6.3 Kritik der modernen Moralphilosophie

6.3 Kritik der modernen Moralphilosophie Yusuf Kuhn

Es handelt sich also um ein Projekt, das gar nicht anders als gemeinsam verwirklicht werden kann. Und MacIntyre kommt dabei gewiss eine gewichtige Rolle zu. Das ist der Grund, warum eine eingehende Auseinandersetzung mit seinem Denken geboten ist, zu der hier ein weiterer und vertiefender Schritt beigetragen werden soll. Unser Interesse richtet sich dabei zunächst vorwiegend auf die negative Seite von MacIntyres Kritik der modernen Moralphilosophie, also die Aufweisung ihrer Misere und Ausweglosigkeit, während ihre positive Seite, die Suche nach Ausweg und Alternative, erst in einem späteren Schritt die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfahren kann. Beide Seiten hängen ohnehin eng miteinander zusammen, wie wir ja bereits gesehen haben, da sich die Misere der modernen Moralphilosophie gar nicht verstehen lässt, ohne einen Standpunkt zu beziehen, der die Einsicht in diese Misere allererst ermöglicht und zugleich schon einen Bezug zur positiven Seite in sich birgt. Dies ist freilich vor allem eine Sache der Gewichtung. Und uns geht es zunächst darum, die Voraussetzungen für jede weitere Suche zu klären, die sich aus der Beantwortung folgender Frage ergeben: Ist die Krise der modernen Moral und Moralphilosophie in der Tat so tief, dass sich in deren Rahmen diese Krise weder angemessen verstehen noch irgendein gangbarer Ausweg aufweisen lässt? Denn genau die einer Bejahung dieser Frage entsprechenden Thesen vertritt MacIntyre in After Virtue und seinen späteren Werken.

Zu den wichtigsten Werken neben After Virtue, in denen MacIntyre diese Thesen entwickelt und weiter ausgeführt hat, gehören vor allem Whose Justice? Which Rationality?Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988., Three Rival Versions of Moral Enquiry: Encyclopaedia, Genealogy, and TraditionAlasdair MacIntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry: Encyclopaedia, Genealogy, and Tradition (Gifford Lectures). Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1990. und Dependent Rational Animals: Why Human Beings Need the VirtuesAlasdair MacIntyre, Dependent Rational Animals: Why Human Beings Need the Virtues, Chicago: Open Court, 1999 sowie das erst kürzlich erschienene Ethics in the conflicts of modernity: an essay on desire, practical reasoning, and narrativeAlasdair MacIntyre, Ethics in the conflicts of modernity: an essay on desire, practical reasoning, and narrative, New York: Cambridge University Press, 2016..

Wir wollen uns zunächst ausführlich mit After Virtue befassen, um sodann auf die anderen Werke in einem Ausblick einzugehen, in denen das work in progress fortgeführt wird. Bei aller Kritik, sich daraus ergebenden Modifikationen und Weiterentwicklungen hat MacIntyre indes nie einen guten Grund erkennen können, seine Hauptthesen grundsätzlich in Frage zu stellen oder aufzugeben. So schreibt er zu Beginn des 2007 verfassten Prologs zur dritten Auflage von After Virtue:

Wenn es gute Gründe gibt, die zentralen Thesen von After Virtue zu verwerfen, so sollte ich mittlerweile sicherlich erfahren haben, welche es sind. Eine kritische und konstruktive Diskussion in vielerlei Sprachen – nicht nur Englisch, Dänisch, Polnisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Türkisch, sondern auch Chinesisch und Japanisch – und von vielerlei Standpunkten hat mich befähigt, die Untersuchungen, die ich in After Virtue (1981) begonnen und in Whose Justice? Which Rationality? (1988), Three Rival Versions of Moral Enquiry (1990) und Dependent Rational Animals (1999) fortgeführt habe, zu überdenken und zu erweitern, aber ich habe bis jetzt keinen Grund gefunden, die wesentlichen Argumente und Behauptungen von After Virtue aufzugeben - »Unbelehrbarer Starrsinn!«, werden manche sagen -, obgleich ich eine Menge gelernt und meine Thesen und Argumente entsprechend ergänzt und überarbeitet habe.Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory, University of Notre Dame Press, 3rd ed., Notre Dame, Indiana, 2007, S. ix.

Gedankengang und Thesen von After Virtue sind nicht immer leicht zu erfassen. Es handelt sich um ein voraussetzungsreiches und komplexes Werk, das sich der üblichen akademischen Eingrenzung auf ein Fachgebiet verwehrt und sich aus verschiedenen Gestalten des Wissens wie Philosophie, Geschichte, Wissenschaft, Literatur usw. speist. Dass es gleichwohl seit seinem Erscheinen eine so große Leserschaft gefunden hat, könnte freilich gerade daran liegen. Vielleicht teilen viele die Beschreibung, die Charles Taylor in seiner Rezension von After Virtue gegeben hat:

Dies ist ein äußerst seltenes Werk – ein Buch über Moralphilosophie, das tatsächlich aufregend zu lesen ist. Die These ist verblüffend und sehr anspruchsvoll.Charles Taylor, Aristotle Or Nietzsche, in: Partisan Review 51, Nr. 2 (1984): 301-306, hier S. 301.

6.3.1 Hauptthesen von After Virtue

6.3.1 Hauptthesen von After Virtue Yusuf Kuhn

Worin bestehen die Hauptthesen von After Virtue? Einen ersten Überblick können wir uns dankenswerterweise durch einen kleinen Text von MacIntyre selbst verschaffen, der die Behauptungen diese Werks in sieben knappen Thesen zusammenfasst: The Claims of After Virtue (Die Behauptungen von After Virtue).Alasdair MacIntyre, The Claims of After Virtue, in: Analyse & Kritik, Band 6, Nr. 1, 1984, S. 3-7, siehe die Website der Zeitschrift: http://www.analyse-und-kritik.net/HeftDetails.php?AusgabeID=62; wieder veröffentlicht in: Kelvin Knight (Hg.), The MacIntyre Reader, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1998, S. 69-72.

Einleitend stellt MacIntyre fest, dass After Virtue aus einem langwährenden Nachdenken über die Unzulänglichkeiten früherer Werke hervorgegangen ist, wobei ihn zwei Fragen besonders beschäftigt haben. Die eine betrifft die Weise, in der die Geschichte der philosophischen Ethik mit Blick auf ihren sozialen Kontext geschrieben werden sollte.MacIntyre verweist in diesem Zusammenhang auf ein früheres Werk: Alasdair MacIntyre, A Short History of Ethics: A History of Moral Philosophy from the Homeric Age to Twentieth Century, New York: Macmillan, 1966. Die andere betrifft das Wesen der Untersuchungen von menschlichen Handlungen und Leidenschaften. In beiden Bereichen bewegte ihn zudem die zunehmende Einsicht in die großen Unzulänglichkeiten des Marxismus. Und schließlich erkannte er, dass es, um diese Kritik entwickeln zu können, unerlässlich war, selbst einen moralischen und sozialen Standpunkt zu beziehen, den zu entfalten es wiederum zehn Jahre brauchte, in denen er After Virtue verfasste.

6.3.1.1 Sieben zentrale Thesen

In After Virtue werden sieben zentrale Thesen aufgestellt, die, um einen ersten Eindruck und Überblick zu ermöglichen, zunächst in sehr gedrängter Form in enger Anlehnung an The Claims of After Virtue vorgestellt werden sollen. Anschließend erfolgt eine, für ein rechtes Verständnis zweifellos unerlässliche, ausführlichere Darstellung und Erläuterung der Thesen und des Gedankengangs von After Virtue im umfassenden Kontext des Buches.

Also zunächst die sieben zentralen Thesen als Vorausblick in geraffter Form:

(1) Durch eine historische Entwicklung von katastrophalen Ausmaßen wird in der modernen Gesellschaft und Kultur die Moral ihrer rationalen Grundlagen beraubt, so dass es zu Meinungsverschiedenheiten über zentrale moralische Fragen kommt, die unlösbar sind, da die jeweiligen Antworten auf inkommensurablen Argumentationsweisen basieren. Moralische Urteile werden durch ihre Ablösung von den theoretischen und sozialen Kontexten, in denen sie ursprünglich entwickelt und rational gerechtfertigt wurden, zum bloßen Ausdruck von subjektiven Haltungen und Gefühlen. Von manchen Moralphilosophen wird dieser Gebrauch des moralischen Diskurses fälschlich zu einer Theorie der Moral verallgemeinert und als Emotivismus bezeichnet – ein Ausdruck, den MacIntyre seinerseits lediglich zur Beschreibung der spezifisch modernen moralischen Verfassung aufgreift.

(2) Eine wesentliche Ursache für die katastrophale Entwicklung ist das Scheitern des Projektes der Aufklärung, die vermeintlich diskreditierte traditionelle Moralität durch eine säkulare Moralität zu ersetzen, die von jeder vernünftigen Person anerkannt zu werden verdiente. Von den verschiedenen Versuchen einer solchen rationalen Begründung vor allem in kantianischer oder utilitaristischer Gestalt blieben, durch deren Misslingen bedingt, sich gegenseitig widersprechende moralische Positionen übrig, die gleichwohl eine rationale Rechtfertigung für sich in Anspruch nahmen und die Ansprüche ihrer jeweiligen Rivalen bestritten. Da die Vernunft sich offenkundig als unfähig erwies, diese Debatten zu schlichten, erstarkten antirationale Positionen wie der Emotivismus.

(3) Zudem kamen dadurch in der weiteren Kultur moralische Begriffe in Umlauf, die, ihrer vormaligen rationalen Begründung beraubt, nur noch den Anschein mit sich führen, auf einer vernünftigen Grundlage zu beruhen, und daher in den Dienst von allerlei Interessen gestellt werden können, die allerdings verschleiert werden. Zu diesen Begriffen, die somit zu nützlichen Fiktionen verkommen, gehören so zentrale Konzepte wie das der Menschenrechte und der Nützlichkeit oder Wohlfahrt. In einer solchen moralischen Kultur werden die Beziehungen zwischen den Menschen zu rein manipulativen, die überdies durch die modernen Apparate der Bürokratie und des Managements unter der legitimatorischen moralischen Fiktion der Effektivität verwaltet werden.

(4) Wie kein zweiter hat Nietzsche diesen Verfall der Moral zu einem Maskenspiel im Dienste von Interessen und Machtbestrebungen erkannt. Dabei hat er indes das Verständnis dieser spezifischen historischen Entwicklung zu einer universellen Genealogie der Moral verallgemeinert. Es gab jedoch einen spezifischen Irrtum, der dem Scheitern des Projekts der Aufklärung zugrunde liegt, den Nietzsche nicht erkannte, nämlich die Verwerfung der aristotelischen Ethik und Politik. So sieht MacIntyre die gegenwärtige Moralphilosophie mit zwingender Konsequenz vor die Alternative gestellt: Nietzsche oder Aristoteles?

(5) Im zweiten Teil von After Virtue wird auf der Grundlage einer Darstellung der Geschichte verschiedener Konzeptionen der Tugenden vom archaischen Griechenland bis ins europäische Mittelalter der Versuch unternommen, einen Begriff der Tugenden zu entfalten, der in drei Schritten erfolgt. Tugenden sind erstens alle diejenigen Qualitäten, ohne die Menschen die Güter, die Praktiken (practices) intern sind, nicht erreichen können; Tugenden sind zweitens die Qualitäten, die erforderlich sind, um die Güter zu erlangen, die dem Leben eines Menschen seinen telos (Sinn, Zweck) verleihen, was wiederum nicht möglich ist, ohne dass diesem Leben eine gewisse einheitliche narrative Struktur zukommt; und Tugenden sind drittens die Qualitäten, die erforderlich sind, um soziale Traditionen in guter Verfassung aufrechtzuerhalten und zu bewahren.

(6) Die Verwerfung und Aufgabe der aristotelischen und christlichen Tradition der Tugenden im Spätmittelalter bereitete dem Projekt der Aufklärung den Weg. Dadurch konnte sich durch die Wiederbelebung ursprünglich stoischer Begriffe der Tugend, nun im Singular, ein Tugendbegriff durchsetzen, der insbesondere in seiner kantischen Gestalt soziales Leben und philosophische Theorie durchdringend beeinflussen konnte. Nunmehr ist die Zeit nach der Tugend (after virtue) angebrochen, in der in der allgemeinen moralischen Kultur weder Tugenden noch Tugend von zentraler Bedeutung und unlösbare Debatten vorherrschend sind.

(7) Die siebte These sei abschließend in MacIntyres eigenen Worten wiedergegeben:

Ich argumentiere an verschiedenen Stellen im Buch, dass, obgleich die Verwerfung der aristotelischen Ethik und Politik unter den historischen Umständen, die in und nach dem Spätmittelalter hervorgerufen wurden, verständlich ist, sie niemals als berechtigt aufgewiesen werden konnte. Und ich ziehe den Schluss, dass der moralische Aristotelismus, wenn er recht verstanden wird, von der Art von Kritik, die Nietzsche mit Erfolg gegen Kant wie auch die Utilitaristen gerichtet hat, nicht untergraben werden kann. Ich ziehe daher den Schluss, dass Aristoteles gegen Nietzsche bestätigt ist, und überdies, dass nur eine Geschichte der ethischen Theorie und Praxis, die von einem aristotelischen und nicht von einem nietzscheanischen Standpunkt aus geschrieben ist, uns befähigt, die Natur der moralischen Verfassung der Modernität zu verstehen.Alasdair MacIntyre, The Claims of After Virtue, in: Analyse & Kritik, Band 6, Nr. 1, 1984, S. 3-7, hier S. 6, siehe die Website der Zeitschrift: http://www.analyse-und-kritik.net/HeftDetails.php?AusgabeID=62; wieder veröffentlicht in: Kelvin Knight (Hg.), The MacIntyre Reader, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1998, S. 69-72, S. 72.

6.3.2 Gedankenexperiment und Katastrophe der Moral

6.3.2 Gedankenexperiment und Katastrophe der Moral Yusuf Kuhn

MacIntyre beginnt die negative Seite seiner Kritik und damit den ersten Teil von After Virtue, der die Kapitel 1-9 umfasst, mit einer Geschichte und einer Hypothese unter dem Titel Ein beunruhigendes Gedankenexperiment, mit dem das erste Kapitel überschrieben ist. Die Geschichte malt in einem »beunruhigenden Gedankenexperiment« eine imaginäre Welt aus, in der die Naturwissenschaften »das Opfer der Auswirkungen einer Katastrophe« (13)Diese wie auch die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Alasdair Macintyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995. geworden sind. Die Naturwissenschaften werden für Umweltschäden verantwortlich gemacht. Schließlich ergreift »eine politische Bewegung des Nichts-Wissens die Macht« (13) und schafft die wissenschaftlichen Institutionen und Praktiken ab, die sodann in Vergessenheit geraten. Als sich eine Gegenbewegung erhebt, um sie wiederzubeleben, verfügt sie nur noch über einige Fragmente, die aus dem sinnstiftenden Kontext herausgebrochen sind. So werden die alten Wörter zwar wieder verwendet, haben aber durch den Verlust des theoretischen und praktischen Zusammenhangs in dem neu geschaffenen Rahmen »mit Naturwissenschaft in irgendeinem vernünftigen Sinn« (14) überhaupt nichts mehr zu tun. Da viele ihrer Grundlagen verlorengegangen sind, unterliegt ihre Verwendung nun einem hohen Maß an Willkür und Beliebigkeit, was wiederum subjektivistischen Wissenschaftstheorien Vorschub leistet. Da die gesamte Kultur von dieser Zerrüttung erfasst ist, wird sie selbst blind für diesen Verfall. So kann etwa die analytische Philosophie, die im wesentlichen deskriptiv vorgeht, auch im Hinblick auf die Sprache, »die Tatsache der Verwahrlosung« (14) nicht aufdecken.

Im Anschluss an diese Geschichte legt MacIntyre nun seine Hypothese dar:

Die Hypothese, die ich aufstellen möchte, lautet, daß in der Welt, in der wir heute leben, die Sprache der Moral ebenso verwahrlost ist wie die Sprache der Naturwissenschaft in dieser imaginären Welt. Wenn das zutrifft, besitzen wir heute nur noch Bruchstücke eines Begriffsschemas, Teile ohne Bezug zu jenem Kontext, der ihnen ihre Bedeutung verliehen hat. Wir besitzen in Wahrheit nur Scheinbilder der Moral, und wir gebrauchen weiterhin viele ihrer Schlüsselbegriffe. Aber wir haben zu einem großen Teil, wenn nicht sogar völlig, unser Verständnis, theoretisch wie praktisch, oder unsere Moral verloren. (15)

Diese Hypothese wird freilich auf starke Widerstände stoßen, da die moralische Sprache weiterhin verwendet wird und eben dies ein wichtiger Bestandteil des Bildes ist, das sich die Mitglieder dieser Kultur von sich selbst machen. Zudem ist die Katastrophe als solche unter diesen Bedingungen kaum mehr zu erkennen. Dafür wäre eine grundsätzliche Änderung der Sichtweise erforderlich, die indes nur sehr schwer zu erreichen ist, zumal die akademische Philosophie und Geschichtsschreibung dabei nicht weiterhelfen.

Doch das Verstehen der Geschichte könnte, wie im Bild von der imaginären Welt, einen Ausweg bieten, eine Geschichte des Niedergangs von der Blüte über die Katastrophe bis zum unzulänglichen Versuch einer Wiederherstellung. Das kann indes eine wertfreie Schilderung von Ereignissen nicht leisten. Eine Geschichtsschreibung, die dies leisten können soll, muss vielmehr auf Wertmaßstäben basieren, die über Scheitern oder Gelingen, verwahrlosten oder wohlgeordneten Zustand allererst zu urteilen erlauben. MacIntyre bezeichnet eine solche Herangehensweise als »philosophische Geschichte« (15-16) und begibt sich in deren Rahmen auf die Suche nach Belegen für die Hypothese über den Zustand der modernen Moral.

Obschon MacIntyre Pessimismus und Verzweiflung nicht das Wort reden will, gibt er sich keinen Illusionen hin, da es »in einem so verhängnisvollen Zustand […] keine großen Mittel mehr dagegen gibt« (18) – aber doch wohl das Mittel der Analyse in der Art einer philosophischen Geschichte, die an der moralischen Sprache ansetzen kann, die weiterhin in Verwendung ist.

So schließt MacIntyre das erste Kapitel mit folgendem Ausblick:

Ich kann selbstverständlich nicht abstreiten, und meine These beinhaltet das ja auch, daß die Sprache und das Erscheinungsbild der Moral weiterhin existieren, auch wenn der Grundgehalt der Moral in erheblichem Umfang aufgebrochen und teilweise zerstört worden ist. Deshalb bildet es keinen Widerspruch, wenn ich kurz die gegenwärtigen moralischen Verhaltensweisen und Argumente ansprechen werde. Ich erweise der Gegenwart lediglich die Reverenz, ihr eigenes Vokabular zu benutzen, wenn ich über sie spreche. (18)

6.3.3 Moralischer Widerstreit und Emotivismus

6.3.3 Moralischer Widerstreit und Emotivismus Yusuf Kuhn

Damit leitet MacIntyre zu Kapitel 2 über, das den Titel trägt: Das Wesen moralischer Meinungsunterschiede heute und die Thesen des Emotivismus (19). Als eine Folge der Verwahrlosung und Inkohärenz der modernen Moral dienen moralische Äußerungen oftmals vor allem dem Ausdruck von Meinungsverschiedenheiten, die in Debatten münden, die sich als endlos und ausweglos erweisen. In der modernen Kultur scheint es keine Mittel zu geben, um auf vernünftige Weise zu einer Einigung zwischen den widerstreitenden moralischen Positionen zu kommen.

MacIntyre führt typische Beispiele für solche Debatten an, in denen die Parteien Argumente für ihre jeweiligen Standpunkte anführen, ohne dass es je zu einer Übereinstimmung kommt: zum Beispiel über die Berechtigung und Gerechtigkeit von Kriegen, über die moralische Legitimität und die Legalität der Abtreibung, über die staatliche oder private Organisation von Gesundheitsversorgung und Bildung.

Diese Debatten zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus, die ihnen gemeinsam sind:

(1) Inkommensurabilität: Die jeweiligen Argumente sind zwar in sich schlüssig, beruhen aber auf so radikal verschiedenen Prämissen, dass ihre Differenzen nicht durch rationale Argumente aufgelöst werden können. Zudem ergibt sich aus der Unmöglichkeit, andere mit Gründen von der eigenen Position zu überzeugen, leicht der beunruhigende Verdacht der Unbegründetheit der eigenen Position und damit das Gefühl mangelnder Rationalität und Willkür. Aus beiden Aspekten erklärt sich der oftmals zu beobachtende Umstand, dass bei moralischen Streitgesprächen scharfe Töne angeschlagen werden.

(2) Objektivität: Alle Parteien dieser Debatten stützen sich auf vermeintlich rationale und unpersönliche Argumente, welche die Existenz objektiver Normen unabhängig von Vorlieben und Einstellungen voraussetzen. Dies scheint im Gegensatz zu Willkür und Subjektivität im Dienste von Interessen ein Streben nach Rationalität zum Ausdruck zu bringen.

(3) Kontextlosigkeit: Die verwendeten Begriffe, mit oftmals völlig unterschiedlichen historischen Ursprüngen, werden von ihren praktischen und theoretischen Kontexten abgelöst, denen sie ihre ursprüngliche Bedeutung und Rechtfertigung verdanken. In vielen Fällen haben so zentrale moralische Ausdrücke wie Tugend, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Pflicht in den vergangenen Jahrhunderten eine starke Veränderung ihrer Bedeutung durchlaufen. Dies gerät nur allzu oft aus dem Blick.

Wenn diese Eigenschaften Symptome einer moralischen Unordnung sind, sollte es möglich sein, eine Geschichte des moralischen Diskurses zu schreiben, die solche Bedeutungsänderungen zu verstehen und zu zeigen erlaubt, dass ein moralisches Argument zu einem früheren Zeitpunkt von anderer Art war, also nicht zugleich und auf inkonsistente Weise als Ergebnis rationaler Überlegung und als bloß expressive Äußerung betrachtet werden kann. Ein großes Hindernis ist dabei die unhistorische Behandlung der Moralphilosophie als eine einzige Debatte mit einem gleichbleibenden Gegenstand unter Missachtung des kulturellen und sozialen Kontextes, im Gegensatz zu dem, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich ein vielgestaltiger, voranschreitender und allerlei Wandlungen durchlaufender Diskurs, an dem Philosophen in verschiedenen historischen Kontexten und Traditionen teilnehmen.

Aus den drei gemeinsamen Eigenschaften ergeben sich Fragen über die Verwendung der moralischen Sprache. Da sich aus der Erfahrung der Inkommensurabilität der Verdacht einstellt, dass die vermeintliche Wahrheit der jeweiligen Position lediglich relativ zu den verschiedenen Perspektiven ist und die vermeintlich objektiven Normen sich als subjektiv erweisen, drängt sich der Eindruck auf, dass die jeweiligen rationalen Argumente letztlich nichts anderes als willkürliche Konstrukte sind, die nur dazu dienen, bereits getroffenen irrationalen Entscheidungen den Anschein von Rationalität zu verleihen, und zwar im Dienste vorgegebener Interessen. MacIntyre bezeichnet diesen pragmatischen Gebrauch der moralischen Sprache als emotivistisch.

Damit bezieht er sich auf die Theorie des Emotivismus, die allerdings auch einen scharfen Einwand gegen seine These und insbesondere seinen Versuch, eine philosophische Geschichte des Verfalls des moralischen Diskurses zu schreiben, beinhaltet. Denn dass moralische Debatten rational ausweglos und endlos sind, ist dem Emotivismus zufolge keine historisch entstandene und kontingente Eigenschaft der modernen Kultur, sondern vielmehr auf das Wesen moralischer Fragen selbst zurückzuführen, da diese an sich gänzlich außerhalb der Sphäre der Rationalität angesiedelt sind. Dieser Auffassung zufolge ist also nicht nur die moderne, sondern jede moralische und darüber hinaus jede wertende Argumentation notwendigerweise rational unlösbar. MacIntyre erläutert:

Der Emotivismus lehrt, daß alle wertenden Urteile oder genauer alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen sind, soweit sie ihrem Wesen nach moralisch oder wertend sind. […] moralische Urteile sind als Ausdruck von Haltungen oder Gefühlen weder richtig noch falsch; und Übereinstimmung bei moralischen Urteilen läßt sich durch keine rationale Methode erreichen, da es keine gibt. Wenn überhaupt, kann Übereinstimmung nur dadurch erreicht werden, daß ein bestimmter nichtrationaler Einfluß auf die Empfindungen oder Haltungen derjenigen ausgeübt wird, deren Urteil abweicht. Wir gebrauchen moralische Urteile nicht nur, um unsere eigenen Gefühle und Haltungen auszudrücken, sondern auch, um solche Wirkungen auch bei anderen hervorzubringen. (26-27)

Der Emotivismus ist eine Theorie über die Bedeutung von Sätzen, in denen wertende, insbesondere moralische Urteile gefällt werden. Sie wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem von C. L. Stevenson und anderen Schülern von G. E. Moore entwickelt. Dieser Theorie zufolge bedeutet beispielsweise der Satz »Dies ist gut« in etwa »Ich stimme dem zu; mach es ebenso«. Somit dient das wertende oder moralische Urteil sowohl dem Ausdruck der Haltung des Sprechers, als auch der Beeinflussung des Verhaltens des Hörers.

MacIntyre legt allerdings dar, dass der Emotivismus als Theorie der Bedeutung wertender Sätze aus verschiedenen Gründen scheitert. Doch diese falsche Theorie der Bedeutung lässt sich gleichwohl als Theorie des Gebrauchs unter spezifischen Bedingungen auslegen:

Der Emotivismus hat den Anspruch, wie wir gesehen haben, eine Theorie der Bedeutung von Sätzen zu sein. Aber der Ausdruck von Gefühlen oder Haltungen ist bezeichnenderweise keine Funktion der Bedeutung von Sätzen, sondern von deren Gebrauch bei bestimmten Gelegenheiten. (28)

Moralische Sätze werden in der Tat oftmals gebraucht, um willkürliche Entscheidungen und subjektive Präferenzen zum Ausdruck zu bringen sowie um andere in ihrem Sinne zu manipulieren. MacIntyre vertritt die Auffassung, dass dies eine treffliche Beschreibung des Gebrauchs der moralischen Sprache in der gegenwärtigen Kultur ist, die in diesem Sinne zutiefst emotivistisch ist. Er begibt sich sodann ziemlich eingehend auf die Spuren der Geschichte des Emotivismus, der als eigenständige Theorie der Bedeutung in einem bestimmten Kontext in Cambridge entstanden ist, aber auch in anderen historischen Epochen zu finden ist und als Antwort auf das Scheitern der Suche nach einer rationalen Begründung für vermeintlich objektive und unpersönliche moralische Ansprüche entsteht. MacIntyre stellt dazu fest:

So verstanden erweist sich der Emotivismus eher als eine zwingende Theorie des Gebrauchs denn als eine falsche Theorie der Bedeutung, gebunden an ein bestimmtes Stadium der moralischen Entwicklung oder des moralischen Niedergangs, ein Stadium, in das unsere eigene Kultur zu Beginn des jetzigen [zwanzigsten] Jahrhunderts getreten ist. (34)

Zudem impliziert der Emotivismus die Behauptung, dass alle historischen Versuche, eine solche rationale Rechtfertigung zu liefern, gescheitert sind. Die Unterscheidung zwischen Theorie der Bedeutung und Theorie des Gebrauchs ermöglicht es indes, die Tatsache des emotivistischen Missbrauchs der moralischen Sprache anzuerkennen und zugleich zurückzuweisen, wobei freilich die Begründung und Bestätigung wertender Urteile in der emotivistischen Kultur den Zugang zu Kriterien erfordert, die nicht willkürlich sind, sondern sich vernünftig begründen lassen.

Wenn der Emotivismus zutrifft, dann ist die moralische Sprache höchst irreführend. Denn einer Aussage wie »Das ist schlecht!« haftet doch ein anderer Anspruch auf Geltung an als der Aussage »Ich stimme dem nicht zu; mach es ebenso!«, da erstere gleichwohl von einem wie auch immer ausgedünnten Bezug auf eine objektive und unpersönliche Norm zehrt. Dieser Bezug würde erst dann völlig verlorengehen, wenn der Emotivismus gemeinhin für wahr gehalten würde. Daraus ergäben sich freilich sehr weitreichende Konsequenzen, die MacIntyre folgendermaßen andeutet:

Das heißt, wenn und insoweit der Emotivismus recht hat, dann ist die moralische Sprache in höchstem Maße irreführend und dann müßte auch der Gebrauch der traditionellen und ererbten moralischen Sprache eigentlich aufgegeben werden. Diesen Schluß zog keiner der Emotivisten; und es ist auch klar, daß sie, wie Stevenson, versäumten, ihn zu ziehen, weil sie ihre eigene Theorie fälschlicherweise als Theorie der Bedeutung auslegten. (36)

Emotivismus und Täuschung sind nicht voneinander zu trennen, zumindest solange die überkommene moralische Sprache weiter verwendet wird. Dies ist von entscheidender Bedeutung für MacIntyres in Auseinandersetzung mit dem Emotivismus entwickelte These, wie er deutlich herausstellt:

Denn eine Möglichkeit, meinen Streitpunkt, daß die Moral nicht mehr das ist, was sie einmal war, zu fassen, besteht darin zu erklären, daß die Menschen heute in erheblichem Umfang so denken, sprechen und handeln, als wäre der Emotivismus wahr, gleichgültig was ihr erklärter theoretischer Standpunkt ist. Der Emotivismus ist in unsere Kultur eingegliedert worden. (39)

Damit ist indes auch gesagt, dass die Moral zum großen Teil verschwunden ist, was einen Rückschritt und schweren kulturellen Verlust darstellt. Aus dieser Entwicklung leitet MacIntyre zwei Aufgaben ab. Die erste besteht darin, die verlorene Moral näher zu bestimmen und ihre Ansprüche auf objektive und vernünftige Geltung zu prüfen. Die zweite Aufgabe beschreibt er, das dritte Kapitel abschließend, folgendermaßen:

Die zweite Aufgabe besteht darin, meine Behauptung über den besonderen Charakter der Neuzeit zu beweisen. Denn ich habe erklärt, daß wir in einer besonders emotivistischen Kultur leben, und wenn dem so ist, müßten wir eigentlich entdecken, daß sehr viele unserer Begriffe und Verhaltensweisen - und nicht nur unsere expliziten moralischen Debatten und Urteile - die Wahrheit des Emotivismus voraussetzen, wenn nicht auf der Ebene selbstbewußten Theoretisierens, dann doch wenigstens im täglichen Leben. Aber ist dem so? (40)

6.3.4 Emotivismus und gesellschaftliche Wirklichkeit

6.3.4 Emotivismus und gesellschaftliche Wirklichkeit Yusuf Kuhn

Dieser Frage wendet sich MacIntyre im folgenden Kapitel 3 zu, das den Titel trägt: Emotivismus: Sozialer Inhalt und sozialer Kontext. Den Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass jede Moralphilosophie, auch der Emotivismus, eine Soziologie voraussetzt. Mit dem Begriff der Soziologie wird hier die Weise bezeichnet, in der die Moralphilosophie ihre mögliche Umsetzung in die gesellschaftliche Wirklichkeit sowie insbesondere den Begriff des Handelns und des Handelnden versteht. MacIntyre erläutert dies folgendermaßen:

Denn jede Moralphilosophie liefert explizit oder implizit zumindest teilweise eine Begriffsanalyse der Beziehungen zwischen einem Handelnden und seinen Beweggründen, Motiven, Absichten und Handlungen, und indem sie das tut, setzt sie generell voraus, daß diese Begriffe in die wirkliche soziale Welt eingefügt sind oder zumindest sein können. (41)

Der Emotivismus, im Lichte seines sozialen Gehalts betrachtet, reduziert den Handelnden auf ein losgelöstes und entleertes Selbst mit einem »gewissen abstrakten und geisterhaften Charakter« (53), das aller Kriterien zur Beurteilung seiner somit völlig willkürlichen Entscheidungen beraubt ist, und führt zur Auflösung »jeder echten Unterscheidung zwischen manipulativen und nicht-manipulativen sozialen Beziehungen« (41). Die gesellschaftlichen Anderen sind stets Mittel, niemals Zweck. Der Gesprächspartner wird nicht als vernünftiges Wesen erachtet, das mit Gründen zu überzeugen ist, sondern als Objekt, das mittels manipulativer Beeinflussung zu überreden ist. Denn die Unterscheidung zwischen vernünftiger Überzeugung und bloßer Überredung verliert jeglichen Halt und wird trügerisch, wenn eine wertende Äußerung keinen anderen Sinn hat, als einerseits die eigenen Gefühle und Haltungen zum Ausdruck zu bringen und andererseits auf Veränderungen der Gefühle und Haltungen anderer hinzuwirken. Der moralische Diskurs stellt dann nichts anderes dar als den »Versuch eines Willens, die Haltungen, Gefühle, Vorlieben und Entscheidungen eines anderen mit den eigenen in Einklang zu bringen.« (42) Auf Maßstäbe normativer Vernunft und objektive Kriterien kann man sich nicht berufen, wenn es diese schlicht nicht gibt. Die unausweichliche Folge des Emotivismus ist daher die Selbstzerstörung von Moral und Ethik.

Das ist die allgemeine Antwort auf die Frage, wie sich eine Gesellschaft, durch die emotivistische Brille betrachtet, darstellen würde. Unterschiede ergeben sich sodann durch bestimmte soziale Kontexte. Dabei sind für MacIntyre soziale Rollen von besonderer Bedeutung, die eine Kultur mit moralischen Vorstellungen versorgen und die er als Charaktere bezeichnet. Die Charaktere in einer emotivistischen Kultur teilen die Aufhebung der Unterscheidung zwischen manipulativen und nicht-manipulativen sozialen Beziehungen sowie die Unterscheidung zwischen rationalem und nicht-rationalem Diskurs und verkörpern diese Vorstellungen in verschiedenerlei sozialen Kontexten.

6.3.4.1Ästhet, Manager und Therapeut

Die drei wichtigsten sozialen Charaktere der emotivistischen Kultur sind laut MacIntyre der reiche Ästhet, der Manager und der Therapeut, die ausführlich beschrieben werden. Da es für sie keinen rationalen Diskurs über moralische Fragen geben kann, Konflikte zwischen Werten sich also nie durch vernünftige Argumentation lösen lassen, begeben sie sich freilich nie in ernsthafte moralische Debatten mit anderen. Für sie zählt einzig die willkürliche Entscheidung, die durch moralische Kriterien nicht in Frage gestellt werden kann und schlicht durchgesetzt werden muss. Der einzige Maßstab ist der Erfolg bei ihren Bemühungen, andere zu Handlungen und Haltungen zu veranlassen, die den von ihnen vorgegebenen Plänen und Zwecken entsprechen. Der moralische Instrumentalismus mit seinen rein manipulativen Bestrebungen triumphiert, indem er kein anderes Kriterium als die effektive Wirksamkeit erlaubt.

Der Ästhet bedient sich der anderen in ruhelosem Streben nach Lustgewinn zu seinem eigenen Vergnügen. Der Manager bewegt sich in bürokratischen Komplexen in Form sowohl privater Gesellschaften als auch staatlicher Behörden und verfolgt die Realisierung vorgegebener Zwecke mit knappen Mitteln im Rahmen bürokratischer Rationalität; Effektivität ist sein Zauberwort. Der Therapeut vertritt die instrumentelle Vernunft im Bereich des persönlichen Lebens, indem er im Rahmen vorgegebener Ziele Techniken zur »wirksamen Umwandlung neurotischer Symptome in gelenkte Energie, fehlangepaßter Individuen in richtig angepaßte« (50) an menschlichen Objekten zur manipulativen Anwendung bringt; psychologische Effektivität ist sein Leitstern.

MacIntyre führt dazu aus:

Weder der Manager noch der Therapeut beteiligen sich in ihrer Rolle als Manager beziehungsweise Therapeut an der moralischen Debatte. Sie werden von sich selbst und von denen, die sie praktisch mit den gleichen Augen sehen, als unanfechtbare Figuren betrachtet, die sich angeblich auf die Bereiche beschränken, in denen rationale Übereinstimmung möglich ist - das sind, selbstverständlich aus ihrer Sicht, der Bereich der Tatsachen, der Bereich der Mittel und der Bereich der meßbaren Wirksamkeit. (50)

6.3.4.2Das moderne Selbst

Das moderne Selbst geht allerdings nicht in den sozialen Rollen auf, sondern zeichnet sich vielmehr durch die Fähigkeit aus, diese und jede andere Rolle und Haltung nach Belieben einnehmen zu können. Denn es verfügt letztlich über keine Kriterien für seine Urteile, so dass ihm alles zur willkürlichen Entscheidung wird. MacIntyre bemerkt dazu:

Das spezifisch moderne SelbstEigene Übersetzung; in der deutschen Ausgabe wird »The specifically modern self [...]« (After Virtue, S. 31) hier statt dessen übersetzt mit: »Das im eigentlichen modernen Selbst (sic!) [...]«., das Selbst, das ich emotivistisch genannt habe, kennt keine Grenzen für das, worüber es urteilen könnte, denn derartige Grenzen könnten sich nur aus rationalen Berwertungskriterien (sic!)Richtig wäre freilich: »Bewertungskriterien«. herleiten, und dem emotivistischen Selbst fehlen, wie wir gesehen haben, alle derartigen Kriterien. Alles kann von jedem Standpunkt aus, den das Selbst eingenommen hat, kritisiert werden, auch die Wahl des Standpunktes, den das Selbst einnimmt. (51)

Dieses entleerte, jeglichen Inhalts und aller Identität beraubte Selbst der emotivistischen Kultur haben allerdings einige moderne Philosophen – analytische wie existentialistische - »als das Wesen moralischen Handelns betrachtet.« (51) Dieses Selbst ist aus allen sozialen Bezügen herausgelöst und dazu verdammt, seine Urteile ohne jeglichen Anhaltspunkt »von einem rein uni­versellen und abstrakten Standpunkt aus zu fällen« (52). Hier wird der Gegensatz zwischen dem moralischen Handeln, das keinerlei rationalen Kriterien unterliegt, und dem instrumentellen Handeln der Manager und Therapeuten, das an rationalen Kriterien der Effizienz gemessen wird, offenkundig.

MacIntyre beschreibt diesen Gegensatz pointiert:

Im Reich der Tatsachen gibt es Verfahren, Meinungsunterschiede zu beseitigen; im Reich der Ethik wird die Unüberwindbarkeit von Meinungsunterschieden durch den Titel »Pluralismus« geadelt. Dieses [...] Selbst, das keinen notwendigen sozialen Inhalt und keine notwendige soziale Identität hat, kann jede Rolle annehmen oder jeden Standpunkt beziehen, weil es für sich genommen nichts ist. (52)

Da das emotivistische Selbst keine letzten Kriterien hat, kann es auch keine rationale Geschichte für Entwicklung und Wandel seiner Auffassungen von moralischer Verpflichtung haben. Innere Konflikte müssen ihm als völlig willkürliche Entgegensetzungen konkurrierender Positionen erscheinen. Das Selbst verliert damit jede Kontinuität und Identität, die ihm allererst erlauben würden, sein Leben als sinnvolles Ganzes zu erfassen.

In vormodernen Gesellschaften war die persönliche Identität auch durch die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und Rollen bestimmt. Und das Leben wurde als Einheit betrachtet, das im Tod als telos (Ziel) des Lebens Abschluss und Erfüllung finden kann. Die Auflösung dieser Vorstellungen führt zur Herausbildung des modernen Individuums, wobei dieser Prozess nicht als Verlust empfunden wird, sondern als Befreiung von sozialen Zwängen einerseits und vom Aberglauben der Teleologie andererseits. Doch die für das emotivistische Selbst gewonnene Autonomie als Individuum ist erkauft um den Preis des Verlusts von Identität und Sinn des Lebens.

MacIntyre beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen:

[…] das eigentlich moderne Selbst, das emotivistische Selbst, [verlor] mit der Souveränität in seinem eigenen Reich seine traditionellen Grenzen [...], die durch die soziale Identität und die Sichtweise des einem bestimmten Ziel zugeordneten menschlichen Lebens gezogen worden waren. (55)

Diesem grenzenlosen emotivistischen Selbst stehen die sozialen Charaktere gegenüber, die in enge Strukturen instrumenteller Rationalität fest eingebunden sind. Diesem Gegensatz entspricht die Zweiteilung der Gesellschaft in den Bereich des Organisatorischen, in dem zwar die Mittel innerhalb, aber die Ziele außerhalb der Reichweite vernünftigen Denkens liegen, und den Bereich des Persönlichen, in dem Urteile und Erwägungen über Ziele und Werte zwar von größter Bedeutung sind, aber Probleme und Konflikte sich jeglicher rationalen Lösung entziehen.

Diese Zweiteilung prägt die modernen Gesellschaften, die gleichwohl beides in einem ständigen Wechselspiel miteinander verbinden. Denn es wäre falsch, sich durch die politischen Debatten auf der Oberfläche täuschen zu lassen, wie MacIntyre darlegt:

Solche Debatten werden oft im Sinne eines vermeintlichen Gegensatzes zwischen Individualismus und Kollektivismus geführt, die beide in einer Vielzahl doktrinärer Formen auftreten. Auf der einen Seite erscheinen die selbsternannten Vorkämpfer der individuellen Freiheit, auf der anderen die selbsternannten Vorkämpfer der Planung und Regulierung der Güter, die durch bürokratische Organisation verfügbar sind. Aber tatsächlich entscheidend ist das, worin sich die miteinander streitenden Parteien einig sind, daß uns nämlich nur zwei alternative Formen sozialen Lebens zur Verfügung stehen: eine, in der die freien und willkürlichen Wahlmöglichkeiten des einzelnen souverän sind, und eine, in der die Bürokratie so souverän ist, daß sie die freien und willkürlichen Wahlmöglichkeiten des einzelnen einschränken kann. […] So ist die Gesellschaft, in der wir leben, eine Gesellschaft, in der Bürokratie und Individualismus sowohl Partner als auch Gegner sind. Und im kulturellen Klima dieses bürokratischen Individualismus ist das emotivistische Selbst ganz selbstverständlich zu Hause. (55-56)

So ist die moderne Gesellschaft eine Ansammlung von losgelösten Individuen, die ohne Regeln für ihr individuelles Verhalten zugleich in bürokratische Apparate eingespannt sind, welche die Regellosigkeit der Eigeninteressen in das harte Gehäuse einer rationalen Verwaltung zwängen. Die Suche nach einem Ausgleich dieser Gegensätze kann sich aufgrund der beiderseitigen Irrationalität der Zwecke nicht auf einer vernünftigen Grundlage vollziehen.

Jenseits der Optionen für individuelle Autonomie und bürokratische Kontrolle gibt es keine Alternative. Die willkürlichen Zwecke der Individuen und der Apparate stehen sich rational unvermittelt und unvermittelbar gegenüber, so dass Debatten und Konflikte zwangsläufig ohne vernünftige Lösung bleiben und zu Fragen der Macht degenerieren müssen.

6.3.5 Das Projekt der Aufklärung zur rationalen Rechtfertigung der Moral

6.3.5 Das Projekt der Aufklärung zur rationalen Rechtfertigung der Moral Yusuf Kuhn

Im daran anschließenden vierten Kapitel mit dem Titel Die Kultur unserer Vorgänger und das Projekt der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral vertritt MacIntyre die Auffassung, dass die Entwicklungen der Sozialgeschichte, die zur geschilderten Wandlung der Moral und zur Herausbildung des emotivistischen Selbst geführt haben, vor allem Episoden der Geschichte der Philosophie sind. Nur durch diese Geschichte lässt sich der gegenwärtige Zustand des alltäglichen moralischen Diskurses verstehen. Denn die entscheidenden Veränderungen vollzogen sich in einer Zeit, da die Philosophie noch maßgeblichen Einfluss auf die Gesellschaft ausübte, im Gegensatz zur Gegenwart, da der Philosophie allenfalls ein akademisches Schattendasein neben den aus ihr hervorgegangenen und nun dominanten Wissenschaften zugestanden wird.

MacIntyre erkennt in dem Niedergang derjenigen Kultur, in der die Philosophie noch eine zentrale Rolle spielte, eine wesentliche Ursache für die modernen Verwerfungen, wenn er schreibt:

Ich werde weiterhin argumentieren, daß das Scheitern jener Kultur, ihre praktischen und gleichzeitig philosophischen Probleme zu lösen, einer und vielleicht der entscheidende Umstand war, der die Form unserer philosophischen wie auch praktischen sozialen Probleme bestimmt. (58)

Er verfolgt die Spuren dieser Entwicklung bis auf die Aufklärung zurück. Denn die Kultur des Emotivismus folgte auf das Scheitern des Aufklärungsprojekts der rationalen Rechtfertigung der Moral. Bei allen Unterschieden, welche die daraus hervorgegangenen Vorhaben zur Umsetzung dieses Projektes auszeichnen, teilen sie doch einen erstaunlich großen Kern von Annahmen und Überzeugungen.

Dass die Moralbegründung auf der Vernunft basieren sollte, heißt für alle diese Vorhaben, dass überkommene Theologie und Teleologie daraus zu verbannen sind. Der radikale Bruch in dieser Hinsicht ging allerdings einher mit einer überraschenden Kontinuität in der Frage des Inhalts und der Art der moralischen Normen, die als vorgegebener Bestand weitgehend aus der christlichen Tradition übernommen werden.

Und sie stimmen auch darin überein, wie eine vernünftige Begründung der Moral formal zu gestalten sei. Aus einigen Prämissen über die Eigenschaften der Natur des Menschen sollten moralische Regeln begründet und abgeleitet werden, indem diejenigen Regeln ausgezeichnet werden, die ein Wesen mit einer solchen Natur für sich wählen und einhalten müsste.

Die Kultur der Aufklärung brachte mit der Verwerfung jeglicher Verankerung der Moral in göttlichen Geboten und einem bestimmen Sinn (telos) des menschlichen Lebens eine Moralphilosophie hervor, die Moralität von allen anderen Bereichen, mit denen sie bislang verknüpft war, abspaltete. Dadurch entsteht allererst der Bereich des Moralischen als unabhängige Sphäre, die für die moderne Moral so charakteristisch ist, wie MacIntyre anschaulich beschreibt:

Wir sind so daran gewöhnt, Urteile, Argumente und Taten in moralischen Kategorien zu klassifizieren, daß wir ganz vergessen, wie relativ neu diese Vorstellung in der Kultur der Aufklärung war. (59)

Das moderne Wort moralisch kommt überhaupt erst ab dem siebzehnten Jahrhundert allmählich in Gebrauch. Weder im Altgriechischen noch im Lateinischen gibt es bezeichnenderweise eine passende Entsprechung. MacIntyre verortet den Ursprung dieses Ausdrucks in der Epoche »etwa zwischen 1630 und 1850« (60), in der das Wort Moral zur Bezeichnung eines besonderen Bereichs wurde, indem das Moralische immer strikter vom Religiösen, Rechtlichen und Ästhetischen getrennt wurde.

Im gleichen Zuge stieg das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral zu einem zentralen Anliegen der modernen Kultur auf. Diese durch die Aufklärung geprägte Kultur war der Vorläufer, auf den der Emotivismus eine Reaktion darstellt. MacIntyre hebt hervor:

Es ist eine der grundlegenden Thesen dieses Buches, daß das Scheitern dieses Projekts den historischen Hintergrund lieferte, vor dem die mißliche Lage unserer eigenen Kultur verständlich werden kann. (61)

MacIntyre beleuchtet nun diesen historischen Hintergrund, indem er die Geschichte des Aufklärungsprojektes ausführlich und im Rückgang, ausgehend vom modernen Standpunkt in seiner voll entwickelten Form schildert. Die Stationen des Weges, den er dabei abschreitet, sind vor allem Kierkegaards Enten-Eller (Entweder-Oder), Kants moralphilosophische Werke, Diderots Le Neveu de Rameau (Rameaus Neffe) und Humes Treatise of Human Nature (Traktat über die menschliche Natur).

Den Ausgangspunkt bildet die moderne Auffassung des moralischen Diskurses als einer endlosen und unlösbaren Debatte zwischen inkommensurablen Prämissen, wobei die moralische Verpflichtung als das Ergebnis einer Entscheidung für eine beliebige Position ohne rationale Kriterien erscheint. Von hier aus vollzieht MacIntyre den ersten Schritt zurück in der philosophischen Geschichte:

Dieses Element der Willkür in unserer moralischen Kultur wurde als philosophische Entdeckung – ja als Entdeckung beunruhigender, sogar schockierender Art – vorgetragen, lange bevor es zu einem Allgemeinplatz im alltäglichen Diskurs wurde. Diese Entdeckung wurde sogar zuerst mit genau der Absicht, die Teilnehmer des alltäglichen moralischen Diskurses zu schockieren, in einem Buch vorgelegt, das Ergebnis und zugleich Nachruf auf den systematischen Versuch der Aufklärung war, eine rationale Rechtfertigung der Moral zu finden. (61)

Dieses Buch ist Kierkegaards Entweder-Oder, das schon im Titel offensichtlich vor eine radikale Wahl stellt, und zwar zur Wahl zwischen zwei gegensätzlichen Lebensweisen, von denen der moralisch Handelnde sich für eine entscheiden muss: entweder die ethische Lebensweise oder die ästhetische Lebensweise. Und die Entscheidung ist insofern zutiefst grundsätzlich, da gar nicht zwischen Gut und Böse zu wählen ist, sondern vielmehr, ob überhaupt in Begriffen von Gut und Böse gewählt werden soll. Es steht also der moralische Standpunkt selbst in Frage.

Da es sich dabei um die Wahl zwischen Grundprinzipien handelt, für die keine weiteren Gründe angeführt werden können, ohne schon eine der beiden Positionen implizit vorauszusetzen, muss die Entscheidung grundlos bleiben. Steht jemand vor der Wahl zwischen ihnen, ohne schon eine von beiden eingenommen zu haben, kann ihm kein Grund genannt werden, warum er die eine der anderen vorziehen sollte. Es ist eine radikale, grundlose und letzte Wahl.

Zu den Konsequenzen dieser Vorstellung merkt MacIntyre folgendes an:

Dieser Gedanke zerstört die gesamte Tradition einer rationalen moralischen Kultur — falls er nicht selbst rational abgewehrt werden kann. (64; Hervorhebung im Original)Kursivierung nicht in der deutschen Ausgabe, wohl aber im englischen Original, siehe After Virtue, S. 41.

MacIntyre weist sodann auf die tiefe innere Inkonsistenz zwischen dem Begriff der radikalen Wahl und dem Begriff des Ethischen hin. Denn der Bereich des Ethischen beruht auf der Vorstellung, dass mit den moralischen Geboten eine gewisse Autorität einhergeht, die ihnen den verpflichtenden Charakter verleiht. Und die Autorität eines Prinzips leitet sich gewöhnlich von den Gründen her, die für seine Wahl sprechen. Nun gibt es aber für ein Prinzip, das einer willkürlichen Entscheidung entspringt, keine Gründe, also auch keine Autorität. Wer einem solchen Prinzip folgt, handelt völlig willkürlich und könnte ebenso gut jederzeit und nach Belieben wählen, das Prinzip aufzugeben. Das Prinzip selbst gehört daher wohl eher in den ästhetischen Bereich.

Damit ist der Widerspruch in Kierkegaards Lehre aufgezeigt. Und »falls das Ethische irgendeine Grundlage hat« (65), kann sie jedenfalls nicht durch den Begriff der radikalen Wahl geliefert werden. Damit scheitert Kierkegaards Versuch einer Grundlegung der Moral.

Bei aller Beliebigkeit der vermeintlichen Grundlage ist allerdings bemerkenswert, dass für Kierkegaard der Inhalt des Ethischen, den er bezeichnenderweise der überkommenen christlichen Moral entnimmt, völlig konservativ und traditionell ist. MacIntyre stellt dazu folgendes fest:

[...] Kierkegaard verbindet den Gedanken der absoluten Wahl mit einer nicht in Frage gestellten Konzeption des Ethischen. [...] Das zu erkennen heißt erkennen, daß Kierkegaard ein neues praktisches und philosophisches Fundament für eine ältere, ererbte Lebensanschauung liefert. Vielleicht ist es diese Kombination aus Neuem und Traditionen, die die Inkohärenz im Kern der Kierkegaardschen Position erklärt. Es ist, wie ich darlegen werde, sicher gerade diese zutiefst inkohärente Kombination aus Neuem und Ererbtem, die das logische Ergebnis des Projekts der Aufklärung ist, eine rationale Grundlage und Rechtfertigung der Moral zu liefern. (65-66)

Für Kierkegaards Konzeption der radikalen Wahl zwischen ethischer und ästhetischer Lebensweise bildet Kants Moralphilosophie mit ihrer radikalen Unterscheidung zwischen Pflicht und Neigung die »philosophische Kulisse« (66). Kierkegaards Begriff der Wahl als Grundlage des Ethischen kann als Reaktion auf das Scheitern von Kants Versuch, die Moral auf die Vernunft zu gründen, verstanden werden.

MacIntyre verweist darauf, dass Kant den Gehalt der Moral ebenfalls als gegeben betrachtet und ganz konservativ aus dem Erbe der christlichen Moral übernimmt, und beschreibt Kants Konzeption der Moralphilosophie äußerst prägnant in folgenden knappen Sätzen:

Im Mittelpunkt der Moralphilosophie Kants stehen zwei trügerisch einfache Thesen: wenn die Gesetze der Moral rational sind, müssen sie für alle rationalen Wesen gleich sein, genauso wie es die Gesetze der Arithmetik sind; und wenn die Gesetze der Moral für alle rationalen Wesen bindend sind, dann ist die mögliche Fähigkeit dieser Menschen, sie auszuführen, unwesentlich - wesentlich ist ihr Wille, sie auszuführen. Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral ist daher nur ein Projekt zur Entwicklung eines rationalen Tests, der die Maximen, die den Willen als wahrhaften Ausdruck des Sittengesetzes binden, von den Maximen unterscheidet, die dem Sittengesetz nicht auf diese Weise entsprechen. (66; Hervorhebung im Original)

Das Moralgesetz als vernünftiges gilt für alle vernünftigen Wesen, also nicht nur für die Menschen, sondern über die Menschen als bedingt vernünftige Wesen hinaus insbesondere für alle wahrhaft vernünftigen Wesen, welche die intelligible Welt bevölkern. Und es kommt gar nicht darauf an, ob Menschen das Moralgesetz in ihrem Handeln umsetzen können, sondern vielmehr einzig darauf, ob der Wille von Menschen als vernünftigen Wesen durch das Moralgesetz bestimmt wird oder werden kann.

MacIntyre geht jedoch auf die dieser kantischen Konzeption ganz unverhohlen zugrunde liegenden metaphysischen Annahmen, wie beispielsweise die Spaltung in die empirische Sinnenwelt (mundus sensibilis), der die wirklichen Menschen angehören, und die nicht-empirische Geisterwelt (mundus intelligibilis), in der vernünftige Wesen nach moralischen Gesetzen Umgang pflegen, fast gar nicht ein, ohne die sich indes diese Konzeption kaum verstehen lässt, sondern geht direkt über auf die Funktion des kategorischen Imperativs als Test der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit von Handlungsmaximen, die so auf ihre Übereinstimmung mit dem Sittengesetz hin geprüft werden sollen.

Da Kant die Moralphilosophie auf die Vernunft gründet, die kein ihr äußerliches Kriterium duldet und daher alles der Erfahrung Entstammende von sich fernhält, müssen das Streben nach Glück und göttliche Gebote streng von der Moralität geschieden werden, so dass die Regeln der Moral ohne Bezug auf einen Zweck oder äußeren Inhalt, also rein formal nach dem Prinzip der Universalisierbarkeit bestimmt werden müssen.

MacIntyre erläutert:

Es gehört zum Wesen der Vernunft, daß sie Grundsätze darlegt, die umfassend, kategorisch und in sich schlüssig sind. Eine rationale Moral wird daher Grundsätze aufstellen, die sich alle Menschen zu eigen machen können und sollten, ungeachtet der Umstände und Bedingungen, und die konsequent von jedem vernünftig Handelnden bei jeder Gelegenheit befolgt werden könnten. Die Prüfung einer aufgestellten Maxime ist also leicht zu formulieren: können wir wirklich wollen - oder können wir das nicht, daß immer alle danach handeln? (68; Hervorhebung im Original)

Kant lehnt mithin die zwei wichtigsten Arten der Grundlegung in der traditionellen Moralphilosophie ab. Die Ableitung eines Gebotes aus einem vorgegebenen Zweck einerseits, wie etwa dem Glück, kann nur zu einem bedingten Gebot führen, das lediglich hypothetische Geltung besitzen und damit nicht dem Anspruch der Vernunft auf unbedingte, kategorische Gültigkeit genügen kann. Und auch göttliche Gebote andererseits können dieser Anforderung nicht genügen, da nach Kant die Pflicht zu ihrer Befolgung von der weiteren Bedingung abhängig ist, dass immer zu tun geboten ist, was Gott befiehlt. Um die Frage nach dieser Bedingung zu beantworten, bedürfte es allerdings eines von Gottes Geboten unabhängigen moralischen Kriteriums zur Beurteilung der göttlichen Gebote, was freilich letztere überflüssig machen würde. Der Bereich des Moralischen muss demzufolge strengstens sowohl vom Bereich des Strebens nach Glück als auch vom Bereich der göttlichen Gebote geschieden werden.

MacIntyres Kritik richtet sich nun vor allem auf die Eignung dieses Tests zur Entscheidung über die Moralität von Maximen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass dieser Test als Auswahlkriterium nicht geeignet ist, da ihn auch der Moral offenkundig widersprechende Maximen überstehen.

So stellt MacIntyre folgendes fest:

Aber nicht nur, daß Kants eigene Argumente grobe Fehler enthalten, es ist auch ganz einfach zu erkennen, daß viele unmoralische und triviale, nicht moralische Maximen durch Kants Prüfung ebenso überzeugend und manchmal noch überzeugender unterstützt werden als die moralischen Maximen, die Kant unterstützen will. »Halte dein ganzes Leben alle Versprechen, bis auf eines«, »Verfolge alle, die falsche religiöse Überzeugungen haben« und »Iß im März am Montag immer Muscheln« bestehen die Prüfung Kants, denn sie alle können folgerichtig verallgemeinert werden. (69)

MacIntyre zeigt sodann auf, dass der kategorische Imperativ auch in einer anderen Formulierung keine Lösung des Problems darstellt, wie solche trivialen Maximen ausgeschlossen werden können:

Kant glaubte das, weil er meinte, daß seine Formulierung des kategorischen Imperativs im Sinne der Verallgemeinerbarkeit einer ganz anderen Formulierung entspreche: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«Das Kant-Zitat findet sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Siehe Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Band VII, Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main, 1982, S. 61. (69)

MacIntyre sieht darin einen moralischen Gehalt, der in der Forderung besteht, den anderen nicht zum bloßen Werkzeug des eigenen Willens zu degradieren, sondern in ihm seine Vernunft zu achten, nämlich mit ihm in eine rationale Beziehung durch den Austausch von Gründen zu treten. In dieser Absage an manipulative Beeinflussung zugunsten vernünftiger Überzeugung kommt der Gegensatz von Kants Moralphilosophie zum Emotivismus sehr deutlich zum Ausdruck. MacIntyre erkennt dies an, bringt aber sogleich folgenden Einwand vor:

Aber Kant nennt uns keinen guten Grund, diese Position einzunehmen. Ich kann mich ohne jede Inkonsistenz darüber hinwegsetzen: »Jeder außer mir soll als Mittel betrachtet werden« mag unmoralisch sein, aber es ist nicht inkonsistent, und es ist nicht einmal inkonsistent, eine Welt aus Egoisten zu wollen, die alle nach dieser Maxime leben. (70)

Und Kant kann letztlich keinen Grund nennen, da er sich durch die radikale Trennung der Moralität von einer praktischen Vernunft, die sich auf Zwecke wie das Streben nach Glück oder auf göttliche Gebote beziehen könnte, jeglicher Möglichkeit beraubt hat, einen Grund anzubieten, der tatsächlich zum entsprechenden Handeln motivieren könnte. Damit ist gewiss längst nicht alles zu Kants Moralphilosophie gesagt, die eine weit ausführlichere und gründlichere Behandlung verdienen würde, für die hier allerdings nicht der Ort ist.

MacIntyre konstatiert jedenfalls hiermit das Scheitern von Kants Versuch, die Moral auf die Vernunft zu gründen. Und wie Kierkegaards Begründung des Ethischen durch die radikale Wahl als ein Ersatz für Kants Vernunftbegriff verstanden werden kann, so Kants Berufung auf die Vernunft als Reaktion auf Diderots und Humes Versuch, die Moral auf Wunsch und Leidenschaft zu gründen, und dessen Scheitern.

Der Aufklärer Diderot verteidigt ebenfalls die konservativen Sittengesetze und vertritt die Ansicht, dass diese, wenn alle mit aufgeklärtem Blick ihre Wünsche auf lange Frist verfolgen, »im großen ganzen die Gesetze sind, die durch die Berufung auf ihre Grundlagen Wunsch und Leidenschaft gerechtfertigt werden.« (71) Doch welche Wünsche können als legitime Richtlinien für das Handeln anerkannt werden und welche nicht? Darauf kann es im Rahmen dieser Konzeption keine Antwort geben, denn die Wünsche sind dafür viel zu mannigfaltig und heterogen und Regelungen für die Ordnung der Wünsche können nicht selbst wieder von Wünschen abgeleitet werden. Daher scheitert auch Diderots Versuch.

Hume wiederum hat mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Da er in der Vernunft nur eine Sklavin der Leidenschaften sieht, können es nur letztere sein, die zum Handeln bewegen. Und er versteht moralische Urteile als Ausdruck von Leidenschaften und Gefühlen, wobei er gleichwohl erkennt, dass moralische Urteile sich auf allgemeine Gesetze berufen. Diesen Zwiespalt versucht er aufzuheben und die Regeln der Moral dadurch zu rechtfertigen, dass er ihre Nützlichkeit zum Erreichen der von den Leidenschaften aufgegebenen Ziele aufzeigt.

MacIntyre macht indes darauf aufmerksam, dass Hume bei seinem Versuch einer Begründung auf versteckte normative Kriterien zurückgreift, indem er aus der Vielfalt möglicher Leidenschaften diejenigen eines normalen oder vernünftigen Menschen herausgreift und damit lediglich die von ihm bevorzugten Normen hineinprojiziert.

Zudem weist MacIntyre auf eine weitere Schwierigkeit hin. Hume stellt fest, dass moralische Regeln nur im Dienste des langfristigen Interesses befolgt werden sollten, und wirft dann die Frage auf, warum es nicht gerechtfertigt sein sollte, »sie zu brechen, wann immer sie uns nicht nützten und der Bruch keine weiteren nachteiligen Folgen hätte.« (73) Durch diesen Mangel einer Begründung, die sich ausschließlich auf Interessen und Nützlichkeit stützt, sieht er sich schließlich genötigt, sich auf eine angeborene Triebfeder zur Uneigennützigkeit zu beziehen.

MacIntyre hält indes dagegen:

Es ist klar, daß Humes Berufung auf die Sympathie ein Einfall ist, der die Kluft überbrücken soll zwischen den Gründen, die ein bedingungsloses Festhalten an allgemeinen und uneingeschränkten Gesetzen unterstützen könnten, und den Gründen zum Handeln oder Urteilen, die sich aus unseren individuellen, schwankenden, umstandsbedingten Wünschen, Empfindungen und Interessen herleiten. Adam Smith sollte sich später auf die Sympathie für genau den gleichen Zweck berufen. Aber die Kluft ist selbstverständlich logisch nicht zu überbrücken, und »Sympathie«, wie Hume und Smith sie verwendet haben, ist die Bezeichnung einer philosophischen Fiktion. (73)

Hume geht bei seiner Argumentation von der Annahme aus, dass die Moral entweder der Vernunft oder den Leidenschaften entspringen muss. Und da er meint, gezeigt zu haben, dass es die Vernunft nicht sein kann, bleibt nur der Schluss auf die Leidenschaften. MacIntyre macht auf die folgenreiche Bedeutung solcher »negativer Argumente« (73) aufmerksam, deren Wirkung sich bei Kant und Kierkegaard nicht weniger deutlich zeigt, und stellt das Kapitel beschließend fest:

So wie Hume die Moral auf die Leidenschaften zu gründen sucht, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Vernunft zu gründen, so gründet Kant sie auf die Vernunft, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Leidenschaften zu gründen, und Kierkegaard gründet sie auf die kriterienlose, absolute Wahl aufgrund dessen, was er für das zwingende Wesen der Überlegungen hält, die sowohl die Vernunft wie die Leidenschaften ausschließen.

So beruhte die Bestätigung der jeweiligen Position in wesentlichen Teilen auf dem Scheitern der beiden anderen, und die wirksame Kritik jeder Position durch die anderen erwies sich unter dem Strich als Scheitern aller. Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral war eindeutig gescheitert; und seitdem fehlte der Moral der uns vorausgegangenen Kultur - und anschließend auch unserer eigenen - jede öffentliche, gemeinsame logische Grundlage oder Rechtfertigung. (73-74)

Da Theologie und Teleologie im aufgeklärten Denken ausgedient hatten, war diese Aufgabe der modernen Moralphilosophie zugefallen. Doch die Philosophie konnte ihr nicht gerecht werden. Ihr Scheitern trug wesentlich mit dazu bei, dass die Philosophie ihre zentrale Stellung verlor und marginalisiert wurde. Dieses Scheitern ergab sich aus den historischen Voraussetzungen mit zwingender Konsequenz.

6.3.6 Gründe für das Scheitern des Projekts der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral

6.3.6 Gründe für das Scheitern des Projekts der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral Yusuf Kuhn

MacIntyre wendet sich daher im folgenden Kapitel mit dem Titel Warum das Projekt der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral scheitern mußte ebendieser Frage zu. Seine Antwort besagt im wesentlichen, dass dieses Projekt wegen des Ausschlusses des teleologischen Denkens scheitern musste, da die sich daraus ergebende Konzeption der Moralität von unaufhebbaren inneren Widersprüchen zerrissen wird.

Die Vertreter der verschiedenen Vorhaben zur Realisierung dieses Projekts dürfen dabei »nicht als Teilnehmer an einer zeitlosen Moraldebatte«, sondern vielmehr vor »ihrem ganz speziellen, gemeinsamen historischen Hintergrund« (75) verstanden werden. Sie stimmen hinsichtlich Inhalt, Art der Begründung und Problemlage überein. Der Inhalt der Moral wird aus der Tradition der christlichen Moral weitgehend übernommen. Die Begründung soll sich auf Eigenschaften der menschlichen Natur beziehen. Und die Problemlage ergibt sich aus dem Anknüpfen an die überkommene Konzeption der Moral unter geschichtlich veränderten Bedingungen.

MacIntyre erläutert:

So haben all diese Autoren teil an dem Vorhaben, gültige Argumente aufzustellen, die von Prämissen über die menschliche Natur ausgehend, wie sie ihrem Verständnis nach ist, bis hin zu Schlußfolgerungen über die Autorität moralischer Vorschriften und Gebote führen. Ich möchte behaupten, daß jedes Vorhaben dieser Art scheitern mußte, weil ein unaufhebbarer Widerspruch bestand zwischen der ihnen gemeinsamen Konzeption moralischer Vorschriften und Gebote einerseits und der andererseits - trotz größerer Widersprüche - ihnen gemeinsamen Konzeption der menschlichen Natur. (76)

Die historischen Vorläufer dieser Konzeptionen waren in ihrer Grundstruktur vor allem geprägt durch die aristotelische Ethik, in der Moral und menschliches Handeln teleologisch begriffen werden. Moralität und deren Regeln werden als die Suche nach den besten Mitteln im Streben nach einem telos (Ziel) des menschlichen Lebens verstanden. Eine Handlung oder ein Wunsch kann in der aristotelischen und auch in der thomistischen Ethik danach beurteilt werden, ob er dem Streben nach dem Guten dient oder nicht.

Das telos wiederum ergibt sich im Rahmen einer solchen Ethik aus dem Begriff, dem Wesen des Menschen selbst, der aus seinem unvollkommenen Naturzustand zur vollen Entfaltung seines in ihm angelegten Wesens strebt, wobei die Ethik ihm den Weg der praktischen Umsetzung weist.

MacIntyre beschreibt dies folgendermaßen:

Innerhalb dieses teleologischenEigene Übersetzung; in der deutschen Ausgabe wurde teleological fälschlich mit theologischen übertragen. Systems besteht ein fundamentaler Gegensatz zwischen dem Menschen wie er ist und dem Menschen wie er sein könnte, wenn er sein eigentliches Wesen erkennen würde. Die Ethik ist die Lehre, die den Menschen fähig machen soll zu verstehen, wie er den Übergang vom ersten in den zweiten Zustand bewerkstelligt. Deshalb setzt die Ethik in dieser Sichtweise die Berücksichtigung von Potentialität und Handeln voraus, die Berücksichtigung des Wesens des Menschen als rationalem Tier, und vor allem die Berücksichtigung des menschlichen Telos. (77; Hervorhebungen im Original)

Die Tugenden und die sich daraus ergebenden Normen dienen als Leitschnur für das Handeln, das von der Erkenntnis des wahren Wesens des Menschen zu dessen Verwirklichung führen soll. Dies lehrt die Vernunft. Diese Konzeption basiert auf drei elementaren Konzepten: dem unvollkommenen Naturzustand des Menschen, dem vollkommenen Wesen des Menschen als telos und der Ethik als vernunftgeleitetem Übergang durch moralische Praxis zur Verwirklichung des menschlichen Wesens.

Durch die Verbindung dieser teleologischen Grundstruktur mit theistischen Vorstellungen, beispielsweise in ihrer christlichen Gestalt bei Thomas von Aquin, in ihrer jüdischen bei Mūsā ibn Maymūn (Maimonides) und in ihrer islamischen bei Ibn Ruschd, erfolgt zwar eine Erweiterung, aber keine grundsätzliche Veränderung. Zwar werden etwa Gebote nunmehr nicht nur teleologisch verstanden, sondern auch als von Gott gegebene Gesetze, aber die dreigliedrige teleologische Struktur bleibt erhalten und ist weiterhin von größter Bedeutung.

Es ist allerdings anzumerken, dass es freilich nur bei solchen theistischen Konzeptionen keine grundsätzlichen Veränderungen gibt, in denen die entscheidenden aristotelischen Grundbegriffe mehr oder weniger unverändert beibehalten werden. MacIntyre erläutert die aus der Verbindung von Teleologie und Theismus hervorgegangene Moral folgendermaßen:

Die moralische Äußerung hat demnach in der Zeit, in der die theistische Version der klassischen Moral vorherrscht, zwei Seiten und Ziele und enthält eine doppelte Norm. Jemandem zu sagen, was er tun sollte, bedeutet ihm zu ein und derselben Zeit zu sagen, welche Handlungsweise unter den gegebenen Umständen eigentlich zum wahren Ziel des Menschen führt, und zu sagen, was das Gesetz vorschreibt, das von Gott gegeben ist und der Vernunft einsichtig ist. Moralische Sätze werden in diesem Rahmen gebraucht, um Behauptungen aufzustellen, die richtig oder falsch sind. Die meisten mittelalterlichen Verfechter dieses Systems glaubten selbstverständlich, daß es sowohl Teil der göttlichen Offenbarung als auch eine Entdeckung der Vernunft und damit rational vertretbar sei. (78)

Dieser Zusammenhang wird jedoch in der Folge durch den Protestantismus zerstört, der die Vernunft aufgrund des Sündenfalls als unfähig erachtet, Einsicht in das wahre Ziel des Menschen zu erlangen. Die Vernunft verliert auch ihre Fähigkeit, die Leidenschaften beherrschen zu können, und wird mithin zu deren Spielball.

Zwar mag es noch göttliche Gebote geben, aber den Weg zum Ziel kann die ethische Praxis nicht mehr ebnen, sondern ausschließlich die göttliche Gnade. Neben den Protestanten Luther, Calvin und Hume kommt dabei dem jansenistischen Katholiken Pascal eine wichtige Rolle zu, die MacIntyre so beschreibt:

Denn Pascal erkennt, daß der protestantisch-jansenistische Vernunftbegriff in wesentlicher Hinsicht mit dem Vernunftbegriff übereinstimmt, dem die fortschrittlichsten Philosophien und Wissenschaften des 17. Jahrhunderts folgen. Vernunft umfaßt weder das innere Wesen noch den Übergang von Potentialität zum Handeln; diese Begriffe gehören zum verachteten Begriffssystem der Scholastik. (78-79)

Die Vernunft wird daraufhin auf berechnendes Denken und instrumentelle Rationalität im Dienste von Leidenschaften und Interessen zurechtgestutzt. Über Ziele und Zwecke hat und vermag sie nichts mehr zu sagen. Durch die dadurch bedingte Auslöschung des telos des Menschen wird ein wesentliches Element aus der dreigliedrigen Moralkonzeption herausgebrochen, die somit nur noch aus zwei Elementen besteht, deren Verhältnis zueinander dadurch überdies äußerst problematisch wird. Der Inhalt der Moral und die menschliche Natur stehen einander nun unvermittelt gegenüber. Da die ethischen Gebote doch der Vervollkommnung der menschlichen Natur dienen sollten, können sie nicht aus Eigenschaften dieser Natur in ihrer unvollkommenen Gestalt abgeleitet werden, die nach dem Verlust des telos einzig übriggeblieben ist.

MacIntyre kommt daher zu folgendem Schluss:

Die Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts befaßten sich deshalb mit einem zwangsläufig erfolglosen Vorhaben; denn sie versuchten, eine rationale Basis für ihre moralischen Überzeugungen in einem besonderen Verständnis der menschlichen Natur zu finden, während sie auf der einen Seite einen Bestand an moralischen Gesetzen übernahmen und auf der anderen einen Begriff der menschlichen Natur, die ausdrücklich so gestaltet waren, daß sie einander widersprachen. Dieser Widerspruch wurde durch ihre revidierten Überzeugungen über die menschliche Natur nicht ausgeräumt. Sie übernahmen unzusammenhängende Bruchstücke eines einst zusammenhängenden Denk- und Handlungssystems, und da sie ihre besondere historische und kulturelle Situation nicht erkannten, konnten sie die Unmöglichkeit und Wirklichkeitsferne ihrer selbstgewählten Aufgabe nicht erkennen. (80)

In der aristotelischen Tradition strebt der unvollkommene Mensch durch ethische Entfaltung nach der Verwirklichung seines wahren Wesens, während in der modernen Moral der unvollkommene Mensch einfach den Regeln der Moral zu folgen hat, ohne dass noch ein Bezug zu einem übergeordneten Zweck zu erkennen wäre. Die Aufgabe der modernen Moralphilosophie besteht also darin, bei aller Zweckfreiheit für diese Regeln eine rationale Grundlage zu finden. Daraus ergab sich eine eigentümliche Doppelbewegung, die trotz aller immer wieder unternommenen Versuche, die Moral auf die menschliche Natur zu gründen, sich »immer uneingeschränkter der Behauptung [näherte], daß kein schlüssiges Argument von ausschließlich faktischen Voraussetzungen zu einem moralischen oder wertenden Schluß führen kann – ein Prinzip, dessen Annahme ein Epitaph für ihr gesamtes Vorhaben bedeutet.« (81)

Die aufgeklärten Vertreter des Projekts der rationalen Rechtfertigung der Moral zeigten also zugleich, das heißt im Zuge des stets erneuerten Versuchs seiner Durchführung, immer deutlicher eben seine Undurchführbarkeit auf. So kommt es, dass sich in Diderots Rameaus Neffe »eine schärfere und einsichtigere Kritik des gesamten Vorhabens der Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts als in jeder externen Kritik der Aufklärung« (81) findet. Kant wiederum kam in der Kritik der praktischen Vernunft zu der Einsicht, dass »das gesamte Vorhaben der Moral ohne teleologischen Rahmen unverständlich wird« (81). Und Hume brachte noch als Zweifel zum Ausdruck, was später zum sogenannten Humeschen Gesetz erhoben wurde, nämlich dass aus einem nicht-normativen »ist«-Satz nicht logisch auf einen normativen »soll«-Satz geschlossen werden kann.

MacIntyre bestreitet indes die Gültigkeit dieses »Gesetzes«, das den Übergang von »ist« zu »soll« verbietet, indem er Gegenbeispiele anführt wie etwa Aussagen mit Begriffen wie Kapitän, Uhr und Bauer. Denn aus solchen faktischen Aussagen können gelegentlich normative Schlussfolgerungen folgen. Es handelt sich dabei um funktionale Begriffe, die »im Hinblick auf den Zweck oder die Funktion, die eine Uhr oder ein Bauer nach unserer Erwartung normalerweise erfüllt« (83-84), definiert werden. Daraus ergibt sich, dass beispielsweise der Begriff einer Uhr nicht unabhängig vom Begriff einer guten Uhr definiert werden kann. Funktionale Begriffe können daher die Kluft von Sein und Sollen überbrücken.

Wenn dies für funktionale Begriffe gilt, so legt sich die Vermutung nahe, dass die Anwendung des Humeschen Gesetzes auf alle Begründungen auf dem Gebiet der Moral auf der Annahme beruht, dass moralische Begründungen keine funktionalen Begriffe enthalten. Und das steht wiederum in engem Zusammenhang mit der Verwerfung des teleologischen Denkens und des damit einhergehenden Bedeutungswandels vieler Begriffe.

In der aristotelischen Tradition kommt allerdings vielen, insbesondere für den Bereich des Moralischen relevanten Begriffen funktionaler Gehalt zu. Ganz besonders deutlich wird dies etwa für den Begriff des Menschen. Denn dem Menschen wird eine wesenhafte Natur und ein wesenhafter Zweck oder Funktion zugeschrieben. Daraus ergibt sich, dass Mensch begrifflich für guter Mensch steht wie Uhr für gute Uhr. MacIntyre führt dies auf das gesellschaftliche Leben zurück, dessen Wurzeln noch viel weiter als Aristoteles zurückreichen und das im Denken der klassischen Tradition zum Ausdruck kommt, und erläutert dies folgendermaßen:

Denn nach dieser Tradition bedeutet ein Mensch zu sein, eine Vielzahl Rollen einzunehmen, die alle ihr Ziel und ihren Zweck haben: Familienmitglied, Bürger, Soldat, Philosoph, Diener Gottes. Nur wenn man sich den Menschen als Individuum vor und getrennt von allen Rollen denkt, hört der Begriff »Mensch« auf, ein funktionaler Begriff zu sein. (85)

Die Verarmung des Gehalts moralischer Begriffe und Begründungen wird in der modernen Philosophie in Gestalt des Humeschen Gesetzes zur zeitlosen Wahrheit verklärt, was doch nur Mangel an historischem Bewusstsein verrät. Denn ihre Verkündigung war ein einschneidendes historisches Geschehen, da sich darin sowohl der Bruch mit der aristotelischen Tradition wie auch das unausweichliche Scheitern des Projektes einer Begründung der Moral im Rahmen der überkommenen, aber bereits inkohärenten und fragmentarischen Tradition bekundet.

Darüber hinaus kommt es auch zu einer Änderung des Sinns von moralischen Urteilen. In der aristotelischen Tradition ist der Gebrauch von gut meist mit der Vorstellung von einem Zweck oder einer Funktion verbunden, dem etwas dient. Und dazu gehören auch Menschen und Handlungen, wie MacIntyre darlegt:

Eine bestimmte Handlung gerecht oder richtig zu nennen bedeutet zu sagen, daß ein guter Mensch in einer derartigen Situation so handeln würde; daher ist auch diese Art von Aussage faktisch. Innerhalb dieser Tradition können moralische und wertende Aussagen in genau derselben Art und Weise richtig oder falsch genannt werden […] Aber sobald die Vorstellung wesentlicher menschlicher Ziele und Funktionen aus der Ethik verschwindet, leuchtet es nicht mehr ein, moralische Urteile wie faktische Aussagen zu behandeln. (86)

Werden zudem moralische Urteile, wie es in der Aufklärung geschieht, nicht mehr als Teil der göttlichen Offenbarung betrachtet, so werden sie immer mehr auf den Status von bloßen Imperativen reduziert und des Bereiches von Wahrheit und Falschheit verwiesen. Dass bis heute gleichwohl moralische Urteile gewohnheitsmäßig als wahr oder falsch bezeichnet werden, ist nur als Überbleibsel der klassischen Tradition zu erklären. Die Frage, warum ein bestimmtes Urteil wahr oder falsch ist, bleibt unter diesen Bedingungen indes ohne klare Antwort.

MacIntyre erläutert:

Daß dies so sein muß, ist vollkommen einsichtig, falls die historische Hypothese richtig ist, die ich skizziert habe: daß moralische Urteile sprachliche Überreste der praktischen Anwendung des klassischen Theismus sind, die den durch diese praktische Anwendung gebildeten Kontext verloren haben. (86)

Im Rahmen der Praktiken des Theismus waren die moralischen Urteile zugleich auf einen Zweck bezogen wie auch Ausdruck eines Gesetzes, also nach der kantischen Einteilung zugleich hypothetisch und kategorisch. Moralische Urteile können so beispielsweise die Übereinstimmung einerseits mit dem Sinn oder telos des menschlichen Lebens wie auch andererseits mit dem von Gott gegebenen Gesetz artikulieren. Wird ihnen jedoch beides genommen, was sind sie dann?

MacIntyre gibt folgende Antwort:

Moralische Urteile verlieren dann ihren eindeutigen Status, und die Sätze, die sie ausdrücken, verlieren parallel dazu ihre unumstrittene Bedeutung. Solche Sätze stehen dann als Ausdrucksformen einem emotivistischen Selbst zur Verfügung, das seinen sprachlichen und praktischen Standpunkt in der Welt verloren hat, da ihm die Anleitung durch den Kontext fehlt, in welchem sie ursprünglich zu Hause waren. (87)

Diese Entwicklung war nicht nur von theoretischer, sondern von eminent gesellschaftlicher Bedeutung. Denn sie war die Erfindung des modernen Selbst, des modernen Begriffs des Individuums. Der Verlust der traditionellen Strukturen und Inhalte wurde von den Vertretern der Aufklärung einseitig als Befreiung des Selbst erachtet, die dies zur Erlangung seiner Autonomie befähigt. Doch die Erfindung der Autonomie und des modernen Individuums führten zur Entstehung der emotivistischen Kultur.

6.3.7 Folgen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung

6.3.7 Folgen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung Yusuf Kuhn

Den Prozess, der zur Entstehung der emotivistischen Kultur führt, beschreibt MacIntyre im nächsten Kapitel, in dem einige Folgen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung näher beleuchtet werden. Die Probleme, mit denen die moderne Moralphilosophie zu kämpfen hat, gehen aus der Weise hervor, in der dieses Projekt fehlgeschlagen ist.

Einerseits verfügt das moderne Selbst über moralische Autonomie. Andererseits haben die Regeln der Moral sowohl ihren teleologischen Charakter als auch ihren kategorischen Charakter als Ausdruck eines göttlichen Gesetzes eingebüßt. Die Aufgabe der modernen Moralphilosophie besteht mithin darin, den moralischen Normen einen neuen Status zu verleihen, indem sie entweder mit einer neuen Teleologie oder mit einer neuen Art von Gebotensein versehen werden, so dass sie nicht als bloße Instrumente von individuellem Wunsch und Wille erscheinen. Da diese Aufgabe aufgrund der inneren Widersprüche, die eine Versöhnung von moralischer Autonomie mit Teleologie oder kategorischen Geboten vereiteln, nicht gelingen kann, steht jede moderne Moralphilosophie unvermeidlich in Gefahr, als Werkzeug im Dienste von Interesse und Macht entlarvt zu werden.

6.3.7.1 Utilitarismus und kantische Pflichtethik

Die zwei Hauptströmungen der modernen Moralphilosophie, Utilitarismus und kantische Pflichtethik, gehen als Lösungsversuche aus dieser Problemstellung hervor. Während der Utilitarismus mit seiner Berufung auf den Nutzen versucht eine neue Teleologie zu entwickeln, strebt der Kantianismus nach einem neuen kategorischen Status durch die Begründung in der Vernunft.

Am Anfang des Utilitarismus steht Jeremy Bentham, der einen Ansatz für die Lösung der moralphilosophischen Probleme in der Annahme erkannt zu haben meint, dass die einzigen Motive für menschliches Handeln im Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerzen liegen. Der neue telos wird im Zweck des Lebens als Maximierung von Lust und Minimierung von Schmerzen gefunden. Lust und Schmerz gelten dabei als quantifizierbare Empfindungen. Von dieser psychologischen Annahme geht Bentham sodann zum moralischen Kriterium über, demzufolge immer die Handlung gewählt werden sollte, »die als Ergebnis der größtmöglichen Zahl von Menschen das größtmögliche Glück bringt - das heißt, die größtmögliche Menge an Lust bei gleichzeitig kleinstmöglicher Menge an Schmerzen.« (90)

Die utilitaristischen Nachfolger von Bentham wiederum, insbesondere John Stuart Mill, erkannten in dieser einfachen Bestimmung der Lust eine Hauptursache für die Schwierigkeiten des Utilitarismus. Mill versuchte daher einen Unterschied zwischen »höherer« und »niedriger« Lust einzuführen. Aber worauf sollte diese Unterscheidung ihrerseits basieren? Welche Lust, welches Glück sollte wirklich leitend sein?

Auf diese Fragen kann jedoch der Utilitarismus, wenn er sich auf den Grundbegriff der Lust stützen will, keine befriedigende Antwort geben. Denn die Vorstellung von Lust oder Glück ist eben keine einheitliche, sondern viel zu unterschiedlich und vielgestaltig. Sie kann weder an quantitativen noch an qualitativen Maßstäben gemessen werden. Da sie kein Kriterium für grundlegende Entscheidungen liefern kann, erweist sie sich als untauglich für die Zwecke des Utilitarismus. MacIntyre kommt daher zu dem Schluss:

[…] der Gedanke des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl [ist] ein Gedanke ohne jeden klaren Inhalt [...]. Er ist tatsächlich ein Pseudokonzept, das für eine Vielzahl ideologischer Verwendungen genutzt werden kann, aber mehr auch nicht. Wenn wir daher im täglichen Leben auf seine Verwendung stoßen, ist es stets notwendig zu fragen, welches eigentliche Vorhaben oder Ziel durch seine Verwendung verschleiert wird. (92)

In der Folge führte die utilitaristische Selbstkritik, die immer weiter vorangetrieben wurde, schließlich bei Sidgwick zu der Einsicht, dass die Psychologie keine Grundlage für eine Teleologie, die utilitaristische Regeln abzuleiten erlaubt, abgeben kann. Sidgwick zog daher daraus den Schluss, dass moralische Auffassungen keine Einheit bilden, sondern unaufhebbar heterogen sind und dass sich für sie keine weiteren Gründe anführen lassen. Er bezeichnet moralische Auffassungen daher als Intuitionen. MacIntyre merkt dazu an:

Sidgwicks Enttäuschung über das Ergebnis seiner Untersuchung kommt in seiner Bemerkung zum Ausdruck, daß er, wo er nach dem Kosmos gesucht, tatsächlich nur Chaos gefunden habe. (93)

Im direkten Anschluss daran ebnete sodann Moore in den Principia Ethica über den Intuitionismus hinaus dem Emotivismus den Weg, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass für ihn das, was Sidgwick als Scheitern erachtet, »eine aufklärerische und befreiende Entdeckung« (93) ist. Und dieser Schritt wurde nicht nur als Befreiung von Sidgwick und dem ganzen übrigen Utilitarismus, sondern weit darüber hinaus vom Christentum und allerlei anderen verstaubten Traditionen gefeiert. Zugleich wurde freilich allen Ansprüchen auf Objektivität in der Moral die Grundlage entzogen und damit dem Emotivismus der Boden bereitet.

Auf den Utilitarismus folgte also der Intuitionismus, und auf diesen wiederum der Emotivismus, der sich indes in der analytischen Moralphilosophie nie ganz durchsetzen konnte, »hauptsächlich weil es offenkundig ist, daß moralisches Folgern stattfindet, daß moralische Schlußfolgerungen oft schlüssig aus einer Reihe von Prämissen abgeleitet werden können« (94). Und so ergab es sich, dass der zweite Hauptstrang der modernen Moralphilosophie wieder aufgegriffen wurde, nämlich das Projekt Kants, die Autorität und Objektivität der moralischen Regeln in der Vernunft zu gründen.

MacIntyre beschreibt dieses Projekt der Vernunftbegründung der Moral nunmehr folgendermaßen:

Diese analytischen Philosophen griffen den Plan Kants wieder auf, darzulegen, daß die Autorität und Objektivität der moralischen Regeln genau jene Autorität und Objektivität sind, die zur Ausübung der Vernunft gehören. Ihr Hauptanliegen war und ist also nachzuweisen, daß jeder vernünftig Handelnde durch seine Vernunft den Regeln der Moral logisch verpflichtet ist. (94)

Es gibt zweifellos viele Versuche, dieses Projekt zu realisieren. Sie sind jedoch miteinander unvereinbar. Und ihre jeweiligen Kritiken an den anderen Versuchen fallen regelmäßig vernichtend aus. Von Erfolg kann daher nicht die Rede sein. Und die Projekte, wenn sie denn nicht aufgegeben werden, verbleiben bestenfalls im Status eben eines Projekts, das im akademischen Betrieb endlos fortgeführt werden kann, ohne, nicht zuletzt aufgrund der unaufhörlichen wechselseitigen Kritik, je zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden zu können.

MacIntyre geht sodann der Frage nach, warum dieses Vorhaben scheitert, und wählt als Anschauungsmaterial den Versuch von Alan Gewirth in dessen Buch Reason and Morality aus.Siehe Alan Gewirth, Reason and Morality, Chicago, 1978. MacIntyre zitiert die »Schlüsselstelle in Gewirths Buch« (91), die folgendermaßen lautet:

»Da der Handelnde Freiheit und Wohlbefinden, die Gattungsmerkmale seines erfolgreichen Handelns, als notwendige Güter betrachtet, muß er logischerweise auch der Meinung sein, daß er ein Recht auf diese Gattungsmerkmale hat, und er erhebt implizit einen entsprechenden Rechtsanspruch«Siehe Alan Gewirth, Reason and Morality, Chicago, 1978, S. 63.. (91)

Gewirth nimmt also an, dass es bestimmte Voraussetzungen für rationales Handeln gibt, die der Handelnde als notwendige Güter betrachtet, auf die er daher einen Rechtsanspruch erhebt. MacIntyres Kritik richtet sich vor allem auf die Einführung des Rechtsbegriffs, die nicht ohne Begründung erfolgen darf, und zwar insbesondere deshalb, weil der Begriff des Rechts selbst notwendige Bedingungen wie das Bestehen bestimmter sozialer Institutionen oder Gewohnheiten voraussetzt.

MacIntyre gelangt daher zu folgendem Ergebnis:

So hat Gewirth in seine Beweisführung unzulässigerweise einen Begriff eingeschmuggelt, der in keiner Weise zu den Grundeigenschaften eines rational Handelnden gehört, was aber der Fall sein muß, wenn die Beweisführung mit Erfolg abgeschlossen werden soll. (96)

Diese Kritik mag auf Gewirths Versuch zutreffen, aber sie ist gewiss nicht ausreichend, um die Frage zu beantworten, warum die Vorhaben zur Realisierung des kantischen Projektes scheitern mussten. Dafür wäre eine viel gründlichere Untersuchung von Kants Moralphilosophie selbst sowie den daran anknüpfenden Versuchen der Begründung der Moral auf die Vernunft, wie es beispielsweise in der Diskursethik als einem herausragenden Projekt dieser Art angestrebt wird, erforderlich.

Es mag hier aufschlussreich sein, einen kurzen Blick auf die Überlegungen von Ernst Tugendhat zu werfen, der in seinem eigenen Versuch einer Moralbegründung zwar an Kant anknüpft, aber eine »absolute Vernunftbegründung« als aussichtslos ablehnt und lediglich einen »Plausibilitätsanspruch« erhebt. Tugendhat macht in seinen Vorlesungen über Ethik im Hinblick auf die Vernunftbegründung der Moral im allgemeinen und Gewirths Ansatz im besonderen folgende erhellende Bemerkung als Schlussfolgerung aus seinen Überlegungen in den vorausgegangenen Vorlesungen:

Ich habe in der 2. Vorlesung die Auffassung vertreten, daß moralische Regeln sich nicht als Vernunftregeln verstehen lassen, und in der 4. und 5. Vorlesung habe ich zu zeigen versucht, daß moralische Regeln sich nicht in einem absoluten Sinn begründen lassen und insbesondere nicht im Rekurs auf einen angeblichen absoluten Vernunftbegriff. In der vorigen Vorlesung habe ich zu zeigen versucht, daß, so wertvoll die Idee des kategorischen Imperativs ist, Kants Versuch, ihn als Vernunftprinzip zu verstehen und ihm eine absolute Vernunftbegründung zu geben, als gescheitert angesehen werden muß. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, obwohl auf Grund meiner vorgängigen grundsätzlichen Bedenken unwahrscheinlich, daß sich die moralischen Regeln auf andere Weise als bei Kant als auf Vernunft begründet erweisen ließen.

Es gibt in der Gegenwart einige solcher Versuche. Einer ist der von A. Gewirth, der jedoch auf einem besonders leicht durchschaubaren Trugschluß aufgebaut ist und auf den sich angelsächsische Autoren, die den Vernunftansatz diskreditieren wollen, besonders gerne beziehen. Der interessanteste zeitgenössische Versuch einer absoluten Vernunftbegründung der Moral, der auch die größte Popularität gewonnen hat, ist jedoch der diskursethische. […] Die Diskursethik, besonders in der Form, die sie durch Apel und Habermas gewonnen hat, wird inzwischen überall auf der Welt diskutiert und verdient schon deswegen eine Erörterung.Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main, 1995, S. 161.

So treffend diese Bemerkung sein mag, so wenig kann hier der Ort dafür sein, diesen Andeutungen näher nachzugehen. Festzuhalten bleibt gleichwohl, dass alle Versuche einer Vernunftbegründung der Moral bislang zumindest in dem Sinne faktisch gescheitert sind, dass sie sich alle gegenseitig bekämpfen und keine Anhänger über den engsten Kreis ihrer jeweiligen Verfechter hinaus gefunden haben. Und dies gilt übrigens gleichermaßen für die Diskursethik in ihren verschiedenen Versionen. Diese Vorhaben sind und bleiben allesamt im besten Fall eben Projekte, ohne bereits berechtigten Anspruch auf eine erfolgreiche Durchführung erheben zu können. Dieser Zustand, der aus dem Scheitern nicht nur der kantischen, sondern auch der utilitaristischen Versuche resultiert, wird indes meist nicht eingestanden, woraus sich weitreichende Konsequenzen für die moderne Kultur ergeben.

MacIntyre beschreibt dieses Phänomen nachdrücklich:

Dennoch sprechen und schreiben fast alle, Philosophen wie Nichtphilosophen, weiterhin so, als hätte eines dieser Vorhaben Erfolg gehabt. Und daraus leitet sich eines der Merkmale des gegenwärtigen moralischen Diskurses ab, auf das ich zu Beginn hingewiesen habe, nämlich die Kluft zwischen der Bedeutung moralischer Ausdrücke und der Art ihres Gebrauchs. Denn die Bedeutung ist und bleibt so, wie sie verbürgt worden wäre, wenn wenigstens eines dieser philosophischen Vorhaben Erfolg gehabt hätte; aber der Gebrauch, der emotivistische Gebrauch, ist genau so wie er zu erwarten wäre, wenn diese philosophischen Vorhaben ausnahmslos gescheitert wären. (97)

Die gegenwärtige moralische Erfahrung hat daher einen paradoxen Charakter. Der moralisch Handelnde gilt einerseits als autonom und andererseits wird er in ästhetische oder bürokratische Praktiken im Rahmen manipulativer Sozialbeziehungen verstrickt. Der Handelnde versucht seine Autonomie zu wahren und sich Manipulationen zu entziehen, verfügt jedoch, wenn er andere von seinen Auffassungen und Präferenzen überzeugen will, mangels objektiver und rationaler Bezugspunkte über keine anderen als manipulative Mittel. Diese Unstimmigkeit zwischen moralischer Autonomie und systemischer Manipulation geht aus dem inkohärenten Begriffsschema hervor, das der modernen Moralphilosophie zugrunde liegt.

6.3.7.2 Rechte, Protest und Entlarvung

Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, dass in der modernen Moraldebatte drei Begriffe eine Schlüsselstellung einnehmen: Rechte, Protest und Entlarvung. Mit Rechten meint MacIntyre hier »nicht jene Rechte, die bestimmten Klassen von Menschen durch das positive Recht oder die Gewohnheit verliehen werden«, sondern »vielmehr jene Rechte, die als zum Menschen an sich gehörend gelten und die angeführt werden als ein Grund für die Meinung, daß man sich nicht in das Leben eines Menschen und sein Streben nach Freiheit und Glück einmischen sollte.« (97) Damit gemeint sind also die sogenannten Natur- und Menschenrechten, die weitgehend negativ bestimmt wurden, also als Rechte, in die nicht eingegriffen werden sollte. Heute ist zumeist von Menschenrechten die Rede, die allen Menschen gleichermaßen eignen und »eine Grundlage für eine Vielzahl individueller moralischer Haltungen« (98) bieten.

MacIntyre bestreitet indes die Existenz solcher Rechte mit folgendem Argument:

[…] alle Versuche, stichhaltige Gründe für die Überzeugung zu liefern, daß es solche Rechte gibt, sind gescheitert. (98; Hervorhebung im Original)

Die Verfechter der Naturrechte im 18. Jahrhundert betrachteten diese als selbstevidente Wahrheiten, manche Moralphilosophen im 20. Jahrhundert als Intuitionen. Da diese »Gründe« kaum mehr zu überzeugen vermögen, ist man gemeinhin dazu übergegangen, wie etwa in der UN-Menschenrechtserklärung von 1949, »keine guten Gründe mehr geltend« (99; Hervorhebung im Original) zu machen, also schlichtweg auf Begründung zu verzichten. MacIntyre erklärt derartige Rechte aufgrund ihrer Grundlosigkeit zu »Fiktionen – wie die Nützlichkeit -« (99), da der Begriff des Rechts, wie auch der Begriff der Nützlichkeit, lediglich vorgibt, einen eindeutigen Inhalt und objektive Kriterien zu liefern, ohne dies jedoch wirklich zu leisten. Schon daraus erwächst eine Kluft zwischen ihrer angeblichen Bedeutung und ihrem tatsächlichen Gebrauch.

Die aus dieser Paradoxie erwachsende politische Kultur des bürokratischen Individualismus ist daher von endlosen Debatten über unvereinbare Standpunkte gekennzeichnet, die aus dem Gegensatz zwischen »einem Individualismus, der seine Ansprüche auf Rechte gründet, und Formen bürokratischer Organisation, die ihre Ansprüche auf die Nützlichkeit gründen« (100), hervorgehen. Die moralische Sprache kann aufgrund der Unvereinbarkeit der jeweiligen Ansprüche in der modernen politischen Auseinandersetzung bestenfalls einen Anschein von Rationalität erwecken, der die Willkürlichkeit von Willen und Macht, die in ihrer angeblichen Lösung in Wirklichkeit zum Ausdruck kommt, lediglich verdeckt.

So wird »Protest zu einem besonderen moralischen Merkmal der modernen Zeit« und »Empörung eine überwiegend moderne Empfindung« (100; Hervorhebungen im Original). Der Protest ist vor allem ein »negatives Phänomen, das bezeichnenderweise als Reaktion auf den vermeintlichen Eingriff in die Rechte von jemandem im Namen der Nützlichkeit für jemand anderen auftritt.« (100; Hervorhebungen im Original)

MacIntyre führt dazu aus:

Zu der auf die eigenen Rechte pochenden Heftigkeit des Protests kommt es, weil Protestierende aufgrund der bestehenden Unvereinbarkeit nie eine Beweisführung gewinnen können; die empörte Selbstgerechtigkeit des Protests entsteht, weil Protestierende aufgrund der bestehenden Unvereinbarkeit ebenso nie eine Beweisführung verlieren können. (100; Hervorhebung im Original)

Die Unvereinbarkeit führt dazu, dass der Protest, da er »rational nichts bewirken« (100; Hervorhebung im Original) kann, sich nur als Werkzeug manipulativer Bestrebungen hinter der Maske der Moral zur Geltung bringen kann. Aus dieser Verquickung als Grundelement der modernen Kultur erklärt sich wiederum die zentrale Stellung der Entlarvung, die die uneingestandenen Motive des willkürlichen Willens und Wunsches hinter den moralischen Masken des manipulativen Umgangs enthüllt.

6.3.7.3 Expertentum der Manager und Bürokraten

Die drei Charaktere der emotivistischen Kultur, denen es an jeglicher rationalen und objektiven Grundlage für ihre moralischen Ansprüche gebricht, gebrauchen daher die Sprache der Moral dazu, um andere dahingehend zu manipulieren, sich ihren eigenen Auffassungen und Präferenzen anzuschließen. Sie handeln mit moralischen Fiktionen, nehmen sie in Kauf und können gar nicht anders.

Dies gilt gleichermaßen für den Ästheten, den Therapeuten und den Manager, die alle mehr oder weniger für Fiktionen anfällig sind. Der Manager unterscheidet sich allerdings in einer entscheidenden Hinsicht, denn zur Definition seiner Rolle gehört geradezu eine bestimmte Fiktion, wie MacIntyre erläutert:

Denn neben Recht und Nützlichkeit haben wir als eine der wichtigsten moralischen Fiktionen der Zeit die besondere Fiktion des Managers zu setzen, die in dem Anspruch zum Ausdruck kommt, systematische Effektivität bei der Überwachung bestimmter Aspekte der sozialen Wirklichkeit zu besitzen. (104)

Es mag überraschend sein, Effektivität als moralischen Begriff zu verstehen. Aber gegen seine vermeintliche Wertneutralität spricht, dass er gar nicht von Formen des sozialen Lebens zu trennen ist, in denen

das Finden von Mitteln im wesentlichen aus der Manipulation menschlicher Wesen in vorgegebene Verhaltensmuster besteht; und durch die Berufung auf die eigene Effektivität beansprucht der Manager in dieser Hinsicht Autorität in der manipulativen Methode. (104)

Der Begriff der Effektivität dient zweifellos der Aufrechterhaltung der Autorität und Macht der Manager. Aber verfügen sie tatsächlich über die dafür nötigen Fertigkeiten und Kenntnisse? Ist Effektivität lediglich eine moralische Fiktion im Dienst einer Verschleierung sozialer Kontrolle? Könnte es sein, dass die Anwendung des Begriffs der Effektivität unerfüllbare Ansprüche auf Wissen voraussetzt? Gilt auch für Effektivität die emotivistische Analyse mit ihrer charakteristischen Unterscheidung von Bedeutung und Gebrauch?

MacIntyre bezeichnet die vermeintliche Eigenschaft der Effektivität als Expertentum, womit er keineswegs das Vorhandensein wirklicher Experten auf vielen Gebieten bestreiten will, und bemerkt dazu:

Ich stelle lediglich das Expertentum der Manager und Bürokraten in Frage. Und ich gelange letztlich zu dem Schluß, daß sich dieses Expertentum in der Tat als eine weitere moralische Fiktion erweist, weil die Art von Wissen, auf das es sich stützen müßte, nicht existiert. Aber wie würde es aussehen, wenn soziale Kontrolle tatsächlich eine Maskerade wäre? Betrachten wir die folgende Möglichkeit: Wir werden nicht durch Macht, sondern durch Ohnmacht unterdrückt […] die Schalthebel der Macht - eine Schlüsselmetapher für das Expertentum der Manager - erzielen Wirkungen, die ohne System und oft rein zufällig mit den Ergebnissen zusammenhängen, mit denen sich die Leute an diesen Schalthebeln brüsten. Wäre all das der Fall, wäre es natürlich sozial und politisch wichtig, diese Tatsache zu verschleiern, und die Anwendung des Begriffs der Effektivität des Managers, wie ihn die Manager und diejenigen, die über das Management schreiben, anwenden, wäre ein wesentlicher Bestandteil einer solchen Verschleierung. (106)

Der Anspruch des Managers auf Effektivität muss also einer Überprüfung unterzogen werden. Sollte sich herausstellen, dass er jeglicher rationalen Grundlage entbehrt, wäre er als eine weitere moralische Fiktion enttarnt – »und vielleicht die kulturell mächtigste von allen« –, nämlich die »Hauptfigur des modernen sozialen Dramas« (107), der bürokratische Manager.

Um nun die Ansprüche des Managers, der sich auf moralische Neutralität und wissenschaftliche Objektivität beruft, einer Überprüfung zu unterziehen, müssen insbesondere zwei Fragen geklärt werden: Gibt es wirklich einen Bereich moralisch neutraler Fakten, in dem der Manager Experte sein soll? Und verfügt er tatsächlich über das nötige Wissen, über die gesetzesgleichen Verallgemeinerungen, mit denen sich die spezifischen Erklärungen und Voraussagen treffen lassen, die für die Gestaltung, Manipulation und Kontrolle der sozialen Umwelt erforderlich sind? Mit diesen beiden Fragen befassen sich nacheinander die nächsten zwei Kapitel.

6.3.8 Tatsache, Experte und moralisches Subjekt

6.3.8 Tatsache, Experte und moralisches Subjekt Yusuf Kuhn

Im nächsten Schritt untersucht MacIntyre daher den Begriff der Tatsache, dessen Entstehung eng mit dem Erscheinen nicht nur des Experten, sondern auch des autonomen moralischen Subjekts verknüpft ist. Das folgende Kapitel trägt demgemäß den Titel »Tatsache«, Erklärung und Expertentum.

Die Vorstellung von nackten Tatsachen, die sich einer vorurteilslosen Beobachtung oder Beschreibung darbieten, ist gewiss hartnäckig und langlebig, wird aber in den Reihen der Wissenschaftsphilosophen schon seit geraumer Zeit fast einmütig als Irrtum anerkannt. Es gibt keine theoriefreie Beobachtung. Und Tatsachen gehen der Theorie nicht einfach voraus, sondern setzen allerlei Grundannahmen theoretischer Natur voraus, wie MacIntyre in Anspielung auf Kants berühmte Aussage über das Verhältnis von Anschauung und Begriff in der Kritik der reinen VernunftSiehe Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe, Band III, Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main, 1982, S. 98. Dort heißt es: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« darlegt:

Was ein Beobachter wahrzunehmen glaubt, ist gekennzeichnet und muß gekennzeichnet werden durch theoriebeladene Begriffe. Wahrnehmende ohne Begriffe sind, wie Kant sinngemäß sagte, blind. (111)

Folglich gibt es keine neutrale und unpersönliche Berufung auf objektive Fakten, auf die der Manager seinen Anspruch auf Effektivität stützen könnte. Jedes Expertentum, das sich auf Wissen und Erkenntnis von Fakten beruft, kann in diesem Sinne nie wirklich objektiv und neutral sein, da in seine Vorannahmen immer schon parteiliche Wertungen und Entscheidungen ein­fließen.

Im aristotelischen Denken wird menschliches Handeln immer im Lichte von »Zweckursachen« betrachtet. Für die Erklärung und das Verständnis menschlichen Handelns kann dabei auf solche Begriffe wie Überzeugung, Absicht, Grund und Zweck nicht verzichtet werden. Ebendieser Verzicht wird jedoch in den modernen Wissenschaften mit dem Ideal der rein mechanischen Erklärung auch in Bezug auf des menschliche Handeln versucht. In der mechanistischen Wissenschaft des menschlichen »Verhaltens« werden alle Bezüge auf Absichten und Zwecke eliminiert und das reiche Arsenal aristotelischer Ursachen auf eine einzige zulässige Art reduziert, nämlich die mechanische Wirkursache. Eine derart zurechtgestutzte Humanwissenschaft bedarf nun, wie alle anderen Naturwissenschaften des gleichen Schlages, allgemeiner Gesetze, um daraus Erklärungen und Voraussagen über menschliches Verhalten ableiten zu können.

MacIntyre erläutert:

Die Erklärung des Handelns wird immer häufiger als Aufgabe betrachtet, die physiologischen und physischen Mechanismen offenzulegen, die dem Handeln zugrunde liegen; und als Kant erkennt, daß eine tiefe Unvereinbarkeit besteht zwischen der Darstellung des Handelns, das die handlungsleitende Rolle des moralischen Imperativs anerkennt, und jeder derartigen mechanischen Erklärungsform, wird er zu dem Schluß gezwungen, daß Handlungen, die dem moralischen Imperativ folgen und ihn verkörpern, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus unerklärbar und unverständlich sein müssen. Nach Kant wird die Frage der Beziehung zwischen Vorstellungen wie Absicht, Zweck, Grund des Handelns u.ä. einerseits und Begriffen, die die Vorstellung einer mechanischen Erklärung spezifizieren, andererseits Bestandteil des ständigen Repertoires der Philosophie. (115)

Aus diesem Gegensatz entwickelt sich die Aufteilung in verschiedene Bereiche des modernen Wissens, wie beispielsweise im Fächerkanon der Universität die Sonderstellung der Ethik und Moralphilosophie gegenüber den Human- und Sozialwissenschaften.

Das Paradigma für eine solche Wissenschaft des Menschen liefert die newtonsche Physik mit ihren vermeintlich universal gültigen Gesetzen für die ganze Natur. Das Projekt der Entwicklung einer mechanistischen Wissenschaft des menschlichen Verhaltens strebt somit nach der Entdeckung entsprechender Gesetze, nach »Unveränderlichkeiten, die durch gesetzesgleiche Verallgemeinerungen spezifiziert werden« (115).

Dieses Projekt einer Wissenschaft von der Gesellschaft nach dem Modell der newtonschen Physik ist freilich nie über den Status eines Projektes hinausgekommen, ohne auch nur ansatzweise einen erfolgreichen Abschluss zu erlangen. Es hat sich, ganz im Gegenteil, vielmehr als haltloser Traum erwiesen. Der Traum ist deshalb gleichwohl keinesfalls ausgeträumt. Dass das Projekt nicht verwirklicht worden ist, hält viele Sozialwissenschaftler keineswegs davon ab, so zu tun, als sei ebendiese Verwirklichung geschehen.

Handelt es sich bei der von ihnen behaupteten Anwendung der Wissenschaft vom menschlichen Verhalten indes wirklich um die Anwendung einer echten Technologie oder vielmehr um die theatralische Nachahmung einer solchen Technologie?

MacIntyre bemerkt dazu:

Die Antwort hängt davon ab, ob wir glauben, daß das mechanistische Programm in den Sozialwissenschaften tatsächlich vollständig verwirklicht wurde oder nicht. Und im 18. Jahrhundert blieb zumindest die Vorstellung einer mechanistischen Wissenschaft vom Menschen Programm und Prophezeiung. Aber Prophezeiungen werden auf diesem Gebiet unter Umständen nicht real verwirklicht, sondern in einer sozialen Ausführung umgesetzt, die sich als Verwirklichung ausgibt. (118)

Der Aufstieg des bürokratischen Managers, sowohl im staatlichen als auch im privatwirtschaftlichen Bereich, beruht auf zwei Säulen: der Behauptung von Objektivität und Wertneutralität einer Welt der Tatsachen – eine Vorstellung, die sich bereits als unhaltbar erwiesen hat – einerseits und dem Anspruch auf Macht zur Manipulation der sozialen Umwelt andererseits.

6.3.9 Soziale Physik

6.3.9 Soziale Physik Yusuf Kuhn

Der Frage, ob der Anspruch auf Macht zur Manipulation der sozialen Umwelt wirklich gerechtfertigt und eingelöst werden kann, geht MacIntyre im nächsten Kapitel mit dem Titel Das Wesen von Verallgemeinerungen in der Sozialwissenschaft und ihre mangelnde Fähigkeit zu Voraussagen nach, denn, so MacIntyre:

Was das Expertentum der Manager als Bestätigung braucht, ist eine begründete Konzeption von Sozialwissenschaft als Lieferant gesetzesgleicher Verallgemeinerungen mit ausgeprägter Fähigkeit zu Voraussagen. (123)

Von den Sozialwissenschaften lässt sich allerdings sicherlich behaupten, dass sie solcherlei Gesetze nicht entdeckt haben. Daraus folgt, dass die Sozialwissenschaften als Wissenschaften in diesem Sinne keineswegs bereits gerechtfertigt sind. Und dies gilt freilich auch für das Expertentum des Managers, der seine Autorität den Sozialwissenschaften entleiht.

Um dieses Problem näher zu untersuchen, beschreitet MacIntyre nun einen langen Gedankengang, dessen Nachvollzug wir hier entbehren können, da er für die moralphilosophischen Grundfragen, die uns hier vor allem interessieren, nicht von zentraler Bedeutung ist. Die Überlegungen zur Voraussagbarkeit und Unvoraussagbarkeit im menschlichen Handeln führen zur Einsicht in die systematische Unvoraussagbarkeit des sozialen Lebens. Das dafür erforderliche Wissen von kausalen Regelmäßigkeiten ist nicht zu erlangen. Denn der Bereich des Voraussagbaren im gesellschaftlichen Leben ist so stark beschränkt, dass dies nichts Entscheidendes gegen die alles durchdringende »Unvoraussagbarkeit im menschlichen Leben« (142) vermag.

Wenn weder die Ansprüche der Sozialwissenschaften durch die Angabe von gesetzesgleichen Verallgemeinerungen noch die die des bürokratischen Managers, der seine Autorität auf das Wissen und die Anwendung derselben gründet, bestätigt werden können, erweist sich der Begriff der Effektivität des Managers als »eine weitere zeitgenössische moralische Fiktion und vielleicht die wichtigste von allen.« (147) Der Vorherrschaft des Manipulativen in der emotivistischen Kultur steht also keineswegs ein großer Erfolg in der Manipulation gegenüber. Der Begriff der sozialen Kontrolle durch Experten, die mit den dafür erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten ausgestattet sind, erweist sich als Maskerade.

MacIntyre führt dazu abschließend aus:

Der Glaube an das Expertentum des Managers ist also von meinem Standpunkt aus tatsächlich dem sehr ähnlich, was Carnap und Ayer für den Glauben an Gott hielten. Er ist eine weitere Illusion, und eine besonders moderne dazu, die Illusion einer Macht, die nicht wir selbst sind, und die den Anspruch erhebt, Gerechtigkeit zu bewirken. Der Manager als Charakter ist daher anders, als er auf den ersten Blick zu sein scheint: Die soziale Welt des alltäglichen, nüchternen, praktischen, pragmatischen, humorlosen Realismus, der die Umwelt der Manager darstellt, ist eine Welt, die um ihrer stützendenBesser wäre wohl »andauernden« oder »dauerhaften« für »sustained« im englischen Original (After Virtue, S. 107). Existenz willen vom systematischen Fortbestehen von Mißverständnissen und vom Glauben an Fiktionen abhängt. Der Warenfetischismus ist ergänzt worden durch einen anderen, ebenso bedeutenden Fetischismus, den der bürokratischen Fähigkeiten. Denn aus meinem gesamten Argument folgt, daß der Bereich des Expertentums des Managers ein Bereich ist, in dem angeblich objektiv begründete Ansprüche in Wirklichkeit Ausdruck von willkürlichem, aber verborgenem Willen und von Präferenzen sind. […] Die Prophezeiungen des 18. Jahrhunderts haben bewirkt, daß nicht wissenschaftlich gelenkte soziale Kontrolle entstand, sondern eine geschickte dramatische Nachahmung einer solchen Kontrolle. Es ist der theatralische Erfolg, der in unserer Zivilisation Macht und Autorität verschafft. Der effektivste Bürokrat ist der beste Schauspieler. (147-148)

Das Ergebnis der negativen Seite der Kritik MacIntyres kulminiert somit in der Erkenntnis, dass die moderne Moral »in beunruhigendem Ausmaß als Theater der Illusionen entlarvt« (107) wird. Die Einsicht, dass der moralische Diskurs zu einer Maske für Wille und Macht geworden ist, hat aufgrund des sukzessiven Scheiterns aller Versuche, der Moral eine objektive Grundlage zu verleihen, und dem daraus resultierenden Aufstieg subjektivistischer Theorien wie dem Emotivismus immer stärkere Verbreitung gefunden.

Die Normen der moralischen Tradition haben zwar ihre einstmalige objektive Geltung und Autorität, die sie aus dem teleologischen Bezug auf das Gute sowie aus ihrer Abkunft aus göttlichen Geboten bezogen, eingebüßt, werden aber im modernen anti-teleologischen und säkularisierten Kontext weiter benutzt, als verfügten sie weiterhin über objektive Autorität. Dieser Gebrauch erfolgt in mehr oder weniger bewusst manipulativer Weise, um anderen den eigenen Willen im Dienste bestimmter Interessen aufzuzwingen.

MacIntyre stellt dazu pointiert fest:

Wenn die moralische Äußerung im Dienste eines willkürlichen Willens genutzt wird, ist das der willkürliche Wille von irgendjemandem; und die Frage, wessen Wille es ist, ist offensichtlich von moralischer wie politischer Bedeutung. Doch diese Frage zu beantworten, ist hier nicht meine Aufgabe. Um meine gegenwärtige Aufgabe zu erfüllen, muß ich lediglich zeigen, wie die Moral einer bestimmten Art von Gebrauch zugänglich geworden ist und daß sie so gebraucht wird. (150-151; Hervorhebung im Original)

Und eben dies hat MacIntyre in der Tat gezeigt. Die emotivistische Kultur ist eine Kultur der Manipulation, in der die Sprache der Moral weithin zu einem Werkzeug im manipulativen Maskenspiel von Willen und Interessen herabgesunken ist. Das hat wohl niemand früher und deutlicher erkannt als Nietzsche. Und diese Einsicht erhebt Nietzsches Moralphilosophie in den Rang »einer der zwei echten theoretischen Alternativen [...], die sich jedem anbieten, der den moralischen Zustand unserer Kultur zu analysieren versucht« (151).

6.3.10 Nietzsche oder Aristoteles?

6.3.10 Nietzsche oder Aristoteles? Yusuf Kuhn

Die genannten zwei Alternativen sieht MacIntyre einerseits im rationalen Objektivismus der klassischen Tradition, die auf Aristoteles zurückgeht, und andererseits im irrationalen Subjektivismus des Willens zur Macht, in dem Nietzsche die wahre Grundlage der entlarvten Moral erkennt. Das zentrale neunte Kapitel, in dem MacIntyres negative Kritik den Zenit erreicht, trägt daher die Frage nach der Alternative im Titel: Nietzsche oder Aristoteles?

Es mag erhellend sein, die eingangs bereits angeführte Formulierung von MacIntyres These im Lichte des bislang Dargestellten nochmals zu bedenken:

Ein zentraler Teil meiner These war, daß die moderne moralische Äußerung und Praxis nur als eine Reihe bruchstückhafter Überreste einer älteren Vergangenheit verstanden werden können, und daß die unlösbaren Probleme, die sie den modernen Moraltheoretikern gestellt haben, so lange unlösbar bleiben, bis das richtig erkannt ist. Falls der deontologische Charakter moralischer Urteile der Schatten der Konzeption des göttlichen Rechts ist, das der Metaphysik der Moderne ziemlich fremd ist, und falls ihr teleologischer Charakter in ähnlicher Weise der Schatten der Konzeption der menschlichen Natur und ihrer Handlungen ist, die in der modernen Welt ebensowenig zu Hause ist, sollten wir damit rechnen, daß die Probleme, moralische Urteile zu verstehen und ihnen einen verstandesmäßig faßbaren Status zuzuweisen, sowohl ständig zunehmen als auch philosophischen Lösungen immer unzugänglicher werden. (151)

6.3.10.1 Anthropologischer Blick

Um dieser These weiter nachzuspüren und den Blick zu schärfen, nimmt MacIntyre die Sichtweise des Anthropologen zu Hilfe, die befähigt, Kulturen von außen zu beobachten sowie Überreste und Unverständliches zu identifizieren, die von innen nicht erfasst werden können. Dies führt ihn zum Vergleich der modernen Moral mit den Taburegeln auf Inseln im Pazifik, denen Kapitän Cook auf seiner dritten Reise (1776–79) begegnete.

Das polynesische Wort tabu bezeichnete eine Reihe von Verboten und Regeln, die ursprünglich im Kontext von Hintergrundüberzeugungen verstanden wurden, die ihrerseits jedoch nicht nur aufgegeben, sondern vergessen worden sind. Durch den Verlust ihres ursprünglichen Kontextes erscheinen die Taburegeln als willkürliche Verbote, für die keine Gründe mehr angegeben werden können. Das Wort tabu wird damit zunehmend unverständlich. Dafür spricht jedenfalls auch die Tatsache, dass die Abschaffung dieser Tabus durch König Kamehameha II. im Jahr 1819 ohne soziale Folgen blieb.

MacIntyre schildert, das gleichnishafte Geschehen verallgemeinernd, die Folgen:

In einer solchen Situation fehlt den Regeln der Status, der ihre Autorität sichern kann, und wenn sie nicht schnell einen neuen Status erhalten, werden ihre Auslegung und ihre Rechtfertigung fraglich. Wenn die Mittel einer Kultur nicht ausreichen, die Aufgabe einer Neuauslegung zu lösen, wird die Aufgabe der Rechtfertigung unlösbar. (153)

Daran hätten auch imaginäre analytische Philosophen auf Pazifikinseln nichts ändern können. Denn sie wären bei der Analyse der Bedeutung des Wortes tabu aufgrund des Verlustes des sinnstiftenden Kontextes zu keinen anderen Ergebnissen gekommen als ihre modernen Gegenstücke bei der Analyse der moralischen Ausdrücke der modernen Sprache.

MacIntyre benennt den Grund dafür:

Die Sinnlosigkeit dieser imaginären Debatte ergibt sich aus der gemeinsamen Voraussetzung der streitenden Parteien, nämlich daß das Regelwerk, dessen Status und Rechtfertigung sie untersuchen, einen adäquat abgegrenzten Forschungsgegenstand und das Material für ein autonomes Forschungsgebiet liefert. Wir erkennen von unserem Standpunkt in der wirklichen Welt aus, daß dies nicht der Fall ist, daß das Wesen der Taburegeln ausschließlich als Überrest eines früheren, weiterentwickelten kulturellen Hintergrundes zu verstehen ist. (153)

Die Taburegeln wie auch die Regeln der modernen Moral müssen ohne Bezug auf ihre Geschichte unverständlich bleiben. Die analytischen Moralphilosophen haben dies nicht verstanden, im Gegensatz zu Nietzsche.

Und daher wirft MacIntyre die Frage auf:

Und warum sollten wir uns Nietzsche nicht als den Kamehameha II. der europäischen Tradition vorstellen? Denn es war Nietzsches historische Leistung, besser als jeder andere Philosoph - ganz bestimmt besser als seine Ebenbilder im angelsächsischen Emotivismus und Existentialismus des europäischen Festlands - nicht nur zu verstehen, daß die angebliche Berufung auf Objektivität in Wirklichkeit Ausdruck des subjektiven Willens war, sondern auch das Wesen der Probleme zu verstehen, die daraus für die Moralphilosophie entstanden. (154)

6.3.10.2 Nietzsches Entlarvung der Moral

Nietzsche schießt dabei freilich über das Ziel hinaus, indem er seine Analyse der modernen Moral auf Moral überhaupt ausdehnt. Denn er meint, nicht nur die moderne, sondern jede Moral schlechthin als bloße Maske des Willens zur Macht entlarven zu können. Auf dieser Grundlage stellt sich Nietzsche indes wie kein zweiter dem Problem, das sich aus der Zerstörung der Moral für die Moralphilosophie ergibt, nämlich dem Problem der radikalen Schöpfung einer neuen Moral.

MacIntyre beschreibt Nietzsches Kritik prägnant:

Der grundlegende Aufbau seines Arguments ist folgender: wenn die Moral nur aus Äußerungen des Willens besteht, dann kann meine Moral nur das sein, was mein Wille schafft. Es kann keinen Platz für Fiktionen wie Naturrechte, Nützlichkeit oder das größte Glück für die größte Zahl geben. Ich selbst muß jetzt die »Schöpfung neuer eigener Gütertafeln« vornehmen. (155)

MacIntyre bezieht sich dabei auf einen Aphorismus aus Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft, in dem zunächst die Versuche einer Gründung der Moral auf das Gewissen und auf den kategorischen Imperativ, die Universalisierbarkeit im Stile Kants höhnisch widerlegt werden. Aber nicht nur das Projekt einer rationalen Rechtfertigung der Moral, sondern auch der Glaube, die moderne Moral und ihre Sprache seien in guter Verfassung und tragfähig, erntet mit dem Verweis auf die Entstehung moralischer Urteile aus Eigensinn und Selbstsucht nichts als Spott und Hohn. Über diese radikale Ablehnung einer entlarvten Moral der Vergangenheit kommt Nietzsche sodann zu seinem eigenen Projekt der Neuschöpfung einer überlegenen und ehrlichen Moral, die ihre eigene Herkunft aus dem Willen zur Macht nicht vor sich selbst verbergen muss.

Nietzsche schreibt in Die fröhliche Wissenschaft im Aphorismus Nr. 335:

Beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Werthschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln: — über den »moralischen Werth unserer Handlungen« aber wollen wir nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der Einen über die Andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu Gericht sitzen soll uns wider den Geschmack gehen! Ueberlassen wir diess Geschwätz und diesen üblen Geschmack Denen, welche nicht mehr zu thun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen und welche selber niemals Gegenwart sind, — den Vielen also, den Allermeisten! Wir aber wollen Die werden, die wir sind, — die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!Friedrich Nietzsche, Morgenröte - Idyllen aus Messina - Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 3, München, 1999, S. 563; Hervorhebungen im Original. MacIntyre zitiert nur den letzten Satz dieser Stelle.

Nietzsche radikalisiert die Vorstellung des autonomen moralischen Subjekts, dessen vernünftige Gestalt er als Täuschung, als Fiktion enthüllt, indem er an die Stelle der Vernunft den Willen zur Selbstermächtigung setzt. Aus diesem heroischen Willensakt geht das wahrhaft autonome Subjekt hervor, das, indem es sich selbst schafft, sich ein neues moralisches Gesetz geben muss.

MacIntyre merkt zu dieser Konzeption einer radikal neuen Moralphilosophie an:

Die Schwierigkeit ist dann, wie auf völlig ursprüngliche Weise eine neue Gütertafel und ein Gesetz geschaffen, erfunden werden soll, eine Schwierigkeit, die sich für jeden einzelnen erhebt. Dieses Problem wäre der Kern einer Moralphilosophie Nietzsches. Denn Nietzsches Größe liegt in seiner rückhaltlos ernsten Beschäftigung mit dem Problem, nicht in seinen leichtfertigen Lösungen, eine Größe, die ihn zu dem Moralphilosophen machen würde, wenn es sich erweist, daß die einzigen Alternativen zu Nietzsches Moralphilosophie die von den Philosophen der Aufklärung und ihren Nachfolgern formulierten sind. (155; Hervorhebungen im Original)

MacIntyre sieht zudem einen weiteren Grund für Nietzsches Größe darin, dass das weberianische Denken, das in der Kultur des bürokratischen Individualismus vorherrschend ist, ebenfalls die zentrale These Nietzsches voraussetzt. Auch daher verdient Nietzsche die Bezeichnung als »der Moralphilosoph der Gegenwart« (155; Hervorhebung im Original).

MacIntyre führt dazu aus:

Nietzsches prophetischer Irrationalismus - Irrationalismus, weil Nietzsches Probleme ungelöst bleiben und seine Lösungen sich der Vernunft widersetzen - bleibt daher den weberianischen, managerhaften Formen unserer Kultur immanent. Wann immer diejenigen, die in die bürokratische Kultur der Zeit verstrickt sind, den Versuch unternehmen, sich gedanklich einen Weg zu den moralischen Fundamenten dessen zu bahnen, was sie sind und was sie tun, werden sie unterdrückte Prämissen Nietzsches entdecken. Und folglich kann man mit gutem Gewissen voraussagen, daß im anscheinend davon völlig unterschiedlichen Kontext der bürokratisch gemanagten modernen Gesellschaften periodisch soziale Bewegungen wiederkehren werden, die gerade von jenem prophetischen Irrationalismus durchdrungen sind, dessen Stammvater das Denken Nietzsches ist. Gerade weil und insofern als der zeitgenössische Marxismus tatsächlich in seinem Wesen weberianisch ist, können wir mit prophetischem Irrationalismus der Linken wie der Rechten rechnen. (155-156)

6.3.10.3 War es richtig, Aristoteles zu verwerfen?

Nietzsches zentrale These erstreckt sich freilich nicht nur auf die moderne Moral, sondern auf jegliche Moral, die schlechthin als Maske des Willens zur Macht entlarvt wird. Dies gilt somit auch für die aristotelische Ethik. Gibt es eine Moralphilosophie, die Nietzsches Kritik widersteht, so ist seine These widerlegt. Und unter der Voraussetzung, dass es keine weitere Alternative gibt, gilt auch die Umkehrung. So kann MacIntyre feststellen:

Aber es ist natürlich nicht [nur]In der deutschen Ausgabe fehlt »nur«, das hier in eckigen Klammern eingefügt ist. Durch diese Auslassung wird allerdings der Sinn ins Gegenteil verkehrt. Im englischen Original lautet der Satz: »Yet it is not of course just that Nietzsche's moral philosophy is false if Aristode's is true and vice versa.« (After Virtue, S. 117) so, daß Nietzsches Moralphilosophie falsch ist, wenn die von Aristoteles richtig ist und umgekehrt. (159)

Denn die Beziehung der beiden Moralphilosophien beschränkt sich nicht nur auf diesen Gegensatz, sondern »in einem viel stärkeren Sinn«Eigene Übersetzung; in der deutschen Ausgabe heißt es: »in einem viel engeren Sinn«; im englischen Original steht: »In a much stronger sense [...]« (S. 117), direkt im Anschluss an den eben zitierten Satz. auf den Gegensatz, der sich aus der historischen Rolle ergibt, die sie jeweils spielen. Da die klassische Tradition mit ihrem aristotelischen Kern in der Übergangsphase vom fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhundert verworfen wurde, mussten neue Grundlagen für die Moral gesucht werden. Das Projekt der Aufklärung schickte sich folglich an, eine rationale und säkulare Moralbegründung ausfindig zu machen. Und da dieses Vorhaben aufgrund der sukzessiven rationalen Kritik, die es erfuhr, scheiterte, führte der Weg in den irrationalen Subjektivismus, den »Nietzsche und all seine existentialistischen und emotivistischen Nachfolger« (159) vertreten.

Da die aristotelische Ethik schon aus dem Weg geräumt war, konnte diese Kritik einen Erfolg gegen die gesamte frühere Ethik verbuchen. Doch war dies lediglich ein Scheinerfolg? Denn obgleich die Kritik an der modernen Moralbegründung berechtigt sein mag, so bleibt doch die Frage, ob auch alle früheren Formen und insbesondere die aristotelische Ethik wirklich widerlegt oder bloß verworfen wurden.

MacIntyre kommt daher zu folgendem Schluss:

Ob die Position Nietzsches zu verteidigen ist, führt also letzten Endes zu der Antwort auf die Frage: war es überhaupt richtig, Aristoteles zu verwerfen? Denn wenn die Position von Aristoteles in der Ethik und der Politik - oder etwas sehr Ähnliches - aufrechterhalten werden könnte, wäre das gesamte Unternehmen Nietzsches sinnlos. Das liegt daran, daß die Stärke der Position Nietzsches von der Richtigkeit einer einzigen zentralen These abhängt: daß alle rationalen Rechtfertigungen der Ethik offenkundig scheitern, und daß deshalb der Glaube an die Dogmen der Ethik als ein Komplex von Rationalisierungen erklärt werden muß, welche die im Grunde nicht-rationalen Phänomene des Willens verbergen. Meine eigene Beweisführung zwingt mich, mit Nietzsche darin übereinzustimmen, daß es den Philosophen der Aufklärung nie gelang, Gründe zu liefern, seine zentrale These anzuzweifeln; seine Epigramme sind noch vernichtender als seine ausführlich vorgetragenen Gedanken. Aber falls mein früheres Argument richtig ist, war dieses Scheitern selbst nichts anderes als eine historische Folge der Zurückweisung der aristotelischen Tradition. Und so wird es tatsächlich zur Schlüsselfrage, ob die Ethik des Aristoteles oder etwas ihr sehr Ähnliches überhaupt verteidigt werden kann. (159-160)

MacIntyre schickt sich daher an, ebendiese Frage nach der Möglichkeit der Verteidigung der aristotelischen Tradition der Moralphilosophie zu beantworten. Er geht dabei davon aus, dass die aristotelische Ethik »philosophisch die stärkste prämoderne Form moralischen Denkens« (160; Hervorhebung im Original) repräsentiert.

Der Aristotelismus hat sich schließlich wie keine andere Lehre in vielen sehr unterschiedlichen Kontexten wie dem griechischen, islamischen, jüdischen und christlichen behauptet und bewährt.Die Übersetzung in der deutschen Ausgabe ist auch an dieser Stelle, auf die hier Bezug genommen wird, wieder mehr als irreführend, denn sie lautet: »Tatsächlich hat sich keine Lehre in so vielen Kontexten verteidigt wie die Lehre des Aristoteles: gegen die Griechen, den Islam, die Juden und die Christen.« (160) Im englischen Original gibt es insbesondere keinerlei Entsprechung für »gegen«, denn es heißt vielmehr: »It is true that no doctrine vindicated itself in so wide a variety of contexts as did Aristotelianism: Greek, Islamic, Jewish and Christian [...]« (S. 118). Angesichts des Scheiterns des Projektes der Moderne, das unausweichlich in den nietzscheanischen Irrationalismus mündet, erkennt MacIntyre die einzige Alternative in einem Schritt hinter die Aufklärung zurück, der zur Wiederherstellung der aristotelischen Tradition führen muss:

Die Verbindung von philosophischer und historischer Argumentation zeigt damit, daß man entweder den Bestrebungen und dem Zusammenbruch der verschiedenen Versionen des Vorhabens der Aufklärung folgen, bis nur noch Diagnose und Problematik Nietzsches übrigbleiben, oder die Meinung vertreten muß, daß das Aufklärungsvorhaben nicht nur in die Irre ging, sondern überhaupt nicht hätte in Angriff genommen werden sollen. Eine dritte Alternative gibt es nicht, und vor allem jene Denker im Mittelpunkt des gegenwärtigen, konventionellen Lehrplans der Moralphilosophie bieten keine Alternative, Hume, Kant und Mill. (160-161; Hervorhebungen im Original)

Aber, so lässt sich fragen, gibt es wirklich keine dritte Alternative? Ist diese Beschränkung nicht vielmehr einer Verengung des philosophischen wie historischen Blicks MacIntyres geschuldet? MacIntyre selbst wird später zu einer anderen Alternative gelangen, indem er die thomistische Moralphilosophie, die ihrerseits auf dem Aristotelismus aufbaut, als Ausweg vorschlägt. Darin spiegelt sich bereits eine deutliche Erweiterung des Horizonts, obgleich der Thomismus als Verbindung aus Aristotelismus und Christentum als Teil der klassischen Tradition verstanden werden kann.

Jedenfalls bietet MacIntyre hier kein Argument für die Beschränkung auf diese zwei Alternativen. Warum sollte es keine weitere Alternative neben Nietzsche und Aristoteles geben? Im europäischen Denken selbst, das MacIntyre hier freilich einzig in den Blick zu nehmen vermag, oder auch im außereuropäischen Denken? Könnte es keine konfuzianische, buddhistische oder islamische Alternative geben? Gar eine, in deren Licht der vermeintlich alternativlose Gegensatz von Nietzsche und Aristoteles sich ganz anders darstellt und womöglich sogar überwunden werden kann? MacIntyre hat hier zu diesen Fragen nichts zu sagen. Sie müssen also vorerst offen bleiben und verdienen späterhin allerdings eine gründliche Untersuchung.