6.6 Liberaler Individualismus oder aristotelische Tradition
6.6 Liberaler Individualismus oder aristotelische Tradition Yusuf KuhnNietzsche ist zwar der schärfste Gegenspieler der aristotelischen Tradition. Und er hielt sich selbst zugleich auch für den erbittertsten Kritiker der moralischen Kultur der Moderne. Doch Nietzsches Position erweist sich als lediglich eine Spielart des modernen Individualismus, die sich allerdings durch ihre vor nichts zurückschreckende Konsequenz und Ehrlichkeit auszeichnet.
So nimmt die grundsätzliche Alternative »Nietzsche oder Aristoteles« eine andere Gestalt an, wie MacIntyre bemerkt:
Es ist daher letztlich so, daß der entscheidende moralische Gegensatz zwischen dem liberalen Individualismus in der einen oder anderen Version und der aristotelischen Tradition in der einen oder anderen Version besteht. (345)
Die Differenzen zwischen diesen beiden Sichtweisen reichen über Ethik und Politik hinaus und betreffen ganz grundsätzlich das Verständnis des menschlichen Handelns selbst. Das Projekt der Wiederherstellung der Ethik im Geiste der klassischen Tradition, das gleichwohl den Irrungen der aristotelischen Metaphysik zu entgehen versucht, indem es sich auf den Begriff des menschlichen Handelns stützt, berührt alle Aspekte des menschlichen Lebens, die Gesellschaft wie deren Verständnis in den Sozialwissenschaften. Es zielt darauf ab, »die Verständlichkeit und Rationalität unserer moralischen und sozialen Haltungen und Verpflichtungen« (345) wiederherzustellen. Demgegenüber lässt sich auf der Seite des liberalen Individualismus unverändert das Fehlen einer kohärenten und rational gerechtfertigten Konzeption konstatieren.
6.6.1 Drei Einwände
6.6.1 Drei Einwände Yusuf KuhnMacIntyre zieht abschließend drei Einwände in Betracht, die gegen diese Schlussfolgerung erhoben werden könnten. Der erste Einwand könnte von Vertretern des liberalen Individualismus vorgebracht werden und bezieht sich auf den Begriff der Rationalität. Denn wie lassen sich grundsätzliche Fragen in der Philosophie klären, wo Argumente doch selten die Form von Beweisen haben?
MacIntyre vertritt dazu folgende Auffassung:
Wir können die Wahrheit oft in Bereichen begründen, wo keine Beweise verfügbar sind. Aber wenn eine Frage gelöst werden konnte, dann häufig deshalb, weil die streitenden Parteien - oder jemand aus ihren Reihen - aus der Kontroverse zurückgetreten sind und systematisch gefragt haben, welches die geeigneten rationalen Methoden sind, speziell diese Art von Kontroverse beizulegen. Ich bin der Meinung, daß wieder einmal die Zeit gekommen ist, wo es dringend erforderlich ist, diese Aufgabe in der Moralphilosophie durchzuführen; aber ich gebe nicht vor, dies im vorliegenden Buch unternommen zu haben. Meine negativen und positiven Bewertungen bestimmter Argumente setzen in der Tat eine systematische, obgleich hier nicht ausgeführte Darstellung der Rationalität voraus. (346; Hervorhebungen im Original)
Dieser Aufgabe einer Darstellung der Rationalität, die von größter Bedeutung für die Wiederherstellung der Ethik ist, wird MacIntyre sich in einem späteren Buch zuwenden, das eine originelle Konzeption der Rationalität entwickelt und im Titel die Fragen aufwirft: Wessen Gerechtigkeit? Welche Rationalität?
Der zweite Einwand könnte von traditionellen Aristotelikern und Thomisten erhoben werden, die MacIntyres Interpretation der klassischen Tradition aus der Perspektive unterschiedlicher Interpretationen ebendieser Tradition kritisieren. MacIntyre betrachtet diese Kritik als Bestandteil einer Debatte innerhalb der von ihm selbst vertretenen Tradition, wobei er davon ausgeht, dass die Tradition dadurch nicht gefährdet, sondern gestärkt wird. Denn sein Begriff einer moralischen Tradition ist keineswegs statisch, sondern offen für dynamische Entwicklungen, da »eine Tradition durch die eigenen inneren Argumente und Konflikte aufrechterhalten und vorangetrieben« (346-347) wird. Auch dieser Aufgabe wird MacIntyre sich in späteren Werken und insbesondere in dem eben genannten Buch Whose Justice? Which Rationality? zuwenden.
Der dritte Einwand könnte von Marxisten erhoben werden, die die Alternative zum liberalen Individualismus nicht in der aristotelischen Tradition, sondern in der einen oder anderen Version des Marxismus sehen. Doch der Marxismus hat erstens seinen Anspruch auf einen moralischen Standpunkt durch seine eigene moralische Geschichte untergraben, da er stets in Varianten des Kantianismus oder Utilitarismus zurückgefallen ist. Und das ist nur eine Folge des von Anfang an im Kern des marxistischen Denkens selbst mehr oder weniger verborgenen radikalen Individualismus. Denn der Marxismus basiert nicht anders als die bürgerliche Ökonomie auf dem Konzept des modernen Individuums.
Die Marxisten erweisen sich zweitens auf ihrem Weg zur Macht meist als Weberianer, die ihre Autorität jenseits der Moral auf bürokratische Effektivität stützen. Daher ist für MacIntyre der Marxismus als politische und moralische Tradition erschöpft, obgleich er »noch immer eine der reichsten Quellen für Ideen über die moderne Gesellschaft ist« (349). Das zeigt, dass es sich hier nicht um eine billige Kritik von einem liberalen oder konservativen Standpunkt aus handelt, sondern vielmehr um eine interne Kritik eines Denkers, der sich selbst der marxistischen Tradition verbunden fühlt.
6.6.2 Wiederbelebung des moralischen Lebens
6.6.2 Wiederbelebung des moralischen Lebens Yusuf KuhnDa MacIntyres Argument zufolge, weit über den Marxismus hinaus, jede moralische und politische Tradition in der modernen Kultur erschöpft ist, stellt sich die Frage, ob es unter diesen Bedingungen überhaupt eine sinnvolle Form von Politik geben kann und ob daraus nicht wiederum ein tiefer Pessimismus im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung zwingend folgt.
MacIntyre gibt zur Antwort: »Nicht im mindesten.« (349) Denn er verwirft zwar die im engeren Sinne politische Reform als Weg zur Wiederherstellung der moralischen Kultur, schlägt aber als Ausweg die Bildung von lokalen Gemeinschaften vor, in denen im Streben nach geteilten Gütern durch Praktiken das moralische Leben wiederbelebt und bewahrt werden kann. Die menschlichen Beziehungen in solchen Gemeinschaften können einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung und Verfeinerung der Tugenden leisten.
MacIntyre beschließt After Virtue in diesem Geiste mit folgenden Sätzen:
Es ist immer gefährlich, zu enge Parallelen zwischen einer historischen Periode und einer anderen zu ziehen; und zu den irreführendsten dieser Parallelen gehören jene, die zwischen unserer eigenen Zeit in Europa und Nordamerika und der Epoche vom Niedergang des Römischen Reichs bis ins frühe Mittelalter gezogen worden sind. Dennoch gibt es gewisse Parallelen. Es stellte einen entscheidenden Wendepunkt in der älteren Geschichte dar, als Männer und Frauen mit guten Absichten Abstand davon nahmen, das Römische Imperium zu stützen und aufhörten, den Fortbestand der Zivilisation und der moralischen Gemeinschaft mit dem Fortbestand dieses Imperiums gleichzusetzen. Statt dessen machten sie sich daran, oft ohne genau zu erkennen, was sie taten, neue Formen von Gemeinschaft aufzubauen, in denen das moralische Leben aufrechterhalten werden konnte, so daß Moral und Zivilisation die heraufziehende Zeit der Barbarei und Finsternis überleben konnten. Wenn meine Darstellung unserer moralischen Lage richtig ist, sollten wir ebenfalls zu dem Schluß kommen, daß auch wir nun seit einiger Zeit ebenfalls diesen Wendepunkt erreicht haben. Was in diesem Stadium zählt, ist die Schaffung lokaler Formen von Gemeinschaft, in denen die Zivilisation und das intellektuelle und moralische Leben über das neue finstere Zeitalter hinaus aufrechterhalten werden können, das bereits über uns gekommen ist. Und da die Tradition der Tugenden die Schrecken der letzten Finsternis überstanden hat, sind wir nicht ganz ohne Grund zur Hoffnung. Diesmal warten die Barbaren allerdings nicht jenseits der Grenzen; sie beherrschen uns schon seit einer ganzen Weile. Und gerade das mangelnde Bewußtsein dessen macht einen Teil unserer mißlichen Lage aus. Wir warten nicht auf einen Godot, sondern auf einen anderen, zweifelsohne völlig anderen heiligen Benedikt. (349-350)
Christopher Stephen Lutz erläutert in seinem Kommentar zu After Virtue den Verweis auf einen »anderen heiligen Benedikt« treffend:
Nach einem neuen Sankt Benedikt Ausschau zu halten, heißt, nach einem Architekten für dieses neue Modell des gesellschaftlichen Lebens zu suchen, das Gemeinschaften, die die Tradition der Tugenden verkörpern, befähigen wird, inmitten einer sozialen und politischen Kultur, die diese Tradition verwirft, zu gedeihen.
Christopher Stephen Lutz, Reading Alasdair MacIntyre’s After Virtue, London, 2012, S. 140.
Dieser äußerst verdichtete und metaphorisch aufgeladene Beschluss von After Virtue ist darüber hinaus eher dazu angetan, allerlei Fragen aufzuwerfen, als Antworten zu geben. Da MacIntyre es bei diesen kryptischen Andeutungen bewenden lässt, ohne zu deren weiterer Aufhellung beizutragen, muss jeder Versuch einer näheren Deutung hoch spekulativ bleiben. Davon sei daher hier abgesehen. MacIntyres Worte müssen daher für sich selbst sprechen.