4 Moralphilosophie – ein Irrtum?

4 Moralphilosophie – ein Irrtum? Yusuf Kuhn
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 14

 
Hallaq bezieht sich bei seinen Überlegungen zu den Grundlagen der Moral vor allem auf vier Autoren, zu denen neben Charles Larmore, Alasdair MacIntyre und Charles Taylor auch H. A. Prichard gehört, deren Auffassungen wir nun näher betrachten wollen. Der Anfang sei mit Prichard gemacht, der von Hallaq zwar von den genannten Autoren vergleichsweise weniger in Anspruch genommen wird, dessen einflussreicher AufsatzHarold Arthur Prichard, Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Mind, New Series, Bd. 21, Nr. 81 (Jan., 1912), S. 21-37. Deutsche Übersetzung von Günther Grewendorf: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Kurt Bayertz (Hg.), Warum moralisch sein?, Paderborn, 2002, S. 49–68. Die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diese deutsche Ausgabe. aus dem Jahr 1912 mit dem provokanten Titel Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum? aber stellvertretend für die These von der Unmöglichkeit einer rationalen Begründung der Moral steht, die Hallaq allen vier Autoren zuschreibt. Die betreffende Stelle sei zur Erinnerung und unter Wegfall der zugehörigen Fußnoten nochmals zitiert:

Wie Prichard und Larmore – und allgemeiner mit ihnen Taylor und MacIntyre, unter anderen – in der Tat vorgebracht haben, ist es unmöglich, unseren Weg zur Moralität mittels autonomer Rationalität zu begründen, die, wie wir gesehen haben, auf dem kantischen Begriff der Freiheit basiert. Prichard hat argumentiert, dass dieser wesenhaft kantische Ansatz »zum Scheitern verurteilt« ist, weil er auf »dem Irrtum« beruht, »zu glauben, man könne beweisen, was nur direkt durch einen Akt moralischen Denkens erfaßt werden kann.«Siehe S. 161; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 164.

Die Stelle, die Hallaq hier auszugsweise zitiert, findet sich gegen Ende des Aufsatzes von Prichard, der darin das Ergebnis seiner Untersuchung zusammenfasst. Sie lautet in vollem Wortlaut:

Wenn, wie es fast überall der Fall ist, unter »Moralphilosophie« jenes Wissen zu verstehen ist, das dieses Verlangen erfüllen würde, dann gibt es kein solches Wissen, und alle Versuche, es zu erlangen, sind zum Scheitern verurteilt, weil sie auf einem Irrtum beruhen, nämlich dem Irrtum zu glauben, man könne beweisen, was nur direkt durch einen Akt moralischen Denkens erfaßt werden kann. (Prichard, S. 68)

Schon der Versuch einer Begründung der Moralphilosophie im Sinne der Erkenntnis eines bestimmten Wissens ist demzufolge zum Scheitern verurteilt, weil ein solches Wissen sich nicht durch einen mittelbaren Beweis erlangen lässt, sondern lediglich durch einen Akt der unmittelbaren Einsicht. Wir wollen nun näher zusehen, wie Prichard eigentlich zu diesem Ergebnis gelangt. Welche Voraussetzungen macht er? Was versteht er unter »Moralphilosophie«? Von welchem Verlangen und Wissen ist hier die Rede?

Prichard beginnt seine Überlegungen, indem er einen Umstand konstatiert, der vielen, die sich ernsthaft um Rat und Aufschluss fragend an die Moralphilosophie gewandt haben, bekannt sein dürfte:

Es kommt wahrscheinlich für die meisten, die sich mit Moralphilosophie beschäftigen, eine Zeit, wo sie ein unbestimmtes Gefühl der Unzufriedenheit mit dem gesamten Gegenstande verspüren. Und dieses Gefühl der Unzufriedenheit nimmt gewöhnlich eher zu als ab. Dies liegt nicht so sehr daran, daß die Positionen oder gar die Argumente einzelner Denker nicht überzeugend scheinen - obwohl dies sicher stimmt - sondern vielmehr daran, daß das Ziel der ganzen Sache zunehmend unklar wird. »Was«, so wird gefragt, »lernen wir denn wirklich durch die Moralphilosophie?« (Prichard, S. 49)

Nicht nur ist die Geschichte der Moralphilosophie von zahllosen Versuchen, bestimmte Positionen zu begründen, die sich früher oder später allesamt als haltlos erwiesen haben, gekennzeichnet, sondern das damit verfolgte Ziel selbst verliert zunehmend an Klarheit. Prichard gelangt daher zu der Vermutung, dass die Moralphilosophie lediglich eine Scheinfrage zu beantworten versucht und daher auf einem Irrtum beruht. Worin besteht diese Scheinfrage? Und welche Aufgabe ergibt sich für die Moralphilosophie daraus?

4.1 Aufgabe der Moralphilosophie

4.1 Aufgabe der Moralphilosophie Yusuf Kuhn

Prichard malt nun ein Szenario, in dem vorausgesetzt wird, dass es moralische Normen und Pflichten gibt, die allerdings in Zweifel gezogen werden, da sie in Konflikt zu Interessen stehen können. Daraus ergibt sich sodann die Frage nach dem Grund, warum man überhaupt diesen Normen und Pflichten nachkommen sollte. Prichard beschreibt das daraus hervorgehende Verlangen, dem die Moralphilosophie entspringt, folgendermaßen:

Jedem, der, präpariert durch seine Erziehung, schließlich und endlich die Last der vielfachen Verpflichtungen des Lebens spürt, wird es irgendwann einmal lästig, ihnen nachzukommen, und er erkennt, daß es auf Kosten von Interessen geht. Wenn ihn so etwas beschäftigt, so wird er sich zwangsläufig die Frage stellen: »Gibt es wirklich einen Grund, warum ich so handeln soll, wie ich nach meiner bisherigen Überzeugung handeln sollte? Kann es nicht sein, daß ich die ganze Zeit über mit dieser meiner Überzeugung einer Täuschung erlegen bin? Könnte ich nicht mit gutem Recht einfach darauf schauen, daß es mir gut geht?« (Prichard, S. 49-50)

Lohnt es sich denn überhaupt, moralisch oder gerecht zu sein, oder ist man damit nicht stets der Dumme, der das Nachsehen gegenüber den Unmoralischen und Ungerechten hat? So fragte schon Glaukon in Platons Politeia zu Beginn des zweiten Buches:

O Sokrates, willst du nur scheinen uns überzeugt zu haben oder uns wirklich überzeugen, daß es auf alle Weise besser ist, gerecht zu sein als ungerecht?Platon, Politeia, 357b, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher.

Prichard greift diese Frage auf, indem er fortfährt:

Doch da er wie Glaucon das Gefühl hat, daß er irgendwie schließlich doch in dieser Weise handeln sollte, verlangt er einen Beweis dafür, daß dieses Gefühl richtig ist. M. a. W., er fragt, »Warum soll ich diese Dinge tun?« und seine und unsere Moralphilosophie ist ein Versuch, darauf eine Antwort zu geben, d. h. durch einen Reflexionsprozeß einen Beweis für die Wahrheit dessen zu liefern, was er und wir vor jeder Reflexion unmittelbar oder ohne Beweis geglaubt haben. (Prichard, S. 50)

Das ist also die geistige Situation, aus der sich das Verlangen nach Moralphilosophie ergibt, wodurch wiederum deren Aufgabe bestimmt wird, nämlich nach der Erschütterung vermeintlicher moralischer Gewissheiten durch einen Prozess der Reflexion oder Begründung einen Beweis dafür zu liefern, dass man auch angesichts möglicherweise entgegenstehender Interessen oder Neigungen moralisch handeln sollte.

An einer anderen Stelle wird noch deutlicher gesagt, worin die Aufgabe der Moralphilosophie besteht:

[…] nämlich uns davon zu überzeugen, daß wir das, was wir unserer bisherigen unreflektierten Überzeugung nach tun sollten, tatsächlich tun sollten, bzw. uns andernfalls zu sagen, was denn die anderen Dinge sind - falls es solche gibt -, die wir wirklich tun sollten, und uns zu beweisen, daß er recht hat. (Prichard, S. 64)

Daran schließt Prichard seine Hauptthese an, derzufolge

[…] dieses Verlangen nicht erfüllt werden kann, und zwar deshalb nicht, weil es illegitim ist. (Prichard, S. 65)

Und wenn dem so sein sollte, wäre freilich nicht nur der Sinn der Moralphilosophie, sondern gar deren Existenz höchst fragwürdig geworden, was Prichard mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt:

Somit drängt sich die Frage auf: »Gibt es überhaupt so etwas wie Moralphilosophie, und wenn ja, in welchem Sinne?« (Prichard, S. 65)

4.2 Falsches Verständnis der Moral

4.2 Falsches Verständnis der Moral Yusuf Kuhn

Wir wollen nun versuchen, Prichards Argumentation in ihrem Kern und in aller Kürze zu skizzieren. Für seine These, dass das aus der Frage, warum etwas, das wir für eine Pflicht halten, tatsächlich unsere Pflicht ist, entspringende Verlangen nach Beweisen oder Gründen auf einem völlig falschen Verständnis der Moral basiert, bringt Prichard im wesentlichen zwei Arten von Argumenten vor.

Die Ansicht, dass etwas eine Pflicht ist, wird erstens in der Moralphilosophie einerseits damit begründet, dass es den Neigungen und Interessen entspricht oder zum Glück führt. Doch dies läuft darauf hinaus, dass die in Frage stehende Pflicht gar nicht als Pflicht im eigentlichen Sinne betrachtet wird. Denn wenn sie aus Neigung oder Interesse verrichtet wird, wird sie eben nicht als eine Pflicht getan. Andererseits kann als Begründung angeführt werden, dass die Verrichtung einer Handlung ein Gut oder etwas Gutes hervorbringt. Doch dagegen lässt sich erwidern, dass aus dem Umstand, dass etwas gut ist, keineswegs folgt, dass es eine Pflicht ist, es herbeizuführen. Diese Argumente Prichards scheinen von einer begrenzten Auswahl von möglichen Arten der Begründung auszugehen, ohne die sie ihre Stichhaltigkeit einbüßen würden.

Die zweite Art von Argument besteht vor allem in einer Berufung auf das, was uns schon bewusst sein müsste. Denn die Wahrnehmung einer Pflicht soll unmittelbar und unreflektiert erfolgen, ohne dass dafür Gründe erforderlich sind. Und nur im Sinne eines solchen Intuitionismus gibt es nach Prichard Moralphilosophie, die dadurch auf eine Wiederholung des ohnehin vorhandenen moralischen Wissens zusammenschrumpft. Von verschiedenen Kritikern des Intuitionismus wird zudem der Einwand vorgebracht, dass es Prichard und manchen anderen Vertretern des Intuitionismus, an jeglichem historischem Sinn mangelt, da sie dazu tendieren, Platon, Kant und sich selbst als Teilnehmer an einer einzigen moralphilosophischen Debatte mit einem einzigen Thema sowie mit einem beständigen und unwandelbaren Vokabular zu behandeln.Vgl. dazu Alasdair MacIntyre, A Short History of Ethics. A History of Moral Philosophy from the Homeric Age to the Twentieth Century, London, 1998 (Erste Auflage 1967), S. 162. 2Siehe Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, München, 2014, Kap. 16.

Die Aufgabe der Moralphilosophie kann diesem intuitionistischen Ansatz zufolge jedenfalls nicht darin bestehen, spezifische Inhalte der Moral zu begründen. Und an der Aufgabe, den Pflichtcharakter vorgegebener Inhalte gegen aufkommende Zweifel zu rechtfertigen, kann sie nur scheitern.

In der Argumentation, die Prichard zu diesem Schluss führen, lassen sich nach Kurt BayertzSiehe Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, München, 2014, Kap. 16. drei Thesen unterscheiden. Die erste besteht in der Identifikation des moralischen Sollens mit einem Gefühl der Verpflichtung, das sich, eine gelungene moralische Erziehung vorausgesetzt, unmittelbar und spontan als Intuition einstellt, ohne dass es eines Prozesses des Reflektierens oder des bewussten Denkens bedürfte. Die zweite These besagt, dass das Gefühl der Verpflichtung an eine ganz bestimmte Situation oder Lage gebunden ist. Dieses spontane Gefühl stellt sich eben nur in einer konkreten Situation ein. Das entsprechende Gefühl kann nicht durch Reflexion erzeugt werden. Vielmehr zeigt sich in seinem Ausbleiben ein Mangel an moralischer Erziehung. Und deren Versäumnisse können der dritten These zufolge nicht durch moralphilosophische Gründe gewissermaßen nachträglich kompensiert werden. Die einzige Möglichkeit zu einer Klärung in einem solchen Zweifelsfall besteht darin, sich tatsächlich in die entsprechende Situation zu begeben oder sich zumindest in sie geistig hineinzuversetzen, um sich der moralischen Intuition zu überlassen. Prichard beschreibt dies so:

Das einzige Mittel, diesen Zweifel zu beseitigen, liegt darin, daß wir uns in eine Situation begeben, die diese Verpflichtung nach sich zieht, oder - falls unsere Phantasie stark genug ist - uns vorstellen, wir wären in dieser Situation, und dann die moralischen Fähigkeiten unseres Denkens das ihre tun lassen. Oder, um der Sache eine allgemeine Form zu verleihen: Wenn wir tatsächlich daran zweifeln, ob es wirklich eine Verpflichtung gibt, A in einer Situation B herbeizuführen, dann liegt das Mittel, diesen Zweifel zu beseitigen, nicht in irgendeinem generellen Denkprozeß, sondern in der unmittelbaren Konfrontation mit einem speziellen Beispiel für die Situation B und der darauffolgenden direkten Erkenntnis der Verpflichtung, in dieser Situation A herbeizuführen. (Prichard, S. 68)

4.3 Die Moralphilosophie beruht auf einem Irrtum!

4.3 Die Moralphilosophie beruht auf einem Irrtum! Yusuf Kuhn

Der Moralphilosophie kommt dabei keine Rolle zu. Sie kann die ihr zugeschriebene Aufgabe nicht erfüllen. Die provokative Titelfrage des Aufsatzes ist also ganz klar zu beantworten: Die Moralphilosophie beruht auf einem Irrtum!

Die Argumente von Prichard mögen nicht immer überzeugend sein und die von ihm vorgeschlagene Lösung, der intuitionistische Ansatz, mag sogar unplausibel erscheinen, aber dieser Aufsatz ist gewiss bezeichnend und aufschlussreich für die geistige Situation, in der sich die moderne Moralphilosophie befindet. Und er hat seine Wirkung getan, indem er neben der klassischen Frage nach der Begründung von Inhalten der Moral eine andere Frage ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat, die sich unter den Bedingungen einer modernen Moral besonders stark aufdrängt: Warum überhaupt moralisch sein?

Bayertz schreibt dazu, indem er diese Frage abgekürzt als W-Frage bezeichnet:

Prichards Überlegungen sind eindrucksvoll und haben maßgeblich dazu beigetragen, die W-Frage zu einem Schlüsselthema der nachfolgenden Moralphilosophie werden zu lassen.Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, München, 2014, Kap. 6.

Die Unmöglichkeit, im Rahmen der modernen Moralphilosophie eine Antwort auf die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?« zu finden, führten Prichard und andere Intuitionisten in einen »intuitionistischen Antirationalismus«, den Bayertz folgendermaßen charakterisiert:

Sein situationsbezogener Intuitionismus läuft auf eine Eliminierung jeglichen moralischen oder ethischen Denkens hinaus; und nicht zufällig lesen sich einige seiner Formulierungen so, als hätten wir es bei dem Gefühl der Verpflichtung mit einer Art von bedingtem Reflex zu tun: wie der Pawlowsche Hund Speichel absondert, sobald das Glockenzeichen ertönt, so wird im moralisch erzogenen Menschen ein Gefühl der Verpflichtung ausgelöst, sobald er in die entsprechende Situation versetzt wird.Ebenda.

Zudem legt Bayertz dar, dass sich dieser Antirationalismus in ein Dilemma verstrickt: Wenn die Erziehung die Grundlage der Moral ist, lässt sich in Bezug auf sie die Frage stellen, ob vernünftiges Denken in ihr zum Tragen kommt. Wenn nicht, wird Moral zur bloßen Abrichtung; wenn doch, könnte der Moralphilosophie trotz allem eine sinnvolle Aufgabe zufallen. Bayertz führt dazu aus:

Prichard manövriert sich mit seinem intuitionistischen Antirationalismus in ein Dilemma. Entweder spielen in der moralischen Erziehung rational nachvollziehbare Gründe und Argumente keine Rolle. Dann handelt es sich bei dieser Erziehung um eine bloße Abrichtung, und alle diejenigen behalten Recht, die (wie Nietzsche oder Freud) die Moral auf das Produkt einer Art von Dressur reduzieren. Einen echten Grund, moralisch zu sein, gibt es dann nicht; vielmehr tut man gut daran, sich solchen repressiven Vorschriften zu entziehen. Oder Gründe und Argumente spielen in ihr eine Rolle. Dann müssen sie auch explizit gemacht und philosophisch analysiert werden können.Ebenda; Hervorhebungen im Original.

4.4 Warum überhaupt moralisch sein?

4.4 Warum überhaupt moralisch sein? Yusuf Kuhn

Bayertz selbst ist freilich davon überzeugt, dass die Aufgabe der Moralphilosophie nicht auf die von Prichard vorgegebene beschränkt werden muss, und schickt sich daher an, eine alternative Aufgabenbestimmung zu entwickeln. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Frage, die den Titel seines Buches ziert: Warum überhaupt moralisch sein? Lässt sich diese Frage, die sich allererst unter den Bedingungen der modernen Moral mit voller Wucht stellt, unter diesen Bedingungen überhaupt beantworten? Oder ist sie nicht vielmehr lediglich ein Ausdruck der tiefen moralischen Krise, in die das Projekt der Aufklärung, die Moral auf die bloße Vernunft zu gründen, unvermeidlich mündet?

Hier ist nicht der Ort, um dieser Frage tiefer auf den Grund zu gehen. Wir wollen aber einen kurzen Blick auf die Ergebnisse werfen, zu denen Kurt Bayertz durch seinen Versuch, auf die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?« eine Antwort zu finden, geführt wurde. Und er meint in der Tat, eine Antwort, auf deren genauen Inhalt an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann, gefunden zu haben, allerdings um den Preis, Aufgaben, Ziele und Selbstverständnis der Moralphilosophie weit unter die Ansprüche herunterzuschrauben, die ursprünglich mit dem aufklärerischen Begründungsprojekt verbunden gewesen sind. Bayertz schreibt im für die zweite Auflage des Buches neu geschriebenen Nachwort, in dem er aus der entsprechenden zeitlichen Distanz rückblickend einige Schlussfolgerungen aus seiner Untersuchung zieht:

Unabhängig von ihrer Richtigkeit hat die moralpessimistische Modernitätsdiagnose das ethische Denken in seiner Aufgabenstellung und seinen Theorieidealen nachhaltig geprägt. Der Ethik wurde nun die Aufgabe zugeschrieben, in einer Art rationaler creatio ex nihilo der Moral jene sichere Basis zurückzugeben, die ihr im Zuge der Moderne abhanden gekommen sein sollten (sic!); und die argumentative Auseinandersetzung mit dem Amoralisten fungierte als eine Nagelprobe auf das Gelingen dieses Projekts. In den vorangegangenen Kapiteln dieses Buches dürfte deutlich geworden sein, daß dieses Projekt nicht den erwarteten Erfolg haben konnte, ohne daß wir deshalb gezwungen wären, an der Rationalität der Moral zu zweifeln. – Ziehen wir daraus den Schluß, daß es um die Moral heute nicht besser, aber auch nicht schlechter bestellt ist als zu anderen Zeiten, so können wir das Postulat einer voraussetzungslosen Rechtfertigung der Moral ‹von außen› fallen lassen und das ethische Denken stattdessen als die Reflexion einer existierenden Praxis des moralischen Handelns, Urteilens und Argumentierens auffassen.Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, München, 2014, Nachwort; Hervorhebungen im Original.

Der grundsätzliche Begründungsanspruch für die Moral wird somit völlig aufgegeben, und zwar hinsichtlich sowohl des Inhalts als auch der Motivation. Die Moralphilosophie setzt die Moral in Theorie und Praxis vielmehr voraus und beschränkt sich auf deren Reflexion, die bestenfalls eine gewisse Rationalität der Moral plausibel machen kann. Bayertz schließt seine Betrachtungen daher mit folgenden Überlegungen:

Die bestmögliche Antwort ist eben eine, die nicht von einem äußeren Standpunkt, sondern vom Boden der Moral aus gegeben wird. Ist sie deshalb zirkulär, wie im Anschluß an Prichard (§ 16) gemutmaßt werden könnte? Setzen wir mit ihr voraus, was zu beweisen wäre? – Die Antwort lautet ‹nein›! Was vorausgesetzt wird, ist nicht ‹die Moral›, sondern die Bereitschaft, moralische Überlegungen und Argumente ernst zu nehmen. Wenn wir nun den Amoralisten beiseite lassen, der ja so definiert ist, daß er diese Bereitschaft nicht besitzt, so stellt das Schadensprinzip eine wichtige handlungsrelevante Information über die Funktion der Moral im potentiell konfliktträchtigen Zusammenleben von Menschen zur Verfügung. Es ordnet die Institution der Moral, ihre konkreten Normen und die auf ihrer Basis gefällten Urteile in einen größeren Zusammenhang ein und macht sie damit besser verständlich. Wer begriffen hat, worum es bei der Moral geht, hat auch einen guten Grund, moralisch zu sein.Ebenda; Hervorhebungen im Original.

Wenn der Boden der Moral immer schon vorgegeben sein muss, drängt sich die Frage auf, wie groß der Unterschied zum »intuitionistischen Antirationalismus« eines Prichard noch sein kann. Beide scheinen sich jedenfalls darin einig zu sein, dass der Moralphilosophie keine andere Wahl bleibt, als die jeweils bestehende Moral zum Ausgangspunkt zu nehmen, also in ihrem Fall die moderne Moral, ohne diese begründen oder auch grundsätzlich in Frage stellen zu können. Wenn die moderne Moral selbst nun ein wesentlicher Faktor für die Krise der Moral sein sollte, dürften die Aussichten, auf diesem Weg einen Ausweg ausfindig machen zu können, eher trüb sein.

Es sei daran erinnert, was im Abschnitt über Die moralischen Technologien des Selbst bereits zur Frage »Warum überhaupt moralisch sein?« gesagt wurde, denn es mag nunmehr in neuem Licht erscheinen:

Diese Geringschätzung des Moralischen [in der orientalistischen Konzeption des »islamischen Rechts«] passt zu einer Kultur, in deren Moralphilosophie eine Frage zentrale Bedeutung gewinnen konnte, die in der islamischen Tradition niemals gestellt wurde, nämlich: »Warum überhaupt moralisch sein?« Diese Frage kann nur einem Denken entspringen, in dem die Moral als gesonderter Bereich und nicht als selbstverständlich gilt. Darin spiegelt sich ein grundsätzliches Dilemma der Modernität. Die Frage ist schlechterdings modern und hätte sich wohl in keiner vormodernen Kultur gestellt.

Dieser Unterschätzung der »moralischen« Kraft, die in der islamischen Tradition als wesentlicher und integraler Bestandteil des »Rechts« gilt, liegt eine ideologisch bedingte Geringschätzung der Religion, zumindest der islamischen, zugrunde. Die Abscheu gegen die Religion als moralischer Kraft macht blind gegen die Einsicht in die Rolle, welche die Moral tatsächlich auf dem Gebiet des Rechts und umgekehrt spielt. Im Rahmen der modernen moralfeindlichen Denkweise mussten daher andere Erklärungen gesucht und die Geschichtsschreibung entsprechend angepasst werden.

Hallaq richtet dagegen seine Aufmerksamkeit gerade auf die Verwobenheit von Moral und Recht in der islamischen Kultur. So stellt sich nicht die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?«, deren Antwort für muslimische Rechtsgelehrte allzu offensichtlich war, um eine entsprechende Stellung wie in der modernen Moralphilosophie einnehmen zu können, sondern vielmehr die Frage: Wie wird das moralische Subjekt gebildet?Siehe den Abschnitt Die moralischen Technologien des Selbst, S. 131 ff.