5 al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den fiqh

5 al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den fiqh Yusuf Kuhn
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 8

Vorbemerkung

Welchen Beitrag hat al-Ghazālī zur Einführung der Logik in das islamische Recht (fiqh) und Rechtstheorie (usūl al-fiqh) geleistet? Dieser Frage geht Wael Hallaq, gewiss einer der besten Kenner der Geschichte der islamischen Rechtstheorie (usūl al-fiqh), in einem Aufsatz nach, der den Titel trägt: Logic, Formal Arguments and Formalization of Arguments in Sunnī Jurisprudence (Logik, formale Argumente und Formalisierung von Argumenten im sunnitischen Recht).Wael B. Hallaq, Logic, Formal Arguments and Formalization of Arguments in Sunnī Jurisprudence, in: Arabics, T. 37, Fasc. 3 (Nov., 1990), pp. 315-358; http://www.jstor.org/stable/4057146. Wir wollen uns dabei auf den in unserem Zusammenhang relevanten Teil beschränken, in dem al-Ghazālīs Haltung gegenüber der Logik in den Grundzügen untersucht wird.

5.1 Logik und Recht

5.1 Logik und Recht Yusuf Kuhn

Wenn in dieser Weise von Logik gesprochen wird, ist stets die aristotelische formale Logik gemeint, auch wenn dies, wie etwa zumeist auch bei Hallaq, nicht näher spezifiziert wird. Damit ist nun keineswegs, wie oftmals unterstellt zu werden scheint, die Frage schon beantwortet, ob es weitere Logiken gibt und in welchem Verhältnis diese zur aristotelischen Logik stehen. Dass diese Frage allzu oft gar nicht gestellt oder gar für gegenstandslos gehalten wird, dürfte allerdings den Versuch, al-Ghazālīs Position zur Logik zu verstehen, nicht gerade erleichtern. Denn für al-Ghazālī selbst ist diese Frage keineswegs von vornherein ausgemacht. Und nicht nur deshalb, sondern auch aus heutiger Sicht ist es recht verwunderlich, dass diese Frage in der Literatur nicht einmal angesprochen wird, da doch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein gewaltiger Umsturz auf dem bis dahin von vielen für unveränderlich gehaltenen Gebiet der Logik sich vollzogen hat, aus dem eine geradezu hyper­inflationäre Flut an Logiken hervorgebrochen ist. Davon wird aber keinerlei Gebrauch gemacht. Die in zweifacher Hinsicht anachronistische Fixierung auf die aristotelische Logik scheint den Blick auf Alternativen völlig zu verstellen.

Wael Hallaq zufolge war al-Ghazālī »der erste Rechtsgelehrte im sunnitischen Islam, der die Logik in hohem Maße in die Rechtstheorie integriert hat« (Hallaq, S. 318). Das soll nicht heißen, dass nicht andere vor al-Ghazālī bereits über die Logik im Recht geschrieben hätten. So erwähnt Hallaq neben anderen den andalusischen Gelehrten Ibn Hazm (gest. 456/1062), der über ein halbes Jahrhundert vor al-Ghazālī eine Abhandlung über Logik mit zahlreichen rechtlichen Beispielen verfasst hat, die nicht nur der Illustration dienen sollten. Denn Ibn Hazm erachtete die Logik als höchst nützlich für die Auslegung von Koran und Sunna sowie für die Ableitung rechtlicher Schlussfolgerungen. Und er verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass diejenigen, die eine solche einfache Tatsache nicht verstünden, sich von der Religion entfernt hätten und ihnen daher nicht erlaubt werden sollte, Entscheidungen in Rechtsfragen zu treffen. Doch diesen Vorläufern kommt letztlich lediglich eine marginale Bedeutung zu im Verhältnis zu dem überragenden Einfluss und Wirkung al-Ghazālīs.

Der sunnitischen Rechtstheorie, so Wael Hallaq, war es bis ins 5./11. Jahrhundert weithin gelungen, das Eindringen der aristotelischen Logik zu verhindern. In den Auseinandersetzungen um die Grundlegung und Ausrichtung des islamischen Rechts erschien die Logik als Werkzeug der Philosophie und stand daher unter dem Verdacht, ihre metaphysischen Voraussetzungen zu teilen. Die vorherrschende, insbesondere von asch-Schafiʿī (gest. 204/820) geprägte Tendenz in der sunnitischen Rechtstheorie widersetzte sich erfolgreich diesen Einflüssen eines philosophischen Rationalismus, der als den Grundlagen des Islam zuwiderlaufend erachtet wurde. Erst al-Ghazālī, als schafiʿitisch-aschʿaritischer Gelehrter, befreite die Logik von diesem Verdacht, indem er sie vermeintlich als neutrale Methode aus der aristotelischen Philosophie herauslöste und so von ihren als nicht-islamisch geltenden metaphysischen Voraussetzungen abspaltete. Dadurch räumte er den Weg frei für die Aufnahme der Logik in Rechtstheorie (usūl al-fiqh) und Recht (fiqh), die in den folgenden Jahrhunderten von seinen Nachfolgern mit kaum zu überschätzenden Auswirkungen bis in die Gegenwart aufgegriffen und fortgeführt wurde.

Bevor diese Entwicklung einsetzte, wurden Schlussformen der formalen Logik nicht anerkannt. In Schafiʿīs Rechtstheorie beispielsweise beschränkt sich das Arsenal an Schlussweisen auf Analogieschluss, Argumentum e contrario (Umkehrschluss) und Argumentum a fortiori (Erst-recht-Schluss). Soweit in seiner Rechtsfindung Argumente vorkommen, die wie rudimentäre deduktive Schlüsse aussehen, galten sie als bloß sprachliche Schlüsse. Denn es wurde angenommen, dass sie nicht mittels logischer Deduktion abgeleitet, sondern aus der Sprache der Offenbarung unmittelbar verstanden werden. Im Hintergrund steht dabei die grundlegende Unterscheidung von Gewissheit und Wahrscheinlichkeit, die in ihren verschiedenen Abstufungen je nach Klarheit der entsprechenden Stelle auf den Text der Offenbarung angewendet wurde. Ein koranischer Text, in dem eine Norm klar festgesetzt wird, bedarf keiner deduktiven Schlussverfahren, um eine Rechtsnorm entnehmen zu können. Vielmehr wurde angenommen, dass die Erkenntnis, die auf diesem Text beruht, unmittelbar oder notwendig (dharūrī) ist, da der Verstand, der damit konfrontiert wird, nicht umhin kann, ihn zu verstehen. Wenn daher beispielsweise eine Gattung verboten wird, so wird daraus unmittelbar verstanden, dass jede ihrer Arten ebenfalls verboten ist, auch wenn die einzelnen Arten nicht speziell verboten werden. Daher werden deduktive Schlussweisen in der Rechtstheorie eben nicht als solche anerkannt, sondern lediglich als Ableitungen auf rein sprachlicher Grundlage erachtet.

5.2 al-Ghazālī als Wegbereiter

5.2 al-Ghazālī als Wegbereiter Yusuf Kuhn

Wie hat nun al-Ghazālī konkret der Einführung der aristotelischen Logik in Recht und Rechtstheorie den Weg bereitet? Er tat dies, indem er seinem rechtstheoretischen Werk Mustasfā ein Kompendium der Logik voranstellte. Daneben verfasste er zwei weitere Lehrbücher der Logik, die etwas umfangreicher ausfielen, nämlich Mihakk und Miʿyār. Die einführende Abhandlung in Mustasfā erhob er zwar nicht zur verpflichtenden Lektüre, sondern überließ diese Entscheidung der Leserschaft, sprach aber in unmissverständlicher Weise die an Ibn Hazm gemahnende Mahnung aus, dass, wer keine Kenntnis der Logik besitze, auch keine Kenntnis irgend einer Wissenschaft besitze.

Und welchen Einfluss hatte diese Einleitung auf das Werk selbst? Wie machte sich die Logik in der inhaltlichen Umsetzung bemerkbar? Wael Hallaq kommt zu folgendem Ergebnis:

Wenn er zum rechtlichen Teil von al-Mustasfā fortschreitet, kann jedoch kein Anzeichen irgend einer formalen logischen Analyse ausfindig gemacht werden und verbleibt sein Verfahren vollständig innerhalb der Konvention des klassischen usūl al-fiqh. (S. 319)

Die einführende Abhandlung der Logik bleibt also folgenlos für Inhalt und Gestaltung der Rechtstheorie selbst. Natürlich drängt sich da sofort die Frage auf: Warum wird sie dann überhaupt vorangestellt? Was bezweckte al-Ghazālī damit? Hallaq vermutet, dass er damit eben keine Revolutionierung der Rechtstheorie beabsichtigte, sondern vielmehr darauf aufmerksam machen wollte, dass die Logik als Werkzeug unerlässlich ist, »mit dem alle Schlüsse streng gemäß einem rationalen Schema geformt werden können« (S. 319). Hallaq erkennt darin einen bemerkenswerten Rückzug im Vergleich zu seinem Vorgehen in früheren Werken wie al-Miʿyār, eine Einführung in die aristotelische Logik, und ganz besonders Shifāʾ al-ghalīl, eine Abhandlung über die Verursachung im Recht, aus dem Hallaq einen Abschnitt im zweiten Teil seines Artikels übersetzt und kommentiert hat. In Shifāʾ al-ghalīl analysierte al-Ghazālī rechtliche Schlüsse mit den Mitteln der syllogistischen Logik. Das scheint allerdings die große Ausnahme gewesen zu sein. In al-Miʿyār war das Verhältnis von Recht und Logik schon weniger eng gestrickt, da illustrierende Beispiele für syllogistische Schlussformen nicht nur Philosophie und Theologie, sondern auch dem Recht entnommen wurden. Hallaq erläutert dazu:

Es ist völlig offensichtlich, dass al-Ghazālī mit diesen Beispielen lediglich versuchte, dem Denken der Rechtsgelehrten ein Verständnis dieser Schlussfolgerungen näher zu bringen. Es gibt kein Bemühen, Rechtsfälle mittels dieser Schlussformen zu analysieren. Und es gibt auch keinerlei Anstrengung, die spezifischen Strukturen der rechtlichen Logik in Begriffen der etablierten Theorie der Logik zu identifizieren. (S. 320)

Aber es gibt eine Ausnahme, die weit reichende Folgen zeitigen sollte, nämlich den Analogieschluss. Denn in al-Miʿyār besteht al-Ghazālī, darauf, dass der Analogieschluss, wenn er der Tradition der aristotelischen Logik gemäß logisch gültig sein soll, in einen Syllogismus umgewandelt werden muss.

Das Kompendium der Logik, das al-Ghazālī als Einführung seinem al-Mustasfā vorangestellt hat, gleicht weithin den üblichen arabischen Lehrbüchern der aristotelischen Logik. Es beginnt mit einer Darstellung der Theorie der Definition (hadd) und schließt eine Aufstellung der verschiedenen Typen von syllogistischen Schlussformen (burhān) an. Des weiteren werden die Arten von Prämissen in demonstrativen Schlüssen und die Kriterien für ihre Unterscheidung in die Kategorien von Gewissheit und Wahrscheinlichkeit erörtert. Im Anschluss daran werden Induktion und Analogieschluss behandelt, wobei die Induktion den nicht-schlüssigen Wissenschaften zugerechnet und die Notwendigkeit der Umformung des Analogieschlusses als Voraussetzung für seine logische Gültigkeit betont wird.

Dieser Konzeption des Verhältnisses von Logik und Recht sollten viele seiner Nachfolger verhaftet bleiben, welche der Einführung von Regeln der Logik in ihre usūl-Werke ebenfalls mit großer Vorsicht begegneten, die gleichwohl allmählich in die Rechtstheorie Einzug hielten. Das von al-Ghazālī als knappe Einleitung konzipierte Kompendium der Logik entwickelte sich allerdings schließlich zu einer selbständigen Abhandlung der Logik.

5.3 Rechtliche und aristotelische Logik

5.3 Rechtliche und aristotelische Logik Yusuf Kuhn

Hallaq erörtert sodann eine Frage von grundlegender Bedeutung für al-Ghazālīs Verständnis von Logik und deren Verhältnis zur Rechtstheorie. Da dieses stark interpretationsbedürftig und obendrein mit allerlei schwierigen Fragen verknüpft ist, sei dieser Abschnitt ausführlich zitiert:

Die grundsätzliche Problematik, die al-Ghazālī in mehr als vier der oben genannten Werke, insbesondere al-Mustasfā und Shifāʾ al-ghalīl, anzusprechen nicht versäumt, ist die unterschiedliche Terminologie bezüglich der zwei Schlussweisen, die den beiden Disziplinen usūl und Logik gemeinsam sind. Wenn die ʿilla im Oberbegriff wirksam ist, heißt die Schlussweise bei den Philosophen burhān al-limā und bei den Rechtsgelehrten qiyās al-ʿilla. Wenn die ʿilla nicht-kausal ist, heißt die Schlussweise bei den Philosophen burhān liʾanna und bei den Rechtsgelehrten qiyās al-dalāla. Die Form des rechtlichen Schlusses ist daher identisch mit der Schlussform des Logikers. Der Unterschied zwischen ihnen liegt allerdings in der Qualität der materialen Prämissen (muqaddimāt), die in rechtlichen und rationalen Schlüssen verwendet werden. »Die Prämissen, die für den rationalen qiyās (Demonstration) geeignet sind, sind für den rechtlichen qiyās geeignet, aber nicht alle Prämissen, die für den rechtlichen qiyās geeignet sind, sind für den rationalen qiyās geeignet.«Dieses Zitat findet sich in mehreren Werken al-Ghazālīs: al-Mustasfā, Shifāʾ al-ghalīl, Miʿyār, Mihakk; vgl. hierzu die näheren Angaben im Artikel von W. Hallaq. Die Umformung einer wahrscheinlichen rechtlichen Prämisse in eine schlüssige verlangt ihre »Universalisierung«; das heißt, die Ausweitung der Regel, die einen besonderen Fall bestimmt, auf die Art, von der dieser Fall nur ein Exemplar ist. Unter dieser Voraussetzung wird die Form des rechtlichen Schlusses nicht verschieden sein von dem formal rationalen Schluss. Dies ist in der Tat, abgesehen von dem schwierigen Problem der logischen Gültigkeit der »universalisierten« Oberprämisse, eben das Verfahren, durch das nicht-formale rechtliche Schlüsse formalisiert werden. (S. 321)

Wir wollen es an dieser Stelle Hallaq gleichtun und die zahlreichen schwierigen Fragen, die in dieser Darstellung verborgen sind, nicht weiter vertiefen. Es soll vorläufig als Andeutung dafür genügen, wie al-Ghazālī das Verhältnis der Schlussweisen in Recht und aristotelischer Logik zu fassen versucht. Wie steht es dabei mit der behaupteten Identität der Schlussformen von Rechtstheoretiker und Logiker? Wie ist die Beziehung von Schlussformen und Prämissen dabei zu verstehen? Wie unterscheidet al-Ghazālī genau zwischen ihnen? Was bedeutet die Umformung eines rechtlichen qiyās durch Universalisierung in einen syllogistischen qiyās? Welche Veränderungen zieht diese Umformung nach sich? Bleibt dabei die Bedeutung erhalten? In welcher Weise ändert sich die Bedeutung der jeweiligen Behauptungen und Schlüsse? Haben wir es dabei mit einer oder mehreren Logiken zu tun? Behauptet al-Ghazālī wirklich die Identität der jeweiligen Logiken nach dem Schema der aristotelischen Logik? Oder entwirft er einen abstrakteren oder allgemeineren Begriff von Logik, unter dem sich beide Logiken fassen lassen?

Fragen über Fragen, die einer Beantwortung harren und weitere Untersuchungen erfordern. Bevor wir uns mit einer weiteren Annäherung an diese Fragen befassen, sei dieser Abschnitt mit einem kleinen Ausblick von Hallaq beschlossen:

al-Ghazālīs einzigartiger Beitrag zur rechtlichen Logik hat sicherlich daran mitgewirkt, gewisse strukturelle Veränderungen in einer großen Zahl von autoritativen Werken der usūl al-fiqh hervorzubringen. Genauso wie er Logik als gültiges Organon jeglichen Schlussverfahrens verstand und daher sein Mustasfā mit einem Lehrbuch der formalen Logik als Einleitung versah und auf die Umformung des Analogieschlusses in einen Syllogismus der ersten Figur bestand, sehen wir, wie viele seiner Nachfolger die Logik einsetzen, um die Rechtstheorie auf eine Grundlage zu stellen, die im Grunde eine aristotelische Konzeption des Wissens ist. Der im achten/vierzehnten Jahrhundert lebende hanbalitische Intellektuelle Taqī l-Dīn Ibn Taymiyya bezeugte missbilligend, dass jene Rechtsgelehrten und Theologen, die vom Recht in dieser Weise handelten, dies unter dem Einfluss von al-Ghazālī taten.

Es geht also im Grunde um die Frage der Rechtmäßigkeit und Gültigkeit des aristotelischen Begriffs des Wissens und damit der griechischen Philosophie in der Tradition von Platon und Aristoteles. Und mithin ist auch keineswegs die Frage nach dem Verhältnis von Logik und Philosophie obsolet, noch auch die nach den metaphysischen Voraussetzungen der Logik und deren Vereinbarkeit mit dem Islam.