8 Ein bedeutender Leser von al-Ghazālī: Ibn Taymiyya
8 Ein bedeutender Leser von al-Ghazālī: Ibn Taymiyya Yusuf KuhnVorbemerkung
Ibn Taymiyya (gest. 728/1328) war ein fleißiger Leser von al-Ghazālī (gest. 505/1111). Das stellt Yahya Michot in einem Artikel fest, in dem er Texte aus dem Werk von Ibn Taymiyya vorstellt, in denen es vorwiegend um die Einschätzung von al-Ghazālīs Denken und dessen Wirkungsgeschichte geht. Dieser Artikel trägt den Titel An Important Reader of al-Ghazālī: Ibn Taymiyya (Ein bedeutender Leser von al-Ghazālī: Ibn Taymiyya).
8.0 Einführung: Komplexes Bild und breite Kenntnis
8.0 Einführung: Komplexes Bild und breite Kenntnis Yusuf KuhnIbn Taymiyya interessierte sich für al-Ghazālī als herausragenden Denker und Schlüsselfigur für die Entwicklung des islamischen Denkens, auf das al-Ghazālī einen kaum zu überschätzenden Einfluss ausübte. Ibn Taymiyya erweist sich dabei im Gegensatz zu verbreiteten Zerrbildern keineswegs als einseitiger Polemiker, sondern vielmehr als ausgewogener Kritiker, der Lob und Tadel miteinander zu verbinden und aufzuzeigen versteht, wo al-Ghazālī seines Erachtens richtige wie auch falsche Positionen vertritt. So zeichnet er ein durchaus komplexes und vielschichtiges Bild, das einem Denker, über den es kaum einverständliche Meinungen gibt, jedenfalls viel eher entspricht als alle vorschnellen Vereinseitigungen, von denen es bis heute nur allzu viele gibt. Die Spannbreite der einseitigen Darstellungen deckt dabei alle Extreme ab: Vom rechtgeleiteten Muslim bis zum Verräter am Islam, vom aufgeklärten Philosophen bis zum finsteren Fundamentalisten ist alles dabei. Ibn Taymiyya hat sich diesem Sog erfolgreich widersetzt.
Yahya Michot schickt seiner Untersuchung folgende einführenden Worte über Ibn Taymiyya voraus:
Viele der simplistischen Bilder des Damaszener Theologen Ibn Taymiyya (gest. 729/1328), die heutzutage im Umlauf sind, sind schwere Entstellungen seiner Gedanken, gleichermaßen im Bereich der Politik wie auch im islamischen Denken im allgemeinen, insbesondere hinsichtlich Sufismus und falsafa. Es wird wahrscheinlich lange Zeit brauchen, um diese Bilder zu berichtigen, besonders unter gewissen islamistischen Gruppen und mediokren Neo-Orientalisten. Mehrere jüngere Studien haben gleichwohl bereits den Weg geebnet in Richtung auf ein genaueres Verständnis seiner Gedanken. Zudem haben Werke wie sein meisterliches Darʿ taʿārudh
Ibn Taymiyya, Darʿ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql aw muwāfaqa sahı̄h al-manqūl li-sarı̄h al-maʿqūl, Hg. M. R. Sālim, 11 Bände, Riyādh: Dār al-Kunūz al-Adabiyya, [1399/1979]. Siehe Yahya Michot, Intellektuelle Nichtigkeiten… Die Sackgasse der Rationalismen gemäß der Widerlegung des Widerspruchs von Ibn Taymiyya, in: Ibn Taymiyya, Islam – Weg der Mitte. Texte von Ibn Taymiyya, Aus dem Arabischen übertragen, eingeführt und kommentiert von Yahya Michot, Hamburg, 2017, S. 191-229. begonnen, die Aufmerksamkeit zu erhalten, die sie verdienen als Quellen aus erster Hand für die Geschichte der intellektuellen, religiösen und spirituellen Debatten während der klassischen Periode des Islam. (Michot, S. 131)Siehe für reichhaltige Literaturangaben die Fußnoten zu diesem Abschnitt im Artikel von Yahya Michot.
Vor diesem Hintergrund ist Ibn Taymiyyas Beurteilung von al-Ghazālī zu verstehen. Sie beruht auf einer erstaunlich breiten Kenntnis von dessen Werk. Michot gibt eine Liste von mehr als zwei Dutzend Werken von al-Ghazālī an, deren Titel Ibn Taymiyya zitiert. Diese Liste ist allerdings keineswegs erschöpfend. Denn darüber hinaus führt Ibn Taymiyya lange wörtliche Auszüge aus mehreren Büchern al-Ghazālīs an, die er zudem mit Kommentaren versieht. Das kann so weit gehen, dass mehrseitige Textausschnitte aus al-Ghazālīs Werken wie Faysal at-tafriqa, Miʿyār al-ʿilm oder Mischkāt al-anwār wiedergegeben und erörtert werden.
Michot wird durch seine Untersuchung zu einem erstaunlichen Schluss geführt, der seines Erachtens gegen die Gefahr des Irrtums gefeit ist: Ibn Taymiyya verfügte über eine weit bessere Kenntnis und Auffassung von al-Ghazālīs Werk als seine Widersacher aus den Reihen der falāsifa wie Ibn Tufayl und Ibn Ruschd. Und Michot fügt hinzu:
Es ist demgemäß umso erstaunlicher, dass Ibn Taymiyya in der al-Ghazālī-Forschung nicht öfter Berücksichtigung gefunden hat. Die vorliegende Untersuchung wird hoffentlich dazu beitragen, diese Voreingenommenheit zu berichtigen. (133)
Michot, der sich in vielen seiner Arbeiten dafür eingesetzt hat, Ibn Taymiyya größeres Gehör zu verschaffen, bleibt auch hier einem Grundsatz treu, den er folgendermaßen formuliert:
Wie in anderen Publikationen habe ich es vorgezogen, Ibn Taymiyya für sich selbst sprechen zu lassen. (133)
Sieben der neun Texte, die Michot in diesem Geiste übersetzt hat, beziehen sich auf vier bekannte Bücher al-Ghazālīs: Mustasfā, Ihyaʾ, Tahāfut und Madhnūn. Die übrigen beiden Übersetzungen bieten allgemeine Einschätzungen seines Denkens als Ganzes und erörtern sowohl dessen Quellen als dessen Einfluss. Den Anfang macht al-Mustasfā und die Frage nach dem Stellenwert der aristotelischen Logik.
8.1 al-Mustasfā und griechische Logik
8.1 al-Mustasfā und griechische Logik Yusuf KuhnDen ersten übersetzten Text von Ibn Taymiyya hat Michot unter den Titel al-Mustasfā und griechische Logik gestellt. Ibn Taymiyya stellt darin fest, dass sich seit der Zeit von al-Ghazālī der Gebrauch der Methode der Logiker stark verbreitet hat. al-Ghazālī hat eine Einführung in die griechische Logik an den Anfang seines Buches al-Mustasfā min ʿilm al-usūl (Ausgewählte Themen von der Wissenschaft der Grundlagen) gestellt. Und er stellt darin die weittragende Behauptung auf, dass jemandem, der diese Logik nicht, kennt, in seinen Wissenschaften nicht vertraut werden darf:
Der Gebrauch der [Methode der Logiker] ist seit der Zeit von Abū Hāmid [al-Ghazālī] häufig geworden. Er hat eine Einführung in die griechische Logik am Beginn seines Buches Die ausgewählten Themen (al-Mustasfā) eingefügt und behauptet, dass dem Wissen von niemandem zu vertrauen ist, außer er kennt diese Logik.
Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. IX, S. 184–185. (133)
Michot zitiert als Beleg für die Aussage Ibn Taymiyyas in einer Anmerkung einen Ausschnitt aus al-Mustasfā von al-Ghazālī, der auch hier zur Erläuterung wiedergegeben sei:
In dieser Einführung werden wir von den Dingen sprechen, die von den Intellekten wahrgenommen werden, und darlegen, dass sie auf die Definition und die Demonstration (burhān) zurückführbar sind. Wir werden von den Bedingungen sprechen [die erfüllt sein müssen] von der wahren Definition, von den Bedingungen [die erfüllt sein müssen] von der wahren Demonstration und von den Unterteilungen beider, in einer knapperen Weise (minhādsch) als das, was wir erwähnt haben im Buch vom Prüfstein des Studiums (Mihakk an-nadhar) und im Buch vom Kriterium des Wissens (Miʿyār al-ʿilm). Diese Einführung ist nicht Teil der Wissenschaft von den Grundlagen (ʿilm al-usūl) als einem Ganzen, noch unter den für sie speziellen Einführungen. Sie ist vielmehr die Einführung zu allen Wissenschaften, und jemand, der sie nicht versteht (ahāta bi-), dem darf in seinen Wissenschaften grundsätzlich nicht vertraut werden.
al-Ghazālī, al-Mustasfā min ʿilm al-usūl, Būlāq, 1322/1904, Bd. I, S. 10. (133)
Das ist in der Tat ein sehr weitgehender Anspruch, der die griechische Logik zur notwendigen Voraussetzung aller Wissenschaften – und damit auch allen Wissens? - zu erheben scheint. Doch wäre das nicht schon eine Auslegung, die durch den Text selbst nicht wirklich gerechtfertigt ist? Was meint denn al-Ghazālī genau damit? Und wie versteht Ibn Taymiyya diese Aussage? Darauf gibt es keine Antwort, denn Ibn Taymiyya führt die Stelle nur an, ohne sie weiter zu erläutern.
Ibn Taymiyya nennt sodann mehrere Bücher, die al-Ghazālī der Darstellung der griechischen Logik gewidmet hat:
Er verfasste über sie Das Kriterium des Wissens (Miʿyār al-ʿilm) und Der Prüfstein des Studiums (Mihakk an-nadhar). Er verfasste auch ein Buch, das er betitelte Die gerade Waage (al-Qistās al-mustaqīm) und in dem er von fünf »Skalen« (mīzān) sprach: die drei kategorischen (hamlī) [Syllogismen], die konditional konjunktiven (schartī muttasil) und die konditional disjunktiven (schartī munfasil). Er hat ihre Terminologie durch Gleichnisse (mithāl) ersetzt, die er aus den Worten der Muslime übernommen hat, und erwähnt, dass er sich damit an einige der Taʿlīmiten (ahl at-taʿlīm, »Adepten der Lehre«) wandte. Er verfasste auch ein Buch über ihre Lehren (maqāsid) und ein anderes über ihre Inkohärenz (tahāfut).
Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. IX, S. 184–185. (133-134)
Ibn Taymiyya bezieht sich hiermit auf zwei Bücher von al-Ghazālī, Maqāsid al-falāsifa über die Lehren der Philosophen sowie Tahāfut al-falāsifa über die Inkohärenz der Philosophen. Er fährt sodann damit fort, ihren Inhalt zu beschreiben:
Er machte ihren Unglauben [kufr] klar, aufgrund [ihrer Ansichten über] die Frage der Ewigkeit der Welt, ihrer Leugnung des [göttlichen] Wissens der Einzeldinge und ihrer Leugnung der [künftigen] Wiederkehr.
Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. IX, S. 184–185. (134)
Darin legte al-Ghazālī also sowohl die Unvereinbarkeit mit dem Islam als auch die Unhaltbarkeit der Thesen der falāsifa hinsichtlich der Fragen der Ewigkeit der Welt, ihrer Leugnung von Gottes Wissen der Einzeldinge und ihrer Leugnung der Rückkehr (d.h. der leiblichen Auferstehung) dar. Diese Lehren hat al-Ghazālī in Tahāfut al-falāsifa in der Tat als kufr bezeichnt. Ibn Taymiyya schreibt weiter über al-Ghazālīs Kritik der falāsifa:
In seinen letzten Büchern hat er klargemacht, dass ihr Weg (tarīq) verderbt ist, und nicht dazu befähigt, Gewissheit zu erlangen. Er hat sie mehr getadelt als den Weg (tarīqa) der Kalām-Theologen.
Zu Anfang hat er in seinen Büchern viele von ihren Worten erwähnt, entweder in ihrer eigenen Terminologie oder in einer anderen. Später, gegen Ende seines Lebens, ist er in seinem Tadel an ihnen sehr weit gegangen. Er hat klargemacht, dass ihr Weg, was Unwissen und Unglauben [kufr] betrifft, Dinge beinhaltet, die es erforderlich machen, ihn zu tadeln und als verderbt zu betrachten, und zwar noch ernster als den Weg der Kalām-Theologen. Er verstarb, während er sich mit al-Bukhārī und Muslim beschäftigte.
Die Logik, über die er gesagt hat, was er gesagt hat, hatte ihn mithin nicht befähigt, sein Ziel zu erreichen. Und sie hatte auch nicht dem Zweifel und der Verwirrung ein Ende gesetzt, worin er sich befunden hatte. Für ihn war die Logik nutzlos gewesen.
Dennoch begannen viele Denker (nādhir) aufgrund dessen, was er während seines Lebens hervorgebracht hatte, und auch aus anderen Gründen die griechische Logik in ihre Wissenschaften aufzunehmen; und zwar so sehr, dass diejenigen der späteren [Gelehrten], die den Weg dieser [Leute] einschlugen, zu der Auffassung gelangten, dass es keinen anderen Weg gibt als diese [griechische Logik], und dass, was sie hinsichtlich Definition und Demonstration behauptet hatten, etwas Richtiges war, dem verständige Leute zustimmen mussten. Die[se späteren Gelehrten] wussten nicht, dass die verständigen und bedeutenden Leute unter den Muslimen und anderen nicht aufgehört hatten, diese [Logik] zu beschuldigen und zu bestreiten. Muslimische Denker haben in der Tat zahlreiche Werke darüber verfasst. Und die Mehrheit der Muslime beschuldigt sie kategorisch aufgrund dessen, was sie von ihren [schädlichen] Wirkungen und notwendigen Begleiterscheinungen sehen, die zeigen, was die Anhänger [der Logik anerkennen] hinsichtlich der Dinge, die dem Wissen und Glauben widersprechen, ein Umstand, der sie zu allerlei Arten von Unwissen, Unglauben [kufr] und Irregehen führt.Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. IX, S. 184–185. (134-135)
Ibn Taymiyya erkennt also ganz genau, dass al-Ghazālī eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der aristotelischen Logik im islamischen Denken zukommt. Er ist sich dessen sehr bewusst, welch große Bedeutung die Logik für al-Ghazālī hatte. Und er erklärt ihren Erfolg durch die oberflächlichen Änderungen, die er in die ursprüngliche Terminologie der Logik eingeführt hat, um ihr einen islamischen Anschein zu verleihen. Schon dieser kleine Textausschnitt verrät viel über den erstaunlichen Umfang der Kenntnisse von al-Ghazālīs Werk, über die Ibn Taymiyya verfügt.
Ibn Taymiyya verweist auch auf den paradoxen Charakter der Entwicklung, die schließlich zur Verbreitung der Logik geführt hat. al-Ghazālī selbst hat sich im Zuge seiner spirituellen Entwicklung immer weiter von Philosophie und Kalām entfernt, indem er deren Grenzen und Irrungen immer deutlicher erkannte und sich verstärkt dem Studium der Sunna zuwandte. So gewann er die Einsicht, wie nutzlos die Logik letztlich für ihn war. Allerdings hatte er die Logik in einigen Büchern so sehr angepriesen und befördert, dass es deshalb sowie aus anderen Gründen schließlich dazu kam, dass die späteren muslimischen Gelehrten sie gleichwohl weitgehend unkritisch übernahmen, ohne den Kritiken und Widerlegungen Beachtung zu schenken, die bedeutende Denker gegen sie vorgebracht hatten.
Dieser Umstand dürfte ein wichtiger Grund dafür sein, dass Ibn Taymiyya sich genötigt sah, selbst eine eingehende Kritik der griechischen Logik zu verfassen. Da kommt ihm sein Verständnis der geistigen Entwicklung von al-Ghazālī sehr zupass, die seine eigene Kritik in gewissem Maße vorzeichnet, ohne auch nur annähernd die gleiche Tiefe der Einsicht in die metaphysischen Grundlagen und Voraussetzungen der Logik zu erlangen. Jedenfalls kann al-Ghazālīs Entwicklung so verstanden werden, dass er sich immer mehr von Philosophie, Logik und Kalām abwandte und reumütig zu den Grundlagen des Islam zurückkehrte. Michot macht darauf aufmerksam, dass Ibn Taymiyya dabei die Echtheit und Wahrhaftigkeit der autobiographischen Erzählung, die al-Ghazālī in seinem al-Munqidh min adh-dhalāl (Der Erretter aus dem Irrtum) gibt, nicht in Zweifel zieht.
8.2 Ihyāʾ und Philosophie
8.2 Ihyāʾ und Philosophie Yusuf KuhnIm zweiten Textausschnitt, einer undatierten fatwā, spricht Ibn Taymiyya über al-Ghazālīs Hauptwerk Ihyāʾ ʿulūm ad-dīn (Wiederbelebung der Wissenschaften der Religion). Michot hat als Titel gewählt: Ihyāʾ und Philosophie. Wir wollen nur einige Aspekte herausgreifen, die in unserem Rahmen von besonderem Interesse sind.
Ibn Taymiyya weist zunächst auf eine gewisse Abhängigkeit von al-Ghazālīs Ihyāʾ von Werken von Abū Tālib al-Makkī und al-Hārith al-Muhāsibī hin. Dann stellt er fest, dass der Ihyāʾ viele Vorzüge besitzt, aber auch viel tadelnswertes Material beinhaltet. Zu letzterem gehören die Aussagen der Philosophen über die Einheit und Einzigkeit Gottes (tawhīd), das Prophetentum und das jenseitige Leben:
Die Wiederbelebung ist von vielerlei Nutzen (fāʾida), aber beinhaltet auch tadelnswerten Stoff (mawādd). Verderbte Stoffe sind wahrlich darin zu finden: Aussprüche der Philosophen bezüglich der göttlichen Einheit, des Prophetentums und der [künftigen] Wiederkehr. Wenn Abū Hāmid [al-Ghazālī] über die Dinge spricht, welche die Sufis erkannt haben (maʿārif), gleicht er jemandem, der einen Feind der Muslime nimmt und ihn in die Gewänder der Muslime kleidet (albasa). Die Imame der Religion haben Abū Hāmid dafür kritisiert, dass er dies in sein Buch aufgenommen hat. »Seine Krankheit ist die Heilung« (maradhuhu asch-schifāʾ), sagten sie, und meinten damit [das Buch von] der Heilung [Kitāb asch-schifāʾ], das Ibn Sīnā in der Philosophie [verfasst hat].
In [Der Wiederbelebung] gibt es schwache Hadithe (hadīth) und Überlieferungen (athar); viele sind sogar gefälscht. Darin findet man auch einige der verfänglichen Fragen (aghālīt) der Sufis und ihrer Streiche (turrahāt).Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. X, S. 551–552. (136-137)
Ibn Taymiyya erkennt in al-Ghazālīs großem Werk eine Verbindung aus Sufismus, falsafa, fragwürdigen Überlieferungen und noch zweifelhafteren Sufi-Geschichten. Den Sufismus hat er al-Makkī und al-Muhāsibī entliehen; und er ist folglich von gleichem Wert wie die Schriften dieser beiden Sufi-Meister. Die Philosophie hat er weitgehend von Ibn Sīnā übernommen. Ibn Taymiyya bringt eine scharfe Kritik unter verschiedenen Aspekten vor. al-Ghazālīs Behandlung des Sufismus ist so missraten, dass sie eher den Feinden des Islam dient. Er ist von den »Imamen der Religion« kritisiert worden. Und der Ihyāʾ ist das Werk eines Kranken, der von Ibn Sīnās Heilung angesteckt wurde.
Dabei lässt es Ibn Taymiyya allerdings nicht bewenden, sondern endet in einem etwas anderen Ton über den Ihyāʾ:
Darin sind gleichwohl auch, vermittels Worten der Sufi-Schaykhs, die hinsichtlich der Taten des Herzens wissend (ʿārif) und auf dem geraden Weg sind, Dinge, die mit dem Buch und der Sunna übereinstimmen. Hinsichtlich der gottesdienstlichen Handlungen und des guten Benehmens (adab) findet man darin auch Dinge, die mit dem Buch und der Sunna übereinstimmen. Diese Dinge sind zahlreicher als jene, die zu verwerfen sind. Und das ist der Grund, weshalb Leute unterschiedliche Meinungen über dieses Buch gefasst (idschtihād) und miteinander darüber gestritten haben.
Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. X, S. 551–552. (137)
Ibn Taymiyya erweist sich mithin durchaus nicht nur als zu einer besonnenen und ausgewogenen Beurteilung fähig, sondern vermag auch Kritik und echte Wertschätzung miteinander zu verbinden. Die gegensätzlichen Haltungen zum Ihyāʾ erklärt er mit dem vielschichtigen und uneinheitlichen Charakter dieses Werkes. Überdies ist nicht zu übersehen, dass es sich bei aller Kritik mitnichten um eine pauschale Verurteilung des Sufismus handelt. Im Gegenteil, er wird im Rahmen seiner Übereinstimmung mit den Grundlagen des Islam als solcher anerkannt.
8.3 Kausalität und Ethik
8.3 Kausalität und Ethik Yusuf KuhnDer dritte Text behandelt die Frage der Kausalität im Kontext des Tahāfut. Ibn Taymiyya schreibt dazu:
Es geschieht gewöhnlicherweise (al-ʿada dschāriya), dass ein Mensch isst und gesättigt ist, trinkt und sein Durst gestillt ist, mit einem Schwert schlägt und schneidet. Die [Aschʿariten] pflegten zu sagen, dass es einzig die ewige [göttliche] Macht (qudra) ist, die Sättigen, Stillen, Schneiden usw. geschehen lässt (muhdith), mit (ʿinda) diesen Dingen, die mit ihnen verbunden (muqāran) sind, nicht durch (bi-) sie. Und dass es hier weder ein Vermögen (quwwa) noch eine Natur noch eine Handlung gibt, die in irgendeiner Hinsicht einen Einfluss (taʾthīr) auf solche geschehende Dinge (hādith) hat. Deshalb ist das, was sie demgemäß über die Wunder zu sagen haben, machtvoller und evidenter.
Ibn Taymiyya, Kitāb as-Safadiyya. Hg. M. R. Sālim, 2 Bände, Mansoura: Dār al-Hady al-Nabawi - Riyādh: Dār al-Fadhīla, 1421/2000, Bd. I, S. 148-149. (138)
Michot fügt an dieser Stelle folgende Erläuterung ein:
Machtvoller und evidenter insofern, als Gottes Allmacht nicht durch ein System von natürlichen Wirkursachen begrenzt ist. (138)
Ibn Taymiyyas Text fährt sodann fort:
In dem Buch Die Inkohärenz der Philosophen (Tahāfut al-falāsifa) ordnet Abū Hāmid al-Ghazālī diese Frage den Grundlagen zu, über die er mit den Philosophen disputierte. Das ist der Grund, weshalb Ibn Ruschd in Der Inkohärenz der Inkohärenz (Tahāfut at-tahāfut) ihn stark kritisierte. Er machte dies zu einem der Themen, über die er Abū Hāmid auf hochmütige Weise angriff, indem er diese Gelegenheit ergriff, um ihn zu widerlegen und den Philosophen zum Sieg zu verhelfen.
Ibn Taymiyya, Kitāb as-Safadiyya. Hg. M. R. Sālim, 2 Bände, Mansoura: Dār al-Hady al-Nabawi - Riyādh: Dār al-Fadhīla, 1421/2000, Bd. I, S. 148-149. (138)
Michot kommentiert diesen Textausschnitt wie folgt:
Die Kritik der sekundären Kausalität, die in der siebzehnten Erörterung des Tahāfut entwickelt wird, ist eines der berühmtesten Kapitel des Buches und bleibt Gegenstand scharfer Debatte unter Spezialisten. In dieser Passage sieht Ibn Taymiyya al-Ghazālī als einen traditionellen aschʿaritischen okkasionalistischen Theologen, der die ausschließliche Macht Gottes verkündet und dementsprechend jegliche reale Wirksamkeit der anscheinenden natürlichen Ursachen, Vermögen und Handlungen auf ihre angenommenen Wirkungen bestreitet. Es ist daher keine Überraschung, dass Ibn Ruschd ihn so scharf angegriffen hat. (138)
Die Kritik allerdings, die Ibn Ruschd an der Position al-Ghazālīs vorgebracht hat, hält Ibn Taymiyya für fehlerhaft und falsch, wohingegen er bei al-Ghazālī eine richtige Auffassung erkennt. Er schreibt in einem anderen Text, den Michot in einer Anmerkung zitiert, nämlich dazu:
[Ibn Ruschd] widerlegte Abū Hāmid [al-Ghazālī] in Tahāfut at-tahāfut mit einer Widerlegung, in der er sehr viele Fehler machte, während die richtige Meinung diejenige von Abū Hāmid ist. Einen Teil [seiner Widerlegung] entnahm er den Worten von Ibn Sīnā, nicht den Worten seiner Vorfahren. Und er befand [den Tahāfut] als irrig aus Ibn Sīnā[s Gesichtspunkt]. In einem [anderen] Teil von seiner [Widerlegung] wurde er überheblich gegenüber Abū Hāmid und beschuldigte ihn eines Mangels an Gerechtigkeit (qillat al-insāf), da er diesen [Teil von seiner] Widerlegung auf verderbte Prinzipien des Kalām stützte, zum Beispiel die [Idee], dass der Herr nichts für einen Grund tut, noch für einen weisen Zweck, und die [Idee], dass der Allmächtige, Der wählt, einem von zwei Objekten Seiner Macht (maqdūr) das Übergewicht gegenüber dem anderen gibt ohne irgend etwas, das es überwiegend (muradschdschih) macht. In [einem weiteren] Teil seiner Widerlegung fiel er in völlige Verwirrung aufgrund der unklaren Natur von [al-Ghazālīs] Position.
Ibn Taymiyya, Minhādsch as-sunnat an-nabawiyya fī naqd kalām asch-schīʿa wa al-qadariyya, Hg. M. R. Sālim, 9 Bände, Kairo: Maktabat Ibn Taymiyya, 1409/1989, Bd. I, S. 356. (137-138, Fn. 37)
Hier verteidigt Ibn Taymiyya also ganz offenkundig al-Ghazālīs Kritik der Philosophie gegenüber der vermeintlichen Widerlegung dieser Kritik durch Ibn Ruschd. Aber werfen wir nochmals einen Blick auf den Text und dessen Kommentar durch Michot. Ist die Interpretation wirklich gerechtfertigt, dass Ibn Taymiyya in al-Ghazālī einen Anhänger des traditionellen aschʿaritischen Okkasionalismus sieht, wie Michot kommentiert? Der entscheidende Satz sei zur Erinnerung nochmals angeführt:
In dem Buch Die Inkohärenz der Philosophen (Tahāfut al-falāsifa) ordnet Abū Hāmid al-Ghazālī diese Frage den Grundlagen zu, über die er mit den Philosophen disputierte.
Streng genommen geht daraus lediglich hervor, dass al-Ghazālī »diese Frage« erörtert, jedoch nicht, dass er die zuvor beschriebene aschʿaritische Lehre selbst vertritt. Das sagt Ibn Taymiyya jedenfalls nicht ausdrücklich. Und die ganze Passage macht durchaus Sinn, wenn sie lediglich so verstanden wird, dass al-Ghazālī dieses Thema erörtert und dabei die Position der Philosophen widerlegt, ohne sich selbst auf eine der möglichen Positionen festzulegen. Das wäre indes Grund genug für die scharfe Replik durch Ibn Ruschd, der zur Verteidigung der Philosophen gegen die vernichtende Kritik al-Ghazālīs antritt. Aus dieser Stelle kann also nicht zwingend abgeleitet werden, dass Ibn Taymiyya al-Ghazālī als aschʿaritischen Okkasionalisten betrachtet hat.
Demgemäß erscheint dann auch folgende Feststellung, mit der Michot seinen Kommentar zu dieser Stelle fortsetzt, in einem etwas anderen Licht:
Interessanterweise bemerkt der Damaszener Theologe an anderer Stelle, dass al-Ghazālī nicht immer ein aschʿaritischer Okkasionalist ist, sondern in der Frage der sekundären Kausalität eine Position annimmt, die den Erfordernissen sowohl der Vernunft wie auch der Religion näher kommt, insbesondere im Ihyāʾ. (139)
Damit ist zugleich die Überleitung zum nächsten Text gegeben, den Michot unter den Titel stellt: Kausalität im Ihyāʾ. Es sei zuvor noch darauf aufmerksam gemacht, dass Michot hier zum zweiten Mal den Begriff der sekundären Kausalität verwendet, der in diesem Zusammenhang üblicherweise immer wieder auftaucht, ohne dass wirklich geklärt wäre, was genau damit gemeint ist. Michot bietet leider keine Erläuterung. Da eine Erörterung der vielen und schwierigen Fragen, die damit einhergehen und die für eine Klärung angesprochen werden müssten, zu weit führen würde, müssen wir uns auf diesen Hinweis beschränken, der zumindest darauf aufmerksam machen sollte, dass hinter einem mit einer gewissen Selbstverständlichkeit verwendeten Begriff allerlei ungelöste Probleme stecken können. Entsprechendes ließe sich freilich auch zum Begriff der Kausalität im allgemeinen sagen.
8.4 Kausalität im Ihyāʾ
8.4 Kausalität im Ihyāʾ Yusuf KuhnUnd das führt uns zum vierten Text, dessen Titel lautet: Kausalität im Ihyāʾ. Ibn Taymiyya beginnt mit einer Kritik von Positionen, die den Gedanken der Ursächlichkeit untergraben, und somit sowohl mit der Offenbarung wie auch mit der Vernunft in Konflikt geraten:
Manche Leugner […] haben geleugnet, was Gott [Allāh], der Erhabene, als Ursachen (sabab) gesetzt hat, und zwar so sehr, dass sie [die Bereiche] der Offenbarung (scharʿ; Michot übersetzt Law) und der Vernunft verlassen haben [indem sie dies taten]. Gott, so sagten sie, lässt Sättigung und Durststillen eintreten mit (ʿinda) Speise und Trank, nicht durch (bi-) sie. Er lässt desgleichen die Pflanze hervorkommen mit dem Regenfall, nicht durch ihn, usw. Dies steht im Gegensatz zu dem, was das Buch und die Sunna gelehrt haben […] Die Leugnung, über erschaffene Dinge, dass diese Ursachen Ursachen sind, gleicht der Leugnung, seitens mancher Gruppen von Sufis und ihresgleichen, der Handlungen des Herzens und anderer Angelegenheiten, die von der Offenbarung vorgeschrieben sind und die ihnen [zu tun] geboten sind, in Anbetracht der [göttlichen] Fügung (qadar) und unter dem Vorwand des Vertrauens [auf Gott], wie wir an anderer Stelle ausführlich erklärt haben.
Das ist der Grund, warum Leute, die diese zwei Abweichungen untersucht haben, wie Abū Hāmid [al-Ghazālī], Abū al-Faradsch al-Dschawzī und andere, gesagt haben, [wie] in [al-Ghazālīs] Buch des Vertrauens (Kitāb at-tawakkul): »Wisse, dass den Ursachen Beachtung zu schenken (iltifāt ilā), Beigesellung ist, insofern die Verkündigung von Gottes Einheit betroffen ist [schirk fī at-tawhīd]. Die Ursachen auszulöschen (mahw) [durch die Leugnung], dass sie Ursachen sind, ist Verändern der Tragweite (taghyīr fī wadschh) der Vernunft. Die völlige Abwendung von den Ursachen ist Schmähung der Offenbarung (qadh fī asch-scharʿ).«
Die Alten (salaf) und die Imame waren einer Meinung über die Setzung [der Existenz] dieser Vermögen. Die Vermögen, durch die man denkt, sind wie die Vermögen, durch die man sieht. Gott [Allāh], der Erhabene, ist der Schöpfer von all dem, genauso wie der Diener das durch seine Macht (qudra) tut (faʿala) – darüber gibt es unter ihnen keine Meinungsverschiedenheit. Gott, der Erhabene, ist sein Schöpfer und der Schöpfer seiner Macht, und es gibt keine Kraft und keine Stärke außer in Gott! (139-140)
Ibn Taymiyya, Bughyat al-murtād fī ar-radd ʿalā al-mutafalsifa wa al-qarāmita wa al-bātiniyya ahl al-ilhād min al-qāʾilīn bi-l-hulūl wa al-ittihād, Hg. M. b. S. ad-Duwaysch, ohne Ort: Maktabat al-ʿulūm wa al-hikam, 1408/1988, S. 261-263.
Es sei hervorgehoben, dass Ibn Taymiyya sich hier auf al-Ghazālīs Kritik an der Negation der Ursächlichkeit zustimmend bezieht, diese übernimmt und sie weiter ausführt.
Michot weist zunächst darauf hin, dass das, was al-Ghazālī schreibt, sich von Ibn Taymiyyas Zitat leicht unterscheidet, was seiner Bedeutung aber keinen Abbruch tut, um sodann zu kommentieren:
In metaphysischer Hinsicht führt das Problem der sekundären Kausalität zu einer Aporie: Wenn sie anerkannt wird, ergibt sich daraus, dass Gott etwas beigesellt wird; wenn sie verneint wird, ist es irrational. Allerdings bedarf es gleichwohl einer wirksamen sekundären Kausalität, damit das Prophetentum und die Gebote der Offenbarung (the Law) überhaupt Sinn machen und praktische Folgen nach sich ziehen. Etwas, das in der Metaphysik nicht entschieden werden kann, wird somit in die Debatte wiedereingeführt und als ein Erfordernis der Religion oder der Ethik validiert. Eine solche Wiederbegründung der sekundären Kausalität durch die Ethik, jenseits der Grenzen der Metaphysik, hat einen sehr modernen Aspekt. (140)
Das ist eine ziemlich freie Interpretation in philosophischen Begriffen, von denen in Ibn Taymiyyas Text keine Rede ist. Michot verlagert das Thema in den Bereich der Metaphysik, in dem es sodann zu vermeintlichen Problemen wie Aporie, sekundäre Kausalität, Unentscheidbarkeit usw. kommen soll. Es mag sein, dass diese Probleme in diesem Rahmen tatsächlich auftreten. Aber ist es auch der Rahmen, in dem Ibn Taymiyya sich bewegt? Im Text selbst gibt es jedenfalls kaum einen Hinweis darauf. Im Gegenteil, Ibn Taymiyya hebt vielmehr hervor, dass es keine derartigen philosophischen Probleme gibt, indem er einerseits auf den Einklang von Vernunft und Offenbarung und andererseits auf die einmütige Position der salaf und Imame, die für problemlos erachtet wird, verweist. Und natürlich würde sich demnach auch die ganze Idee einer Wiedereinführung von etwas, das in der Metaphysik unentscheidbar sein soll, durch die Ethik erübrigen. Dem hier näher nachzugehen, würde indes zu weit führen. Verfolgen wir daher weiter den Kommentar von Michot:
Ebenso faszinierend ist die Parallele, die Ibn Taymiyya zwischen einem Okkasionalismus der aschʿaritischen Art und dem Antinomismus der prädeterministischen Sufis zieht. Die Konsequenzen einer exzessiven Erhöhung der Omnipotenz Gottes durch die Leugnung von sekundären Ursachen sind sogar schwerwiegender in praktischen Angelegenheiten als in theologischen Debatten. Ein solcher falscher tawhīd unterminiert in der Tat das ganze Gefüge der religiösen Praxis, indem er es realer Wirksamkeit beraubt und dadurch sinnlos macht. Daher die Affirmation von sekundärer Kausalität als einem Erfordernis der Ethik. (140)
Auch hier wäre eine größere Nähe zum Text wünschenswert, in dem die für diesen Gedanken grundlegende Unterscheidung von Theorie und Praxis so gar nicht zu finden ist. Gleichwohl ist der Grundgedanke der schädlichen Wirkung der Leugnung von Ursachen seitens sowohl des aschʿaritischen Okkasionalismus als auch des sufischen Determinismus auf Offenbarung und Vernunft, wenn nicht sogar deren Unvereinbarkeit mit Offenbarung und Vernunft klar herausgestellt.
Es sei noch bemerkt, dass all dies nicht nur auf den Text Ibn Taymiyyas zutrifft, sondern auch auf das Zitat von al-Ghazālī, dem sich Michot in seinem Kommentar nun wieder zuwendet:
Aber kommen wir zu al-Ghazālī zurück. So wie Ibn Taymiyya ihn versteht, sind seine Ansichten über sekundäre Kausalität im Ihyāʾ der Position der Philosophen, die er im Tahāfut widerlegt, näher als dem aschʿaritischen Okkasionalismus, den er darin einsetzt, um sie anzugreifen. (140)
Das von Ibn Taymiyya angeführte Zitat spricht aber eher dafür, dass al-Ghazālī weder die eine noch die andere Position vertreten hat, sondern beiden gleichermaßen kritisch gegenüberstand, nicht anders als Ibn Taymiyya selbst, der sich deshalb ja so zustimmend darauf beziehen kann. al-Ghazālī schwankte daher nicht unentschlossen zwischen diesen beiden Positionen, wie Michot nahelegt, gestützt auf ein Zitat von Frank Griffel, der die angebliche Unentschiedenheit al-Ghazālīs in dieser Frage betont, um seine These von al-Ghazālīs philosophischer Theologie oder Kosmologie darauf zu stützen.
Die rein theoretische Natur der Diskussionen im Tahāfut erlaubt einen okkasionalistischen tawhīd, an den zu halten sich für seinen Autor als viel schwieriger erweist, wenn er in der Spiritualität des Ihyāʾ praktische Zwecke verfolgt. Könnte es sein, dass Abū Hāmid, statt unentschieden zu sein, okkasionalistisch oder nicht in Abhängigkeit von einem theoretischen oder praktischen Kontext sein könnte? (140-141)
Zum einen deuten Griffels Äußerungen am Ende seines Buche über al-Ghazālīs philosophische Theologie darauf hin, dass er in diesem Punkt von Michot gar nicht so weit entfernt ist, da er genau diese These selbst auch vertritt.
Was immer die Antwort auf diese Frage sein mag, Ibn Taymiyya muss umso zufriedener mit al-Ghazālīs Position zu sekundären Ursachen im Buch des Vertrauens gewesen sein, als dies ziemlich genau seine eigene Ansicht zu dem Thema ist, wie aus seinem Sendschreiben über die Mittler zwischen den Geschöpfen und dem Wirklichen (Risālat al-wāsita bayna al-khalq wa al-Haqq) erhellt – und es ist nicht von Belang, dass es in diesem Fall eine Ansicht ist, die mit Ideen übereinkommt, die bereits von Avicenna zum Ausdruck gebracht wurden und die teilweise auf ihn zurückgeführt werden können. (141)
Wir müssen es uns versagen, auf diese komplexen Zusammenhänge und deren Problematik näherhin einzugehen, da dies den Rahmen sprengen würde.
8.5 Authentizität des Madhnūn
8.5 Authentizität des Madhnūn Yusuf KuhnIm fünften Text wie auch in den beiden darauf folgenden Texten werden Fragen bezüglich eines Werkes von al-Ghazālī behandelt, das betitelt ist: al-Kitāb al-madhnūn bihi ʿalā ghayr ahlihi (Das Buch, das von denen fernzuhalten ist, die seiner nicht würdig sind). Wir müssen uns dabei auf die bündige auszugsweise Wiedergabe von Text und Kommentar beschränken, da eine inhaltliche Erörterung zu weit führen würde.
Ibn Taymiyya weiß um die Kontroverse über die Autorschaft des Madhnūn, aber er hat keinen Zweifel daran, dass al-Ghazālī sein Verfasser ist. Er schreibt dazu:
Was al-Kitāb al-madhnūn bihi ʿalā ghayr ahlihi (Das Buch, das von denen fernzuhalten ist, die seiner nicht würdig sind) betrifft, so bestreitet eine andere Gruppe von Gelehrten seine Authentizität. Aber die Spezialisten für [al-Ghazālī] und seine Umstände (hāl) wissen, dass diese allesamt seine Worte sind, da sie die Stoffe kennen, über die er spricht, und ihre Ähnlichkeit untereinander. Er und seinesgleichen, wie schon gesagt, waren verwirrt (mudhtarib) und hielten nicht an einer bestimmten Aussage fest.
Ibn Taymiyya, Madschmūʿ al-fatāwā, 37 Bände, Rabat, 1401/1981, Bd. IV, S. 65. (141)
Michot weist darauf hin, dass diese Auffassung mit den Ergebnissen der jüngeren Forschung übereinstimmt und die Frage der Autorschaft des Madhnūn als geklärt gelten kann.
8.6 Fürsprache im Madhnūn
8.6 Fürsprache im Madhnūn Yusuf KuhnMichot führt unter dem Titel Fürsprache im Madhnūn den sechsten Text von Ibn Taymiyya an:
Die Bedeutung von »Fürsprache« (schafāʿa) ist für [diese Philosophen] nicht, Gott [Allāh] und Seinen Gesandten anzurufen, wie es [in] der Lehre der Muslime ist. Fürsprache nach ihnen ist vielmehr, dass das Herz an [einige] Mittel geheftet ist, und zwar so sehr, dass durch die Vermittlung (bi-wāsita) von diesen Mitteln etwas auf sie strömt (fādha), was ihr nützt, genauso wie die Strahlen der Sonne durch die Vermittlung ihres Strömens auf einen Spiegel auf eine Mauer strömen. Nun, dies ist eine Fürsprache der Art, [deren Existenz] die Beigeseller setzen, und es ist diejenige, die Gott in Seinem Buch verworfen hat.
Dinge sind in das hineingelangt, was Abū Hāmid [al-Ghazālī] in Das Buch, das von denen fernzuhalten ist, die seiner nicht würdig sind und in anderen seiner Bücher sagt, die von der Art dessen sind, was diese [Philosophen] über Fürsprache, über Prophetentum usw. sagen – er setzt sogar [die Zahl der] Eigenschaften des Propheten auf drei fest, wie zuvor erwähnt, und [übernimmt] andere Dinge, die sie sagen.
Die Kritik (nakīr) dieser Worte durch die Gelehrten des Islam war stark, und sie sagten über Abū Hāmid und seinesgleichen Dinge, die wohlbekannt sind. […] Abū Bakr ibn al-ʿArabī, sein Schüler, schrieb etwas darüber und sagte sogar: »Unser Schaykh Abū Hāmid ging in den Bauch der Philosophen hinein; er wollte dann aus ihnen herauskommen, aber er war nicht fähig [dies zu tun].« […]
Unter den schwerwiegendsten Dingen, aufgrund derer die Imame der Realisierende [der Wahrheit] (muhaqqiq) über ihn sprachen, ist das, worin er mit diesen philosophierenden Sabäern übereinstimmte. Danach widerlegte er nichtsdestotrotz die Philosophen und legte ihre Inkohärenz (tahāfut) und ihren Unglauben (kufr) dar. Er legte auch dar, dass ihr Weg (tarīqa) [einen] nicht dazu befähigt, zur Wahrheit zu gelangen. Überdies widerlegte er die Kalām-Theologen und gab dem Weg der Hingabe (riyādha) und dem Sufismus den Vorzug. Als er dann durch diese beiden Wege nicht erlangte, wonach er auf der Suche war, verblieb er unter den Leuten der Suspension (waqf) und neigte zum Weg der Anhänger des hadīth. Er verstarb, während er sich mit al-Bukhārī und Muslim beschäftigte.Ibn Taymiyya, Kitāb as-Safadiyya. Hg. M. R. Sālim, 2 Bände, Mansoura: Dār al-Hady al-Nabawi - Riyādh: Dār al-Fadhīla, 1421/2000, Bd. I, S. 209-212. (143-144)
Michot hat die zahlreichen Gelehrten, die an den ausgelassenen Stellen von Ibn Taymiyya als Vertreter dieser Kritik an al-Ghazālī aufgelistet werden, einer näheren Betrachtung unterzogen und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sie allen vier großen Rechtsschulen angehören. Damit wollte Ibn Taymiyya offensichtlich aufzeigen, wie einmütig diese Kritik geteilt wurde.
8.7 Prophetentum im Madhnūn
8.7 Prophetentum im Madhnūn Yusuf KuhnDen siebten und letzten der drei Texte zum Madhnūn stellt Michot unter den Titel Prophetentum im Madhnūn. Ibn Taymiyya unterzieht darin die philosophische Konzeption des Prophetentums einer Kritik im Lichte der islamischen Offenbarung:
[Diese Philosophierer] sind der Meinung, dass, wenn es in einem Menschen Bereitsein für die Perfektion der Reinigung seiner Seele und für ihre Besserung (islāh) gibt, deshalb Wissenschaften aus dem aktiven Intellekt auf ihn strömen (fādha), genauso wie die Strahlen auf einen polierten Spiegel strömen, wenn er gereinigt ist und die Sonne ihm gegenübersteht. [Sie denken auch,] dass die Ankunft (husūl) des Prophetentums nicht etwas ist, das Gott [Allāh] durch Seinen Willen und Seine Macht geschehen lässt (ahdatha), sondern nur die Ankunft dieses Stroms (faydh) auf diese bereite [Seele] ist, gleich der Ankunft der Strahlen auf diesem polierten Körper. Viele von ihnen begannen daher, das Prophetentum zu suchen, wie über eine Gruppe von alten Griechen berichtet wird und wie dies auch einer Gruppe von Leuten unter dem Islam geschieht.
Das ist der Grund, weshalb Leute den Autor von Kīmiyāʾ as-saʿāda (Die Alchemie der Glückseligkeit) und den Autor von al-Kitāb al-madhnūn bihi ʿalā ghayr ahlihi (Das Buch, das von denen fernzuhalten ist, die seiner nicht würdig sind) und Mischkāt al-anwār (Die Nische der Lichter) ernstlich kritisiert haben. Es gibt in der Tat in dem, was er sagt, Dinge, die von der Art dessen sind, was von jenen Häretikern (mulhid) gesagt wird. Er äußerte sie in in islamischen Terminologien (ʿibāra) und sufischen Andeutungen (ischāra), und aus diesem Grund wurden der Autor von Khalʿ an-naʿlayn (Das Ausziehen der zwei Sandalen), Ibn Sabʿīn, Ibn al-ʿArabī und ihresgleichen unter jenen, die [ihr Denken] auf dieser verderbten Grundlage errichteten, irregeführt (ightarra).
Dahingegen muss es für das Prophetentum unerlässlich eine göttliche Offenbarung geben, durch die Gott besonders auszeichnet, wen auch immer Er dadurch unter Seinen Dienern durch Seinen Willen und Seine Macht auszeichnet. Er, Der gepriesen sei, kennt diesen Propheten und das, was Er ihm als Offenbarung offenbart. Durch seine Macht zeichnet Er ihn besonders durch das aus, wodurch von Seinen Wundern (karāma) Er ihn besonders auszeichnet.Ibn Taymiyya, Kitāb as-Safadiyya. Hg. M. R. Sālim, 2 Bände, Mansoura: Dār al-Hady al-Nabawi - Riyādh: Dār al-Fadhīla, 1421/2000, Bd. I, S. 229-230. (144-145)
Michot, der den Akzent wiederum auf den Begriff der sekundären Ursachen sowie den Gegensatz von Okkasionalismus und Determinismus legt, kommentiert die letzten beiden Textausschnitte:
In diesen Texten 6 und 7, wie auch in Text 1, erwähnt Ibn Taymiyya eine Reihe von al-Ghazālīs Schriften, spielt kurz auf Abū Hāmids spirituelle Entwicklung an und untersucht den Einfluss, den er auf spätere Denker hatte. Obgleich Text 6 mit einer Erörterung der Bedeutung der Fürsprache und Text 7 mit einer Erörterung der Prophetologie der Philosophen beginnt, ist in beiden die wirkliche Frage wieder die Wirksamkeit von sekundären Ursachen in al-Ghazālīs Denken. Und diesmal könnte es, nach Ibn Taymiyya, so scheinen, als wäre Abū Hāmid von einem Extrem in sein Gegenteil übergegangen.
Denn statt illusorische Agenten zu sein, wird den sekundären Ursachen nun die Wirksamkeit eines natürlichen Prozesses zuerkannt, der von Gott unabhängig ist und in dem die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung automatisch ist, genauso wie wenn die Strahlen der Sonne, die in einem Spiegel reflektiert werden, auf eine Mauer fallen oder wirklich in diesem Spiegel erscheinen können, weil er gereinigt und poliert worden ist. Ohne diese Vorbereitung des Spiegels würden die Strahlen der Sonne nicht in ihm erscheinen, und ohne dass der Spiegel als ein Mittler agiert, würden sie nicht die Mauer erreichen. Das ist, nach Ibn Taymiyya, das physikalische Modell, das der Autor des Madhnūn den Philosophen entleiht, um den Begriff der Fürsprache und das Empfangen von Offenbarung zu erklären. In beiden Fällen wird eine Wirksamkeit »Mitteln« zugeschrieben – einem Fürsprecher oder einer gereinigten Seele – und diese ist so wirklich, dass sie Gott zwingt, entsprechend zu handeln – das heißt, zu vergeben oder eine prophetische Offenbarung herabzusenden. (146)
Diese Interpretation mag in gewissem Maße berechtigt sein und die Intention Ibn Taymiyyas widerspiegeln. Von sekundären Ursachen, ja von Ursachen und Kausalität überhaupt, ist in diesen Texten indes gar nicht die Rede. Vielleicht steckt hinter dem vermeintlich »physikalischen Modell«, das die Rede von Ursachen nahelegen mag, etwas anderes, das nicht in den begrifflichen Rahmen von Kausalität und schon gar nicht in den von Wirkursächlichkeit fällt. Denn das »Modell« von Licht, Spiegel und Seele wird schon in der griechischen Philosophie, auf die Ibn Taymiyya ausdrücklich hinweist, nicht als natürlicher Vorgang verstanden, sondern als Metapher gebraucht für den Prozess der Erkenntnis, die in ihrer Vollendung als höchster Erkenntnis der Wahrheit das Schema von Ursache und Wirkung weit unter sich lässt. Die höchste Erkenntnis als geistige Schau mündet in die absolute Identität des Denkens des Denkens, in dem Denken, Denkender und Gedachtes zur absoluten Einheit verschmelzen. Vieles deutet darauf hin, dass die Kritik Ibn Taymiyyas also vielmehr gegen diesen Gott der Philosophen gerichtet ist. Wir müssen uns leider versagen, dies näher aufzuklären, da hier der Ort dafür nicht ist. Es wäre dabei auch zu zeigen, dass die Zitate aus al-Ghazālīs Werken, die Michot im Anschluss als Belege für Ibn Taymiyyas Kritik anführt und die wir hier auslassen, viel eher in diesem Sinn zu verstehen sind denn als Absage an ein Denken, das vermeintlich von einem aschʿaritischen zu einem deterministischen Gottesbegriff übergegangen ist.
Michot fährt in seinem Kommentar indes in letzterem Geiste fort:
Die Weise, in der al-Ghazālī seine Ansichten in diesen Passagen ausdrückt und für die Ibn Taymiyya ihn tadelt, verzichten auf die Ideen von Gottes ausschließlicher Macht und Bestimmung, die im Aschʿarismus angeblich so zentral sind. Eine volle Ermächtigung dieser Mittler […] ist an die Stelle ihres Untergangs getreten. Theologie wird der Geometrie der Optik untergeordnet. Es kommt daher nicht überraschend, dass Leute, die von solchen Prämissen irregeführt sind, zu behaupten begannen, dass das Prophetentum durch spirituelle Übungen erworben werden könne, und anfingen, nach ihm zu streben. Und was al-Ghazālī selbst anbelangt, so ist es kein Wunder, wenn seine Kritiker zu der Auffassung kamen, dass er, statt den Philosophen im Tahāfut den Todesstoß versetzt zu haben und was immer seine letztliche reuevolle Umkehr (tawba) bedeutet haben mag, sich so tief in falsafa verstrickt hat, dass er nie mehr dazu fähig war, sich von ihr zu erholen. (148)
Ob al-Ghazālī sich wirklich nie von den Fesseln der Philosophie zu lösen vermochte, muss freilich fraglich bleiben. Dass er sich in der Philosophie verfangen hat, ist sicher richtig. Nur wird in dieser Darstellung das wahre Wesen der Philosophie, der al-Ghazālī verfallen war, hinter der falschen Alternative eines okkasionalistischen und deterministischen Gottes mehr verschleiert als erhellt. Wenn Ibn Taymiyyas Kritik vorwiegend so verstanden wird, dass sie auf den Machtverlust des ersteren Gottes zugunsten des letzteren Gottes zielt, verfehlt sie ihr Ziel, wenn der eigentliche Gegenstand der Kritik ein Gott der Philosophen ist, der unendlich mächtiger ist, da er über absolute Macht verfügt, sowie eine Erkenntnis dieses Gottes, die in die absolute Identität mündet.
8.8 Alte und neue Kritiken
8.8 Alte und neue Kritiken Yusuf KuhnDem achten Text hat Michot den Titel Alte und neue Kritiken gegeben. Ibn Taymiyya stellt darin ältere Kritiken an al-Ghazālī vor und bezieht dazu Stellung. Wir wollen uns dabei wieder auf einige bestimmte inhaltliche Aspekte konzentrieren. Die hauptsächlichen Kritikpunkte sind al-Ghazālīs unkritische Förderung der aristotelischen Logik und seine Übernahme philosophischer Begriffe vor allem im Ihyaʾ.
Hören wir Ibn Taymiyya selbst:
In dem, was al-Ghazālī sagt, gibt es eine Widerlegung der Philosophen, eine Bezichtigung des kufr (takfīr) der letzteren, eine Lobpreisung (taʿdhīm) des Prophetentums usw. Es gibt in seinen (Worten) auch Dinge (die) richtig (sahīh), gut (hasan) oder sogar von großem Wert (ʿadhīm al-qadr), nützlich (nāfiʿ) (sind). Trotz alledem gibt es in manchen seiner Worte auch philosophisches Material und Dinge, die ihm zugeschrieben worden sind, die mit den verderbten Grundlagen (asl) der Philosophen übereinstimmen, die im Widerspruch zum Prophetentum oder sogar zur klaren Vernunft (sarīh al-ʿaql) stehen. [...]
Ibn Taymiyya, Scharh al-ʿaqīdat al-isfahāniyya, Kairo, ohne Jahr, S. 132-136. (148)
Daraufhin nennt Ibn Taymiyya eine ganze Reihe von Gelehrten, die al-Ghazālī in der einen oder anderen Form kritisiert haben. Inhaltliche Erwähnung findet dabei beispielsweise seine unkritische Übernahme der griechischen Logik und insbesondere seine Behauptung, dass sie eine notwendige Voraussetzung aller Wissenschaften (oder gar allen Wissens) sei. Als Beleg werden wieder al-Ghazālīs Worte über diese Logik aus der Einführung in den Mustasfā angeführt:
Sie ist vielmehr die Einführung zu allen Wissenschaften, und jemand, der sie nicht versteht, dem darf in seinen Wissenschaften grundsätzlich nicht vertraut werden.
Siehe Text 1 oben.
Da drängt sich, so Ibn Taymiyya, manchem Gelehrten die Frage auf: »Und was ist dann mit den Gefährten des Propheten wie etwa Abū Bakr und ʿUmar?« Sie verfügten doch über großes Wissen und Gewissheit, »obwohl sie diese Einführung und ähnliche Dinge nicht verstanden hatten«.
Dann folgt eine Erinnerung an die große Debatte über Logik zwischen dem christlichen Philosophen und Logiker Mattā und dem Grammatiker as-Sīrāfī. Ibn Taymiyya gibt die berühmte Geschichte folgendermaßen wieder:
Die Versammlung (madschlis) des Wesirs Ibn al-Furāt in Bagdad lud häufig allerlei bedeutende Persönlichkeiten ein – Kalām-Theologen und andere. Mattā, der christliche Philosoph, war einmal in dieser Versammlung zugegen und der Wesir sagte: »Ich möchte, dass einer von euch sich dessen widmet, mit Mattā über seine Aussage zu diskutieren, dass es keine andere Weise gibt, das Wirkliche vom Nichtigen, den Beweis vom Fehlschluss sowie Zweifel von Gewissheit zu unterscheiden, außer mittels dessen, was wir von der Logik verstehen und was wir von ihrem Gründer schrittweise lernen.« Abū Saʿīd as-Sīrāfī, der in (verschiedenen) anderen Wissenschaften neben der Grammatik bedeutend war, widmete sich dessen. Er sprach darüber zu (Mattā), bis er ihn mit seinen Argumenten zum Schweigen brachte und ihn beschämte.
Ibn Taymiyya, Scharh al-ʿaqīdat al-isfahāniyya, Kairo, ohne Jahr, S. 132-136. (149-150)
Die geschilderte Debatte ist von großer Bedeutung für die Geschichte der Logik im islamischen Denken. Die gegen die Logik vorgebrachten Argumente können nicht nur als Vorläufer der von Ibn Taymiyya entwickelten Widerlegung der griechischen Logik gelten, sondern ihre Bedeutung reicht sogar noch weit darüber hinaus, wenn man sie im Lichte der jüngeren Entwicklungen in der Logik und deren philosophischer Interpretation seit der Mitte des 19. Jahrhunderts betrachtet.
Ibn Taymiyya zitiert sodann die Aussage des Gelehrten Abū ʿAmr ibn as-Salāh über die Logik:
Vor dem Gründer der Logik, Aristoteles, und nach ihm sorgten sich die Denker und die Gelehrten mit ihrem reichen Wissen nicht, ohne das Erlernen der Logik auszukommen. Für sie war Logik lediglich, wie sie zu sagen pflegten, ein regulatorisches, technisches Werkzeug (āla qānūniyya sināʿiyya), das den Geist vor Irrtum bewahrt. Nun, jede Person mit einem gesunden Geist ist von Natur aus logisch.
Ibn Taymiyya, Scharh al-ʿaqīdat al-isfahāniyya, Kairo, ohne Jahr, S. 132-136. (150)
Es folgt ein weiteres Zitat desselben Gelehrten, der zunächst feststellt, dass al-Ghazālī alle Gelehrten, die ihm vorausgegangen sind, mit Missachtung und Herabsetzung strafte. In Wirklichkeit jedoch hatten sie große Fähigkeiten entwickelt und Leistungen vollbracht:
[…] doch keiner von ihnen hat der Logik irgend eine Aufmerksamkeit geschenkt oder bei seinen Unternehmungen irgend eine Grundlage auf ihr errichtet. Indem er [al-Ghazālī] die Logik mit den Grundlagen des Rechts vermischte, beging er eine Neuerung, deren verheerender Charakter von den Rechtsgelehrten als schwerwiegend betrachtet wurde; und dies umso mehr, da hernach die Philosophierer unter den [Rechtsgelehrten] zahlreich wurden.
Ibn Taymiyya, Scharh al-ʿaqīdat al-isfahāniyya, Kairo, ohne Jahr, S. 132-136. (150)
Damit wird ein tiefgreifender Umbruch im islamischen Denken, nämlich die Beförderung und Normalisierung des Gebrauchs der griechischen Logik nicht nur im Kalām, sondern auch in anderen islamischen Wissenschaften, mit dem Einfluss al-Ghazālīs in Zusammenhang gebracht.
Ibn Taymiyya weist darauf hin, dass parallel dazu die von al-Ghazālī betriebene Vermischung von Sufismus und Philosophie ebenfalls eine radikale Veränderung in der islamischen Spiritualität hervorgerufen hat. Auch wenn al-Ghazālī selbst nicht so weit gegangen ist, wurde damit eine Entwicklung ausgelöst, die schließlich zum Auftreten eines neuen Sufismus führte, der sich so weitgehend ins Philosophieren verlor, dass er für das Verständnis des Islam sehr schädliche Konsequenzen nach sich zog. Zu den Thesen dieses neuen Sufismus, die ausdrücklich genannt werden, gehören das Innewohnen Gottes in den Geschöpfen (hulūl), die Einheit des Schöpfers und des Erschaffenen (ittihād), Prädeterminismus und Antinomismus (ibāhiyya). Für Ibn Taymiyya gehören zu den Vertretern dieses neuen Sufismus, dem von al-Ghazālī der Weg geebnet wurde, beispielsweise Ibn Tufayl, Ibn Ruschd, Ibn Qasī, Ibn al-ʿArabī und Ibn Sabʿīn. Ibn Taymiyya hebt hervor, dass sie nur noch sehr wenig gemein hatten mit dem guten alten Sufismus von al-Dschunayd und seinesgleichen.
Ibn Taymiyya gibt an dieser Stelle keine Erklärung dafür, welche Entwicklungen im islamischen Denken, in Philosophie und Kalām dazu geführt haben, dass das vielschichtige und heterogene Denken al-Ghazālīs eine so grundlegende Wandlung des Sufismus auslösen konnte. Michot versucht sich jedoch in einer Anmerkung an einer solchen Erklärung im Geiste Ibn Taymiyyas:
Man könnte sich vorstellen, dass das, was für ihn stattfand, ein scheinbar paradoxaler Vorgang war, wobei die Verwischung der Grenze zwischen dem göttlichen und dem erschaffenen Bereich hervorging sowohl aus dem okkasionalistischen Monismus des göttlichen Handelns wie auch aus der Idee der automatischen Erlangbarkeit des Prophetentums, oder der Auslöschung des Selbst (fanāʾ) durch Kontemplation, durch die angemessenen Mittel der Reinigung. (S. 156, Fn. 136)
Um diese Frage aufklären zu können, wäre, so Michot, ein Studium mehrerer anderer Texte von Ibn Taymiyya erforderlich. Wir müssen es daher bei dieser Andeutung belassen.
Die radikalen Umbrüche oder Mutationen, wie Michot sagt, die al-Ghazālī in Gang gesetzt hat, machten sich in verschiedener Gestalt schon auf seinem eigenen Lebensweg bemerkbar. Und wie er mit sich selbst und seiner eigenen geistigen Entwicklung in ihren verschiedenen Phasen rang, so stellte sich auch schon bald die Frage, die nie mehr verschwinden sollte: Wie ist al-Ghazālīs Denken eigentlich zu verstehen? Ist er Philosoph? Mutakallim? Aschʿarit? Sufi? Oder gar ein Verwirrter? Und noch etliche weitere Fragen wurden aufgeworfen, wie auch vielerlei Antworten, oftmals völlig gegensätzliche, gegeben.
Ibn Taymiyya berichtet, dass alle Beobachter verwirrt und verblüfft waren. Weder die Gelehrten der alten Schule noch die Denker, die den neuen geistigen Entwicklungen anhingen, wie etwa die Philosophen, erkannten al-Ghazālī als einen der ihren an. Für manche war er eine Art von Chamäleon, das sich seinem geistigen Umfeld umstandslos, vielleicht gar opportunistisch anpasste, während andere meinten, er sei einer geistigen Verwirrung zum Opfer gefallen. Er wurde oft geschmäht und kritisiert, aber auch nicht weniger oft gepriesen und für allerlei Zwecke in Anspruch genommen.
Wie dem auch sei, al-Ghazālī ebnete jedenfalls den Weg für ein Verständnis der Grundlagen des Islam, das sich immer weiter für Einflüsse aus Philosophie und Logik öffnete, ohne dass eine Prüfung dieser neuen Ideen für notwendig gehalten wurde. Diese oft unkritische Übernahme konnte sich allzu leicht auf die mitunter missverstandene Autorität des großen Gelehrten al-Ghazālī stützen, der selbst immerhin noch vieles geprüft und nach bestimmten Kriterien selektiv übernommen hatte. So hatte al-Ghazālī selbst schon aus allerlei mehr oder weniger heterogenen Bestandteilen eine Mischung hergestellt, die aus Philosophie, Logik, Kalām, Sufismus usw. ein neues islamisches Denken hervorgehen ließ. Dabei kam es zu einer zunehmenden Entschränkung und Vervielfältigung im Verständnis der islamischen Grundlagen und daraus resultierend zu einer Vielzahl von Glaubenslehren (ʿaqīda), die je nach Denker und Zielpublikum variierten.
Auch diesen Weg hatte al-Ghazālī mit vorbereitet, indem er die grundlegende Idee einer philosophischen Religion zwar einerseits kritisierte, aber andererseits gleichwohl wesentliche Elemente von den Philosophen übernahm. Die Grundidee hat äußerst tiefe Wurzeln in der griechischen Philosophie spätestens seit Parmenides oder Platon und findet sich auch bei den falāsifa wie al-Fārābī und Ibn Sīnā. Sie lässt sich stark gerafft folgendermaßen auf den Punkt bringen: Philosophische Religion für die Wenigen der verständigen Elite; offenbarte Religion für die Masse der einfältigen Menschen. Die eigentliche Wahrheit erschließt sich einzig der begrifflichen Erkenntnis der Wenigen; für die Vielen, die dazu nicht in der Lage sind, ist deshalb eine bildliche Darstellung vorgesehen, die der Prophet den Massen überbringt, die ihrer zur Regelung der praktischen Belange ihres Lebens und zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung bedürfen.
8.9 Drei Glaubenslehren: Zwischen Islam und Philosophie
8.9 Drei Glaubenslehren: Zwischen Islam und Philosophie Yusuf KuhnUnd damit wären wir thematisch beim neunten und letzten Text angelangt, den Michot mit dem Titel versieht: Die drei Glaubenslehren al-Ghazālīs, zwischen Islam und Philosophie.
Hören wir zunächst wieder Ibn Taymiyya:
Jene, die hinter al-Ghazālī gingen oder ihn nachahmten, indem sie den Weg austraten, wie Ibn Sabʿīn und Ibn al-ʿArabī, erklärten offen die Wirklichkeit dessen, bei dem sie angelangt waren, nämlich dass das Sein eines ist.
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (157)
Damit gemeint ist die Lehre, die meist mit dem Namen wahdat al-wudschūd (Einheit des Seins) benannt wird. Sie besagt in stark verkürzter und vereinfachter Form, dass es nur ein Sein gibt, das letztlich Gott und eine möglicherweise vorhandene Schöpfung in einer Einheit umschließt: Gott ist alles, und alles ist Gott. Hier ist nicht der Ort, um darauf näher einzugehen. Wichtig ist jedenfalls zu bemerken, dass diese Lehre späteren Denkern und nicht al-Ghazālī selbst zugeschrieben wird.
Michot führt als Beleg für diese These ein Zitat von Ibn Sabʿīn an:
Es ist, als ob du du selbst bist – und du bist Nichtsein -, und als ob du Er bist – und Er ist das Sein.
Ibn Sabʿīn, Budd al-ʿārif, Beirut, 1978, S. 94–95. (157, Fn. 139)
Und zudem einen etwas längeren Text von Ibn al-ʿArabī:
Doch keiner erlangt die Vereinigung außer dem, der seine eigenen Attribute als die Attribute Gottes (t) sieht und sein eigenes Wesen als das Wesen Gottes (t), ohne dass seine Attribute oder sein Wesen überhaupt in Gott eintreten oder aus Ihm hervorgehen oder in Gott aufhören oder in Ihm bleiben. Und er sieht sich selbst als niemals seiend gewesen, nicht als seiend gewesen und dann nicht mehr seiend. Denn es gibt keine Seele außer Seiner Seele, und es gibt kein Sein außer Seinem Sein.
Ibn ʿArabī, »Whoso Knoweth Himself ...« from the Treatise on Being (Risalet-ul-wujūdiyyah), übersetzt von T. H. Weir, Abingdon, 1976, S. 10. (157, Fn. 139)
So weit also das Zitat von Ibn al-ʿArabī als Beleg und Veranschaulichung der Lehre von der Einheit des Seins (wahdat al-wudschūd). Sehen wir nun zu, wie Ibn Taymiyya fortfährt:
Sie wussten, dass al-Ghazālī darin nicht mit ihnen übereinstimmte. Sie erachteten ihn daher für schwach und beschuldigten ihn, durch die Offenbarung und den Intellekt [in seinem Denken] beschränkt (muqayyad) gewesen zu sein.
Abū Hāmid [al-Ghazālī] ist [eingeklemmt] zwischen den ʿulamāʾ der Muslime und den ʿulamāʾ der Philosophen. Die ʿulamāʾ der Muslime tadeln ihn für Dinge, die gegen die Religion des Islam verstoßen, worin er der Genosse der Philosophen ist. Die Philosophen verschmähen ihn für das, was bei ihm vom Islam verbleibt, und dafür, dass er sich nicht völlig davon freigemacht hat (insalakha) zugunsten der Aussagen der Philosophen.Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (157)
Sodann führt Ibn Taymiyya einige Verse eines bekannten Gedichtes an, in denen al-Ghazālī vorgeworfen wird, ein Philosoph zu sein:
Wir sagen uns los, mit Blick auf Gott, von einer Gruppe von Leuten, die von Krankheit befallen sind durch das Buch von der Heilung.
Wie oft sagte ich zu ihnen: »O Leute, ihr seid am Rande eines Abgrunds, vom dem es keine Heilung gibt!«
Da sie Licht aus unserer Lehre machten, kehrten wir zurück zu Gott. Er ist unser Genüge.
Sie starben in der Religion des Aristoteles, und wir lebten gemäß der Sunna der Erwählten. (158)
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82.
Die Anspielung auf das Buch der Heilung (Kitāb asch-schifāʾ) von Ibn Sīnā ist uns bereits begegnet. Ibn Taymiyya setzt hinzu:
Deshalb sagten sie, dass Die Heilung Abū Hāmid krank gemacht hatte.
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (158)
Ibn Taymiyya macht darauf aufmerksam, dass es Ibn Sabʿīn im Gefolge von al-Ghazālī und dem bereits beschriebenen Prozess der Entschränkung zu fünf Glaubenslehren (ʿaqīda) gebracht hat, die in fünf Stufen dem jeweiligen Träger zugeordnet werden:
Die niedrigste ist der fiqh-Wissenschaftler, dann der Kalām-Theologe, dann der Philosoph, dann der Sufi-Philosoph – d.h. der Reisende (sālik) -, dann der Realisierende (muhaqqiq).
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (158)
Und Ibn Taymiyya sieht auch Ibn al-ʿArabī auf diesem Entwicklungspfad, der seinen Ausgang mit al-Ghazālī nahm und ihn schließlich zu vier Glaubenslehren führte:
Und was Ibn al-ʿArabī betrifft, so hat er vier Glaubenslehren (ʿaqīda). Die erste ist die Glaubenslehre von Abū al-Maʿālī [al-Dschuwaynī] und seinen Anhängern, ohne Beweis (hudschdscha). Die zweite ist die Glaubenslehre, die mit ihren kalām-theologischen Beweisen demonstriert wird. Die dritte ist die Glaubenslehre der Philosophen – Ibn Sīnā und seinesgleichen -, die eine Unterscheidung zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen treffen. Die vierte ist die Realisierung (tahqīq) [der Wahrheit], zu der er gelangte, nämlich dass das Sein eines ist.
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (158-159)
Im letzten Absatz, den wir noch zitieren wollen, kehrt Ibn Taymiyya zum Ausgangspunkt zurück:
Jene schlugen den Pfad (maslak) der Philosophen ein, auf die al-Ghazālī sich in Mīzān al-ʿamal (Das Kriterium des Handelns) bezieht, und der [darin besteht, zu sagen] dass ein Vortrefflicher (fādhil) drei Glaubenslehren hat: eine Glaubenslehre mit dem einfachen Volk, gemäß derer er in dieser Welt lebt, wie fiqh zum Beispiel; eine Glaubenslehre mit Studenten, die er sie lehrt, wie kalām-Theologie; und eine dritte, über die er niemanden in Kenntnis setzt außer der Elite. Deshalb hat er das Buch al-Kutub al-madhnūn bihā ʿalā ghayr ahlihā (Die Bücher, die von jenen fernzuhalten sind, die ihrer nicht würdig sind) verfasst. Ihr [Inhalt] ist reine Philosophie, für die er den Pfad von Ibn Sīnā genommen hat. Das ist der Grund, weshalb er die Wohlverwahrte Tafel [lawh mahfūdh; siehe Koran 85:22] als die Seele der [himmlischen] Sphäre betrachtet, und andere Dinge, die ich andernorts erklärt habe.
Ibn Taymiyya, Kitāb an-nubuwwāt, Beirut, ohne Jahr, S. 81–82. (159)
Yahya Michot knüpft daran folgenden Kommentar an, mit dem er zugleich seinen Artikel beschließt:
Drei Glaubenslehren werden in al-Ghazālīs Mīzān al-ʿamal [Das Kriterium des Handelns] genannt, vier Glaubenslehren von Ibn al-ʿArabī unterschieden und fünf religiöse Ränge in Budd al-ʿārif [Das Ziel des Wissenden] von Ibn Sabʿīn... al-Ghazālī war wirklich der Initiator eines inflationären Prozesses der Verwässerung der islamischen Orthodoxie in Entsprechung zu einer hierarchischen Aufgliederung der Gesellschaft, wobei die Wahrheit des tawhīd schließlich gleichgesetzt wurde mit wahdat al-wudschūd, einer post-avicennischen Doktrin von der Einheit des Seins, die einzig der Elite zugänglich ist. Der große Theologe [Ibn Taymiyya] war in seinen Kritiken an al-Ghazālī freilich nicht immer originell. Er konnte sich auf eine reiche anti-ghazālīsche Literatur aus dem 6./12.-7./13. Jahrhundert stützen – manches davon geht sogar auf al-Ghazālīs Lebenszeit zurück -, und er setzte sie wirkungsvoll ein. Er trug gleichwohl auch seine eigenen, oftmals hellsichtigen Analysen als Historiker der Ideen und virtuoser Komparativist der verschiedenen Strömungen des islamischen Denkens bei. Wie andere Philosophen, Theologen oder Sufis interessierte ihn al-Ghazālī nicht an sich selbst, sondern als eine ideologische Schlüsselfigur in der zunehmenden Distanzierung der islamischen Gesellschaften nicht nur von den kanonischen Quellen des Islam, sondern auch von der klaren Vernunft (sarīh al-ʿaql). Ibn Taymiyya war gewillt, al-Ghazālī das Lob zu spenden, das er verdiente, wie am Anfang von Text 8 ersichtlich [siehe Alte und neue Kritiken]. Er gestand außerdem zu, dass ihm Schriften und Ideen zugeschrieben worden sind, die nicht von ihm stammten. Er war nichtsdestoweniger von seiner großen Verantwortung für die Mutation der Religion durch Philosophie überzeugt. Aus dieser Sicht war al-Ghazālī das muslimische Gegenstück jenes anderen Anhängers von Avicenna, Maimonides (gest. 1204), der im Judaismus »die prophetischen Worte mit den philosophischen« vermischte »und sie entsprechend auslegte«
Ibn Taymiyya, Darʿ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql aw muwāfaqa sahı̄h al-manqūl li-sarı̄h al-maʿqūl, Hg. M. R. Sālim, 11 Bände, Riyādh: Dār al-Kunūz al-Adabiyya, [1399/1979], S. 131–132. . Wäre er wie der andere Jude, Abū al-Barakāt al-Baghdādī (gest. in Bagdad, nach 560/1164), gewesen und wie er »auf dem Weg der rationalen Untersuchung (tarīq al-nadhar al-ʿaqlī)« geschritten, »ohne ein blinder Anhänger (bilā taqlīd)«Ibn Taymiyya, Minhādsch as-sunnat an-nabawiyya fī naqd kalām asch-schīʿa wa al-qadariyya, Hg. M. R. Sālim, 9 Bände, Kairo: Maktabat Ibn Taymiyya, 1409/1989, Bd. I, S. 348. des Schaykh ar-Raʾīs [Avicenna] zu sein, wäre es ihm gewiss besser ergangen. (159-160)
Ohne auf Einzelheiten einzugehen, wofür hier nicht der Ort ist, fällt ins Auge, dass es ausgehend von den beiden Glaubenslehren der Philosophen über die drei von al-Ghazālī und die vier von Ibn al-ʿArabī bis hin zu den fünf von Ibn Sabʿīn einen geradezu inflationären Prozess der Entschränkung und fortgesetzten Vervielfältigung gegeben hat, der im islamischen Denken nicht nur von den falāsifa, sondern vor allem von al-Ghazālī befördert worden ist. So konnten im Gefolge die wesentlichen Eigenschaften der philosophischen Religion mit ihrer ausgeprägten Hierarchisierung und restriktiven Rationalisierung durch die Festlegung auf den Vernunftbegriff der griechischen Philosophie in das ursprünglich egalitäre und auf einen weit gefassten Vernunftbegriff gestützte islamische Denken eindringen – mit weitreichenden und vielfach zerstörerischen Folgen nicht nur für das islamische Denken, sondern durch ihren bislang in ihrem wahren Ausmaß kaum richtig zu ermessenden Einfluss vor allem auch für das europäische Denken.
Ibn Taymiyya war sich der großen Verantwortung, die Denker wie al-Ghazālī für diese Entwicklung tragen, und der daraus resultierenden Gefahren auf bemerkenswert hellsichtige Weise bewusst und hat alles daran gesetzt, ihrer zu wehren, indem er nach den tief verborgenen Grundlagen dieses Denkens forschte und sie sichtbar zu machen suchte. Er hat daran eine zugleich so weitsichtige und tiefgründige Kritik geübt, dass sie weit über ein rein historisches Interesse hinaus von größter Aktualität ist, wenn wir unsere Gegenwart verstehen wollen. Diese wenigen Zeilen mögen eine erste Ahnung davon vermittelt haben.