. 175. und quasi-mudschtahidūn die muqallidūn Wael Hallaq erläutert in seinem Buch Shari'a: theory, practice, transformations (Scharia: Theorie, Praxis, Transformationen) den Ausdruck muqallid (Pl. muqallidūn) folgendermaßen: »Ein muqallid ist ein Rechtsgelehrter, der dem mudschtahid folgt und der idschtihād selbst nicht ausführen kann.« Ein muqallid praktiziert daher taqlīd, nämlich die Befolgung oder Nachahmung der Urteile und Entscheidungen eines mudschtahid. Siehe für das Zitat und weitere Erläuterungen den Abschnitt Mujtahids, muqallids and fatwās in Kapitel 2 von Teil 1 in: Wael B. Hallaq, Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations, New York, Cambridge University Press, 2009., S. 72 ff. betrachteten. Und darin sollte niemand die westlichen Denker tadeln. Im Rahmen der rechtlich-moralischen Praxis mag taqlīd [Befolgung, Nachahmung] wertvoll, wenn nicht notwendig gewesen sein, aber auf dem Gebiet von kritischem Denken und Analyse kann es niemals irgendeinen Respekt verdienen. Ein muqallid ist einfach jemand, der nichts zu sagen hat, wie viel Geplapper er oder sie auch immer hervorbringen mag.

Und das Schicksal des zweiten Lagers wird nicht besser sein, zumindest auf kurze oder vorhersehbare Frist. Ich setze allerdings stark auf die Anziehungskraft dieses Lagers auf lange Frist, weil ich es als einen Ausdruck, neben anderen, eines vielversprechenden Wandels sehe. Mir scheint der Gegensatz zwischen dem allgemeinen Pfad der westlichen Intelligenzija und solchen Ansätzen wie dem von Abdurrahman allzu groß zu sein (auch wenn man im Falle dieses Philosophen eine gewisse Bedeutung darin erkennen muss, dass er zu seinem Denksystem gelangt ist, nachdem er einen Großteil der europäischen Tradition der Philosophie durchdacht und verarbeitet hatte). Selbst wenn also das dominante westliche Denken den Werken des marokkanischen Philosophen und seinesgleichen Beachtung schenken würde oder für sie empfänglich wäre, bin ich nicht sicher, ob es damit etwas anzufangen wüsste. Sprachbarrieren oder nicht, die Herausforderungen, die dieses Lager stellt, sind auf jeden Fall enorm. Vielleicht werden sie auf das Regal der »orientalischen« Kuriositäten verwiesen, wie es mit so vielen islamischen Phänomenen getan wurde. Abdurrahmans tiefe moralische Herausforderung ist für den gegenwärtigen westlichen Mainstream schlicht unverdaulich.

Hasan Azad: Das klingt wie eine Sackgasse. Wie kommen wir da heraus?

Wael Hallaq: Bislang ist es eine Sackgasse gewesen, aber nur in dem Sinne, dass die beiden Lager sich noch nicht begegnet sind. Das Engagement muss erst noch stattfinden, und dann können wir sehen, ob es auf eine echte Sackgasse hinausläuft. Doch bisher findet nicht einmal ein Beginn eines Austausches statt. Ich sehe nicht einen Michael Sandel, einen Alasdair MacIntyre, einen Charles Taylor oder irgend jemanden ihres Kalibers oder mit ähnlichen Positionen in einem Dialog mit, sagen wir, Taha Abdurrahman oder sonst irgend jemandem auf diesem Gebiet. Höchstwahrscheinlich haben diese Philosophen niemals von ihm gehört. Und offen gesagt, habe ich meine Zweifel daran, dass Leute wie Taylor aus ihren unmittelbaren intellektuellen Welten und Interessen heraustreten, um solch ein Unterfangen voranzubringen. Und wenn solch eine Gruppe von Philosophen sich wohl eher nicht in einem Dialog engagieren wird, dann gibt es kaum Hoffnung, dass sich andere anschließen. In meinem Buch The Impossible State Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013. habe ich versucht, einige der Fragen, mit denen die muslimische Welt befasst ist, in einer Weise aufzuwerfen, die – so hoffe ich – für den westlichen Intellektuellen verdaulich ist.

Aber dies ist an sich sicherlich nicht ausreichend. Wie ich zuvor schon sagte, muss es eine qualitativ verschiedene und kritische Denkmasse geben, die genug Gewicht hinter sich herzieht, damit westliche Intellektuelle allererst Gehör schenken. Die Herausforderung ist riesig. Wir Wissenschaftler und Intellektuellen tun alles, was wir können, um das Bild des Wissens als ein erhabenes Streben zu adeln, doch dies ist einer der größten modernen Mythen in unserem Leben. Ich verstehe und akzeptiere die Wahrheitstreue dieses Bildes in einem Kontext, in dem Wissen für moralische Zwecke und Absichten erstrebt worden ist, das heißt im Rahmen einer praktischen Ethik, in einer Weise, wie beispielsweise ghazalische oder aquinische Ethiken in ihrer jeweils eigenen Umgebung aufgebaut und verfasst worden sind. Doch die Transformationen in der modernen Welt und die beispiellose Komplizenschaft zwischen Wissen und Macht (von der sich letztlich herausstellt, dass sie die Macht des schmittschen Politischen ist) machen daraus den Mythos, den ich sehe. Wenn Politik Krieg mit anderen Mitteln ist – und das ist sie zweifellos -, dann ist Wissen – einschließlich der akademischen Wissenschaft – Politik-cum-Krieg mit anderen Mitteln. Die äußere Erscheinung der Form des Wissens als dem Geschäft von schwachhändigen Professoren und bärtigen bejahrten Gelehrten mit eifrigen Studenten, die auf einer »Suche nach Wissen« sind, sollte diese nüchterne Realität niemals maskieren oder verstellen. Dies ist in der Tat eine der größten modernen Täuschungen. Muslimische Intellektuelle und unzählige viele andere müssen die Macht dieser physisch niederschmetternden Metapher erst einmal erfassen und gedanklich verarbeiten.

2.2 Muslime und der Pfad der intellektuellen Sklaverei

2.2 Muslime und der Pfad der intellektuellen Sklaverei Yusuf Kuhn

2.2.1 Vorbemerkung von Hasan Azad zu Teil 2 des Interviews mit Wael Hallaq in Jadaliyya

Dies ist die Fortsetzung des zweiteiligen Interviews mit Wael Hallaq. In diesem zweiten Teil führt Hallaq Erläuterungen über den Konflikt aus, den er in dem Verhältnis zwischen Gelehrten in der muslimischen Welt und der Tradition der westlichen Wissensproduktion erkennt. Er sieht dabei insbesondere eine unkritische Übernahme von westlichen intellektuellen Kategorien und Weisen der Wissensübermittlung entlang dessen, was er als »den Pfad der intellektuellen Sklaverei« bezeichnet. Ein solches Vorgehen hat, Hallaq zufolge, weitreichende Implikationen, von der Konstruktion besonders nachteiliger historischer Narrative – wie etwa das »bayt al-hikmaHaus der Weisheit.-Phänomen« - bis hin zur Tendenz, der Aufrechterhaltung rigider intellektueller Hierarchien und Kategorien Wert beizumessen und zugleich den Dynamismus und das freie Denken, die frühere Epochen auszeichneten, zu verleugnen. Wie im ersten Teil ist Hallaqs Kritik mehr darauf ausgerichtet, die Grundlagen dieses präexistenten Arrangements in Frage zu stellen, als Wege vorzuschlagen, um seine problematischsten Widersprüche unter Verwendung seiner eigenen internen Logik aufzulösen.

2.2.2 Interview mit Wael Hallaq - Teil 2

Hasan Azad: Du hast das Unvermögen von Intellektuellen in der muslimischen Welt angesprochen, das sich wandelnde Verhältnis zwischen Wissen und Macht in der Moderne zu erfassen und gedanklich zu verarbeiten. Tragen auch die westlichen Intellektuellen einen Teil der Verantwortung dafür?

Wael Hallaq: Selbstverständlich. Die führenden westlichen Intellektuellen haben bislang wenig getan, wenn überhaupt etwas (auch wenn, wie wir alle wissen, eine Reihe von Gelehrten ihr Teil dazu beigetragen haben, den Islam und seine Traditionen als einen fruchtbaren Ort für intellektuelles Engagement zu präsentieren). Doch für diese führenden Intellektuellen zählt das Nicht-Euro-Amerikanische weiterhin, ganz im Geiste des neunzehnten Jahrhunderts, nicht viel. Für Euro-Amerika (um ganz allgemein und paradigmatisch zu sprechen) dreht sich die Welt wie vordem um Euro-Amerika, während der Rest nicht mehr als ein paar Fußnoten oder Marginalien ist. Es wäre naiv und dumm von uns, zu vergessen, dass in der westlichen liberalen Welt seit dem siebzehnten Jahrhundert nahezu ununterbrochen die selben Denkmuster Bestand haben. Es bleibt eine erstaunliche Tatsache, dass die Europäer und Amerikaner zahllose Aspekte von Freiheit und Befreiung analysiert und ihre Monarchen erbittert bekämpft haben; und, während sie all dies taten, haben sie (und vielleicht der heuchlerische John Locke und die »neo-römischen Juristen« an ihrer Spitze) nicht eine einzige Geste oder Achtung für eben die Menschen übrig gehabt, mit deren Unterdrückung in den Kolonien und zu Hause sie beschäftigt waren. Locke fuhr ungeniert damit fort, sein persönliches Vermögen in das Geschäft des Sklavenhandels zu investieren und leidenschaftlich von Freiheit und Befreiung zu sprechen, gleichzeitig! Und waren nicht viele der amerikanischen Gründer genauso? Keiner der Denker der Aufklärung, von einer oder zwei einsamen Stimmen abgesehen, verstanden die Menschenrechte und politischen Freiheiten in einem Sinne, der sich auch auf die Menschen erstreckte, die sie unterdrückten, als wenn sie überhaupt nicht Menschen wären. Und wir sehen, wie sich diese Muster in dem Augenblick wiederholen, während ich spreche, wie unterschiedlich ihre Form heutzutage auch immer erscheinen mag.

Das ist lediglich der Hintergrund. Ein Ausläufer dieses Hintergrunds ist die erstaunliche Unachtsamkeit – vielleicht Unfähigkeit – seitens der westlichen Intellektuellen, den »Feind im Spiegel« zu sehen, wie Roxanne Euben es so brillant ausgedrückt hat.Siehe Roxanne L. Euben, Enemy in the mirror. Islamic fundamentalism and the limits of modern rationalism, Princeton, Princeton University Press, 1999. Sie fahren fort, mit solchen abgedroschenen Begriffen wie »Religion«, »religiös« und »Metaphysik« um sich zu werfen, ohne ihre eigenen Verstrickungen in eben die Metaphysik zu sehen, die sie selbst im Laufe der vergangenen drei Jahrhunderte geschaffen haben. Nicht nur dass der Islam (als ein definiertes »historisches« Phänomen) als bloß und wesentlich »anders-weltliche« Entität, fern menschlicher (lies: rationaler) Belange, angesehen wird, sondern ihnen ermangelte es zudem an der Fähigkeit, von ihrer eigenen Realität und ihren eigenen grundlegenden Annahmen Abstand zu nehmen. Sie haben, paradigmatisch gesprochen, das Vertraute und Gewöhnliche zu einem Teil ihres analytischen Repertoires gemacht und sich dadurch selbst in die am meisten verschanzte zirkuläre Analyse einquartiert: nämlich ein Phänomen im Rahmen eben der Annahmen zu analysieren, die dieses Phänomen geschaffen haben. Ihre analytischen Fehler werden noch offensichtlicher, wenn wir erkennen, wie sie die gleichen Fragen in nicht-westlichen Traditionen behandeln: ihre paradigmatischen Annahmen werden auf jene Traditionen übertragen, wodurch eine analytische Doppelmoral geschaffen wird. Das Studium des modernen Staates und des Säkularismus sind lediglich zwei unabweisliche Fälle in dieser Hinsicht.Der Herausgeber von Jadaliyya verweist an dieser Stelle in einer Anmerkung auf einen Vortrag von Wael Hallaq mit dem Titel Fragmentation of the Secular (Fragmentierung des Säkularen), der 2014 auf der Veranstaltung Beyond Secularism and Islamism - Perspectives for the Arab World des VIDC gehalten wurde. Nähere Informationen dazu (samt Video): http://www.vidc.org/en/topics/palestine/secularismreligion/; Video auch auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=WFAqQiIVsF8.

Zu diesem Thema gäbe es viel zu sagen. Um es so kurz wie möglich zu halten und paradigmatisch gesprochen: Die westliche intellektuelle Tradition hat sich auf keinerlei ernsthaftes oder halb-ernsthaftes Engagement mit anderen Traditionen – insbesondere der islamischen – eingelassen. Ihre dreihundertjährige Geschichte bestand vielmehr darin, ein solches Engagement abzuweisen und zugleich ein beiläufiges Verdammungsurteil zu erlassen, wann immer ihr eine Begegnung – wie kurz und unbedrohlich auch immer – aufgezwungen wurde. Zu sagen, dass die Reaktion auf den Islam gänzlich irrational ist, ist freilich keine erschöpfende Analyse, aber es ist sicherlich treffend. Dies ist äußerst ironisch angesichts der Tatsache, dass die westliche Kultur sich selbst definiert hat als die Heimstatt der Vernunft und rationalen Untersuchung par excellence!

Hasan Azad: Manche könnten vorbringen, dass der Mangel an Originalität im modernen muslimischen Denken – wie du selbst uns gesagt hast – die Weigerung der westlichen Intellektuellen, sich auf ein Engagement mit der muslimischen Welt einzulassen, rechtfertigten könnte. Was würdest du dazu sagen?

Wael Hallaq: Ich würde die kürzeste Antwort geben. Die »muslimische Welt« ist weitaus größer als ihre modernen muslimischen Intellektuellen. Sie ist viel reicher und erheblich komplexer als der Teil von ihr, den wir »modernen Islam« nennen. Ich würde sagen, dass mein Buch The Impossible State ein heuristisches Beispiel dessen ist, was ich meine.

Hasan Azad: So haben also beide Seiten offenkundig viel zu tun, wenn sie in einen echten Dialog eintreten wollen, aber sind sie beide gleichermaßen verantwortlich?

Wael Hallaq: Ich bin mir nicht sicher, ob diese Angelegenheit einer quantitativen Analyse oder Messung unterzogen werden kann. Aber ich würde sagen, dass die westliche Seite eine riesige moralische Pflicht zu erfüllen hat, vor der sie sich auf elendige Weise gedrückt hat (und die analytischen Gründe dafür würden viele Seiten füllen). Andererseits hat die muslimische intellektuelle Seite ebenso elendig versagt, ihre eigene Stimme und Identität in der Welt zu finden, und unsere Welt ist heutzutage kleiner als je zuvor. Die heutigen muslimischen Denker (und Nicht-Denker), die die islamische Geschichte und Tradition mit dem Vorwurf des Mangels an Vernunft und rationaler Kreativität einem heftigen Angriff unterziehen, sind sich kaum bewusst, wie viel taqlīdische Mimikry sie sich selbst erlaubt haben. Ich finde es ironisch, dass sie die »mittelalterliche Vernunft« oder vielmehr »deren Mangel« kritisieren sollten, wenn sie selbst nichts besseres zu tun wissen, als, unter unzähligen anderen, Foucault, Derrida oder das, was im Westen zu irgendeinem Zeitpunkt gerade in Mode ist, zu imitieren. Aber das Schlimmste von allem ist, wenn sie den Liberalismus ohne das geringste Anzeichen von kritischem und gründlich prüfendem Denken ihrerseits nachahmen. Sie haben sich (abgesehen von einzelnen Ausnahmen) nicht gefragt, ob das Denksystem, das sie blind nachahmen, kritischer Prüfung standhält. Sie haben nicht gefragt, ob das System, das sie imitieren, auch in andersartigen Umgebungen, insbesondere ihren Umgebungen, funktionieren oder förderlich sein würde. Sie haben harte Fragen über die Folgen und Wirkungen des Systems auf unser Leben im Osten wie im Westen einfach nicht gestellt. Sie haben sich selbst in eben die Position versetzt, in die sie zu Unrecht muslimische Intellektuelle verflossener Jahrhunderte versetzen. Das ist eine extreme Ironie.

Ich kann mit manchen Ironien leben, aber nicht mit allen. Es gibt heutzutage so viele um uns herum, dass man gar keine andere Wahl hat, als die unschädlichsten zu ignorieren. Manche Ironien können allerdings trotzdem gefährlich werden. Die muslimischen Intellektuellen der fernen Vergangenheit konnten Implikationen sehr viel klarer und schärfer sehen als die Vielzahl von Kritikern und Intellektuellen, die heute in der muslimischen Welt schreiben und allerdings auch im Westen. Beispielsweise – und dies birgt tiefgründige Implikationen – waren die islamischen sogenannten »rechtlichen« und intellektuellen Traditionen wiederholt und über viele Jahrhunderte hinweg mit einer der größten und schwierigsten Fragen konfrontiert, mit denen menschliche Gesellschaften über Jahrtausende sich zu befassen hatten, nämlich dem Maß der moralischen Verantwortung, welches das natürliche Individuum tragen kann und sollte. In jedem Fall blieben die muslimischen Rechtsgelehrten und ihre (»nicht-rechtlichen«) Intellektuellen-Kollegen einer Anschauung verpflichtet, die die Ablösung der moralischen Verantwortung vom Individuum verwehrt. Wenn das Individuum der Träger der letztlichen Verantwortung für die Lebensführung ist, so muss er oder sie die Last der Konsequenzen tragen. Die Auflösung dieser Verbindung in der westlichen Welt hat zu sehr ernsten und nun grausamen Konsequenzen geführt: um nur ein Beispiel zu nennen, die multinationale Korporation oder Aktiengesellschaft, die unser Leben beherrscht. Nicht dass das englische Parlament von ehedem die unethischen Praktiken der Gesellschaften mit beschränkter Haftung nicht völlig verstanden hätte, ganz im Gegenteil, sie verstanden sie sehr wohl. Denn kurz nach der Legalisierung dieser Rechtspersönlichkeit zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit revidierten sie in der Tat ihre Gesetzgebung und untersagten sie, wobei ihre Ablehnung mit ihrem unmoralischen oder unsittlichen Charakter und Konsequenzen begründet wurde. Doch dann – und das ist schreiend vielsagend – wurde sie wieder in den Bereich der Legalität zurückgebracht, in London, aber vor allem in Delaware, um am Ende die Welt zu beherrschen und zu verwüsten. Die Scharia-Rechtsgelehrten beharrten immer auf moralische (lies heutzutage: rechtliche) Verantwortlichkeit, obgleich ihre technischen und substanziellen Überlegungen einem Korporations- oder Aktiengesellschaftsrecht mühelos hätten Platz bieten können (das entlang der gedanklichen Linien hätte entwickelt werden können, aus denen beispielsweise das waqf-SystemWael Hallaq erläutert im Glossar seines Buches An Introduction to Islamic Law (Eine Einführung in das islamische Recht) den Ausdruck waqf folgendermaßen: »waqf (auch habous in Nordafrika): eine wohltätige Stiftung; gewöhnlich unbewegliches Eigentum, übertragen und gestiftet, um dem Interesse bestimmter Begünstigter zu dienen, wie etwa Familienmitgliedern, den Armen, Reisenden, Gelehrten, Mystikern, der Allgemeinheit usw. Stiftungen, die in vielen Teilen der muslimischen Welt mehr als die Hälfte des Grundbesitzes ausmachten, unterhielten das Rechtssystem und seine Institutionen und unterstützten das öffentliche Leben und eine blühende Zivilgesellschaft. Beispiele für Stiftungen sind: Moscheen, Schulen, und Hochschulen, Krankenhäuser, Suppenküchen, öffentliche Trinkbrunnen, Brücken, Straßenbeleuchtungen und Grundstücke.« Siehe Wael B. Hallaq, An Introduction to Islamic Law, New York, Cambridge University Press, 2009, S. 178. hervorging). Nur wenige sind sich heutzutage dessen bewusst, dass die Techniken des Rechtsdenkens der Scharia vor tausend Jahren mindestens so raffiniert waren wie jegliches Rechtsdenken, das wir heute kennen. Aber die Korporation oder Aktiengesellschaft und vieles andere, das fiktiven Körpern erlaubt, sich der rechtlichen Haftung zu entziehen, wurde im vor-embryonalen Zustand ontologisch abgebrochen und beendet.

Dieser Weitblick fehlt heute, sowohl im westlichen Rechtsmilieu wie auch in der islamischen intellektuellen Welt. Ich würde sogar nicht zögern, zu sagen, dass die Moderne insgesamt durch ganz besondere Kurzsichtigkeit ausgezeichnet ist. So werden wir vielleicht dem ansonsten gelehrten Ali Harb verzeihen, wenn er Pierre Bourdieu kritisiert, indem er ihm eine »reaktionäre Vision« vorwirft. Harb verpasst nicht nur eine Gelegenheit, zu verstehen, warum Bourdieu bestimmte moderne Praktiken und Institutionen scharf kritisiert, sondern auch, um Bourdieus kritischen Blick durch das zu vertiefen, was ich »die Wissenschaft der Verzweigungen« nennen möchte. Wie Sayyid Qutb etwa sechzig Jahre zuvor will Harb nicht verstehen, dass man den Wert nicht von seiner Quelle trennen kann und dass die Annahme des einen die Annahme des anderen mit sich bringt. Der Wert, so kann gesagt werden, wohnt seiner eigenen Genealogie inne, wenn er sie nicht sogar völlig erfüllt (vorausgesetzt freilich, dass man eine ordentliche genealogische Grabung durchführt).

Beispielsweise die Technologie anzunehmen und zu glorifizieren und zugleich das Wertesystem, das sie produziert, zu verurteilen, ist nichts als krasser Unsinn. Das ist genau, was Qutb getan hat. Und noch problematischer ist, dass darin das Versagen liegt, die fernen und weitreichenden Implikationen solcher Werte zu verstehen, die das Denken von Harb und Autoren wie ihm (zahllose sicherlich) beeinträchtigen – und inkohärent machen. Nirgendwo findet sich ein angemessenes Verständnis der Implikationen der Grundwerte, zu deren Übernahme vom Westen die muslimischen Denker aufrufen. Meines Wissens hat niemand die tiefen Verzweigungen und Auswirkungen des Begriffs der Freiheit (insbesondere in ihrer negativen Form) einer gründlichen Untersuchung und Prüfung unterzogen für (a) die Unmöglichkeit einer nachhaltigen Lebensweise; (b) seine Unentbehrlichkeit für die Entwicklung des unkontrollierbaren und destruktiven Kapitalismus; (c) seine Rolle bei der Desintegration der Gemeinde- und Familienstrukturen; (d) die Schaffung eines dahintreibenden, moralisch verunsicherten Individuums; und vieles mehr. Zugegebenermaßen sind diese Themen gewiss auch nicht im Gesichtsfeld des dominanten westlichen Denkens, das ihnen bestenfalls hie und da eine schlaglichtartige Behandlung gönnt. Aber die muslimischen Intellektuellen müssen dafür gleichermaßen verantwortlich gemacht werden, sich mit diesen Fragen ernsthaft und engagiert auseinanderzusetzen, ja eigentlich sich an die Spitze zu setzen, indem sie ihren westlichen Pendants die strukturellen Wirrungen und zerstörerischen Verzweigungen der zentralen liberalen Begriffe und Praktiken aufzeigen. Dass nichts davon zu sehen ist, ist ein Beleg für intellektuellen Bankrott, ein Bankrott, der in der arabischen und muslimischen Welt bislang nicht wirklich erfasst und bekämpft worden ist und der das westliche Mainstream-Denken weiterhin affiziert. Unhinterfragtes und vorherrschendes liberales Denken und – noch wichtiger – Praxis sind der jahrhundertealte Sklaventreiber gewesen, unter dessen Kommando Scharen von muslimischen Denkern weiterhin marschieren.

Es gibt noch zwei Punkte, die in diesem Kontext hervorgehoben zu werden verdienen. Erstens: Sich dem Studium der Wissenschaft der Verzweigungen zu widmen, hat offenkundig intrinsischen Wert. Und angesichts der brandgefährlichen Krise der modernen Welt ist es – davon bin ich überzeugt – eine moralische Pflicht geworden, die allen Intellektuellen obliegt. Die Wissenschaft der Verzweigungen untersucht, kritisiert und enthüllt die verborgenen Strukturen zwischen den geringsten Phänomenen und dem kosmischen Akt, das, was die Beziehung zwischen einer ephemeren menschlichen Tat und der Konstanz einer kosmologischen Struktur knüpft und einsichtig macht, die niemals unter unsere Kontrolle kommen wird, die sich stets dem entziehen wird, was Scheler den angeborenen Trieb und Drang des Westens (und nunmehr der gesamten Moderne), zu beherrschen und zu kontrollieren, nannte.Siehe dazu Abschnitt V von Teil 1 in Kapitel II Knowledge, Power, and Colonial Sovereignty in: Wael B. Hallaq, Restating Orientalism: A Critique of Modern Knowledge, New York, Cambridge University Press, 2018. In Anbetracht der äußerst reichen, jahrhundertealten intellektuellen Tradition unter ihrer Nase sollten die muslimischen Denker diese Tradition und ihre Obsessionen erfassen und verstehen als Vorbereitung für eine zeitgemäße energische und nachdrückliche Kritik der modernen Praktiken, insbesondere der liberalen. Sie schulden dies der Welt, wie jeder andere auch. Und man kann nun glücklicherweise auf das hervorragende Werk von Taha Abdurrahman als einen ersten Schritt in diese Richtung verweisen.

Zweitens: Die muslimischen Intellektuellen würden – angesichts der erforderlichen Behauptung ihrer intellektuellen Präsenz und in Folge der Dringlichkeit der ersten Überlegung – weiterhin hinter den Kulissen des Theaters stehen – und warten -, wenn sie fortfahren, die intellektuellen Melodien Euro-Amerikas nachzusingen, und das allzu oft auch noch auf klägliche Weise. Um Aufmerksamkeit zu gewinnen und, noch wichtiger, sich selbst und hoffentlich andere in eine verheißungsvollere intellektuelle Zukunft zu geleiten, müssen sie die Erfordernisse der ersten Überlegung mit einem massiven intellektuellen Angriff verbinden, der die tiefsten Grundlagen der Aufklärung auslotet und erkundet, wie diese Grundlagen zu der kritischen – wenn nicht massiv zerstörerischen – Fragilität des modernen Lebens geführt haben. Wirklich erstaunlich bei alldem ist, dass, von seltenen Ausnahmen abgesehen (hier wieder Taha Abdurrahman), der heuristische Wert der muslimischen Tradition fast völlig außer Acht gelassen wird. Der taqlīd [Befolgung, Nachahmung] der muslimischen Modernen hat nahezu grenzenlos neue Bedeutungen angenommen.

Hasan Azad: Und wie steht es mit den westlichen Intellektuellen?

Wael Hallaq: Na ja, ich denke nicht, dass sie auch nur annähernd genug getan haben. Als Teilnehmer in einer kolonisierenden Tradition und Erben der Kolonisatoren tragen sie eine ethische Verantwortung für die Rehabilitation der Kolonien, die sie zerstört haben. Die moralische Bürde muss erst noch erkannt werden, aber dieses Versagen der Erkenntnis wird die Bürde auch nicht um ein winziges Bruchteil verringern. Als eine epistemische Kollektivität und als ein integraler Bestandteil des Wissen-Macht-Systems, das so weite Teile der Welt zerstört hat, müssen sie solch eine ethische Last tragen. Sie tragen die spezifische moralische Verantwortung, sorgsam zuzuhören und sich behutsam und bedacht zu engagieren. Ein bisschen Demut kann schon viel bewirken, vorausgesetzt, dass sie keine Mühe scheuen. Vielleicht erwarte ich zu viel.

Hasan Azad: Ich bin sicher, dass viele dieser Intellektuellen ihre Unschuld an jeglichem kolonialen Projekt beteuern würden und dir sagen werden, dass sie kritisch zu den Praktiken ihrer Regierung stehen usw. Sie werden dir sagen, dass sie mit den Unterdrückten und Schwachen, Muslimen oder nicht, mitfühlen.

Wael Hallaq: Das ist wahr, aber kann wohl kaum mein Argument beeinträchtigen. Das Thema ist komplex, und ich möchte auf einen längeren Text verweisen, den ich als Antwort auf meine Kritiker geschrieben habe, genau zu diesem Punkt. Er ist 2011 in Islamic Law and Society veröffentlicht worden.Siehe Wael B. Hallaq, On Orientalism, Self-Consciousness and History, in: Islamic Law and Society, Volume 18, Issue 3-4, 2011, pp. 387–439 (53), http://booksandjournals.brillonline.com/content/journals/15685195/18/3-4.

Hasan Azad: Welche Art von Beschränkungen hat das moderne, westliche Denken dem islamischen Denken auferlegt?

Wael Hallaq: Auf dem Gebiet des Denkens und der rationalen Untersuchung werden Ideen nur insofern wirklich restriktiv, als wir ihnen konzeptuell erlauben, als solche zu existieren. Das Abwerfen der eisernen Fesseln deines Herren ist ein äußerlicher Akt und für den machtvollen Herren erkennbar, der seine verheerenden Waffen gegen dich richten mag. Aber das gilt nicht für geistige Aktivitäten. Sie sind verborgen. Man kann physisch in Knechtschaft sein, aber geistig frei. Das heißt, frei zu denken und die Welt zu verstehen, wie er oder sie möchte. Die kurze Antwort auf deine Frage ist also, dass die intellektuelle Herrschaft des Westens über den Rest keinerlei Rechtfertigung hat. Ich verstehe die Schwierigkeiten, sich von den physischen Zwängen einer massiven Kolonialmacht freizumachen (zum Beispiel die USA in Afghanistan oder Israel in Gaza). Aber ich kann die geistige und intellektuelle Sklaverei nicht verstehen. Wie hart auch immer die Euro-Amerikaner daran gearbeitet haben und weiterhin arbeiten, das Denken und den Geist von Muslimen, Afrikanern und anderen zu versklaven, so haben diese doch keinerlei Entschuldigung. Wie ich schon sagte, abgesehen von seltenen und weniger bedeutenden Stimmen haben die muslimischen Autoren bislang den Pfad der intellektuellen Sklaverei gewählt. Lasst uns eine der ältesten Diskussionen in der Welt in Erinnerung rufen: Ein Sklave ist derjenige, der von dem Willen eines anderen abhängig ist. Wenn jemanden gelehrt wird, die Einzelheiten, die Aktionen, die Strukturen und Paradigmen der Lehren und des Verhaltens des Herren zu wollen, dann ist man ein Sklave. Und ich habe keine Belege dafür, dass die Gesamtverfassung der muslimischen intellektuellen Welt gezeigt hätte, dass die Dinge anders liegen.

Hasan Azad: Was gibst du denen zur Antwort, die das Beispiel des abbasidischen Kalifen al-Maʾmūn und seines bayt al-hikma [Haus der Weisheit], seiner Rolle bei der Übersetzung alter griechischer Texte, deren Inkorporation in einen Großteil der islamischen Philosophie, Metaphysik usw. anführen – als ein Beispiel dafür, wie muslimische Denker von fremden Wissensquellen Gebrauch machen als Mittel zur Bereicherung ihres eigenen Denkens in der Vergangenheit, womit das Argument vorgebracht wird, dass muslimische Denker das Gleiche tun sollten mit Blick auf modernes, westliches Denken und Philosophie?

Wael Hallaq: Das ist eine wichtige Frage, die mir öfter gestellt wird. Zunächst möchte ich sagen, dass das Narrativ des bayt al-hikma im Diskurs des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts im wesentlichen ein orientalistisches ist, ein zentraler Topos, der endlos und auf verschiedene Weisen wiederholt worden ist. Ich stelle nicht die tatsächliche Geschichtlichkeit des »Ereignisses« oder des bayt al-hikma genannten Phänomens in Frage, sondern spreche vielmehr davon, wie es in eine neue Interpretation der Geschichte und somit in eine besondere Identität eingepasst wurde. Dieses Narrativ hat viel mehr Parallelen, die allesamt auf das Gleiche hinauslaufen – nämlich ein Narrativ der »kulturellen Anleihe« zu konstruieren, das eine unabhängige und nicht-koloniale Identität zum Verschwinden bringt. Beispielsweise hat Joseph Schacht das gleiche Narrativ auf dem Gebiet des Rechts vorgeführt. Er hat das Argument vorgebracht, dass das »islamische Recht« eine Anleihe aus dem römischen, byzantinischen und jüdischen Recht war, die in ihrer Summe als ein westliches Produkt (was ohnehin eine Fiktion ist) betrachtet werden. Mit anderen Worten, der Islam wird durch die Zuschreibung konstruiert, seine Rechtskultur (welche ihrerseits, in seinen Worten, »Herzstück und Wesen«Siehe Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law. Oxford 1964, Nachdruck Clarendon Press, Oxford 1986, S. 1: »Islamic law is the epitome of Islamic thought, the most typical manifestation of the Islamic way of life, the core and kernel of Islam itself.« (Das islamische Recht ist der Inbegriff des islamischen Denkens, die am meisten typische Manifestation der islamischen Lebensweise, das Herzstück und Wesen des Islam selbst.) der Zivilisation ist) von anderen – freilich ausnahmslos Europäern – »gelernt« oder entliehen zu haben. Nun, so geht das Narrativ weiter, haben sich die Dinge mit der Moderne wieder gewandelt, und der »alte« Islam ist in dieser neuen Welt nicht mehr akzeptabel. Die Muslime sollten daher wiederum auf den Westen blicken und lernen, wie sie es vor zwölf oder dreizehn Jahrhunderten so gut gemacht haben. Die latente (subliminale?) orientalistische Weisheit ist, dass die Muslime immer vom Westen gelernt haben – also warum jetzt nicht? Das Narrativ des bayt al-hikma spielt die gleiche Musik mit anderen Melodien.

Aber das ist nicht alles. Es ist unbestreitbar, dass die Muslime – seit spätestens dem achten Jahrhundert – ein starkes Interesse an anderen hatten, seien es Inder, Iraner oder Griechen. Sie übersetzten in der Tat ihre Werke und integrierten in ihren »intellektuellen Boden« vieles von dem, was sie als nützlich erachteten. Die Assimilation war so raffiniert, dass es nahezu unmöglich ist, die Komponenten dessen, was beispielsweise griechisch ist, von den islamischen zu trennen. Aber ich kann nicht genug betonen, dass diese Assimilation auf der Grundlage und im Rahmen des nativen epistemischen Systems vorgenommen wurde. Was aufgenommen und verarbeitet werden konnte, wurde inkorporiert, aber vieles war dafür nicht geeignet und wurde daher verworfen. Die hazmischen, ghazalischen und taymiyyischen Projekte, unter zahllosen anderen, sind schlagkräftige Zeugnisse. Dies entspricht auch meiner dreißigjährigen Erfahrung mit einem Zweig des Rechtswissens namens usūl al-fiqh neben anderen. Diese außerordentlich komplexe Rechtswissenschaft ist durchdrungen und erfüllt von intellektuellen Einflüssen, deren Herkunft vielfältig ist. Sie ist jedoch eine einzigartige Wissenschaft in der Welt und gleicht nichts, was von anderen Kulturen oder intellektuellen Formationen bekannt ist. Sie zog sicherlich Nutzen aus verschiedenen Disziplinen, aber ich denke nicht, dass auch nur ein seriöser Gelehrter behaupten würde, dass sie nicht eine besondere islamische Identität besitzt, indem sie den unabhängig erdachten Bedürfnissen des islamischen fiqh und Rechts in ihrer eigenen Umgebung dient.

Damit möchte ich sagen, dass die muslimischen Intellektuellen, insofern sie den taqlīd [Befolgung, Nachahmung] von Euro-Amerika und seiner Aufklärung meiden müssen, auch ihre eigenen Traditionen mit ihren großen Sub-Traditionen sorgfältig erkunden müssen, wie sie auch andere Kulturen betrachten und untersuchen sollten, insbesondere die Asiens (buddhistische, hinduistische etc.). Denn in der Tat spricht vieles dafür, dass Süd- und Ostasien mehr zu bieten haben als Euro-Amerika. bayt al-hikma [Haus der Weisheit] muss die Welt in ihrer Gänze sein, eine Welt, die in unserem Geist und kritischen Denken beginnt. Und ihr Ende kann nicht und sollte nicht vorhergesagt werden. Doch wenn sie sich auf all dies einlassen, müssen sie mit aller Entschiedenheit ihre höchste kritische Energie aufwenden, wobei der Schlüssel ihr eigenes, unabhängiges Denken ist.