3 Zu al-Ghazālīs Kriterium der Unterscheidung: Faysal at-tafriqa
3 Zu al-Ghazālīs Kriterium der Unterscheidung: Faysal at-tafriqa Yusuf KuhnVorbemerkung
Für die vorliegende Untersuchung habe ich mich vor allem auf die deutsche und englische Ausgabe von al-Ghazālīs Schrift Faysal at-tafriqa bayna al-islām wa az-zandaqa gestützt. Die beiden Übersetzungen unterscheiden sich in Ansatz und Stil erheblich. Das mag durch die unterschiedliche Perspektive des jeweiligen Autors bedingt sein.
Die Übersetzung ins Deutsche unter dem Titel Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz
Die Übersetzung ins Englische unter dem Titel On the Boundaries of Theological Tolerance in Islam
3.1 Zum Titel: Faysal at-tafriqa
3.1 Zum Titel: Faysal at-tafriqa Yusuf KuhnDer Titel auf Arabisch lautet: Faysal at-tafriqa bayna al-islām wa az-zandaqa.
Griffel übersetzt: Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und Gottlosigkeit.
Jackson übersetzt: The Decisive Criterion for Distinguishing Islam from Masked Infidelity; ziemlich wörtlich übertragen heißt das: Das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung des Islam von verborgener Ungläubigkeit.
Der entscheidende Unterschied liegt klar erkennbar in der Übersetzung von zandaqa. zandaqa bezeichnet eine bestimmte Art von kufr (Ablehnung des Islam, Nicht-Islam), nämlich den verborgenen oder verschleierten kufr. Da kufr nicht nur die Leugnung Gottes schlechthin, sondern auch den Glauben an einen anderen Gott als Allāh einschließt, ist die Übersetzung von zandaqa mit »Gottlosigkeit« unzutreffend. al-Ghazālī schreibt beispielsweise den falāsifa durchaus zandaqa zu, obwohl diese keineswegs Gottlosigkeit, sondern ihren besonderen Begriff von Gott und dessen Existenz vertreten. Es ließe sich daher sagen, dass sie an einen Gott, nämlich den »Gott der Philosophen« glauben. Aus dem gleichen Grund ist auch Jacksons Übersetzung mit »Ungläubigkeit« ungenau.
Ich möchte daher als Übersetzung des Titels vorschlagen: Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und verborgenem kufr (Ablehnung des Islam, Nicht-Islam).
Wie aus dem Titel hervorgeht, setzt al-Ghazālī es sich zur Aufgabe, ein Kriterium zu entwickeln, das eine möglichst eindeutige Unterscheidung zwischen Islam und zandaqa (verborgenem kufr) ermöglicht. Es geht in diesem Werk also auch darum, ein Verständnis von kufr zu entwickeln, das als Grundlage zur Bestimmung dessen dienen kann, ob eine Auffassung mit dem Islam vereinbar ist oder nicht.
al-Ghazālī geht dabei von seiner Erfahrung mit dem in seiner Umgebung häufigen Gebrauch des Ausschlusses aus der muslimischen Gemeinschaft aus, dem er einen Riegel vorschieben wollte. Allzu häufig wurden Meinungen und Menschen mit dem Vorwurf des kufr überzogen. Diese Bezichtigung des kufr heißt auf Arabisch takfīr. Durch den leichtfertigen und übereilten Einsatz von takfīr drohte die muslimische Gemeinschaft in heillose und mitunter blutige Streitigkeiten zu versinken und zu zerrütten. Angesichts dessen strebte al-Ghazālī danach, diese aus seiner Sicht schädlichen und unnötigen Konflikte beizulegen und die Einheit der muslimischen Gemeinschaft (umma) zu schützen und zu stärken. Dass dieses Anliegen auch und gerade heute leider keineswegs an Aktualität verloren hat, dürfte ohne weiteres einsichtig sein.
Da sich diese Konflikte vor dem Hintergrund der Entwicklung des muslimischen Denkens abspielen, muss auch dieser ein wenig ausgeleuchtet werden. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Debatte zwischen zwei Tendenzen des islamischen Denkens, die oftmals als Auseinandersetzung zwischen Rationalismus und Traditionalismus beschrieben wird. Und auch dieser Konflikt war nicht nur zu al-Ghazālīs Zeiten virulent, sondern lebt bis heute fort. Wer sich heute für diese Fragen interessiert, sollte dies zumindest in Kenntnis des klassischen Werkes von al-Ghazālī tun. Denn es vermag nach wie vor einen wichtigen Beitrag zum islamischen Denken zu leisten.
3.2 al-Ghazālī und die Kultur der Gelehrten
3.2 al-Ghazālī und die Kultur der Gelehrten Yusuf Kuhnal-Ghazālī war schon in jungen Jahren zu einem Gelehrten (ʿālim) mit großem Ansehen in der muslimischen Welt aufgestiegen. Daher wurde ihm 1091 ein Lehrstuhl für schafiʿitisches Recht an der berühmten Nizamiya-Universität in der Hauptstadt Bagdad angetragen. Seinem Ruf und seiner Karriere schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Doch schon vier Jahre nach dem Antritt seines Amtes an der Nizamiya stürzte er in eine tiefe geistige Krise. Er erlitt einen Zusammenbruch und konnte für einige Zeit weder essen noch sprechen.
al-Ghazālī verfügte über den außergewöhnlichen Mut, sich selbst einzugestehen, dass seine Absicht im Streben nach Wissen, die ihn bisher angetrieben hatte, nicht rein gewesen war. Seine Beweggründe hinter all seinen Leistungen waren in Wirklichkeit von seinem Verlangen nach Ruhm und Prestige bestimmt. Trotz all seinem Wissen in den islamischen Wissenschaften war seine Suche nach Gewissheit bislang vergebens gewesen. Ihm drängte sich die Einsicht auf, dass er den Ansprüchen des Islams so nicht gerecht werden konnte.
Da er tief in die Kultur der ʿulamāʾ (Gelehrten) seiner Zeit eingedrungen war, gewann er aus eigener Erfahrung mit sich und seinen Kollegen die Erkenntnis, dass die Gründe für seine Krise nicht nur persönlicher Natur waren. Der Wissenschaftsbetrieb war insgesamt viel zu sehr auf das Erlangen von Reputation und Reichtum ausgerichtet, als dass er wahrhaft der Erkenntnis der Wahrheit dienen konnte. Der vorherrschende rigide Intellektualismus trug durch seine Beschränktheit eher zur Verkümmerung des menschlichen Geistes bei als zu dessen Entfaltung.
So gewann al-Ghazālī eine gewisse Verachtung für seinen Berufsstand. Und dessen unzureichendes Denken weckte den Verdacht, dass die Vernunft, zumindest wie sie von ihm verstanden und praktiziert wurde, rasch an ihre Grenzen stieß und bei weitem nicht das zu leisten vermochte, was ihr zugeschrieben wurde.
Diese Erfahrung ließ al-Ghazālī nicht nur neue geistige Wege beschreiten, wie seine intensive Beschäftigung mit dem Sufismus bezeugt, sondern auch seine berufliche Karriere beenden und Bagdad verlassen. Er begab sich für etliche Jahre auf spirituelle Wanderschaft und bereiste viele Orte wie Damaskus, al-Quds (Jerusalem), Mekka und Medina. Nach mehr als zehn Jahren entschied er sich 1106, nach Nischapur zurückzukehren. Und hier schrieb er Faysal at-tafriqa, vermutlich in der Zeit bis spätestens 1109. Nur wenige Jahre später verstarb er 1111.
In den zehn Jahren seiner Wanderschaft verfasste al-Ghazālī sein wohl bekanntestes Werk Ihyāʾ ʿulūm ad-dīn (Belebung der Wissenschaften der Religion). In diesem vielbändigen und vielschichtigen Werk werden so ziemlich alle Themen behandelt, die für muslimisches Leben von Bedeutung sind. Neben vielen Absichten, die al-Ghazālī damit verfolgt haben mag, kommt darin gewiss auch sein Wunsch zum Ausdruck, mit seinem Wissen zu einer Verbesserung nicht nur seines Lebens, sondern des Lebens der muslimischen Gemeinschaft insgesamt beizutragen. Das bloße Aufhäufen von Wissen als Selbstzweck, von dem die Wissenschaften nur allzu oft bestimmt sind, war ihm seit seiner Krise ein Greuel geworden. Dieses Anliegen dürfte einen prägenden Einfluss auf alles ausgeübt haben, was al-Ghazālī nach dem Verlassen Bagdads getan hat. Und auch das Schreiben des Faysal muss in diesem Lichte gesehen werden.
Im Ihyāʾ brachte al-Ghazālī bereits eine ausführliche Kritik der Kultur der ʿulamāʾ vor, deren Reihen er selbst entstammte und die er daher aus eigener Erfahrung sehr gut kannte. Diese Erfahrung hatte zur Desillusionierung und schließlich zum Bruch geführt. al-Ghazālī bezeichnete sie als ʿulamāʾ ad-dunyā (Gelehrte der diesseitigen Welt). Er warf ihnen vor, ihr Wissen bloß in den Dienst weltlicher, oftmals auch politischer Interessen zu stellen. Da es ihnen nur um Macht, Reichtum und Ansehen ging, vernachlässigten sie ihre eigentliche Aufgabe sträflich, Gottesbewusstsein und Verantwortungsbewusstsein (taqwā) im Blick auf das Jenseits zu befördern.
Der Wissenschaftsbetrieb insgesamt war allmählich von dieser Mentalität erfasst und durchsetzt worden. Wer darin bestehen wollte, musste sich auf den unvermeidlichen Konkurrenzkampf einlassen. So kam es dazu, dass die Gelehrten ihr Bestreben hauptsächlich darin sahen, ihre Gegner zu besiegen und zum Schweigen zu bringen, um damit ihre eigene Überlegenheit und Vorrangstellung zu erringen und zu bewahren.
In diesem Konkurrenzkampf kam auch ein Mittel zum Einsatz, dessen Kritik sich al-Ghazālī im Faysal ganz besonders widmen sollte: takfīr, der Bezichtigung des kufr, des Ausschlusses aus dem Islam. Die Häufigkeit und Leichtfertigkeit, mit der dieser Vorwurf erhoben wurde, erschien al-Ghazālī als große Gefahr sowohl für den Einzelnen wie auch für die muslimische Gesellschaft, die dadurch in endlose und mitunter gewalttätige Konflikte verstrickt und zerrissen zu werden drohte. Dem entgegenzuwirken, sah al-Ghazālī als seine Aufgabe und Verantwortung als Gelehrter an, der die vom Islam an ihn gerichteten Ansprüche wirklich ernstzunehmen beabsichtigte.
Diesem Aspekt am Faysal ist – da hat Jackson gewiss recht – nicht die gebührende Beachtung zuteil geworden. Der Faysal wurde verschiedentlich nicht ganz zutreffend als Werk der Theologie, des Sufismus oder des Rechts interpretiert. Und auch Griffel, der die »religionspolitische« Seite hervorhebt, trifft den Kern der Sache nicht wirklich, denn es handelt sich nicht um Politik im engen Sinne. al-Ghazālīs Anliegen war nicht, eine bestimmte Glaubenslehre, Rechtsauffassung oder Religionspolitik zu vertreten, sondern in erster Linie die Gemeinschaft (umma) zu verteidigen und zu schützen gegenüber dem in seiner Zeit inflationären Gebrauch des takfīr (Bezichtigung des kufr). Das ist der rote Faden, der sich durch den Faysal zieht.
al-Ghazālī selbst nennt im Faysal keine Namen. Um dennoch eine konkrete Veranschaulichung zu bieten, führt Jackson in seiner Einleitung zum Faysal beispielhaft den Namen eines Gelehrten an, der gut das Ziel der Kritik von al-Ghazālī sein könnte. ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī (gest. 429/1037) war ein Gelehrter der schafiʿitischen Rechtsschule und des aschʿaritischen kalām. Er übte mit seinen Werken über die Grundlagen der Religion (Usūl ad-dīn) und über die Unterschiede der Glaubenslehren der verschiedenen Gruppen (al-Farq bayna al-firaq) großen Einfluss aus und schuf damit eine »ideologische Plattform« (Jackson), auf der sich viele Gelehrte versammeln konnten. Sein Einfluss zog viele Probleme nach sich, da er ein »unverbesserlicher Fanatiker« war, der keine Meinung neben seiner eigenen dulden konnte und wollte. Niemand war vor seinem takfīr, seiner Bezichtigung des kufr sicher, außer der kleinen Gruppe, die seiner Version der aschʿaritischen Glaubenslehre bedingungslos anhing. Für ihn konnte es nicht einmal Nachsicht wegen Unwissen, Irrtum oder unabsichtlichen Fehlern geben.
al-Baghdādī zufolge war es beispielsweise »Pflicht, alle Führer der Muʿtazila des kufr zu bezichtigen«. Und er schreibt darüber hinaus in seinem Buch Usūl ad-dīn:
Von keinem von jenen, die sich von uns [Aschʿariten] unterscheiden, einschließlich der Qadariten, der Khāridschiten, der Rāfiditen, der Dschahmiten, der Nadschdschāriten und der Korporealisten (dschismīya) [oftmals ein Deckname für Traditionalisten], kann gesagt werden, dass sie eine einzige gottesdienstliche Handlung verrichtet haben, da das Objekt ihres vermeintlichen Gottesdienstes nicht unser Gott ist.
ʿAbd al-Qāhir al-Baghdadi, Usūl ad-dīn; zit. nach: Jackson, op. cit., S. 42, Anmerkungen in eckigen Klammern von Jackson.
al-Baghdādī warf sogar auch denen kufr vor, die zwar die seiner Ansicht nach richtigen Glaubensüberzeugungen hatten, aber sich nicht sicher waren, sie gegen rational argumentierende Angriffe verteidigen zu können. Die Liste der Verurteilten war schier endlos. Einige derjenigen, die al-Baghdādī des kufr bezichtigte, hatten keinen einzigen Grundsatz des Islam oder keinen einzigen Text aus Koran und Sunna bezweifelt oder verworfen. Sie hatten nur rational begründete Lehren, die möglicherweise lediglich zweitrangige Fragen betreffen, übernommen, die nach al-Baghdādīs Auffassung zu falschen Schlussfolgerungen führten oder die Kohärenz des gesamten rationalistischen Systems bedrohten. So wurde zum Beispiel die Ablehnung des philosophischen Begriffs der Akzidenzien mit kufr gleichgesetzt, obwohl dies in keinem direkten Zusammenhang mit Koran und Sunna steht.
al-Baghdādī führt alle diese Urteile im Namen »unserer Leute« (ashābunā) an, gemeint sind damit die aschʿaritischen Gelehrten. Diese Auffassungen haben wahrscheinlich auch in den Kreisen der schafiʿitischen Rechtsschule weite Verbreitung gefunden. Da nun al-Ghazālī selbst ebenfalls ein Vertreter der schafiʿitischen Rechtsschule wie auch der aschʿaritischen Glaubenslehre war, dürfte er mit den Folgen der Auffassungen von al-Baghdādī und insbesondere deren Wirkungen auf angehende Gelehrte vertraut gewesen sein.
Der Aufstieg und die Ausbreitung des aschʿaritischen Kalām war nicht ohne Gegenreaktion geblieben. Die oftmals der hanbalitischen Schule zugeordneten Anhänger »traditionalistischer« Ansichten schritten zur Verteidigung ihrer Positionen, die besonders in Bagdad stark vertreten waren, und erließen mit zeitweiliger Unterstützung des Staates die sogenannte qādiritische Glaubenslehre, in der es heißt:
Dies ist das Glaubensbekenntnis der Muslime; wer sich ihm widersetzt, ist ein Übertreter des Gesetzes und ein kāfir (kufr-Betreibender).
Zit. nach: Jackson, op. cit., S. 43.
Es zeigt sich also, dass eine Bezichtigung des kufr die andere hervorruft, die sich sodann gegenseitig verstärken. al-Ghazālī war sich der daraus resultierenden Gefahren für die muslimische Gemeinschaft sehr bewusst. Dass sich seine Kritik mehr gegen die »rationalistische« Seite richtete, kann neben deren dominanter Stellung und der Häufigkeit ihrer kufr-Bezichtigungen, die zudem oftmals auf rein »rationaler« Grundlage ohne direkten Bezug zur Offenbarung geschahen, vielleicht auch damit erklärt werden, dass er selbst aus dieser Richtung hervorgegangen war und ganz persönlich mit ihrer Überwindung zu kämpfen hatte. Hinzu mag kommen, dass er gegen Ende seines Lebens immer stärker zu eher »traditionalistischen« Ansichten neigte.
3.3 Kriterium der Unterscheidung und Regel der Interpretation
3.3 Kriterium der Unterscheidung und Regel der Interpretation Yusuf Kuhnal-Ghazālīs Kritik im Faysal richtet sich gegen zwei Gegner: einerseits gegen die Exklusivisten – Jackson nennt sie Extremisten -, die keine andere Interpretation des Islam zulassen als ihre eigene; andererseits gegen die zanādiqa (Sing. zindīq), also die Anhänger der im Titel genannten zandaqa, des verborgenen kufr. Die zanādiqa geben sich als äußerlich als Muslime aus, aber verheimlichen in Wirklichkeit ihre Ablehnung des Islam (kufr) hinter ihrer Methode der allegorischen Auslegung der Offenbarung (taʾwīl). Man könnte sie daher als heimliche kafirūn (kufr-Betreibende) bezeichnen. Jackson nennt sie Crypto-Infidels (Krypto-Ungläubige).
Da al-Ghazālī davon ausgeht, dass die Methode des taʾwīl unerlässlich ist, kann er es nicht auf eine Verurteilung des taʾwīl an sich abgesehen haben. Das Ziel seiner Untersuchung muss vielmehr sein, ein Kriterium zu entwickeln, das die legitime Anwendung dieser Methode von ihrem unzulässigen Gebrauch zu unterscheiden erlaubt. Und das ist eben die Absicht, die er mit dem Faysal verfolgt, daher sein Titel: Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und verborgenem kufr (Ablehnung des Islam, Nicht-Islam).
Das Instrument, das al-Ghazālī für diese Aufgabe entwickelt, nennt er qānūn at-taʾwīl: Regel der Interpretation oder Auslegung.
Gegen die Exklusivisten bringt al-Ghazālī vor, dass der Bereich der innerhalb der islamischen Glaubenslehre zulässigen Anschauungen sehr viel breiter ist, als diese mit ihrem exklusiven Anspruch auf die Erkenntnis der Wahrheit erlauben wollen.
Und gegen die zanādiqa, die heimlichen kufr-Betreibenden, argumentiert al-Ghazālī, dass dieser Bereich des Zulässigen gleichwohl für deren Anschauungen nicht breit genug ist, da letztere mit dem Islam nicht vereinbar sind. Damit wird die äußere Grenze dessen gezogen, was innerhalb der islamischen Glaubenslehre zulässig ist.
Und dabei darf nicht vergessen werden, worum es al-Ghazālī letztlich geht, nämlich den takfīr, die Bezichtigung des kufr, auf ein Minimum zu reduzieren und damit die muslimische Gemeinschaft aus den Fängen überflüssiger und heilloser Streitigkeiten zu befreien, um die Einheit der Umma in ihrer Vielfalt zu stärken und zugleich gegen Angriffe zu schützen, die im vorgeblich islamischen Gewand ihre Grundlagen zu erschüttern drohen.
Wie geht al-Ghazālī nun konkret vor?
3.4 Sie behaupten, dieses Buch enthielte Dinge...
3.4 Sie behaupten, dieses Buch enthielte Dinge... Yusuf Kuhnal-Ghazālī eröffnet den Faysal mit der Frage, die ihm von einem Freund gestellt wird, der Kritik an einer seiner Schriften gehört hat und sich versichern will, ob die erhobenen Vorwürfe zutreffen:
Sie behaupten, dieses Buch enthielte Dinge, die der Schulmeinung der früheren Gelehrten und der Häupter unter den Mutakallimūn widersprechen würden. Sie behaupten auch, daß es Unglaube [kufr] sei, von der Lehrmeinung des al-Ašʿarī auch nur um das Maß eines Palmwedels abzuweichen und dieser Meinung gar zu widersprechen – sei es auch nur in einer winzigen Sache – bedeute Fehler und sündhafte Fehlleitung. (S. 54)
Zitate aus dem Faysal entstammen der oben angeführten deutschen Übersetzung von Griffel und die Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe; Anmerkungen in eckigen Klammern sind von mir hinzugefügt.
al-Ghazālī selbst wird mit der Bezichtigung des kufr konfrontiert, weil er die Auffassungen der aschʿaritischen Glaubenslehre nicht getreu eingehalten haben soll. Dem beunruhigten Freund rät al-Ghazālī, Geduld und Zurückhaltung zu üben und die Vorwürfe nicht allzu ernst zu nehmen, da sie von Leuten stammen, die vor allem nach weltlichen Dingen streben:
Jenen Herzen, die durch das Begehren nach Ruhm und Reichtum und durch die Liebe zu diesen beiden Dingen unrein sind, offenbart sich weder das Wesen [haqīqa] von „Unglaube“ [kufr] und „Glaube“ [īmān] noch ihrer beider Definition [hadd], weder Wahrheit [haqq] und Irrtum [dhalāl] noch ihrer beider Geheimnis. (S. 55)
Damit hat al-Ghazālī auch angegeben, worauf es bei seiner Klärung der Frage ankommt. Um zu dem gesuchten Kriterium zu gelangen, müssen das Wesen und die wahre Definition von kufr und īmān sowie die wahre Definition und das Geheimnis von haqq und dhalāl erkannt werden. Damit ist die zu bewältigende Aufgabe deutlich umrissen.
Gelöst ist sie jedoch keineswegs. Denn in diesen wenigen Worten steckt ein ganzes Bündel von Fragen und Problemen nicht nur inhaltlicher, sondern auch methodischer Art. Denn wie soll geklärt werden, was kufr und īmān sowie haqq und dhalāl ist? Durch die Erkenntnis ihres Wesens, ihrer Definition und ihres Geheimnisses wird gesagt. Doch diese drei Ausdrücke erläutert al-Ghazālī an dieser Stelle nicht näher. Er nennt lediglich einige Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um zu ihrer Erkenntnis zu gelangen. Bevor wir dazu kommen, wollen wir noch einen kurzen Blick auf die drei genannten Begriffe werfen.
haqīqa bedeutet etwa »wahre Realität«. Da dieser Begriff im unmittelbaren Zusammenhang mit hadd, das hier für »Definition« steht, angeführt wird, legt sich die Vermutung nahe, dass beide Begriffe im Sinne der aristotelischen Wissenschaftstheorie verwendet werden. haqīqa kann also durchaus mit »Wesen« übersetzt werden, das im Deutschen an die Stelle des griechischen ousia bzw. dessen lateinische Übertragung substantia (Substanz) tritt. Das Verhältnis von Wesen und Definition ist dadurch bestimmt, dass die Erkenntnis des Wesens einer Sache die Voraussetzung dafür ist, deren Definition angeben zu können. Denn in die Definition gehen nur die wesentlichen Eigenschaften der Sache, also ihr Wesen, ein, wohingegen die unwesentlichen Eigenschaften nicht aufgenommen werden. Die unwesentlichen Eigenschaften wurden in der philosophischen Terminologie als akzidentelle Eigenschaften oder Akzidenzien bezeichnet. So ergibt sich der begriffliche Gegensatz von Wesen (ousia, Substanz) und Akzidens. al-Ghazālī scheint sich mithin schon im Ansatz zur Lösung des gestellten Problems methodisch auf die Verwendung der Begrifflichkeit der aristotelischen Wissenschaftstheorie festzulegen, ohne es für nötig zu erachten, auch nur einen Hinweis darauf zu geben.
Was unter »Geheimnis« zu verstehen ist, deutet al-Ghazālī wenigstens ganz kurz an, indem er im nächsten Absatz von den »Geheimnissen der jenseitigen Welt« (malakūt) spricht. Im Ihyāʾ wird malakūt folgendermaßen erläutert:
Mit malakūt meine ich die unsichtbare Welt, die durch das Licht der Einsicht und das Herz wahrgenommen wird.
Zit. nach: Jackson, op. cit., S. 133, Anm. 4.
Unmittelbar nach dem oben zitierten Satz, in dem al-Ghazālī die Unfähigkeit der unreinen Herzen zur wahren Erkenntnis erwähnt, beschreibt er die dafür notwendigen Voraussetzungen:
Vielmehr zeigen sich jene Dinge erstens nur den Herzen, die sich vom Schmutz und Gestank der diesseitigen Welt geläutert haben, die sich zweitens durch vortreffliche Askese veredelt haben, die drittens durch ungetrübten Ḏikr, also durch lautere mystische Übungen erleuchtet wurden, die sich viertens mit trefflichen Gedanken erzogen haben und die sich fünftens durch stete Befolgung der Rechtsvorschriften zieren, bis das Licht aus der prophetischen Nische auf sie niederfällt und sie wie ein heller Spiegel werden. Dann wird die Lampe des Glaubens im Glas seines Herzens in Licht strahlen und das Öl dieser Lampe wird fast schon Licht geben, ohne daß überhaupt Feuer darangekommen ist. (S. 55)
Was al-Ghazālī hier über die »prophetische Nische« sagt, ist offensichtlich eine Anspielung auf sein Buch Mischkāt al-anwār (Die Nische der Lichter), in dem er eine ausführliche Interpretation des sogenannten Lichtverses, also von Vers 35 der Sure 24 gegeben hat.
Wir lassen es hier mit diesen äußerst knappen und unzulänglichen Hinweisen bewenden, die nur dazu dienen sollten, einen Hintergrund aufscheinen zu lassen. Es ist hier nicht unser Anliegen, diesen Hintergrund auszuleuchten, was einer eigenständigen Untersuchung vorbehalten sein müsste. Aber es wird sich zeigen, inwieweit al-Ghazālī selbst dies für erforderlich hält. Wir wollen also weiter dem Gedankengang bei der Entwicklung des gesuchten Kriteriums folgen.
3.5 Monopol und Substanz
3.5 Monopol und Substanz Yusuf Kuhnal-Ghazālī wendet sich sodann an den Fragesteller und bittet ihn, sich unter der Voraussetzung, dass er nicht blind irgendeiner Autorität folgt, sondern nach unabhängiger Einsicht strebt, zu überlegen, was wohl die eine oder andere Schule des Kalām dazu berechtigen könnte, einen exklusiven Anspruch auf die Wahrheit zu erheben. Warum sollten die Aschʿariten das Recht haben, die Hanbaliten und Muʿtaziliten des kufr zu bezichtigen, aber nicht umgekehrt?
Die Beispiele, die für die Streitigkeiten unter den verschiedenen Kalām-Schulen angeführt werden, drehen sich um die Frage, wie die Eigenschaften Allāhs wie Seine Rede, Sein Wissen, Seine Macht usw. zu verstehen sind. Keiner bestreitet diese Eigenschaften. Der Streit bezieht sich vielmehr darauf, wie sie unter Verwendung des aus der griechischen Philosophie übernommenen Begriffspaares von Substanz-Akzidens zu fassen sind. Wird Gott begrifflich als Substanz gefasst, stellt sich die Frage wie seine Eigenschaften im Verhältnis zu seiner Substanz zu begreifen sind. Gehören sie zur Substanz selbst oder sind sie Akzidenzien? Und welche Eigenschaften gehören zur Substanz selbst und welche sind Akzidenzien?
Wenn zudem angenommen wird, dass einerseits die göttliche Substanz eine innere Einheit im numerischen Sinne aufzuweisen hat und andererseits die Attribute dinglich als Wesenheiten aufgefasst werden, lässt sich leicht erahnen, wie es zu Vorwürfen des kufr kommen kann. Denn wird einerseits die Substanz zu einer Vielheit, indem die dinglich verstandenen Eigenschaften direkt in sie aufgenommen werden, droht der Vorwurf der Zerstörung ihrer Einheit, also ein Verstoß gegen das so verstandene Prinzip des tawhīd. Werden andererseits alle Eigenschaften in Gestalt von Akzidenzien im Sinne von getrennten Wesenheiten gewissermaßen aus der Substanz ausgelagert, droht der Vorwurf der Leugnung der göttlichen Eigenschaften.
Wenn in diese Überlegungen Gott und die Vielzahl seiner Eigenschaften auf der einen Seite sowie die Begriffe Substanz und Attribut auf der anderen Seite eingehen, lässt sich unschwer ersehen, dass sich aus der Kombination dieser Elemente eine große Menge von Positionen entwickeln lässt. Viele der Kombinationsmöglichkeiten wurden von den Mutakallimūn (Kalām-Gelehrte) auch tatsächlich durchgespielt und deren jeweiliges Ergebnis mit einem Monopolanspruch auf Wahrheit gegen alle konkurrierenden Auffassungen vertreten. Stellte sich bei der Durchsetzung einer bestimmten Position ein gewisser Erfolg ein, konnte von der Bildung einer Schule gesprochen werden, die in der Folge ihren Machtanspruch stets zu erweitern suchte.
Zudem gibt es solche Streitigkeiten auch innerhalb einzelner Kalām-Schulen, beispielsweise innerhalb der aschʿaritischen, worauf al-Ghazālī mit seinem Hinweis auf al-Bāqillānī aufmerksam macht, der trotz entsprechender Differenzen weiterhin als Mitglied der Schule betrachtet wird, so dass der kufr-Vorwurf auf der gleichen Grundlage gegenüber Positionen anderer Schulen als Messen mit zweierlei Maß zurückgewiesen werden muss.
al-Ghazālī wirft demgegenüber nun die grundsätzliche Frage auf, was eigentlich den Monopolanspruch rechtfertigen soll, da alle Parteien sich doch in der Anerkennung der Eigenschaften Allāhs einig sind und lediglich über deren begriffliche Fassung im Rahmen der skizzierten Kombinationsmöglichkeiten streiten. Der Konflikt beschränkt sich somit beispielhaft auf Aussagen folgender Art:
Gott [Allāh] sei aufgrund seines Wesens oder aufgrund einer über dieses Wesens [sic!] hinausgehenden Eigenschaft [Akzidens] allwissend und allmächtig. Was ist schon der Unterschied zwischen diesen beiden gegensätzlichen Positionen? (S. 57)
So fragt al-Ghazālī rhetorisch und schließt sogleich die höchst bemerkenswerte Frage an:
Gibt es in der religiösen Spekulation überhaupt eine Frage, gewaltiger und gefährlicher als die nach der Zustimmung oder Leugnung der Attribute Gottes? (S. 57)
al-Ghazālī geht darauf jedoch nicht näher ein, obgleich seine Untersuchung, die ihn ja schließlich zu diesen Fragen führt, allen Grund zu der Annahme böte, dass die aufgezeigten Probleme und Gefahren eben der Anwendung des Begriffsschemas Substanz-Akzidens entspringen.
Könnte es nicht sein, dass die Probleme auf die Substanzialisierung Gottes zurückzuführen sind? Ist diese Substanzialisierung notwendig? Ist sie überhaupt gerechtfertigt? Wenn ja, wodurch?
Diese Fragen stellt al-Ghazālī hier allerdings nicht.
Er bleibt stattdessen im Rahmen des Spielraumes, den die Kombinatorik der vorgegebenen Elemente eröffnet. Da die verschiedenen Schulen sich gegenseitig mit den strukturell gleichen Argumenten bekämpfen, kann es auf dieser Ebene keine Lösung geben, da sich immer vorbringen lässt, dass gegen die eigenen Prinzipien verstoßen und zweierlei Maß angelegt werde. So fasst al-Ghazālī das Ergebnis seiner Suche nach einem triftigen Kriterium, das den exklusiven Anspruch einer bestimmten Kalām-Schule auf Wahrheit als gültig auszeichnen könnte, folgendermaßen zusammen:
Wenn du gerecht urteilst, bemerkst du vielleicht, daß die Beschränkung der Wahrheit auf einen einzigen bestimmten Theologen [mutakallim] ziemlich nahe an etwas Unvereinbares und auch nahe an Unglauben [kufr] führt. Erstens an Unglauben [kufr], weil der Schüler seinen Lehrer an die Stelle des gegen Irrtum gefeiten Propheten setzt. Der Glaube wird aber allein durch das Einverständnis mit dem Propheten gefestigt und ein Widerspruch zum Propheten zieht notwendig Unglaube [kufr] nach sich. Zweitens an etwas Unvereinbares, weil es für jeden einzelnen spekulativen Theologen Pflicht ist, selbständig zu forschen, und weil ihm die Nachahmung einer Autorität verboten ist. (S. 58)
Die Erhebung eines Monopolanspruchs steht also erstens selbst in der Gefahr, nahe an kufr heranzukommen, weil der Lehrer, dem die exklusive Wahrheit zugesprochen wird, damit an die Stelle des Propheten gesetzt wird, wobei das Kriterium des Glaubens (īmān) allein die Übereinstimmung mit dem Propheten ist. Hinter diesem Argument steht freilich ein bestimmter Begriff von Wahrheit, dessen Tiefe ohne nähere Bestimmung sich nur erahnen lässt.
Und zweitens läuft sie auf einen Widerspruch hinaus, da von jedem Mutakallim in der jeweiligen Schule Unvereinbares verlangt wird, nämlich zugleich selbständig zu forschen und doch der Autorität, die den Wahrheitsanspruch verkörpert, bedingungslos zu folgen.
3.6 Prophetie und Lüge
3.6 Prophetie und Lüge Yusuf KuhnNachdem al-Ghazālī die Haltlosigkeit und Willkürlichkeit der gegenseitigen Bezichtigungen des kufr aufgezeigt hat, fordert er seinen Gesprächspartner auf, nun seine Definition von kufr zu betrachten. Zunächst gibt er zu bedenken, dass sie eigentlich eine lange Erklärung erfordert und ohnehin nicht leicht zu verstehen ist. Er will ihm aber ein korrektes Kriterium geben, das auch in der verkürzten Form seinen Zweck erfüllt:
Du sollst es vorerst als Richtschnur deiner Überlegung annehmen und deshalb davon absehen, einige Gruppen als ungläubig [kāfir] zu bezeichnen oder gar eine lose Zunge über jene Muslime zu führen, die stets am Satz: »Es gibt nur einen Gott und Muhammad ist sein Gesandter [Es gibt keine Gottheit außer Allāh und Muhammad ist Sein Gesandter]« festhalten und die an diesen Satz glauben, ohne sich dagegen aufzulehnen – mögen ihre Wege auch voneinander abweichen. (S. 59)
Nach dieser Vorbemerkung gibt al-Ghazālī seine Definition von kufr und īmān:
Ich sage: Es ist Unglaube [kufr], dem Propheten in einer solchen Sache zu unterstellen, er sage die Unwahrheit, welche durch ihn zu uns gekommen ist. Glaube [īmān] ist, ihn in allem, was durch ihn zu uns gekommen ist, für wahrhaftig zu halten. (S. 59)
kufr ist, kurz gesagt, gemäß al-Ghazālī also die Behauptung, der Prophet sage die Unwahrheit; īmān umgekehrt die Überzeugung, der Prophet sei wahrhaftig.
al-Ghazālī verweist sogleich auf einige Konsequenzen dieser Definition. Wenn jeder, der den Propheten für einen Lügner hält, ein kāfir ist, so gilt dies auch für Christen. Umso mehr gilt dies für alle, welche die Existenz der Propheten überhaupt bestreiten. Als Beispiele werden genannt Brahmanen, Dahriten, Dualisten usw.
Dann gibt al-Ghazālī noch einmal seine Definition in einer etwas anderen Formulierung wieder:
Denn jeder ist ungläubig [kāfir], der dem Propheten unterstellt, er sage nicht die Wahrheit; und jeder, der dem Propheten unterstellt, er sage nicht die Wahrheit, der ist ein Ungläubiger [kāfir]. Dies ist das versprochene, allgemeingültige Anzeichen, welches sich in der einen wie in der anderen Richtung benutzen läßt. (S. 60)
»In der einen wie in der anderen Richtung« soll heißen, dass das Kriterium notwendig und hinreichend ist, wie al-Ghazālī es ja auch davor formuliert, wenn man die beiden Teilsätze zusammennimmt.
Bevor al-Ghazālī den nächsten Schritt seines Gedankengangs unternimmt, bringt er einige Beispiele. Sie seien der Veranschaulichung halber zitiert:
Jede Gruppe beschuldigt ihre Widersacher, ungläubig zu sein und bringt sie mit dem Vorwurf, den Propheten der Lüge zu bezichtigen, in Verbindung. Der Hanbalit bezichtigt den Aschariten des Unglaubens, indem er ihm vorwirft, er unterstelle dem Propheten in den Fragen, ob Gott „oben“ sei [al-fawq] und auf dem Thron sitze [al-istiwāʾ ʿalā al-ʿarsch], zu lügen. Der Ascharit bezichtigt ihn hingegen des Unglaubens, indem er ihm vorwirft, Gott anthropomorph zu betrachten [muschabbih] und deshalb dem Propheten eine Lüge zu unterstellen, als dieser sagte, es gäbe nichts, was Ihm gleichkommen würde. Der Ascharit bezichtigt auch den Muʿtaziliten des Unglaubens, indem er ihm vorwirft, dem Propheten in den Fragen, ob man Gottes ansichtig werden könne [ruʾyat Allāh], sowie, ob Gott allmächtig und allwissend sei und ob er Attribute habe, eine Lüge zu unterstellen. Nun bezichtigt aber der Muʿtazilit selber den Aschariten des Unglaubens, indem er sagt, Gottes Attribute anzuerkennen sei eine Vermehrung von ewigen Dingen und deshalb müsse der Ascharit dem Propheten in der Behauptung der Ein- und Einzigheit Gottes [tawhīd] eine Lüge unterstellen. (S. 60)
Auch an diesen Beispielen fällt wieder auf, dass die Streitpunkte in erster Linie letztlich aus der Substantialisierung Gottes und die damit einhergehende Anwendung des Begriffsschemas Substanz-Akzidens hervorgehen. Wo dies nicht offensichtlich ist, ließe sich dies wohl meist durch eine genauere Analyse zeigen, worauf wir hier verzichten müssen.
3.7 Fürwahrhalten und Existenz
3.7 Fürwahrhalten und Existenz Yusuf Kuhnal-Ghazālī sieht die Lösung, und zwar die einzige, allerdings an anderer Stelle:
Die einzige Möglichkeit, die dich aus dieser bösen Verstrickung retten kann, ist die Kenntnis der Definition von Fürfalschhalten [takdhīb] und Fürwahrhalten [tasdīq] sowie die Kenntnis dessen, was diese beiden Wörter im wesentlichen beschreiben, wenn sie auf den Propheten angewandt werden. Diese Kenntnis wird dir die Übertreibung und die Maßlosigkeit dieser Gruppen aufdecken, mit der sie sich gegenseitig des Unglaubens [kufr] bezichtigen. (S. 60)
Hiermit führt al-Ghazālī die für seine Argumentation zentralen Begriffe des tasdīq (Fürwahrhalten) und takdhīb (Fürfalschhalten) ein, die jeweils eine doppelte Bedeutung besitzen, indem sie nicht nur auf die Aussage bezogen werden, die für wahr oder falsch gehalten wird, sondern auch auf den Gegenstand der Aussage:
Ich sage: Fürwahrhalten [tasdīq] richtet sich nicht nur auf die Aussage, sondern genauer gesagt auf das, worüber sie etwas aussagt. (S. 60)
Damit scheint gemeint zu sein, dass das Fürwahrhalten einer Aussage auch etwas über die »Wahrheit« des Gegenstandes aussagt, auf den die Aussage sich bezieht. Das setzt in jedem Fall eine bestimmte Theorie über die Bedeutung der Aussage und der in ihr enthaltenen Ausdrücke sowie über die Wahrheit einer Aussage voraus. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sowohl Bedeutung wie Wahrheit irgendwie als gegenständliches Bezugsobjekt aufgefasst wird. al-Ghazālī bestärkt diesen Eindruck, indem er erläuternd fortfährt:
Die Beschreibung des Wesens [haqīqa] vom Fürwahrhalten lautet: Anerkennung irgendeiner Existenz [wudschūd], von dessen Existenz der Gesandte berichtet. (S. 60)
Das Wesen oder die Realität des Fürwahrhaltens kommt somit in seinem Bezug auf den Gegenstand der Aussage zum Vorschein und besteht in einer Existenzbehauptung. Wird die Aussage für wahr gehalten, betrifft dies auch die Existenz des Gegenstandes, auf den die Aussage sich bezieht. Und wenn die Aussage vom Propheten stammt, beinhaltet das Fürwahrhalten zugleich eine Anerkennung der Existenz des Gegenstandes, von dem der Prophet berichtet.
Es sei angemerkt, dass Jackson den Satz im vorletzten Zitat etwas anders übersetzt, nämlich:
»Für wahr (oder wahrhaftig) halten« [tasdīq] kann sich auf die Aussage selbst beziehen oder auf den Autor der Aussage. (Jackson, S. 93)
Das Fürwahrhalten der Aussage bezieht sich demnach im zweiten Fall nicht auf das, »worüber sie etwas aussagt«, also auf den Gegenstand der Aussage, wie Griffel seinerseits meint, sondern auf den Sprecher der Aussage. Beide Übersetzungen scheinen mit dem arabischen Text verträglich zu sein. Wenn das Fürwahrhalten auf den Sprecher bezogen wird, bedeutet es die Anerkennung seiner Wahrhaftigkeit. Dies ist lediglich ein weiterer Aspekt, der mit dem zuvor Gesagten durchaus vereinbar ist und ebenfalls der Intention al-Ghazālīs zu entsprechen scheint.
Wenn man nun den Versuch unternimmt, diese Feststellungen al-Ghazālīs in ein nachvollziehbares Verständnis von Bedeutung und Wahrheit zu übersetzen, tun sich viele Fragen und Unklarheiten auf. Was ist die Bedeutung einer Aussage und in welchem Verhältnis steht sie zu deren Wahrheit? Wie ist das Verhältnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit? Wie hängt die Wahrheit einer Aussage genau von der Existenz von deren Bezugsobjekt ab? Was ist überhaupt das Bezugsobjekt einer Aussage? Es könnte das Subjekt der Aussage gemeint sein, das, wenn die Aussage wahr ist, zumindest in irgendeinem Sinne existieren muss. Leider trägt al-Ghazālī selbst nicht zur Klärung bei, da er ohne Beispiel und weitere Erläuterung dieser zentralen Thesen sofort zur Erklärung des Begriffes der Existenz (wudschūd) übergeht, der seinerseits viele Fragen aufwirft.
Daraus ergibt sich, warum von »irgendeiner Existenz« die Rede war. Denn es gibt al-Ghazālī zufolge verschiedene Arten der Existenz. Und um das Kriterium zu erfüllen, genügt es, eine dieser Arten anzuerkennen:
Die Existenz aber hat fünf Stufen. Weil diese vernachlässigt werden, bringt jede Gruppe ihre Gegner mit dem Vorwurf, der Prophet lüge, in Verbindung. (S. 60-61)
Es gibt also fünf Arten der Existenz. Und darin, dass dies nicht berücksichtigt wird, liegt der Hauptgrund für die gegenseitige Bezichtigung des kufr. Auch wenn die Argumentation, die hierher geführt hat, nicht ganz leicht nachzuvollziehen ist, so ist zumindest dieses Ergebnis als solches klar. Und als Konsequenz ergibt sich daraus: Wer irgendeine der fünf Arten der Existenz hinsichtlich einer Aussage des Propheten anerkennt, bezichtigt den Propheten nicht der Lüge. Da dies die notwendige und hinreichende Bedingung für takfīr ist, erübrigt sich in diesem Fall der takfīr. Wenn nun die Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Kalām-Schulen auf Differenzen bezüglich der Arten der Existenz zurückgeführt werden können, gibt es keinen Grund mehr, die Bezichtigung des kufr vorzunehmen.
Existenz ist ursprünglich, sinnlich, imaginativ, intellektual und ähnlich. Wer irgendeine Existenz, von dessen Existenz der Gesandte berichtet, in einem dieser fünf Aspekte anerkennt, der unterstellt dem Propheten durchaus keine Lüge. (S. 61)
Der Begriff der Existenz (wudschūd) selbst wird nicht näher bestimmt. al-Ghazālī fährt vielmehr damit fort, die unterschiedlichen Arten der Existenz zu beschreiben und sodann Beispiele dafür anzuführen, welche Rolle sie in der Auslegung der Offenbarung (taʾwīl) spielen.
3.8 Fünf Stufen der Existenz
3.8 Fünf Stufen der Existenz Yusuf KuhnDie fünf Stufen der Existenz sind also: ursprüngliche (dhātī, Jackson: ontologische), sinnliche (hissī), imaginative (khayālī), intellektuale (ʿaqlī) und ähnliche (schabahī) Existenz.
al-Ghazālī gibt nun Erläuterungen zu den verschiedenen Existenzweisen. Sie seien ganz knapp wiedergegeben:
1. Die ursprüngliche Existenz ist die reale Existenz außerhalb unserer Wahrnehmung und unseres Verstandes.
2. Die sinnliche Existenz ist das, was nur in der sinnlichen Wahrnehmung vorhanden ist, dem aber keine reale Existenz in der Außenwelt entspricht.
3. Die imaginative Existenz ist das Abbild der sinnlich wahrgenommenen Objekte, wenn diese nicht mehr in der Wahrnehmung vorhanden sind, sondern von der Einbildungskraft erzeugt werden.
4. Die intellektuale Existenz ist das, was nur als Wesen oder Begriff eines Gegenstandes im Denkvermögen vorhanden ist und nicht in der Außenwelt, der Wahrnehmung und der Einbildungskraft. al-Ghazālī veranschaulicht:
Ein Beispiel liefert die Hand. Zur Hand gehört ein wahrgenommenes und vorgestelltes Bild. Zu ihr gehört auch eine Bedeutung und dies ist das Wesen. In diesem Fall ist dies: »die Fähigkeit zum Greifen«. Die Fähigkeit zum Greifen ist die intellektuale Hand. (S. 62)
5. Die ähnliche Existenz betrifft einen Gegenstand, der weder als Realität noch als Abbild vorhanden ist, sondern dem ursprünglichen Gegenstand in einer seiner Eigenschaften ähnlich ist.
Im Anschluss daran führt al-Ghazālī eine Reihe von Beispielen für die Existenzweisen aus der Interpretation (taʾwīl) von Aussagen der Offenbarung an.
Die Stufen sind hierarchisch geordnet, ausgehend von realer Existenz zu immer niedrigeren Existenzweisen. Bei der ersten Stufe, also der ursprünglichen Existenz, wird noch keine Auslegung (taʾwīl) vorgenommen, da sie ganz dem »äußeren Wortsinn« (dhāhir) folgt.
Sie ist die absolute und reale Existenz. Also z. B. die Verkündigungen des Gesandten über den Himmelsthron [ʿarsch], den Thronsitz [kursī] und die sieben Himmelssphären. Sie folgen ihrem äußeren Wortsinn [dhāhir] und werden nicht ausgelegt, denn diese Körper sind für sich selber existent, gleichgültig ob sie von dem Sinnesvermögen und dem Vorstellungsvermögen wahrgenommen werden oder nicht. (S. 63)
Ab der zweiten Stufe ergibt sich die Notwendigkeit, auf die Auslegung (taʾwīl) des äußeren Wortsinns überzugehen, wenn ein Beweis erbracht werden kann, dass die Annahme der Bedeutung bzw. der Existenzweise der jeweils übergeordneten Stufe unmöglich ist. Es ist bemerkenswert, dass al-Ghazālī diesen Übergang immer konditional formuliert und zudem personalisiert in Gestalt von Formulierungen wie:
Wer in einer Argumentation den Beweis erbringen kann, wonach […] unmöglich ist, der vermindert die Aussage dahingehend, daß […] (S. 63-64)
Damit scheint der subjektiven Überzeugung hinsichtlich des Vorliegens eines Beweises wie auch dessen, was überhaupt ein Beweis ist, Raum gegeben zu werden. Mit der Verminderung der Aussage ist der Übergang zu einer untergeordneten Stufe der Existenz gemeint.
Wir wollen der Kürze halber nicht näher auf die Beispiele eingehen und uns der Allgemeinen Regel zuwenden. Angemerkt sei nur, dass auch hier wieder auffallend ist, welch große Rolle der Streit um das Verhältnis von Substanz und Attributen dabei spielt.
3.9 Interpretation und Beweis
3.9 Interpretation und Beweis Yusuf KuhnNachdem al-Ghazālī durch die Beispiele verdeutlicht hat, dass die verschiedenen Existenzweisen nicht seine Erfindung sind, sondern tatsächlich in der Auslegung (taʾwīl) der Offenbarung aufzufinden sind, legt er seine Lösung vor:
Wisse: Jeder, der eine der Reden des Gesetzgebers auf eine der genannten Stufe [sic!] reduziert, ist ein Gläubiger. Fürfalschhalten [takdhīb] liegt vor, wenn alle diese Bedeutungen abgelehnt werden und behauptet wird, das, was gesagt wurde, hätte keine Bedeutung, es sei nur absolute Lüge, dahinter stehe die Absicht zu täuschen oder weltliche Güter [maslaha] zu erreichen. Eine solche Behauptung ist absoluter Unglaube [kufr], ja, Gottlosigkeit [zandaqa; verborgener kufr]. Es ist nicht nötig, Interpreten mit dem Vorwurf des Unglaubens [takfīr] entgegenzutreten, solange sie sich an das Gesetz der Interpretation [qānūn at-taʾwīl] halten, wie wir es aufzeigen werden. Daß jede Interpretation [taʾwīl] stets Unglaube [kufr] sei, ist falsch, denn es gibt keine Gruppe von Muslimen, die nicht gezwungen ist, eine Interpretation zu benutzen. (S. 67)
Auf der neu gewonnenen Grundlage der Stufen der Existenz wird zunächst das Verhältnis von īmān und kufr neu bestimmt. Wer sich bei seiner Interpretation von Aussagen der Offenbarung im Rahmen der vorgegebenen Existenzweisen bewegt, verlässt den īmān nicht. Wer hingegen alle fünf möglichen Bedeutungen ablehnt, verfällt dem kufr, da er Aussagen der Offenbarung damit zur Falschheit erklärt. Welche Absicht dahinter steht, spielt für diese Beurteilung keine Rolle, sei es auch die vorgebliche Förderung des Nutzens der muslimischen Gemeinschaft (maslaha). Wenn allerdings die Absicht, über die in Wahrheit nicht-muslimischen Anschauungen zu täuschen, also Heuchelei hinzukommt, kann von verborgenem kufr (zandaqa) gesprochen werden.
Ganz allgemein lässt sich sagen: Wer sich an die Regel der Interpretation (qānūn at-taʾwīl) hält, bleibt im Rahmen des īmān; in diesem Fall erübrigt sich der Vorwurf des kufr.
Bevor al-Ghazālī zur genaueren methodischen Bestimmung des qānūn at-taʾwīl fortschreitet, stellt er noch fest, dass es nicht um die Frage gehen kann, ob schon die Anwendung von taʾwīl selbst kufr sei. Seine Begründung dafür ist, dass keine Gruppe von Muslimen auf taʾwīl verzichten kann.
Zum Beleg verweist er auf Ahmad Ibn Hanbal, der »sich unter allen Menschen am weitesten von der Interpretation entfernt« hielt und doch nicht umhinkam, nicht einfach nur taʾwīl anzuwenden, sondern sogar auf die niedrigste Stufe zurückzugreifen, auf die ähnliche Existenz. Laut al-Ghazālī tat Ibn Hanbal dies in drei Fällen. Damit soll in einer beispielhaften Ausführung gezeigt werden, dass sogar die Hanbaliten implizit den qānūn at-taʾwīl zur Anwendung brachten. Damit wäre die These belegt, dass »jede Gruppe, selbst wenn sie ihre Verbundenheit mit dem äußeren Wortsinn übertreibt, stets auf Interpretation angewiesen ist.«
Griffel weist jedoch in einer Anmerkung zu dieser Stelle darauf hin, dass dieser Behauptung von Ibn Taymiyya energisch widersprochen wurde:
Zu al-Ġazālīs Behauptung, Aḥmad ibn Ḥanbal hätte in drei Fällen selber den äußeren Wortlaut von Hadithen interpretiert vgl. den führenden hanbalitischen Gelehrten Ibn Taymiya (gest. 1328): „Was al-Ġazālī da über einige Hanbaliten berichtet, daß nämlich Aḥmad ibn Ḥanbal, ‚nur drei Dinge‛ ausgelegt hätte (...) ist eine Lüge über Aḥmad, so etwas wird von seiner Seite nicht mit einer Kette von Gewährsleuten überliefert und ich kenne auch keinen seiner Gefährten, von dem so etwas überliefert ist. Dieser Hanbalit, auf den sich al-Ġazālī beruft, war unwissend, er hatte keine Ahnung von dem, was Aḥmad gelehrt hatte und hielt dies auch nicht für wahr.« (Ibn Taymiya, Mağmūʿ fatāwa, Bd. 5, S. 398.) (S. 98, Anm. 52)
Dem können wir jetzt nicht näher nachgehen, aber der Hinweis schien mir wichtig genug, um ihn nicht zu übergehen.
Wie dem auch sei, al-Ghazālī fährt mit einem kurzen Hinweis fort, dass auch die Aschʿariten, etwas weniger, und die Muʿtaziliten, etwas mehr, auf taʾwīl zurückgegriffen haben, um seine These von der Unvermeidlichkeit des taʾwīl weiter zu belegen.
Wer allerdings umgekehrt auf taʾwīl gänzlich verzichten zu können meint, droht die »Grenze der Dummheit und Ignoranz [zu] überschreiten und z. B. [zu] sagen, der Schwarze Stein sei tatsächlich eine rechte Hand.« (S. 69) Bemerkenswert ist nun wieder, dass die Grenze zwischen Verstand und Unverstand in den folgenden Beispielen geradezu gleichgesetzt wird mit der Grenze zwischen bzw. der Verwechslung von Substanz und Akzidens.
Jeder, der diesen Grad von Unwissenheit erreicht hat, verliert die Bindung an den Verstand. (S. 69)
al-Ghazālī fasst noch einmal das Ergebnis der bisherigen Untersuchung zusammen, um dann in der Ausführung einen Schritt weiterzugehen:
Ich komme nun zum Gesetz der Interpretation [qānūn at-taʾwīl]. Du hast schon erfahren, daß über die Anwendung dieser fünf Stufen in der Interpretation unter den Religionsgruppen Einigkeit herrscht. Gleichzeitig weißt du, daß man sich nicht in der Reichweite des Apostasievorwurfes [takdhīb; Bezichtigung des Lügens] befindet, solange eine dieser fünf Rangstufen vorliegt. Die Anwendung jener fünf Stufen kann nur gebilligt werden, wenn ein apodiktischer Beweis [burhān] vorliegt, der die Geltung des äußeren Wortsinns [dhāhir] ausschließt. Auch in diesem Punkt stimmen die Religionsgruppen überein. Der äußere Wortsinn ist zuerst zu beachten, er ist die ursprüngliche Existenz. Wenn sie affirmiert wird, schließt sie alle in sich ein. Wenn dies nicht durchzuführen ist, so folgt die sinnliche Existenz. Wenn sie affirmiert wird, so schließt sie in sich ein, was nach ihr folgt. Wenn dies nicht durchzuführen ist, so folgt die imaginative Existenz bzw. die intellektuale. Wenn dies nicht durchzuführen ist, so folgt die ähnliche, die metaphorische [madschāzī] Existenz. Ohne Notwendigkeit, die nur ein apodiktischer Beweis [burhān] hervorbringt, ist es nicht erlaubt, von einer Stufe auf eine darunterliegende überzugehen. (S. 69)
al-Ghazālī weist sehr deutlich darauf hin, was als notwendige Bedingung für die Aufgabe der äußeren Bedeutung (dhāhir) und für jeden Übergang auf eine niedrigere Stufe gegeben sein muss: ein burhān oder »apodiktischer Beweis«, wie Griffel übersetzt, da er davon ausgeht, dass al-Ghazālī mit burhān einen Beweis meint, der die Regeln der aristotelischen Logik und Wissenschaftstheorie für sichere und unwiderlegliche, also »apodiktische« Beweisführung erfüllt. al-Ghazālīs Formulierung legt diese Interpretation allerdings nicht zwingend nahe, sondern lässt anderen Möglichkeiten durchaus Raum, worauf auch die auf die Erwähnung des Beweises folgende Aussage von al-Ghazālī hindeutet:
Auch in diesem Punkt stimmen die Religionsgruppen überein.
Aber das würde ja voraussetzen, dass die »Gruppen der Muslime« allesamt sich darin einig wären, dass unter burhān »apodiktischer Beweis« im Sinne der aristotelischen Logik zu verstehen ist sowie dass sie diesen Beweis auch anerkennen und verwenden. Das ist so unwahrscheinlich, dass kaum anzunehmen ist, dass al-Ghazālī dies meinen konnte. Wie fährt al-Ghazālī fort?
Wenn, wie gesagt, bis dahin die Gruppen der Muslime übereinstimmen – woher kommen dann die ganzen Streitigkeiten? al-Ghazālī gibt folgende Auskunft:
Meinungsverschiedenheiten gehen darauf zurück, wie ein apodiktischer Beweis [burhān] zu erbringen sei. (S. 69)
Das ist eine einigermaßen überraschende These von jemandem, der doch der Logik als Kern der Vernunft einen so hohen Stellenwert beimessen soll, wie Griffel nicht nur durch seine Übersetzung mit »apodiktischer Beweis« unterstellt. Gerade da, wo größte Gewissheit und Einheit ihren Ursprung zu haben scheinen, sollen in Wirklichkeit die Streitigkeiten entspringen? Jedenfalls sind sie so ziemlich weit entfernt von der Offenbarung selbst und der persönlichen Beziehung zu ihr. Und al-Ghazālī möchte zudem diese These anhand von Beispielen begründen und veranschaulichen:
Denn der Hanbalit sagt, es gäbe keinen apodiktischen Beweis für die Unmöglichkeit, den Schöpfer mit der Richtung „oben“ zu beschreiben. Der Ascharit sagt, es gäbe keinen apodiktischen Beweis für die Unmöglichkeit, Gott im Angesicht entgegenzutreten. Niemand hat gebilligt, was sein Kontrahent sagte oder sah darin ein überzeugendes Argument. (S. 69)
al-Ghazālī scheint damit sagen zu wollen, dass es tatsächlich eine Debatte um die Frage des Beweises gibt, was doch nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass auf allen Seiten der Begriff des Beweises in einem bestimmten einheitlichen Sinn Anerkennung findet. Das dürfte zumindest zweifelhaft sein, zumal da die aristotelische Logik zumindest unter Hanbaliten kaum oder gar nicht und unter Aschʿariten nur bedingt Zustimmung gefunden hat.
Oder sollte es hier mit der Bedeutung von burhān (Beweis) doch eine ganz andere Bewandtnis haben? Könnte es nicht sein, dass al-Ghazālī gar keine bestimmte und feste Bedeutung damit verknüpft, sondern die von der jeweiligen Gruppe angewandte und anerkannte Beweisführung meint, also das, was jeweils als Beweis Anerkennung findet, ohne Festlegung auf eine bestimmte Logik wie etwa die aristotelische? Mir drängt sich der Eindruck auf, dass die Darstellung der Beispiele mit ihren konditionalen und personalisierten Formulierungen wie auch der weitere Verlauf der Argumentation diese Annahme eher stützt. Weder Griffel noch Jackson, der burhān mit logical proof (logischer Beweis) übersetzt, scheinen diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, sondern verstehen burhān (Beweis) und verwandte Ausdrücke wie »notwendig« oder »unmöglich« immer im Sinne der aristotelischen Logik.
al-Ghazālī setzt hinzu:
Wie dem auch sei, keine Gruppe sollte ihren Widersacher des Unglaubens [kufr] bezichtigen, nur weil sie meint, er mache einen Fehler in der apodiktischen Beweisführung. (S. 69-70)
»Wie dem auch sei«: al-Ghazālī selbst lässt die Frage nach der Gültigkeit des Beweises offen, legt seine Regel der Interpretation an und stellt fest, dass Differenzen hinsichtlich der Beweisführung doch kein Grund für die Bezichtigung des kufr sein können. Nach seinem Verständnis verlagern sich demnach diese Meinungsverschiedenheiten auf eine andere Ebene:
Es ist wohl erlaubt, ihn einen Irrenden oder Neuerer zu nennen. „Irrend“ deshalb, weil er sich vom Weg verirrt hat, den die eigene Religionsgruppe geht. „Neuerer“ deshalb, weil er eine neue Erklärung einführt, die uns von den frommen Vätern [as-salaf as-sālih] nicht bekannt war. (S. 70)
An die Stelle des Vorwurfs des kufr tritt also der Vorwurf des Irregehens (dhāll) und der problematischen Neuerung (bidʿa). al-Ghazālī geht abgesehen von einigen Beispielen darauf nicht näher ein. Der entscheidende Unterschied dürfte wohl sein, dass sich diese Differenzen innerhalb der islamischen Gruppen austragen lassen und daher stark abgemildert sind.
3.10 Zwei Perspektiven und Logik
3.10 Zwei Perspektiven und Logik Yusuf Kuhnal-Ghazālī macht im nächsten Schritt darauf aufmerksam, dass es in dieser Frage zwei Perspektiven gibt, die klar unterschieden werden müssen: einerseits die Perspektive der »Masse der Menschen« (‘awāmm al-khalq) und andererseits die der »Leute der Spekulation«, der spekulativen Theoretiker (al-nudhdhār).
Die erste von beiden ist die Position der Masse der Menschen [‘awāmm al-khalq]. In dieser Position ist es richtig, dem wörtlichen Sinn direkt zu folgen
Jackson übersetzt hingegen: »(der etablierten Lehre) zu folgen«; Griffel interpoliert »dem wörtlichen Sinn«, ohne dies kenntlich zu machen. und sich einer direkten Abänderung des Wortsinns [dhawāhir] zu enthalten. Weiter muß man vorsichtig sein, im Rahmen einer Interpretation eine innovative Deutung vorzuschlagen, die die Prophetengenossen nicht geäußert haben. Hier ist es darüber hinaus richtig, das Tor der Fragen direkt zu schließen und die Beschäftigung mit dem Kalām und der Forschung sowie mit den nicht klar verständlichen Stellen im Buch und in der Prophetentradition zu tadeln. (S. 70)
Für die breite Masse stellt sich also die Frage des taʾwīl und der daraus resultierenden Probleme gar nicht. Warum dies so sein sollte, wird nicht gesagt.
Der zweite Standpunkt findet sich bei den Leuten der Spekulation [an-nudhdhār], deren überlieferte Glaubensbekenntnisse in Aufruhr gebracht sind. Ihre Forschung sollte sich durch die Kraft logischer Notwendigkeit auszeichnen. Geben sie die wörtliche Bedeutung [dhāhir] auf, so sollte dieser Schritt durch die Notwendigkeit eines apodiktischen, überzeugenden Beweises begründet sein. Sie sollten sich nicht untereinander des Unglaubens bezichtigen, weil der eine einen Fehler sieht, wo der andere glaubt, es herrsche Apodiktik [burhān]. Immerhin ist das keine geringfügige Sache, die einfach zu verstehen ist. (S. 70-71)
Der Übergang von der äußeren Bedeutung (dhāhir) zu einer anderen Stufe steht nur den Theoretikern zu. Darüber hinaus wiederholt al-Ghazālī, dass dies nur unter der Voraussetzung eines Beweises geschehen und aufgrund von Differenzen hinsichtlich der Beweisführung kein Vorwurf des kufr erhoben werden sollte. Einen neuen Aspekt bringt hingegen die letzte Bemerkung ins Spiel, deren Bedeutung leicht zu übersehen ist. Was ist hier nicht geringfügig und nicht leicht zu verstehen? Es ist die Methode der richtigen Beweisführung. Denn die Mutakallimūn haben sich bislang nicht nur nicht auf eine bestimmte Methode einigen können, sondern sie haben die ganze Sache noch nicht einmal richtig verstanden. Das bestätigt die Vermutung, dass, wenn oben von »Beweis« die Rede war, eben nicht eine bestimmte Beweisführung gemeint war, sondern das, was jeweils gerade von einem Gelehrten darunter verstanden wurde. Und eben dadurch ist es nach al-Ghazālī zu den Meinungsverschiedenheiten gekommen, die zu den Bezichtigungen des kufr führten.
Demgegenüber ruft al-Ghazālī nun aus:
Gäbe es unter ihnen doch nur ein Gesetz [qānūn] für Apodiktik [burhān], dem sie zustimmen und das sie alle anerkennen würden! (S. 71)
Gemeint ist damit wohl ein allgemein anerkanntes Kriterium zur Bestimmung der Gültigkeit einer Beweisführung. Dieses Kriterium gibt es also bis dahin nicht. Jede Partei betreibt die Beweisführung nach ihren eigenen Regeln oder – mit anderen Worten – hat ihre eigene Logik. Und da möchte al-Ghazālī endlich Ordnung hineinbringen und alle auf eine einzige und einheitliche Logik verpflichten, so dass im Zusammenspiel mit seinem qānūn at-taʾwīl die vermeintlichen Gegensätze zwischen den verschiedenen Gruppen stark abgeschwächt oder sogar ganz aufgelöst werden könnten: Gäbe es unter ihnen doch nur eine allgemein anerkannte Logik!
Wenn die Mutakallimūn sich schon nicht auf die Skala der Waage und die Methode des Wiegens einigen können, wie sollten sie da je ihre Streitigkeiten über das Gewicht der gewogenen Sache beilegen können?
al-Ghazālī hat die gesuchte Waage samt Skala und Methode zur Hand und bietet sie zur allgemeinen Verwendung an:
Wir haben die fünf Balancen der Argumentation im Buch »Die ausgeglichene Waage« beschrieben. (S. 71)
al-Ghazālī liefert in seinem Buch al-Qistās al-mustaqīm (Die ausgeglichene Waage) eine Darstellung der aristotelischen Logik, die er zugleich koranisch zu begründen versucht, indem er nachweist, dass der Syllogismus als Methode der Argumentation auch im Koran Verwendung findet. Diese Logik trägt er also den Mutakallimūn an. Sie ist zwar seines Erachtens nicht leicht zu verstehen, verspricht aber vollkommene Gewissheit:
Wenn man sie einmal verstanden hat, ist es unmöglich ihnen [den Beweisführungen] zu widersprechen. Nein, vielmehr wird jeder, der sie verstanden hat, auch anerkennen, daß sie die Mittel sind, die zu überzeugendem und sicherem Wissen führen. Für jene, die sie gelernt haben, ist es einfach, die Mitte der Waage, d. i. die Korrektheit eines Argumentes, zu erreichen und sie zu halten, den Fehler aufzudecken und eine Kontroverse zu beenden. (S. 71)
Der recht verstandene Gebrauch dieser Logik verspricht also tatsächlich notwendiges und sicheres Wissen zumindest insofern, als die Richtigkeit der Beweisführung betroffen ist. Und damit einhergehend können durch sie die Fehler in Argumenten aufgedeckt und Kontroversen als gegenstandslos erkannt und folglich aufgelöst werden.
Allerdings sind Kontroversen auch dadurch nicht ganz ausgeschlossen. Sie bleiben aber von untergeordneter Bedeutung. al-Ghazālī führt fünf verschiedene Fälle möglicher Differenzen an. Sie scheinen bei näherer Betrachtung durchaus nicht ganz so nebensächlich zu sein, wie al-Ghazālī zu verstehen gibt. Jedenfalls ist er der Auffassung, ihnen in einem weiteren Logik-Buch mit dem Titel Mihakk al-nadhr (Prüfstein der Spekulation) bereits gewehrt zu haben. So kann al-Ghazālī diesen Abschnitt seiner Untersuchung mit folgender Bemerkung schließen:
Wenn die Gelehrten ihre Halsstarrigkeit aufgeben, sich auf die Balance einlassen und sie in die Tat umsetzen, dann können sie im allgemeinen ziemlich leicht die Fehlerquellen erkennen. (S. 71)
Damit wäre das Thema, das im Zentrum unseres Interesses steht, nämlich die Behandlung des qānūn at-taʾwīl, weitgehend abgeschlossen. Wir beschränken uns im Folgenden daher darauf, einen groben Überblick über den weiteren Gedankengang al-Ghazālīs zu geben.
3.11 Äußeres Kriterium und Philosophie
3.11 Äußeres Kriterium und Philosophie Yusuf KuhnNachdem al-Ghazālī bis hierher den Spielraum aufgezeigt hat, in dem sich Interpretationen in ihrer Vielfalt nach seiner Regel bewegen können, ohne dem Vorwurf des kufr ausgesetzt zu sein, macht er sich nun an die Untersuchung des äußeren Kriteriums, das īmān und kufr voneinander scheidet.
al-Ghazālī fährt also fort:
Nun gibt es Leute, die sich übereilt in die Interpretation stürzen, weil sie von einer Menge nicht zwingend bewiesener Vermutungen überwältigt werden. (S. 72)
Diese Leute gehen mithin zur Interpretation auf der bloßen Grundlage von Vermutungen (dhann) über. al-Ghazālī warnt davor, diese Leute ebenso übereilt des kufr zu bezichtigen, da es darauf ankommt, welchen Gegenstand ihre Interpretation betrifft. Denn wenn es sich nicht um Grundsätze oder wichtige Punkte der Glaubenslehre handelt, sollte ihnen nicht kufr vorgeworfen werden. Es könnte sein, dass sie die Regeln und Voraussetzungen der Beweisführung nicht ausreichend kennen und daher ihre Vermutungen für Beweise halten. Deshalb sollten sie weder wegen kufr noch wegen bidʿa (problematischer Neuerung) verurteilt werden. Nur wenn ihre Behandlung einer Frage zu einer Verwirrung in den Herzen der ungebildeten Menschen führt, ist die Verurteilung als bidʿa angebracht und erfordert.
Hängt aber eine solche Art von Interpretation mit den wichtigen Grundsätzen der Glaubenslehre zusammen, so muß jeder für ungläubig [kāfir] erklärt werden, der den buchstäblichen Wortsinn [dhāhir] ohne einen überzeugenden, apodiktischen Beweis [burhān] abändert. (S. 73)
Wenn demnach jedoch eine solche Interpretation, die ohne Beweis (burhān) von der dhāhir-Bedeutung zum taʾwīl übergeht, mit den wichtigen Grundsätzen der Glaubenslehre zusammenhängt, muss sie als kufr verurteilt werden. Als Beispiele werden einige Thesen der falāsifa (Philosophen) angeführt, hauptsächlich die Leugnung der leiblichen Auferstehung samt jenseitigem Leben sowie Gottes Unkenntnis von den Einzeldingen. al-Ghazālī betont, dass solche Behauptungen für die Religion enorm schädlich sind. Diese Anschauungen werden allerdings von den meisten falāsifa vertreten. Und da die diesbezüglichen Aussagen in Koran und Sunna an Zahl und Deutlichkeit das Maß übersteigen, das eine Interpretation (taʾwīl) zulässt, wird damit der Spielraum der Interpretationsregel gesprengt und der Prophet zum Lügner erklärt. Nach al-Ghazālīs Kriterium liegt hier somit ein klarer Fall von kufr vor.
Dabei bestreiten die falāsifa nicht einmal, dass dies kein Feld für Interpretation ist. Sie berufen sich vielmehr darauf, dass die meisten Menschen nicht über die intellektuellen Fähigkeiten verfügen, um die wahre Realität zu erkennen, wie sie ausschließlich in Begriffen der Philosophie dargestellt werden kann, und deshalb auf eine bildliche Darstellung angewiesen sind, wie sie die Offenbarung liefert: wahre Philosophie für die Elite der Wenigen und Religion für die breite Masse. al-Ghazālī kennzeichnet diese elitäre Konzeption, indem er den falāsifa folgende Worte in den Mund legt:
Die menschlichen Intellekte sind zu träge, um die Bedeutung des intellektualen Jenseits zu verstehen. Deshalb ist es dem Wohl des Menschen zuträglich, an die Versammlung der Körper zu glauben. Es ist ebenso dem Wohl des Menschen zuträglich, zu glauben, daß Gott mit allem, was ihnen zustößt, vertraut ist und daß er sie überwacht. Denn dieser Glaube soll Eifer und Furcht in ihren Herzen erzeugen. Dem Propheten war es erlaubt, den Menschen dies zu lehren. Wer seinen Mitmenschen eine Wohltat erweist, ist kein Lügner. Er hat den Menschen gezeigt, wie sie Wohl erlangen können, auch wenn es gar nicht so ist, wie er es darstellte. (S. 74)
Der Zweck, dem Wohl der Menschen zu dienen, heiligt die Lüge, so dass die Lüge eigentlich keine sein soll, sondern vielmehr eine Wohltat. Dem widerspricht al-Ghazālī energisch:
Diese Behauptung ist ganz und gar nichtig, denn sie spricht offen die Unterstellung aus, der Prophet habe gelogen. Darüber hinaus liefert sie auch noch eine Entschuldigung für den Anspruch, der Beschuldigte habe gar keine Lüge unterstellt. Man muß die prophetische Würde über solche Geringschätzigkeit erhaben halten. Denn was sowohl Aufrichtigkeit wie die Fähigkeit angeht, den Menschen Wohltaten zu erweisen, so ist diese Würde absolut frei von Lüge. (S. 74)
Und al-Ghazālī qualifiziert diese Anschauungen als »erste Rangstufen von zandaqa (verborgenem kufr)« im Unterschied zu absoluter (mutlaqa) zandaqa, welche die Existenz eines Jenseits oder eines Schöpfers der Welt überhaupt leugnet. Demgegenüber ist die zandaqa der besagten falāsifa eingeschränkt, da sie dem Propheten eine gewisse Wahrhaftigkeit zuerkennt, indem die Existenz eines Jenseits und eines Schöpfers immerhin angenommen wird, wenngleich auch in einer Weise, die der Offenbarung widerspricht.
Es zeigt sich hier auch, dass die Übersetzung von zandaqa mit »verborgenem kufr«, wie Jackson es tut, problematisch zu sein scheint. Denn zumindest bei der zandaqa mutlaqa ist der Aspekt der Heuchelei offensichtlich kaum mehr zu erkennen. Hinsichtlich der falāsifa kann gleichwohl von zandaqa als verborgenem kufr und Heuchelei in dem von al-Ghazālī beschriebenen Sinne die Rede sein. Daher bleibe ich trotz der Bedenken und mangels einer besseren Alternative bei »verborgenem kufr« als Interpretation von zandaqa.
al-Ghazālī schließt nun eine Mahnung zur Vorsicht und Zurückhaltung an:
Wisse: Es erfordert eine langwierige Unterscheidung, zu erläutern, wodurch jemand zum Ungläubigen [kāfir] wird oder wodurch nicht. Man müßte jede Abhandlung und jede Glaubensrichtung untersuchen, ihre unsicheren Auffassungen durchleuchten und die Argumente einer jeden Gruppe erörtern, schließlich müßte die Art ihrer Abweichung vom Wortsinn [dhāhir] und die Methode ihrer Interpretation erkannt werden. Das würde ganze Bände füllen – für jene Erklärung reicht meine Zeit aber nicht aus. (S. 75)
Da diese umfassende Untersuchung praktisch kaum oder gar nicht möglich ist, beschränkt al-Ghazālī sich auf eine Empfehlung und eine Regel:
Die Empfehlung lautet: Halte deine Zunge soweit es dir möglich ist von den Leuten der Gebetsrichtung zurück, solange sie das Glaubensbekenntnis: »Es gibt nur einen Gott und Muhammad ist sein Prophet [Es gibt keine Gottheit außer Allāh und Muhammad ist Sein Gesandter]«, rezitieren, ohne diesem Satz zu widersprechen. (S. 75)
Die Empfehlung zur Zurückhaltung in der Beurteilung anderer Muslime verbindet al-Ghazālī darüber hinaus mit einem guten Rat:
In der Verurteilung aufgrund von Unglaube [kufr] liegt eine Gefahr, im Schweigen liegt keine! (S. 75)
Denn der Vorwurf des kufr, der sich als grundlos erweist, fällt auf denjenigen zurück, der den Vorwurf erhebt. Das sollte eigentlich schon Grund und Anreiz genug sein, sich dabei äußerster Vorsicht und Behutsamkeit zu befleißigen!
Was die Regel betrifft, so unterscheidet al-Ghazālī die »Gegenstände religiöser Spekulation« (an-nadharīyāt) in zwei Teile: Grundsätze der Glaubenslehre und Ableitungen. Es gibt drei Grundsätze; sie betreffen die Anerkennung der Existenz Gottes, der Prophetenschaft des Propheten sowie der Wirklichkeit des Letzten Tages. Bei allem anderen handelt es sich um sekundäre Fragen oder Ableitungen.
Der wesentliche Gehalt der Regel lautet:
Wisse: Bei den Ableitungen [furūʿ] gibt es ursprünglich keine Verurteilung aufgrund von Unglaube [kufr]. (S. 76)
Von kufr kann demnach nur bei solchen Fragen die Rede sein, welche die Grundsätze betreffen. Warum fügt al-Ghazālī »ursprünglich« ein? Um darauf hinzuweisen, dass es gleichwohl Ausnahmen und Einschränkungen der Regel gibt.
Eine Ausnahme bezieht sich auf eine religiöse Lehre, die vom Gesandten Allāhs stammt und auf eine sichere Überlieferung (tawātur) zurückgeht. Und eine Einschränkung ergibt sich dadurch, dass auch bei sekundären Fragen eine Verurteilung als kufr erforderlich wird, wenn der Prophet dabei der Lüge bezichtigt wird.
3.12 Warnung und Mahnung
3.12 Warnung und Mahnung Yusuf KuhnIm nächsten Abschnitt führt al-Ghazālī eine Liste von Kriterien an, die mit der Verurteilung des kufr zusammenhängen. Sie seien stichwortartig genannt:
1. Lässt der Text, von dessen äußerer Bedeutung (dhāhir) abgewichen wurde, eine Interpretation (taʾwīl) zu?
2. Steht der Text aufgrund von lückenloser Überlieferung, aufgrund von Überlieferung Einzelner oder aufgrund des Konsenses (idschmāʿ) fest?
3. War demjenigen, der des kufr beschuldigt wird, ein bestimmter Text oder auch der Konsens der Gelehrten bekannt?
4. Sind die Bedingungen für eine richtige Beweisführung erfüllt?
5. Wird durch die fragliche Meinung ein großer Schaden für die Religion verursacht?
al-Ghazālī weist immer wieder auf die vielen Bedingungen und Einschränkungen hin, die ein kufr-Urteil äußerst erschweren. Angesichts der für die meisten Gelehrten kaum zu meisternden Schwierigkeiten rät er zu größter Zurückhaltung:
Nun hast du verstanden, daß die Untersuchung über ein Apostasieurteil [takfīr] ganz und gar von solchen Standpunkten abhängt, die im Einzelnen nicht von den scharfsinnigsten Gelehrten gemeistert werden. Deshalb weißt du nunmehr auch, daß man ein voreiliger Dummkopf ist, wenn man leichtfertig ein Apostasieurteil [takfīr] über jemanden fällt, der al-Ašʿarī oder einem anderen widersprochen hat. Wie soll nur ein bloß mit Rechtwissenschaft [sic!] ausgestatteter Jurist eine solch enorm schwierige Aufgabe meistern? In welchem Abschnitt des Jurastudiums begegnen einem diese Wissenschaften? Siehst du einen Rechtsgelehrten, wie er sich bloß mit dem Kapital seiner Rechtswissenschaft vorschnell in ein Urteil über die Apostasie [takfīr] oder Irreleitung eines Angeklagten stürzt, dann wende dich ab und beschäftige weder dein Herz noch deine Zunge weiter mit ihm. Wenn Verstocktheit in den Wissenschaften eine Anlage im Charakter ist, dann kann der Unwissende ihr nicht widerstehen. Deshalb widersprechen sich die Menschen so häufig. (S. 81)
Und er beschließt diesen Abschnitt mit einem allgemein gültigen Rat, der es sicher verdient, beherzigt zu werden, obschon es gewiss nicht immer leicht ist:
Würde nur jeder, der es nicht genau weiß, auch den Mund halten, dann gäbe es weit weniger Gegensätze zwischen den Menschen. (S. 81)
al-Ghazālī wendet sich nun einer Gruppe von den Mutakallimūn zu, die alle Muslime des kufr bezichtigen, deren Glauben nicht die Bedingung erfüllt, der Glaubenslehre einer ganz bestimmten Schule zu entsprechen und zudem mit vollem Verständnis auf die von dieser Schule als rational vertretenen Argumenten gegründet zu sein.
Nun gibt es unter den Mutakallimūn eine Gruppe, die ist sehr unmäßig und geht in ihrer Übertreibung soweit, die einfachen und ungebildeten Muslime zu Ungläubigen [kāfir] zu erklären. Sie behaupten: „All jene sind Ungläubige [kāfir], die den Kalām nicht wie wir genau kennen und die die von uns aufgestellten Argumente für die religiösen Glaubenssätze nicht verstanden haben.“ (S. 82)
Diese Praxis wird von al-Ghazālī scharf kritisiert: Denn diese Leute haben die Barmherzigkeit Allāhs, die alle Gläubigen umfasst, beschränkt und das Paradies zu einem exklusiven Ort für eine kleine Schar von Mutakallimūn erklärt. Außerdem kennen sie die Sunna nicht, sonst wäre ihnen nicht entgangen, dass zur Zeit des Propheten (sas) und seiner Genossen die Anerkennung als Muslim nicht von der Kenntnis einer bestimmten Wissenschaft und ihrer Argumente abhängig gemacht wurde.
Wer meint, Kalām, die nackten Argumente und die systematischen Einteilungen seien der Weg zum Glauben [īmān], der hat weit gefehlt. Der Glaube ist vielmehr ein Licht, das Gott als Gabe und Geschenk in die Herzen seiner Diener wirft. (S. 82)
Dem Kalām räumt al-Ghazālī hingegen nur einen sehr beschränkten Nutzen ein. Bei der Verbreitung des Islam hat er praktisch keine Rolle gespielt, da er nicht zu den Gebräuchen der Vorfahren gehörte. Vielmehr wurden darin vor allem Gefahren gesehen. al-Ghazālī schließt sich dem an und spricht sich fast für ein Verbot aus:
Wenn wir Heuchelei und Rücksichtnahme auf unseren Nächsten aufgeben, dann sprechen wir deutlich aus, daß die übereilte Beschäftigung mit dem Kalām wegen der Größe des sich daraus ergebenden Schadens verboten ist. (S. 83)
Ausnahmen will er nur in zwei Fällen zulassen. Wenn jemand von Zweifeln und Unsicherheit befallen ist, die sich anders nicht beheben lassen, ist die Ausübung von Kalām für ihn als Heilmittel für seine Krankheit erlaubt. Und die Praxis des Kalām ist auch dann zulässig, wenn man sich ihrer bedienen will, um damit einen Kranken zu heilen, der von Zweifeln und Unsicherheit befallen ist.
Abschließend stellt al-Ghazālī noch einmal gegen die von einigen Mutakallimūn, insbesondere aschʿaritischen, geübte Praxis, die große Masse der Muslime des kufr zu beschuldigen und aus dem Islam auszuschließen, mit aller Deutlichkeit klar:
Es ist offenbare Wahrheit, daß jeder ein Gläubiger ist, der entschieden an das glaubt, was mit dem Gesandten auf ihn gekommen ist und an das, was der Koran enthält, auch wenn er seine Argumente nicht verstanden hat. Demhingegen ist der aus dem Argument des Kalāms gewonnene Glaube sehr schwach und stets geneigt, sich beim kleinsten Zweifel aufzulösen. Der festgegründete Glaube ist der Glaube der ungebildeten Masse. Er ergibt sich während der Jugend in ihren Herzen aus dem wiederholten Hören der Überlieferungen. Oder er wird im Erwachsenenalter durch glückliche Umstände verursacht, die man nicht erklären kann. Seine volle Festigung muß untrennbar von Gottesdienst und Ḏikr, Anrufung Gottes, begleitet werden. Wer mit Gottesdienst bis zum Wesen der Gottesfurcht und zur Reinigung des Inneren vom Schmutz der Welt angelangt ist und wer beharrlich die Anrufung Gottes praktiziert, dem zeigen sich die Lichter ursprünglicher Erkenntnis [maʿrifa], und die Einsichten, die er eben noch aus Lehrsätzen akzeptiert hatte, werden ihm nun wie eigener Augenschein als sinnliche Bilder offenbar. Dies ist die wahre ursprüngliche Erkenntnis, und sie tritt nur ein, wenn der Knoten, der die Glaubenssätze umfaßt, gelöst und die Brust durch das Licht Gottes erweitert wird. „Und wenn Gott einen rechtleiten will, weitet er ihm die Brust für den Islam ...“ [Koran 6:125] „… sodaß er nunmehr von seinem Herrn erleuchtet ist.“ [Koran 39:22] (S. 84)
al-Ghazālī beschließt seine Untersuchung mit einer eindringlichen Mahnung:
Von Muḥammad [dem Gesandten Allāhs (sas)] ist uns überliefert worden:
„Wenn ein Muslim seinen Gefährten des Unglaubens [kufr] beschuldigt, so ist einer von beiden ungläubig [kāfir].“ Dies meint, daß er ihn in Wissen über den Zustand des Gefährten einen Ungläubigen [kāfir] nennt. Weiß aber jemand über einen anderen, daß er an den Gesandten Gottes glaubt und ihn für wahrhaftig hält und nennt ihn trotzdem einen Ungläubigen [kāfir], so ist der Ankläger selber ein Ungläubiger [kāfir]. Nennt er ihn aufgrund bloßer Mutmaßung, wonach der Beschuldigte den Propheten für einen Lügner halte, einen Ungläubigen [kāfir], so ist das ein Fehler des Anklägers über den Zustand einer Person. Denn er mutmaßt ja nur, daß er eine Lüge unterstellender Ungläubiger [kāfir] sei, es trifft aber gar nicht zu – und das ist wiederum kein Unglaube [kufr].
Mit diesen wiederholten Untersuchungen haben wir die Lehre von der enormen Tiefe, die in dieser Regel liegt, und von dem Gesetz [qānūn], dessen Befolgung notwendig ist, dargelegt. Begnüge dich damit!
Wer der Rechtleitung folgt, dem sei Friede gegeben. – Lob sei Gott, dem Herrn der Welt. – Seinem Propheten und dessen Familie gilt unser Gebet. (S. 91)