Liebe Leserin, lieber Leser,
die in diesem Buch versammelten Texte sind Teil eines größeren Projektes, das sich mit der Kritik der Philosophie im islamischen Denken befasst. Es trägt den Titel: alastu-Projekt – Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Eine Erläuterung dieses Titels und eine knappe Vorstellung des Projektes finden sich auf der Website des Projektes. Die Texte, die aus diesem Projekt hervorgehen, sollen in Gestalt von Büchern wie dem vorliegenden und auf der Website des Projektes alastu.net veröffentlicht werden. Das vorliegende Buch ist der erste Band der Reihe Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Weitere Bände sind in Vorbereitung und Planung.
Wie das Projekt als Ganzes so verstehen sich auch diese Texte als work in progress. Sie liefern also keine abschließenden Ergebnisse, sondern bieten vielmehr einen schlaglichtartigen Einblick in die Werkstatt einer fortschreitenden Arbeit, deren derzeitigen und vorläufigen Stand sie widerspiegeln. Die Texte könnten daher auch als Vorstudien bezeichnet werden.
Abū Hāmid al-Ghazālī (gest. 505/1111) ist gewiss einer der größten Philosophen in der Geschichte der Philosophie, die zugleich eine grundsätzliche Kritik der Philosophie entwickelt haben. Sein ganzes Denken bewegt sich im Spannungsfeld von Philosophie und deren selbstkritischer Reflexion. Im Rahmen des islamischen Denkens entwickelt er so sowohl eine Philosophie wie auch eine Kritik der Philosophie, indem er an die der Tradition der griechischen Philosophie entwachsenen islamischen Philosophie, wie sie sich bis in seine Zeit herausgebildet hat, anknüpft. Das rechtfertigt, den ersten Band dieser Reihe dem Denken al-Ghazālīs zu widmen.
al-Ghazālī hat uns ein vielschichtiges und reiches Werk vermacht, das in seiner gewaltigen Fülle mitunter unübersichtlich erscheinen mag. Da genügt es nicht, die Thematik auf die Kritik der Philosophie im islamischen Denken einzugrenzen, um einen Weg durch dieses klüftige Gelände zu bahnen. Es ist zudem erforderlich, das Augenmerk besonders auf das spannungsreiche Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu richten. al-Ghazālī behandelt dieses Thema häufig mit Blick auf eine Regel, die er qānūn at-taʾwīl nennt, was in einer ersten Annäherung mit Regel der Interpretation übersetzt werden kann. So liegt es nahe, diese Richtschnur zum Leitfaden zu wählen, um sich daran entlang zu hangeln und damit einen Zugang zu al-Ghazālīs Werk und Denken zu eröffnen. Dieser rote Faden, der die Texte des vorliegenden Buches durchzieht, erlaubt zugleich, die übergreifenden Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung sowie der Kritik der Philosophie stets im Blick zu behalten. Da die Regel der Interpretation al-Ghazālī als Richtschnur zur Behandlung echter oder vermeintlicher Widersprüche zwischen Vernunft und Offenbarung dient, steht sie in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach Rolle und Stellenwert der sich auf Vernunft berufenden Philosophie im islamischen Denken, das in der einen oder anderen Weise stets an Offenbarung zurückgebunden bleibt.
Nun wäre es wohl das übliche Verfahren, an dieser Stelle einen Überblick über al-Ghazālīs Leben und Werk sowie eine Darstellung des aktuellen Stands der Forschung samt der sich daraus ergebenden Fragestellungen zu geben. Dieser Versuchung will ich jedoch widerstehen, da sie doch voraussetzte, was allererst zu leisten wäre, nämlich eine genaue Kenntnis der Texte und eine darauf basierende Interpretation, die sich tatsächlich an den Texten erweisen ließe. Damit soll nicht alles über den Haufen geworfen, sondern lediglich der Anspruch einer erneuten Prüfung angemeldet werden. Die vorherrschenden Interpretationen nehmen nur allzu leicht einen verselbständigten Lauf und entfernen sich auf der Grundlage immer stärker verfestigter Urteile und Vorurteile von den Texten selbst. Damit einhergehend entfernen sich die Fragestellungen ebenfalls zunehmend von den Texten und richten sich auf Personen, denen vermeintlich einheitliche Positionen über lange Zeiträume hinweg, womöglich ein ganzes Leben lang, zugeschrieben werden. Diesem Drang zur Vereinheitlichung im Rahmen eines bestimmten Vorverständnisses werden sodann die Texte mehr oder weniger gewaltsam gefügig gemacht. Dies, um Fragen folgender Art zu beantworten: Welche Position hat beispielsweise al-Ghazālī zu dieser oder jener Frage vertreten?
Dieser Tendenz soll hier mit einer anderen Fragestellung widerstanden werden: Was hat al-Ghazālī in diesem oder jenem Text wirklich gesagt? Die erneute Frage nach dem Sinn der Texte soll also in den Vordergrund gerückt werden. Freilich geschieht dies nicht in der naiven Annahme, dass sich jegliches Vorverständnis fernhalten ließe, sondern vielmehr in der Absicht, das vorherrschende Vorverständnis in Frage zu stellen, ja überhaupt erst ins Bewusstsein zu rücken, und somit neue Wege der Interpretation zu eröffnen. Auch in diesem Sinne handelt es sich bei den in diesem Buch versammelten Texten eben um Vorstudien und nicht um die Präsentation von fertigen Ergebnissen.
Die Auslegung der Texte al-Ghazālīs, die also möglichst textnah und gründlich erfolgen soll, wird von der stets präsenten Fragestellung begleitet, ob und inwiefern bestimmte Interpretationen diesem Text tatsächlich gerecht werden. Dies geschieht mitunter im Hintergrund, wird aber gelegentlich auch ganz ausdrücklich durch die ebenso textnahe und gründliche Untersuchung von Texten durchgeführt, die für sich beanspruchen, im Ergebnis zu bestimmten Thesen über al-Ghazālīs Position in der einen oder anderen Frage gelangt zu sein. Hier lautet die vorrangige Fragestellung mithin: Inwieweit gelingt es den Autoren dieser Texte wirklich, ihre Interpretationen an den Texten al-Ghazālīs stichhaltig auszuweisen? Dem nachzugehen, erfordert freilich, dass die dafür herangezogenen Texte al-Ghazālīs selbst wiederum einer gründlichen Betrachtung unterzogen werden, die allererst ein Urteil über die in Frage stehende Auslegung erlauben kann.
So verbindet sich allemal die genaue Betrachtung der Texte al-Ghazālīs mit der prüfenden Untersuchung bestehender Interpretationen derselben zu einem eindringlichen und hoffentlich frischen Blick, der neue Perspektiven zu eröffnen vermag, ohne der Versuchung zu erliegen, zu voreiligen Schlüssen zu gelangen, was sich schon aufgrund der in Hinsicht auf das Gesamtwerk al-Ghazālīs winzigen Textauswahl verbietet.
Die geneigte Leserin, der geneigte Leser soll nun nicht länger durch andeutende Vorbemerkungen von der Lektüre der Studien abgehalten werden, die dadurch ohnehin nicht besser werden, sondern vielmehr für sich selbst sprechen müssen.
Die einzelnen Texte können unabhängig voneinander gelesen werden, bauen aber in gewissem Maße aufeinander auf, so dass es vorteilhaft sein kann, sie in der vorgegebenen Reihenfolge zu lesen. Es sei lediglich noch eine kurze Übersicht über den Inhalt des Buches gegeben.
Der erste Text, der auch als bündige Einführung in die Thematik der Kritik der Philosophie im islamischen Denken gelesen werden kann, trägt den Titel Zu al-Ghazālīs Widerlegung der Philosophen und befasst sich mit einem der bekanntesten Werke al-Ghazālīs, namentlich dem Tahāfut al-falāsifa, was gelegentlich mit Inkohärenz der Philosophen übersetzt worden ist. al-Ghazālī entwickelt darin eine Kritik der Philosophie, wie sie es im islamischen Denken bis dahin nicht gegeben hat. Der Tahāfut stellt daher einen Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte des islamischen Denkens dar. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dabei vor allem den kurzen Einführungen, die al-Ghazālī seinem Werk vorangestellt hat und in denen er sein Projekt einer Kritik der Philosophie in grundlegenden Zügen vorstellt.
Der zweite Text mit dem Titel Zu al-Ghazālīs Schrift »Regel der Interpretation« behandelt eingehend eine kleine Schrift al-Ghazālīs, die den arabischen Titel Qānūn at-taʾwīl trägt. al-Ghazālī versucht in dieser Abhandlung, wie schon der Titel besagt, eine Regel der Interpretation von Äußerungen und Texten zu bestimmen. Interpretation (taʾwīl) gilt dabei als notwendig, wenn bestimmte Probleme, die bei der Auslegung der Offenbarung auftreten können, zu lösen sind. Diese Probleme können sich daraus ergeben, dass bei einigen Stellen der Eindruck eines Widerspruchs zwischen Vernunft (ʿaql) und Offenbarung (naql) auftreten kann. Um diesen vermeintlichen Widerspruch aufzulösen, bedarf es mithin einer Interpretation nach einer regelhaften Methode.
Der dritte Text mit dem Titel Zu al-Ghazālīs Kriterium der Unterscheidung: Faysal at-tafriqa befasst sich mit al-Ghazālīs Abhandlung Faysal at-tafriqa bayna al-islām wa az-zandaqa. Dieser Titel kann annäherungsweise übersetzt werden mit Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und verborgenem kufr (Ablehnung des Islam, Nicht-Islam). al-Ghazālī geht es darin um die Entwicklung eines Kriteriums für eine möglichst eindeutige Unterscheidung zwischen Islam und zandaqa (verborgenem kufr) und zur Bestimmung der Vereinbarkeit einer Auffassung mit dem Islam. al-Ghazālī geht dabei von seiner Erfahrung mit dem in seiner Umgebung häufigen Gebrauch des Ausschlusses aus der muslimischen Gemeinschaft aus, dem er einen Riegel vorschieben wollte, da er die muslimische Gemeinschaft allzu oft in heillose und unnötige Streitigkeiten zu verwickeln drohte. Demgegenüber strebte al-Ghazālī danach, diese Konflikte beizulegen und die Einheit der muslimischen Gemeinschaft (umma) zu schützen. Dass dieses Anliegen auch und gerade heute leider keineswegs an Aktualität verloren hat, dürfte ohne weiteres einsichtig sein. Da sich diese Konflikte vor dem Hintergrund der Entwicklung des muslimischen Denkens abspielen, muss auch dieser ein wenig ausgeleuchtet werden. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Debatte zwischen zwei Tendenzen des islamischen Denkens, die oftmals als Auseinandersetzung zwischen Rationalismus und Traditionalismus beschrieben wird. Wer sich heute für diese Fragen interessiert, sollte dies zumindest in Kenntnis des klassischen Werkes von al-Ghazālī tun, das einen wichtigen Beitrag zum islamischen Denken darstellt.
Der vierte Text mit dem Titel al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den Kalām beschäftigt sich mit einer spezielleren Frage im Rahmen der Debatte um al-Ghazālīs Rationalismus: Hat al-Ghazālī die Logik in den kalām (meist mit islamische Theologie unzulänglich übersetzt) eingeführt? Es geht also um die Untersuchung der These, der zufolge al-Ghazālī die Durchdringung des kalām mit aristotelischer Logik und Philosophie zugeschrieben wird. al-Ghazālī hat indes zwar erste Schritte in diese Richtung unternommen, ist aber auf halbem Wege stehengeblieben. Erst hundert Jahre später wurde dieser Weg von ar-Rāzī konsequent bis an sein Ende beschritten.
Der fünfte Text mit dem Titel al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den fiqh wirft die entsprechende Frage im Hinblick auf den fiqh (islamisches Recht) auf: Welchen Beitrag hat al-Ghazālī zur Einführung der Logik in das islamische Recht (fiqh) und Rechtstheorie (usūl al-fiqh) geleistet? Der sunnitischen Rechtstheorie war es bis ins 5./11. Jahrhundert weithin gelungen, das Eindringen der aristotelischen Logik zu verhindern. In den Auseinandersetzungen um die Grundlegung und Ausrichtung des islamischen Rechts erschien die Logik als Werkzeug der Philosophie und stand daher unter dem Verdacht, ihre metaphysischen Voraussetzungen zu teilen. Die vorherrschende Tendenz in der sunnitischen Rechtstheorie widersetzte sich erfolgreich diesen Einflüssen eines philosophischen Rationalismus, der als den Grundlagen des Islam zuwiderlaufend erachtet wurde. Erst al-Ghazālī befreite die Logik von diesem Verdacht, indem er sie vermeintlich als neutrale Methode aus der aristotelischen Philosophie herauslöste und so von ihren als nicht-islamisch geltenden metaphysischen Voraussetzungen abspaltete. Dadurch räumte er den Weg frei für die Aufnahme der Logik in Rechtstheorie (usūl al-fiqh) und Recht (fiqh), die in den folgenden Jahrhunderten von seinen Nachfolgern mit kaum zu überschätzenden Auswirkungen bis in die Gegenwart aufgegriffen und fortgeführt wurde.
Der sechste Text mit dem Titel al-Ghazālī und aristotelische Logik geht der Frage nach al-Ghazālīs Verhältnis zur aristotelischen Logik in einem weiteren Rahmen nach. al-Ghazālī hat sich immer wieder recht unterschiedlich zur aristotelischen Logik geäußert. Diese Vielfalt scheinbar divergierender Meinungen mag verwirrend wirken. Verbergen sich dahinter dennoch ein einheitliches Ziel und klar definierte Absichten? al-Ghazālī hat sicherlich einen maßgeblichen Beitrag zur Einführung der aristotelischen Logik in kalām und Rechtswissenschaft geleistet. Aber war sein Eintreten für die aristotelische Logik auch konsequent? al-Ghazālī hat die Logik zwar mehrfach dargestellt. Aber hat er sie überhaupt selbst zur Anwendung gebracht? Welchen Stellenwert räumt er also der aristotelischen Logik in seinem Denken ein?
Der siebte Text trägt den Titel al-Ghazālī und Griffels philosophische Theologie und befasst sich anhand einiger ausgewählter Themen mit dem Versuch einer Reinterpretation von al-Ghazālīs Denken als philosophischer Theologie, die Frank Griffel in seinem Buch Al-Ghazālī’s philosophical theology
Der achte und letzte Text mit dem Titel Ein bedeutender Leser von al-Ghazālī: Ibn Taymiyya lässt Ibn Taymiyya als fleißigen Leser und Kommentator von al-Ghazālīs Schriften auftreten. Dieser Text stützt sich auf einen Artikel von Yahya Michot, in dem Textausschnitte aus dem Werk von Ibn Taymiyya vorgestellt werden, in denen es vorwiegend um die Einschätzung von al-Ghazālīs Denken und dessen Wirkungsgeschichte geht. Michot hat eine Auswahl von neun Textausschnitten unterschiedlicher Länge aus dem Arabischen ins Englische übersetzt und mit einem Kommentar versehen. In meiner Darstellung werde ich mich auf die inhaltlichen Aspekte insbesondere mit Blick auf das uns hier vor allem beschäftigende Thema der Regel der Interpretation (qānūn at-taʾwīl) sowie des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung konzentrieren. Ibn Taymiyya interessierte sich für al-Ghazālī als herausragenden Denker und Schlüsselfigur für die Entwicklung des islamischen Denkens, auf das al-Ghazālī einen kaum zu überschätzenden Einfluss ausübte. Ibn Taymiyya erweist sich dabei im Gegensatz zu verbreiteten Zerrbildern keineswegs als einseitiger Polemiker, sondern vielmehr als ausgewogener Kritiker, der Lob und Tadel miteinander zu verbinden versteht. So zeichnet er ein durchaus komplexes und vielschichtiges Bild, das einem Denker, über den es kaum einverständliche Meinungen gibt, jedenfalls viel eher entspricht als alle vorschnellen Vereinseitigungen, von denen es bis heute nur allzu viele gibt. Die Spannbreite der einseitigen Darstellungen deckt dabei alle Extreme ab: Vom rechtgeleiteten Muslim bis zum Verräter am Islam, vom aufgeklärten Philosophen bis zum finsteren Fundamentalisten ist alles dabei. Ibn Taymiyya hat sich diesem Sog erfolgreich widersetzt. Michot wird durch seine Untersuchung zu einem erstaunlichen Schluss geführt: Ibn Taymiyya verfügte über eine weit bessere Kenntnis und Auffassung von al-Ghazālīs Werk als seine Widersacher aus den Reihen der falāsifa wie Ibn Tufayl und Ibn Ruschd. Was also können wir von Ibn Taymiyya über al-Ghazālīs Denken lernen?
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Mein Dank gilt all denen, die mich durch ihre anregenden und bereichernden Beiträge in Diskussionen und anderweitig bei der Arbeit an diesem Projekt über viele Jahre unterstützt haben und die viel zu zahlreich sind, um namentlich aufgeführt werden zu können. Besonders bedanken möchte ich mich bei den Mitgliedern des VDM
März 2018 Yusuf Kuhn