Dieses biographische Interview ist die Transkription von zwei Gesprächen, die Javier García Fernandez mit Professor Ramón Grosfoguel geführt hat. Das erste fand an der Fakultät für Philosophie und Künste der Universität Granada im Rahmen der Reihe El intelectual y su Memoria (Der Intellektuelle und seine Erinnerungen) statt, mit dem die entsprechende Fakultät den Werdegang der bedeutendsten Intellektuellen auf der internationalen Bühne würdigt, die an der Fakultät für Philosophie und Künste arbeiten sowie mit ihr zusammenarbeiten. Der zweite Teil des Interviews fand im Albaicín1 statt und ist das Ergebnis eines langen Gesprächs zwischen Ramón Grosfoguel und Javier García Fernández. Beide Gespräche fanden im Mai 2019 im Rahmen der IV. Escuela Decolonial de Granada: Diálogos y Horizontes Decoloniales en las Ciencias Sociales y Humanidades Iberoamericanas (IV. Dekoloniale Schule von Granada: Dekoloniale Dialoge und Horizonte in den iberoamerikanischen Sozial- und Geisteswissenschaften) statt, an der auch der Dekan der Fakultät und die Philosophieprofessoren José Antonio Pérez Tapias, Nelson Maldonado-Torres und Karina Ochoa teilnahmen. Wir danken dem Dekan José Antonio Pérez Tapias und der Fakultät für Philosophie und Künste aufrichtig für die Anerkennung und Ehrung von Professor Ramón Grosfoguel, die auch eine Anerkennung des dekolonialen Denkens ist, das Ramón Grosfoguel in Granada und in Andalusien zusammen mit einer ganzen Reihe von andalusischen Forschern und Denkern entwickelt.
Javier García Fernández: Welche Erfahrungen hast du mit dem Leben in Puerto Rico und vor allem in der Karibik gemacht? Du hast eine internationale Debatte über Kolonialismus, Rassismus und Dekolonisierung im 21. Jahrhundert angestoßen. Was bedeutet es für dich, Puertoricaner zu sein? – und Bewohner der Karibik?
Ramón Grosfoguel: Nun, wenn man in Puerto Rico aufwächst, wird man mit einer Reihe von weltgeschichtlichen Problemen konfrontiert. Warum ist das so? Puerto Rico ist heute im 21. Jahrhundert eine Kolonie, aber als wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Puerto Rico aufwuchsen und in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gegen den Verwaltungskolonialismus (colonialismo administrativo) kämpften, stellten wir uns folgende Fragen: Was ist die Lösung? Wie können wir das Problem des US-Kolonialismus in Puerto Rico lösen? Ist es die Unabhängigkeit? Was wäre der politische Ausweg aus dieser Situation?
Am Ende des 20. Jahrhunderts hatten wir bereits die Enttäuschung über die lateinamerikanischen und afrikanischen Unabhängigkeiten erlebt, die in neuen Formen des Kolonialismus oder des so genannten Neokolonialismus endeten, was bedeutet, dass das koloniale Problem nicht gelöst wurde; in vielen Fällen setzten die Imperien in der Region ihre kolonialen Projekte fort. Wenn man sich umschaute, fragte man sich: Was wollen wir eigentlich? Wollen wir eine weitere nordamerikanische Neokolonie in der Karibik sein oder wollen wir etwas anderes?
Die Karibik, die nach Andalusien der erste Ort auf der Welt war, an dem sich die kastilische Krone ausbreitete, war der erste Ort, der als Peripherie konstituiert wurde. Aus diesem Grund haben sich in der Karibik alle bekannten Formen des Kolonialismus ausgebildet, alle möglichen Formen kolonialer Verhältnisse: die assoziierte Republik in der niederländischen Karibik; die Assimilation durch Annexion auf den französischen Inseln; die Unabhängigkeiten (nicht die gewünschten, sondern die neokolonialen, was die real existierenden tatsächlich sind) in Jamaika, Haiti, der Dominikanischen Republik usw.; und auch die Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus des 20. Jahrhunderts in Kuba. Angesichts all dessen gab es große Unzufriedenheit. In Anbetracht all dieser Optionen gab es keine, die wir als unseren Weg annehmen konnten. Außerdem sahen wir am Ende des 20. Jahrhunderts auch die Grenzen des sozialistischen Modells des 20. Jahrhunderts, das 1989 zusammenbrechen sollte und dessen Grenzen wir seit den 1970er Jahren kommen sahen.
Wenn man aus Puerto Rico kommt, fragt man sich also: Was bedeutet Dekolonisierung? Das zwang uns, zu verstehen, dass Dekolonisierung nicht länger eine neue Formel für den rechtlich-politischen Status sein kann, denn als wir uns umschauten, sahen wir, dass das, was im 20. Jahrhundert Dekolonisierung genannt wurde, ein großer Mythos war. Was tatsächlich entstanden ist, waren neue Formen des Kolonialismus, die nach der Unabhängigkeit geschaffen worden sind. Kwame Nkrumah, der große Panafrikanist aus Ghana, nannte dies Neokolonialismus. Als erster Anführer einer erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegung in Afrika erlebte er am eigenen Leib, wie die neuen Formen kolonialer Herrschaft sich gestalteten. Letzten Endes unterstützte die CIA einen Militärputsch in Ghana, und Nkrumah starb im Exil. Doch aufgrund seiner Erfahrungen schrieb Nkrumah ein Buch mit dem Titel Neo-Colonialism, the Last Stage of Imperialism2. Dieses Buch wurde weltweit bekannt und brachte uns dazu, viel über den Kontext von Puerto Rico nachzudenken, das sich in der anomalen Situation befand, am Ende des 20. Jahrhunderts eine Kolonie zu sein. Wir erkannten, dass die Situation der kolonialen Herrschaft des westlichen Imperialismus nicht beseitigt, sondern auf neue Weise aktualisiert worden war. So sahen wir uns mit dem Dilemma konfrontiert, dass Veränderungen des Status allein das Problem der kolonialen Herrschaft nicht lösen würden.
In diesem Kontext des Kolonialismus mit kolonialer Verwaltung, wie wir ihn in Puerto Rico erlebt haben, und des Neokolonialismus in allen Ländern in unserer Umgebung erwächst der Gedanke, dass die Formen kolonialer Herrschaft nicht mit dem Ende des rechtlich-politischen Regimes der kolonialen Verwaltungen enden, sondern eine ganze Reihe von Herrschaftshierarchien durchlaufen, die sich in dieser langen kolonialen Geschichte von mehreren Jahrhunderten konstituiert haben und die in neuen Formen wieder aufgegriffen werden. Alle diese durch mehrere Jahrhunderte Kolonialismus geschaffenen Herrschaftsformen waren auch dann noch präsent und keineswegs dekolonisiert, als die Peripherien der Welt größtenteils als formal unabhängige Staaten konstituiert wurden. Diese Hierarchien überstiegen die so genannten Unabhängigkeiten und blieben in gewisser Weise bis heute festgefahren. Es ist ein Erbe, das nicht nur in der Vergangenheit liegt, sondern bis heute fortwährt.
Es gibt immer noch eine internationale Arbeitsteilung zwischen Zentren und Peripherien, eine Form der politischen Autorität, nämlich den Nationalstaat, der sehr eurozentrische Wurzeln hat, einen für koloniale Gesellschaften typischen Rassismus, ein Patriarchat, das auch heute noch in Kraft ist, welches typisch für das Christentum ist und durch die koloniale Herrschaft aufgezwungen wurde, eine Vorherrschaft der Werte des Christentums, auch eine ganze Reihe eurozentrischer epistemischer Strukturen in den verwestlichten Universitäten und so weiter.
Aus all diesen Gründen kamen wir auf den Gedanken, dass der Kolonialismus nicht auf ein ökonomisches oder rechtlich-politisches System beschränkt ist, sondern dass es sich um eine Reihe von Herrschaftsbeziehungen handelt, die ein zivilisatorisches System konstituieren. Es ist die Realität von Puerto Rico, die uns gezwungen hat, über das traditionelle Verständnis der Dekolonisierung hinauszudenken.
Betrachtet man alle Inseln der Karibik und Mittelamerikas, ist es leicht, zu verstehen, dass es keine wirkliche Dekolonisierung gibt, sondern dass die Hierarchien der kolonialen Macht unter der formalen rechtlich-politischen Unabhängigkeit weiter reproduziert werden, wenn auch in neuen Formen. Die Hierarchien ökonomischer, politischer, epistemischer, rassischer, kultureller und patriarchalischer Herrschaft sind in den neuen, formal unabhängigen Staaten, die wir heute als neokolonial bezeichnen, immer noch sehr präsent.
Und gerade damit wird man, wenn man in Puerto Rico aufwächst, in gewisser Weise konfrontiert: Wie kann man Puerto Rico von der kolonialen Herrschaft des US-Imperiums dekolonisieren, wenn der Rest der formal unabhängigen Republiken weiterhin unter kolonialer Herrschaft ohne koloniale Verwaltung, also unter Neokolonialismus fortbesteht?
In einer Debatte, die wir vor etwa zwölf Jahren in Venezuela mit dem Netzwerk Modernität/Kolonialität führten, entwickelte ich all dies, und es gab Leute im Publikum, die mich als Puertoricaner in Frage stellten, weil ich von einem Land aus über Dekolonisierung sprach, das immer noch eine Kolonie war. Ich erinnere mich, dass Aníbal Quijano aufstand und sagte: „Ich habe in den 1980er Jahren in Puerto Rico gelebt, und das hat mich dazu gebracht, über die Frage der Kolonialität nachzudenken! Dadurch, dass ich in Puerto Rico war und mit den Menschen diskutiert habe, habe ich die Idee der Kolonialität verstanden.“
In Puerto Rico sagen wir, dass die Debatte über den Status der Insel der Nationalsport ist. Aber das ist nicht nur in Puerto Rico so, denn die existentielle Erfahrung einiger karibischer Inseln von heute besteht darin, dass sie noch immer nicht-unabhängige Territorien irgendeiner Metropole sind. Ich war auf den niederländischen Inseln, den französischen Inseln, einigen britischen Inseln und den US-Jungferninseln, allesamt Inseln, die derzeit noch Kolonien europäischer oder US-amerikanischer Metropolen sind, so dass mir auffiel, dass die so genannte puertoricanische Anomalie in Wirklichkeit die Regel für all jene karibischen Inseln ist, die noch immer nicht-unabhängige Territorien sind. Als ich nach Martinique, Curaçao, Tortola, St. Croix, Aruba und Guadeloupe reiste, war der Nationalsport aller die Statusdebatte, insbesondere die Diskussion über den gegenwärtigen rechtlich-politischen Status einer nicht-unabhängigen Situation der kolonialistischen Integration und Unterordnung unter die Metropole.
So entdeckte ich, dass Puerto Rico zu dem gehört, was ich später in Anlehnung an den haitianischen Intellektuellen Gérard Pierre-Charles als die modernen Kolonien der Karibik bezeichnete, denn obwohl wir unter Verwaltungskolonialismus stehen, haben wir die Staatsbürgerschaft der Metropole, das heißt nordamerikanische Pässe, so wie sie in Guadeloupe oder Martinique die französische oder auf den niederländischen Inseln die niederländische Staatsbürgerschaft haben. Außerdem haben wir, wie auf diesen nicht-unabhängigen Inseln, die Hälfte des Landes, die als billige Arbeitskräfte in den Metropolen lebt. Das, was wir als guagua aérea3 bezeichnen, ist dasselbe wie das in Curaçao, wozu man Biljmerbus4 sagt. Dieses Kommen und Gehen ist ein Zustand, den alle Bevölkerungen der nicht-unabhängigen Inseln der Karibik teilen; dieses ständige Gehen in die Metropolen innerhalb eines internen Kreislaufs von zirkulären Migrationen, bei denen man einige Jahre außerhalb arbeiten kann, zurückkehrt und einige Jahre später wieder auswandert. Bei uns gibt es auch den Begriff des nuyorican5, auf den französischen Inseln gibt es den Begriff des negropolitano6.
All dies führte uns zu der Einsicht, dass diese Anomalie gar nicht so anomal war, und ermöglichte uns gleichzeitig, auf eine Art und Weise zu denken, die uns dazu brachte, uns mit den verschiedenen Kolonialitäten, die uns begegneten, auseinanderzusetzen.
Javier García Fernández: Dann kommst du zu einer bestimmten Zeit in die USA. Was sind die ersten Erfahrungen, die du in diesem Land gemacht hast? Bist du auch an die Universität gekommen? Wie sieht der Weg dorthin aus?
Ramón Grosfoguel: Im Rahmen dieses zirkulären Migrationskreislaufs haben die Puertoricaner immer einen Verwandten oder waren selbst in den USA, genauso wie dies auch auf allen nicht-unabhängigen Karibik-Inseln der Fall ist, da dies Teil der von den Metropolen organisierten Migrationspolitik ist.
Als Kind lebte ich mit meinen Eltern in New York. Mein Vater war Argentinier jüdischer Herkunft und meine Mutter Puertoricanerin afrikanischer Abstammung. Die Häuser, in denen Puertoricaner lebten, gehörten amerikanischen Juden. Mein Vater erzählte mir, dass er als argentinischer Jude eine Art Vermittler zwischen den amerikanischen Juden, denen die Gebäude gehörten, und den puertoricanischen Mietern war. Jahre später, zurück in Puerto Rico, erzählte er mir, dass er sich entschlossen hatte, die USA zu verlassen, als er sah, wie rassistisch und abschätzig amerikanische Juden die Puertoricaner behandelten. Angesichts dieser Behandlung, die Puertoricaner in den USA erfuhren, beschloss mein Vater, dass wir nach Puerto Rico zurückkehren sollten. Er sagte zu mir: „Wenn das die Juden waren, wie würden dann die weißen Amerikaner sein?“ Schließlich wuchs ich in Puerto Rico auf.
Bereits in den 1980er Jahren ging das FBI sehr hart gegen die puertoricanische Unabhängigkeitsbewegung vor, an der ich beteiligt war. In diesem Zusammenhang führten die Polizeibehörden eine Razzia gegen die Los Macheteros7 durch und stellten mir in meinem Haus nach. Ich hatte allerdings bereits Vorkehrungen getroffen und war darauf vorbereitet, zusammen mit anderen Mitstreitern in den USA unterzutauchen, ein Exil, das alle puertoricanischen Aktivisten erleiden.
Ich suchte Zuflucht im puertoricanischen Ghetto in Nord-Philadelphia. Als ich dort zur Arbeit ging, erlebte ich am eigenen Leib, wie der Rassismus den nordamerikanischen Arbeitsmarkt organisierte. Letzterem lag eine ethno-rassische Segregation zugrunde, das heißt, bestimmten migrantischen Gemeinschaften wurden bestimmte Arbeiten zugewiesen. Im postindustriellen Philadelphia wurden Puertoricaner für Bauarbeiten, Maurerarbeiten, Malerarbeiten und alle mit diesen Sektoren verbundenen Arbeiten eingeteilt. So arbeitete ich zeitweilig als Anstreicher.
Nach einiger Zeit, als ich mein Soziologie-Studium an der Universität von Puerto Rico bereits abgeschlossen hatte, fand ich dank der Stipendien für rassische Minderheiten in den USA, die durch die damaligen Bürgerrechtskämpfe errungen worden waren, eine Möglichkeit, ein Studium aufzunehmen. Ich bewarb mich um eines dieser Stipendien; und auf diese Weise bin ich an die Universität gekommen. Ich betrachtete dies zunächst als eine vorübergehende Lösung, bis ich nach Puerto Rico zurückkehren konnte. Das wichtigste Charakteristikum dieses Stipendiums war, dass ich alle Fächer bestehen und das Studienjahr ohne Fehlversuche abschließen musste. Wie im Flug vergingen zwei Jahre, und ich schloss die erforderlichen Kurse ab. Ich war bereit, mit meiner Doktorarbeit zu beginnen.
Ich beschloss, nach Puerto Rico zurückzukehren, um mir einen Job zu suchen. Da ich vom FBI allerdings als Unabhängigkeitsaktivist registriert worden war, war es unmöglich, einen Job zu finden. Angesichts dieser Situation war ich gezwungen, in die USA zurückzukehren und zu versuchen, eine Stelle an einer Universität zu bekommen.
Meine Erfahrungen in diesem Land waren immer sehr traumatisch, vor allem was das Bewusstsein von der Bedeutung rassischer Kategorien angeht. In Puerto Rico bin ich aufgrund meiner Hautfarbe weiß, aber mein eigener Bruder, der dunkler ist als ich, wird als schwarz angesehen. In den USA begann ich, all die Diskriminierungserfahrungen zu verstehen, die mein Bruder in Puerto Rico durchgemacht hatte und von denen er mir erzählte, die ich in Puerto Rico aber nicht durchgemacht hatte.
Dies veranlasste mich dazu, die Kategorien, mit denen ich die Herrschaftsformen in Puerto Rico analysierte, einer Umkehr zu unterziehen, indem ich von einer Analyse, die die Kategorie der Klasse oder der unterdrückten Nation privilegierte, dazu überging, die Kategorie der Rasse in der historisch-strukturellen Logik des globalen Kapitalismus zu verstehen.
Dies widerfuhr auch all den karibischen Autoren und Denkern wie Aimé Césaire, Frantz Fanon, C. L. R. James und vielen anderen, die auf ihren Studienreisen in die europäischen und/oder nordamerikanischen Metropolen mit neuen Dimensionen der Herrschaft konfrontiert wurden, die sie in den Kolonien nicht mit derselben Klarheit wahrnehmen konnten.
Wenn man in den Kolonien im Rahmen der Systeme kolonialer Bildung erzogen wird, glaubt man, dass man Franzose, Engländer oder Niederländer ist. Wenn man jedoch in die Metropole kommt, wird man mit dem Rassismus, der dem Kolonialismus innewohnt, konfrontiert, den man auf den Inseln nicht in dieser Deutlichkeit wahrnehmen konnte.
Javier García Fernández: Kaum als du in den USA und an der nordamerikanischen Universität warst, hast du an den Diskussionen teilgenommen, aus denen das so genannte Netzwerk Modernität/Kolonialität hervorgehen sollte. Bevor dieses Netzwerk Gestalt annahm, hattest du bereits mit Giovanni Arrighi und Immanuel Wallerstein zusammengearbeitet. Wie hat sich dein akademisches Leben in den USA entwickelt?
Ramón Grosfoguel: Wie ich gerade erklärt habe, gab es in jenen Jahren bereits eine Reihe von Themen, die diskutiert wurden, eine Reihe von Erfahrungen, die uns dazu veranlassten, eine ganze Reihe offener Probleme, die sich um die Bedeutung des Kolonialismus und der Dekolonisierung in den politischen Horizonten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts drehten, zu hinterfragen und zu analysieren.
Ich habe meine Doktorarbeit über die Auswirkungen der Wohnungspolitik des nordamerikanischen Imperialismus in Puerto Rico und ihre negativen Folgen für die puertoricanische Unabhängigkeitsbewegung geschrieben. Ich habe versucht, die tiefe Krise zu verstehen, die die Unabhängigkeitsbewegung im Zusammenhang mit der nordamerikanischen Investitionspolitik in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren erlitt. Zu dieser Politik gehörte auch der Export von Armut in die Metropolen durch eine organisierte Migration billiger Arbeitskräfte und die Investition von Bundesmitteln zur Subventionierung der auf der Insel verbliebenen puertoricanischen Bevölkerung.
In jenen Jahren, als ich meine Doktorarbeit fertigstellte und als Gastprofessor an der John Hopkins University in Baltimore tätig war, lernte ich Beverly Silver kennen, die dort arbeitete und am Institut für Soziologie der Binghamton University bei Giovanni Arrighi und Immanuel Wallerstein promoviert hatte. In jenen Jahren war Beverly Silver die Partnerin von Giovanni Arrighi, und bei einem von Giovannis Besuchsreisen von Binghamton nach Baltimore lud mich Beverly zu sich nach Hause ein und stellte mich Giovanni vor. Zu dieser Zeit arbeitete ich unter der Aufsicht eines kubanischen Soziologen, Alejandro Portes, eines kubanischen Dissidenten, der ein super-reaktionäres Denken offenbarte und den ihm unterstellten Mitarbeitern super-ausbeuterische Bedingungen auferlegte. Beverly und Giovanni erkannten, dass dies kein guter Ort war, und schlugen vor, dass ich mich um ein Postdoc-Stipendium der Gulbenkian-Stiftung, die von Immanuel Wallerstein geleitet wurde, bewerben sollte. Nachdem ich ein gutes Projekt entworfen hatte, bekam ich das Stipendium und erhielt Zugang zum Fachbereich Soziologie der Binghamton University. Dadurch konnte ich ein Jahr lang mit Immanuel Wallerstein zusammenarbeiten, vier Monate in Binghamton und acht Monate in Paris. Während dieses Jahres hatten wir ein von Wallerstein organisiertes Arbeitsprogramm, das aus zwei Sitzungstagen pro Woche bestand: eine Sitzung, um die Lektüre, an der alle Mitglieder der Gruppe arbeiteten, eingehend zu besprechen; eine weitere Sitzung, um unsere eigenen Forschungsprojekte vorzustellen. Das Thema meines Forschungsprojekts war Zeit und Raum in den lateinamerikanischen Sozialwissenschaften.
Doch darüber hinaus hatte ich in Paris die Möglichkeit, mit der Realität der Migranten aus den französischen Karibikkolonien in Kontakt zu kommen. Ich war immer sehr interessiert an den Migrationserfahrungen der nicht-unabhängigen karibischen Gebiete unter französischer Kolonialherrschaft. Damals konnte ich feststellen, dass die Mechanismen und die Logik Frankreichs gegenüber der Bevölkerung seiner Kolonien in der Karibik der Migrationspolitik der nordamerikanischen Kolonien in der Karibik verblüffend ähnlich waren. Die Kolonialbevölkerungen wanderten als Bürger in die Metropolen ein und galten nach ihrer Ankunft nicht wirklich als Bürger, sondern als eine Unterklasse, die unter der Logik der Rasse als rassialisierte Subjekte/Untertanen agierte. In der französischen und amerikanischen Karibik wurde die Migration von den Metropolen als staatliche Politik organisiert, mit einem ganzen institutionellen Apparat, der die Massenmigration der Kolonialbevölkerung in die Metropolen förderte und erleichterte, um den Arbeitsmarkt der Metropolen mit billigen Arbeitskräften zu versorgen.
Während ich mit Wallersteins Team an der Maison des sciences de l’homme in Paris an dem Projekt über das Konzept von Zeit und Raum in den lateinamerikanischen Sozialwissenschaften arbeitete, begann ich auf eigene Faust, all diese Fragen über koloniale Migrationen aus der französischen Karibik nach Paris zu untersuchen. Damals, als ich begann, mich mit diesen Fragen zu beschäftigen, lernte ich dank Immanuel Wallerstein Maurice Aymard kennen, den Direktor der Fondation Maison des sciences de l’homme und einen der großen Schüler von Fernand Braudel.
Eines Tages lud mich Aymard zum Kaffee ein, ohne dass ich wusste, dass es im französischen Kontext eine sehr starke symbolische Bedeutung hat, wenn ein Direktor einer Institution zum Kaffee einlädt. Während in der nordamerikanischen Universität die hierarchischen Beziehungen symbolisch viel horizontaler sind, bedeutet in der französischen Welt die Einladung zum Kaffee durch den Leiter einer Institution hingegen, dass er eine neue Zusammenarbeit vorschlägt. Ohne dies zu wissen, nahm ich die Einladung an und erzählte ihm, ohne die symbolischen Abläufe zu kennen, von meinem Interesse an der Untersuchung der kolonialen Beziehungen des französischen Staates zu seinen karibischen Kolonien im Vergleich zu den kolonialen Beziehungen des nordamerikanischen Empires. Aymard war von diesem Vorschlag sehr überrascht und schlug mir vor, mich an den führenden Spezialisten für die Migrationen der französischen Karibik in Paris zu wenden, Michel Giraud, einen aus Guadeloupe stammenden Forscher in Paris, der zu dieser Zeit an einem Projekt der Fondation Maison des sciences de l’homme arbeitete. Einen Monat später stellten Giraud und ich Aymard ein Forschungsprojekt über vergleichende nicht-unabhängige karibische Migrationen vor, das die Migration aus der niederländischen Karibik nach Amsterdam, aus der englischen Karibik nach London, aus Puerto Rico nach New York und aus der französischen Karibik nach Paris untersuchen sollte. Das Institut, das Aymard leitete, genehmigte das Projekt, und in den folgenden siebzehn Jahren habe ich vier Monate pro Jahr in Paris an der Entwicklung vergleichender Projekte zu den verschiedenen kolonialen Realitäten und der von den verschiedenen Metropolen entwickelten Politik gearbeitet, zunächst beginnend mit der Karibik und später auf andere Teile der Welt ausweitend.
Ausgehend von den Migrationsstudien untersuchten wir die verschiedenen Formen des Rassismus, die als Verlängerung der kolonialen Verhältnisse entstanden, nicht nur in der Gegend der Karibik, sondern auch den Rassismus und die Islamophobie gegenüber Migranten und Minderheiten in Europa aus der arabisch-muslimischen Welt und den anti-schwarzen Rassismus gegenüber afrikanischen Migranten.
All dies führte dazu, dass sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts um meine Arbeit herum ein akademisches und aktivistisches Netzwerk antirassistischer Bewegungen in ganz Europa organisierte. Ich arbeitete bereits mit der Islamic Human Rights Commission (Islamischen Menschenrechtskommission), der Parti des indigènes de la république (PIR, Partei der Indigenen/Eingeborenen der Republik) und der niederländischen Schwarzen-Bewegung (Movimiento Negro holandés) zusammen. Dies führte dazu, dass wir 2012 den Schritt unternahmen, das European Decolonial Network (Europäische Dekoloniale Netzwerk) zu gründen, dem anfangs auch andere Intellektuelle aus Spanien angehörten, wie Heriberto Cairo Carou und Montserrat Galcerán Huguet. Sie waren auch Teil der Studiengruppe des Sindicato Andaluz de Trabajadores/as (Andalusische Arbeiter/innen-Syndikat). Ihre Anwesenheit dort stellt die erste dekoloniale Annäherung zwischen den antirassistischen Bewegungen der rassialisierten Subjekte/Untertanen in Europa und den nationalistischen Bewegungen der Linken der unterdrückten Nationen in Europa dar.
Javier García Fernández: Andererseits und parallel dazu warst du in den 1990er Jahren Teil eines neuen Netzwerks lateinamerikanischer Intellektueller, die an verschiedenen latein- und nordamerikanischen Universitäten arbeiteten und publizierten und die eine profunde Debatte über das Verhältnis zwischen Moderne/Modernität und Kolonialismus forderten, das so genannte Netzwerk Modernität/Kolonialität. Du selbst warst an der Gründung dieses Netzwerks von Intellektuellen beteiligt und hast an dieser Strömung der theoretischen und kämpferischen Diskussion über das Erbe von Kolonialismus, Rassismus und Kapitalismus an den Universitäten und in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften teilgenommen.
Erzähl uns: Was waren die Umstände, die zu diesem Anbruch von Reflexion, Diskussion und Produktion einer neuen lateinamerikanischen kritischen Theorie geführt haben? Die Theorie der Dekolonialität ist die Antwort auf welche Frage?
Ramón Grosfoguel: Nun, ich denke, es gibt zwei wesentliche Ereignisse, um das Aufkommen der dekolonialen Debatte zu verstehen.
Erstens die Frage nach dem 500. Jahrestag der Eroberung der Amerikas. Dies wurde bereits von Nelson Maldonado-Torres in hervorragender Weise dargelegt. 1992 war der 500. Jahrestag des Beginns der Eroberung der Amerikas. Dies bringt einmal mehr den kolonialen Charakter der Moderne ins Gespräch und zeigt, dass die Kolonialgeschichte nicht mit den amerikanischen Unabhängigkeiten endete. Im Gegenteil, der Kolonialismus wurde durch ökonomische, machtpolitische, pädagogische, epistemologische und spirituelle Formen verlängert, das heißt durch alle Formen der sozialen Verhältnisse der westlichen modernen kapitalistischen Zivilisation, auch wenn es keine kolonialen Verwaltungen mehr gibt.
Das zweite grundlegende Element zum Verständnis des Aufkommens der dekolonialen Debatte ist die große Krise der Paradigmen der eurozentrischen Linken, die mit dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion eintrat. Viele Menschen wandten sich damals an die dekoloniale Theorie, um eine Antwort auf die folgende Frage zu finden: Welche Art von linkem Projekt können wir von Lateinamerika aus entwerfen, das nicht die Fehler des Sozialismus und der eurozentrischen Linken des 20. Jahrhunderts reproduziert? Die dekoloniale Theorie brachte in diesem Sinne eine Reihe von erfrischenden Ansätzen, die in dieser Diskussion entwickelt werden konnten.
Wenn ich heute zurückblicke, stelle ich fest, dass damals nur sehr wenige Personen von diesen beiden Anliegen angesprochen wurden.
Es gab eine ganze Reihe von Leuten, die auf der Suche nach einer Kritik der Moderne/Modernität waren und nach einem neuen lateinamerikanischen Horizont jenseits der westlichen Moderne/Modernität suchten, ohne an der Suche nach Antworten auf den Zusammenbruch der politischen Strategien der lateinamerikanischen und globalen Linken interessiert zu sein. Diese Sektoren waren am engsten mit den lateinamerikanischen Universitäten und akademischen Debatten verbunden.
Auf der anderen Seite gab es eine ganze Reihe anderer Leute, die im dekolonialen Paradigma einen neuen strategischen Sinn, eine neue Richtung für die Ideen, Programme und politischen Horizonte der lateinamerikanischen Linken als Ausweg aus der Krise der Paradigmen der globalen eurozentrischen Linken suchten, aber nicht bereit waren, die Moderne als zivilisatorisches System zu kritisieren. Dieser Sektor war deutlicher mit den politischen Organisationen und dem studentischen, feministischen und gewerkschaftlichen Aktivismus der eher eurozentrischen Linken verbunden.
Ich war immer auf der Suche nach Antworten auf beide Probleme: die Überwindung des zivilisatorischen Projekts der Moderne und die Überwindung der eurozentrischen Paradigmen der westlich orientierten Linken hin zu einem strategischen dekolonialen Paradigma, das es uns ermöglichen würde, neue transmoderne politische Horizonte der revolutionären Transformation zu entwerfen.
Nun, wie ich schon sagte, war ich bereits mit der Binghamton University verbunden. Andererseits besuchte Aníbal Quijano seit Anfang der 1980er Jahre jedes Jahr die Binghamton University, um ein sechswöchiges Seminar zu geben. Mein Aufenthalt in Binghamton fiel zusammen mit Quijanos Seminar. Damals stand Aníbal Quijanos These von der Kolonialität der Macht noch zu sehr in der Nähe der marxistischen Studien über die Dependenz und hatte den rassischen Charakter des Kapitalismus und die Dimension der globalen Struktur noch nicht in die Diskussion miteinbezogen. Quijano kam dann mit denselben Fragen, die puertoricanische Aktivisten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stellten. Das sind genau die, die ich schon erwähnt habe: die Dimensionen des Kolonialismus nach der Unabhängigkeit; die Frage, wie man das epistemologische und kulturelle Erbe der kolonialen Herrschaft überwinden kann; und vor allem die Analyse der Kontinuitäten des Kolonialismus jenseits des historischen Kolonialismus als juristisch-administratives Regime.
Während seiner Aufenthalte an der Binghamton University war der Dialog, den Quijano mit afroamerikanischen und karibischen Studenten führte, die in der Tradition des schwarzen Marxismus arbeiten, sehr wichtig. Cedric J. Robinson zum Beispiel war Professor in Binghamton und hatte eine sehr starke Gruppe von Studenten, die Quijano Jahr für Jahr zu den Theorien des rassischen Kapitalismus befragten, die er nach und nach in seine Dissertation aufnahm und die er später als Kolonialität der Macht bezeichnen sollte.
Darüber hinaus gab es zwei Treffen, die für das Entstehen dieser neuen Theorie und dieses Netzwerks der Kritik der Modernität/Kolonialität von zentraler Bedeutung waren. Das erste fand im Oktober 1998 an der Duke University statt, organisiert von Walter Mignolo, an dem Aníbal Quijano, Enrique Dussel, Nelson Maldonado-Torres und ich teilnahmen. Dieses Treffen sollte all diese Debatten in einen Dialog mit der indischen postkolonialen Theorie bringen, die dort von Dipesh Chakrabarty und anderen Intellektuellen aus der Bewegung der Subalternen Studien vertreten wurde.
In den Diskussionen auf diesem Treffen wurde uns schnell klar, dass die Vorschläge und Diskussionslinien der postkolonialen Strömung aufgrund ihrer theoretischen und intellektuellen Bezüge die lateinamerikanischen Debatten nicht prägen konnten. Für die postkoloniale Schule waren die ausschließlichen theoretischen Bezüge immer noch Marx, Gramsci, Foucault, Lacan und Derrida, die auf die Untersuchung der Volksklassen Indiens in der postkolonialen Periode angewandt wurden. Das heißt, sie haben sich nicht mit dem Problem der epistemischen Dekolonisierung des Eurozentrismus oder der epistemischen Diversität der Welt auseinandergesetzt. Sie dachten weiterhin einzig und allein vom epistemischen Rassismus/Sexismus her, der alle westlich orientierten Universitäten kennzeichnet, in denen westliche Männer aus fünf Ländern (Deutschland, England, USA, Frankreich und Italien) in allen Disziplinen privilegiert sind.
Auch bei der Diskussion über die Moderne/Modernität stellte sich eine umgehende Distanz ein. Für die postkoloniale Strömung war die Moderne/Modernität nicht das Problem, sondern der Horizont, da sie zu intellektuellen Strömungen mit einer starken eurozentrischen Komponente gehörten, vor allem zur französischen Philosophie. Dieses erste Treffen markierte einen Tempowechsel in den Debatten, der uns schnell von der postkolonialen Strömung und den Subalternisten Indiens abbrachte.
Das zweite Treffen fand einen Monat später, im Dezember 1998, im Fernand Braudel Center in Binghamton statt und wurde von mir als Professor des Fachbereichs Soziologie zusammen mit einigen Doktoranden organisiert. Bei diesem zweiten Treffen brachten wir drei Konzepte von drei verschiedenen Autoren miteinander ins Gespräch: Wallersteins Idee des Historischen Kapitalismus, Quijanos Kolonialität der Macht und Dussels Transmoderne. Drei Tage lang diskutierten wir mit Wallerstein, Quijano und Dussel über das Verhältnis zwischen diesen drei Konzepten, mit Präsentationen der Autoren und intensiven Diskussionen an verschiedenen Tischen und Workshops.
Die erste Zäsur, die sich bei diesem Treffen ergab, betraf Wallersteins Lesart der Moderne. Für ihn begann die Moderne im 18. Jahrhundert mit der Französischen Revolution, was in krassem Gegensatz zu Dussels Vorstellung stand, dass die Moderne im Jahr 1492 mit der kolonialen Expansion der spanischen Krone in die Amerikas begann. Daher drehten sich bei diesem Treffen die wesentlichen Elemente, die die Debatten über Modernität/Kolonialität ausmachen sollten, um die kolonialen Bedingungen des modernen Weltsystems, das nach 1492 Gestalt annahm.
Zu dieser Zeit arbeitete ich in Boston, und ab 2001 in Berkeley. Von diesen beiden Orten aus widmete ich mich der Organisation eines jährlichen Kongresses zu den Themen, die sich bereits in einer ganzen Reihe von lateinamerikanischen intellektuellen Debatten konsolidiert hatten. Diese Reihe von Kongressen begründete das Netzwerk, das als Netzwerk Modernität/Kolonialität bekannt wurde.
Javier García Fernández: Nun, du selbst bist eine der Referenzen dieser Strömung des dekolonialen Denkens. In vielerlei Hinsicht ist sie eine der letzten großen intellektuellen, theoretischen und akademischen Strömungen des lateinamerikanischen Denkens. Für diejenigen, die diese Strömung nicht genau kennen: Was sind deiner Meinung nach die wichtigsten Beiträge der dekolonialen Theorie und des dekolonialen Denkens, die von dir und anderen Personen des Netzwerks im Bereich der zeitgenössischen Sozialwissenschaften entwickelt wurden?
Ramón Grosfoguel: Nun, diese Frage erfordert eine sehr lange Antwort. Ich habe viele Texte, Videos und Interviews zu diesem Thema herausgebracht, aber um dir eine kurze und schnelle Antwort zu geben, würde ich sagen, dass sich die wesentlichen Beiträge dieser Strömung auf mehrere Bereiche verteilen lassen.
Erstens versuche ich in meiner Arbeit seit Jahrzehnten, eine notwendige Dekolonisierung der Paradigmen der politischen Ökonomie zu entwickeln, indem ich eine Kartographie der Macht des Weltsystems identifiziere, die viel weiter gefasst ist als zwei oder drei Hierarchien, das heißt, eine neue Kartographie der Macht, in der ich bis zu fünfzehn globale Hierarchien der Herrschaft identifiziere. Diese dekolonisierende Wende, wie auch andere, ist nur möglich, wenn man eine Wende in der Geographie der Vernunft vollzieht, das heißt, wenn man Europa hereinkommen (llegando) und nicht nur hinausgehen (saliendo) sieht.
Dies war eine der großen Diskussionen mit Wallerstein und Arrighi. Sie sahen in dem neuen kapitalistischen Weltsystem ein neues, im Wesentlichen ökonomisches Modell der Akkumulation: den Kapitalismus. Wenn ich sie nach den anderen Machthierarchien, wie die kultureller, religiöser, patriarchalischer, rassischer, epistemischer Natur usw., fragte, antworteten sie immer, dass diese in Europa bereits existierten und dass das Neue die Logik der Kapitalakkumulation sei.
Das ist der große Irrtum des Eurozentrismus, die lokale Geschichte Europas als Weltgeschichte zu betrachten, das heißt, anzunehmen, dass das, was in Europa geschah, überall geschah. Aber wenn man Europa hereinkommen sieht, von der anderen Seite der Geographie der Vernunft aus, aus der Erfahrung der kolonisierten Völker, zum Beispiel aus der Erfahrung der indigenen Völker der Amerikas oder der afrikanischen Bevölkerung oder aus der Erfahrung in der arabisch-muslimischen Welt, dann sieht man ein zivilisatorisches System, das sich nicht in der Ökonomie erschöpft, sondern auch rassistisch, patriarchalisch, christozentrisch, eurozentrisch, ökozidal ist, ein System mit konkreten Formen politischer Autorität, das heißt, eine Vielzahl von Herrschaftshierarchien, die eine Zivilisation ausmachen.
Aber um dies zu erkennen, muss man eine dekoloniale Wende in der Epistemologie vollziehen. Wenn man anfängt, denselben Prozess der kolonialen Expansion von der Seite der Kolonisierten aus zu betrachten, nimmt man all diese zivilisatorischen Veränderungen wahr. Betrachtet man jedoch den gesamten Prozess von der Seite des Eroberers aus, wird nur die Logik der Kapitalakkumulation als neu wahrgenommen, wobei fälschlicherweise angenommen wird, dass alle anderen Elemente des zivilisatorischen Systems überall auf der Welt existierten, weil sie in Europa bereits vorhanden waren. Wenn all diese Elemente wie Feudalismus, Christentum, Rassismus und Patriarchat in Europa als konkrete soziale und ökonomische Formationen existierten und nicht im Rest der Welt, muss man dies in seinem theoretischen und epistemologischen Bezugsrahmen berücksichtigen, ansonsten verfällt man in den schlimmsten Irrtum des Eurozentrismus, der darin besteht, das, was in Europa geschieht, als universal zu betrachten, nur weil man in Europa die Geschichte eines Teils von Europa als Weltgeschichte betrachtet.
Um nicht in diesen Eurozentrismus zu verfallen, muss man daher eine andere Konzeptualisierung vornehmen, die all die neuen Herrschaftshierarchien sichtbar macht, die vor der Ankunft der Europäer nicht existierten und mit dem zivilisatorischen Paket der kolonialen westlichen Expansion einhergingen, die bisher geleugnet und unsichtbar gemacht wurden, da die eurozentrischen Theorien sie zu Universalien naturalisiert hatten.
Deshalb antworteten Wallerstein und Arrighi auf meine Frage, dass das einzig Neue, das in dem durch die europäische koloniale Expansion nach 1492 geschaffenen System auftaucht, ein Wirtschaftssystem der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab sei. Damit rechtfertigten sie die Theoretisierung des Weltsystems als Wirtschaftssystem und die Nichtberücksichtigung anderer Herrschaftshierarchien als zentraler und wesentlicher Bestandteil dieses Systems, da diese ihrer Meinung nach nicht neu seien, da sie bereits im mittelalterlichen Europa existierten.
Wenn diese Hierarchien jedoch außerhalb Europas nicht existierten und der Prozess der kolonialen Expansion sie auf andere Teile der Welt, in denen diese Hierarchien nicht existierten, ausdehnte, dann müssen sie logischerweise als Teil der Hierarchien begriffen werden, die das nach 1492 geschaffene Weltsystem ausmachen. Daher habe ich mich daran gemacht, fünfzehn Hierarchien der Herrschaft zu identifizieren, die inhärenter und konstitutiver Bestandteil des Weltsystems sind.
Ein weiterer zentraler Beitrag der dekolonialen Strömung bestand darin, Kolonialismus, Rassismus und Macht als eine globale historisch-strukturelle Dimension zu begreifen, die Quijano als Kolonialität der Macht bezeichnete, mit der sich aber andere Autoren bereits viele Jahre vor Quijano unter anderen konzeptionellen Rahmenbedingungen wie dem modernen Weltsystem, dem globalen System, dem internen Kolonialismus oder dem rassischen Kapitalismus befasst hatten.
Wie ich an anderer Stelle bereits betont habe, ging Quijano bei seiner Theoretisierung des Kapitalismus von einer sehr viel stärker auf die Staaten und die Dependenztheorie zentrierten Sichtweise aus, zumindest bis er in Binghamton mit Robinsons Studenten und den Theoretikern des schwarzen Marxismus ins Gespräch kam. Von da an begann er, die globale rassische Dimension in seine Theorie des Kapitalismus miteinzubeziehen, wenngleich das eine Hypothese darstellte, an der viele Autoren gearbeitet hatten und die auf dieselbe politische Situation und dieselbe theoretische Reflexion reagierte, die damit zu tun hatte, dass die Macht weiterhin einen kolonialen Charakter hatte, obwohl die kolonialen Verwaltungen in Lateinamerika, von einigen Ausnahmen abgesehen, vor Jahrhunderten überwunden worden waren.
Diese Diskussion war dieselbe, die auch in Puerto Rico geführt wurde, als wir mit der Frage konfrontiert wurden: Was bedeutet Dekolonisierung? Nach dem Scheitern aller Erfahrungen der Dekolonisierung und angesichts der verschiedenen Arten des Status, die in der Karibik existierten, waren wir gezwungen, nach einer anderen Theorie der Kolonisierung und Dekolonisierung zu suchen.
Die dekoloniale Theorie ermöglicht es uns, die Kontinuitäten der kolonialen Geschichte zu verstehen und zu erkennen, dass die Unabhängigkeiten in Lateinamerika zutiefst koloniale Unabhängigkeiten waren, da sie keine Prozesse der Dekolonisierung darstellten, sondern vielmehr die systemische und strukturelle Abhängigkeit dieser Länder von den Ländern des Nordens aufrechterhielten und auch nicht die sozialen Strukturen innerhalb der Länder dekolonisierten, die rassisch, ethnisch und patriarchalisch geprägt waren. Die Unabhängigkeiten waren lediglich Prozesse, durch die die weiße kreolische Elite die Macht übernahm, nun unter der Rechtsformel einer abhängigen unabhängigen Republik.
Ein weiterer wichtiger Beitrag der dekolonialen Perspektive stammt von Maldonado-Torres: die Kolonialität des Seins, das heißt, die Kolonialität derjenigen, deren Menschlichkeit nicht anerkannt wird, derjenigen, die entmenschlicht werden. Es geht um eroberte Gesellschaften, die nicht als Menschen anerkannt werden, sondern vielmehr als Menschen ohne Seele oder Menschen ohne menschliche DNA angesehen werden. Dies ist eine Unterscheidung geistigen und existenziellen Charakters, die die gesamte rassistische Entwicklung der kolonialen Moderne gegenüber der indigenen Bevölkerung und der schwarzen und islamischen Bevölkerung in der Welt prägt.
Ein zentraler Beitrag der dekolonialen Theorie wird zweifelsohne auch die so genannte Kolonialität des Geschlechts im Rahmen der Debatte um die so genannten dekolonialen Feminismen sein. Die Kolonialität des Geschlechts ist ein Beitrag von María Lugones, der uns verstehen lässt, dass das Geschlecht eine der Achsen der Hierarchie der globalen Herrschaft darstellt. Die Theoretikerinnen des dekolonialen Feminismus haben dargelegt, dass die Konstruktion der Kategorie des Geschlechts eine weitere koloniale Aufzwingung der Reorganisation der gemeinschaftlichen Beziehungen war und dass sie nicht zu den Formen der sozialen Beziehungen vor der Ankunft der Europäer in Afrika oder Lateinamerika passte. Zu nennen sind die Werke von Sylvia Marcos für Mittelamerika und Oyeronke Oyewumi für Westafrika.
Die Anerkennung der epistemischen Diversität wird ein weiterer wichtiger Beitrag der dekolonialen Perspektive im Lichte der Dusselschen Transmoderne sein: die Anerkennung, dass es nicht bloß eine einzige Epistemologie in der Welt gibt, sondern dass diverse Epistemologien existieren und dass es verschiedene Antworten auf ein und dasselbe Problem geben kann. Dies führt uns vom Uni-versalismus zum Pluri-versalismus, das heißt, zur Anerkennung verschiedener Arten des Denkens, des Seins und des In-der-Welt-Seins. Wir können einen negativen Universalismus verfolgen, das heißt, wir können herausfinden und definieren, womit wir es zu tun haben, aber immer mit Respekt für die Diversität der Lösungen, die wir für dasselbe Problem vorschlagen.
Zusammenfassend würde ich sagen, dass die große Transformation der Sozial- und Geisteswissenschaften aus dekolonialer Perspektive darin bestand, zu verstehen, dass dekoloniales Denken auch ein politisches Projekt ist, nicht nur ein intellektuelles Projekt. Es ist ein intellektuelles Projekt, das einem politischen Projekt der Transformation der Welt untergeordnet ist, einer dekolonisierenden Transformation der Welt.
Was wir bisher gesehen haben, ist, dass wir keine eurozentrischen Paradigmen mehr brauchen, auch wenn es sich um jene der radikalen Linken handelt. Diese eurozentrischen Paradigmen der radikalen Linken sind in den Prämissen und Voraussetzungen des Systems gefangen, das sie zu transformieren beabsichtigen. Die Moderne ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern auch ein zivilisatorisches System. In diesem Sinne denke ich, dass wir den zapatistischen Leitsatz mit einer neuen Bedeutung versehen sollten: „wir wollen eine Welt, in der andere Welten möglich sind und diese Welt unmöglich ist“.
Javier García Fernández: Du hast uns von den beiden Treffen erzählt, die in den Monaten Oktober und Dezember 1998 stattgefunden haben. Es sind bereits zwei Jahrzehnte vergangen, seitdem das dekoloniale Denken und die Perspektive der Kolonialität entworfen und konkretisiert worden ist. Es waren zwanzig Jahre voller Begegnungen, Debatten, Veröffentlichungen, wissenschaftlicher Arbeiten, aber auch politischer Interventionen, Konfrontationen, Öffnungen und Brüche. Die lateinamerikanische politische Situation hat ebenfalls tiefgreifende Transformationen durchlaufen, ein neues verlorenes Jahrzehnt ist wieder eingetreten, fortschrittliche Regierungen sind in Brasilien, Argentinien und Ecuador abgewählt worden, die Lage in Venezuela war in den letzten Jahren sehr schwierig, und die Denker der dekolonialen Theorie haben sich in vielen Richtungen politisch eingemischt sowie divergierende und zu bestimmten Zeitpunkten sogar antagonistische Positionen eingenommen. Wie ist der aktuelle Stand des dekolonialen Denkens auf der lateinamerikanischen politischen Bühne?
Ramón Grosfoguel: Nun, ich denke, das Netzwerk hat sich aufgrund der politischen Situation in Venezuela zutiefst gespalten, aber das war nur ein Symptom. Das Problem war nicht Venezuela an sich, sondern Venezuela war vielmehr das Symptom anderer Probleme. Es hatte damit zu tun, wie wir Politik verstehen.
Es gibt diejenigen unter uns, die sich politisch engagieren und soziale und politische Bewegungen unterstützen, die möglicherweise einen Platz innerhalb des Staates einnehmen oder auch nicht, und es gibt diejenigen, die prinzipiell antistaatlich sind und nichts unterstützen, was über den Staat läuft, was in einer drastischen Entpolitisierung endet und manchmal, wie im Fall Venezuelas, auf der Seite des Imperialismus gegen Venezuela endet.
Diese Spannung war zwischen Dussel und Quijano immer vorhanden. Quijano war immer Anarchist, seine Prinzipien bestanden darin, nicht mit dem Staat zusammenzuarbeiten, während Dussel immer eine eher politische Vision hatte, die ihn manchmal dazu brachte, mit politischen Organisationen mit einer gewissen Präsenz im Staat zusammenzuarbeiten, und manchmal nicht, je nach dem Kontext. Diese Spannung entlud sich in der politischen Krise in Venezuela durch Quijanos Vision, die aberwitzig antistaatlich war und in der jede Intervention in die Sphäre des Staates von vornherein als reaktionär oder rechtsextrem angesehen wurde. Angesichts einer solchen Vision wurden natürlich alle Projekte der Linken, die sich der Institutionen bedienten, um die Realität zu transformieren, mit Misstrauen aufgenommen.
Dies bringt mich zurück zu einer libertären und liberalen Vision der Politik, in der, wie Dussel sagt, Individuen, die sich zu nichts verpflichten, keine Widersprüche empfinden, aber auch nicht die Welt transformieren. Hinter der ultraradikalen Rhetorik ist man genauso reaktionär wie die Rechten, man ist genauso mit dem Status quo versöhnt wie die Rechten. Das war eine Kritik, die Dussel immer wieder vorgebracht hat.
Auf der anderen Seite gab es innerhalb der dekolonialen Strömung eine postmoderne Tendenz, die nie verstanden hat, was Imperialismus ist, die geglaubt hat, dass der Imperialismus etwas Äußerliches ist, und die nie verstanden hat, dass der Imperialismus die lateinamerikanischen Gesellschaften von innen heraus zutiefst durchdringt. Deshalb haben sie, als es darum ging, die politische Situation in Venezuela einzuschätzen, alle Probleme auf Nicolás Maduro geschoben und dabei ebendie Begrifflichkeiten und Argumente des Imperialismus verwendet. Das heißt, sie wiederholten das Mantra der imperialistischen Presse, dass die Probleme der venezolanischen Gesellschaft durch eine autoritäre, korrupte Regierung verursacht würden, und wiesen auf Maduro als Ursache für das Leiden der Venezolaner hin. Diese Tendenz hat nie verstanden, dass der Imperialismus schon lange vor den Sanktionen einen ökonomischen und militärischen Krieg gegen Venezuela geführt hat und dass dieser Wirtschaftskrieg in einer Hyperinflation zum Ausdruck kommt, die die Menschen leiden lässt und die darauf abzielt, die allgemeine Unzufriedenheit auf die Regierung umzulenken, die das Imperium stürzen will.
Diese Mechanismen des Imperialismus sind sehr alt. Sie wurden gegen Allende in Chile eingesetzt und vor kurzem beim Putsch in Ägypten gegen die Muslimbrüder, der die blutige Militärdiktatur von as-Sisi an die Macht brachte. Was war geschehen? Es gab eine zahlreiche Fraktion der dekolonialen Strömung, die die Prämissen der Antistaatlichkeit von Quijano übernahm und von dort aus eine großtönende Kritik an der Regierung von Nicolás Maduro lancierte, die eine antiimperialistische, demokratische Regierung ist, die die kommunale Macht und viele Transformationen im ganzen Land förderte, mit all ihren Widersprüchen, mit all ihren Problemen und Konflikten. Diese Fraktion der Intellektuellen macht Maduro für alle Übel der venezolanischen Gesellschaft verantwortlich und versteht nicht, dass die Krise in Venezuela im Grunde eine direkte Folge der Hyperinflation, der Blockade und der Sanktionen ist, die vom Imperialismus zur Zerstörung des bolivarischen chavistischen Projekts eingesetzt werden.
Aber in diesem Sinne ist diese Spannung nicht nur in Venezuela zu beobachten. In Mexiko zum Beispiel haben Dussel und Karina Ochoa [den jetzigen Präsidenten Mexikos] Andrés Manuel López Obrador unterstützt, und in Kolumbien hat Santiago Castro-Gómez [den jetzigen Präsidenten Kolumbiens] Gustavo Petro unterstützt. In Portugal hat Boaventura de Sousa Santos die linke Koalitionsregierung der Sozialisten mit Unterstützung des Bloco de Esquerda (Linksblock) und der Kommunisten unterstützt. Politik bedeutet auch, sich zu positionieren, den Kontext zu berücksichtigen und die Prozesse, die in den verschiedenen Ländern ablaufen, zu unterstützen.
Die venezolanische Frage war das Szenario, in dem sich die Spannungen mit dem Imperium am gewaltsamsten entluden, aber die Spaltung der dekolonialen Netzwerke und der Linken war im gesamten lateinamerikanischen Kontext allgemeiner und struktureller Natur. Deshalb ziehe ich es heute vor, mich als „dekolonialer Antiimperialist“ zu bezeichnen. Ich habe immer gedacht, dass diese Bezeichnung überflüssig ist, weil das Dekoloniale den Antiimperialismus bereits in sich trägt. Als jemand, der aus einer antiimperialistischen Militanz in Puerto Rico kommt, war das für mich immer selbstverständlich. Aber nachdem ich gesehen habe, wie Leute, die sich selbst als dekolonial bezeichnen, inmitten der Aggressionen des US-Imperialismus in Venezuela und Bolivien Partei für den Imperialismus ergriffen haben, sehe ich es als unbedingt nötig an, mich als dekolonialer Antiimperialist zu bezeichnen, um mich von diesen anderen „dekolonialen Pro-Imperialisten“ oder „dekolonialen Kolonialisten“ zu unterscheiden.
Javier García Fernández: Gut, in diesem Kontext, den du zeichnest: Wie siehst du die Zukunftsperspektiven des dekolonialen Denkens? Was siehst du als die kommenden Szenarien der Zukunft?
Ramón Grosfoguel: Ich sehe eine Annäherung in der Verbindung von Dekolonialität und Marxismus. Das heißt, ich sehe, dass die Leute, die nicht vom Marxismus kommen, sondern die das Dekoloniale von eher kulturalistischen und weniger ökonomischen und strukturellen Positionen aus entwickelt haben, fast immer diejenigen sind, die in diesen entpolitisierten, problematischen Positionen landen, die mit dem imperialistischen Herrschaftssystem im Namen einer Hyperradikalität versöhnt sind, was man so nicht erwartet hätte. Ich sehe, dass es in diesem historischen Moment eine Rückkehr zu einer stärker marxistisch verwurzelten Dekolonialität gibt, vor allem bei denjenigen von uns, die mehr in marxistischem Denken ausgebildet wurden und die, obwohl wir mit dem eurozentrischen Marxismus gebrochen haben, weiterhin das Denken von Marx und antiimperialistische Positionen wiederbeleben. Heute nehme ich mehr Wesensverwandtschaft mit marxistischen und antiimperialistischen Positionen wahr als mit diesen dekolonialen Tendenzen, die eine entpolitisierte kulturalistische Kritik üben und diese Kritik von postmodernen Positionen aus vorbringen, die nicht in der politischen Ökonomie oder der antiimperialistischen Kritik verortet sind. Ich habe immer gesagt, dass nicht jeder Antiimperialist dekolonial ist, aber jeder Dekoloniale sollte in erster Linie Antiimperialist sein. Von welcher Dekolonialität ist die Rede, wenn man in Venezuela die Regierung von Nicolás Maduro mit denselben Argumenten und derselben Denkweise angreift wie die imperialistische Rechte?
Ich glaube, dass der dekoloniale Marxismus in dieser neuen Konjunktur stark im Kommen ist. Ich habe gerade eine Sonderausgabe über schwarzen Marxismus in diesem Sinne herausgegeben. Dussel hat außerdem fünf Bände einer dekolonialen Lektüre des Marxschen Werks vorgelegt, das heißt einer nicht-eurozentrischen Lektüre der Marxschen Thesen. Es scheint mir von grundlegender Bedeutung zu sein, nicht das gesamte Werk von Marx und die gesamte Tradition des Antiimperialismus über Bord zu werfen. Darin sehe ich die Zukunft des dekolonialen Denkens, eines dekolonialen, kämpferischen, antiimperialistischen und antisystemischen Denkens, im Gegensatz zur liberalen Vision der Politik.
Javier García Fernández: Im Jahr 2012 hat sich eine ganze Reihe von dekolonialen Intellektuellen in Europa wie Arzu Merali von der Islamic Human Rights Commission (Islamische Menschenrechtskommission), Dew Baboeram von der Bewegung der Schwarzen Niederländer (Black Dutch Movement), Houria Bouteldja und andere Mitglieder der Parti des indigènes de la république (Partei der Indigenen/Eingeborenen der Republik), Montserrat Galcerán Huguet und Heriberto Cairo Carou, und wir, als Mitglieder der Studiengruppe des Sindicato Andaluz de Trabajadores/as (Andalusische Arbeiter/innen-Syndikat), als Initiatoren des European Decolonial Network (Europäisches Dekoloniales Netzwerk), das jetzt International Decolonial Network (Internationales Dekoloniales Netzwerk) heißt, in Madrid getroffen, um ebenjenes European Decolonial Network zu gründen. 2016 fand in Santiago de Compostela das von Xosé Manuel Beiras, Lidia Senra sowie anderen Mitstreitern und Mitstreiterinnen der galicischen nationalistischen Bewegung und dir selbst organisierte I Encuentro da Historia da Europa Decolonial e da Europa dos Povos sin Estado (Erste Begegnung mit der Geschichte des dekolonialen Europas und des Europas staatenloser Völker) statt, an dem alle Mitglieder dieses Netzwerks zusammen mit Boaventura de Sousa Santos teilnahmen, zudem Mitglieder der Candidatura d’Unitat Popular (Kandidatur der Volkseinheit, CUP) Kataloniens, wie Anna Gabriel und Quim Arrufat, sowie Mitglieder des Sindicato Andaluz de Trabajadores/as, wie Nestor Salvador und ich. Seit mehreren Jahren ist deine politische Intervention im spanischen Staat und vor allem im katalanischen Unabhängigkeitsprozess von dem Wunsch geprägt, ein politisches Bündnis zwischen den rassialisierten Subjekten/Untertanen des spanischen Staates und den politischen Bewegungen der unterdrückten Nationen in Europa als Opfer des Imperialismus und des inneren Kolonialismus in Europa herbeizuführen. Worin besteht das politische Potenzial dieses dekolonialen Bündnisses in Europa?
Ramón Grosfoguel: Seit vielen Jahrzehnten führen die sozialen Bewegungen der rassialisierten Subjekte/Untertanen in Europa Kämpfe und Bestrebungen für die Dekolonisierung Europas und gegen Rassismus und Islamophobie. Diese Bewegungen sind in den europäischen Staaten aufgrund des schrecklichen Rassismus und der Xenophobie, die es in Europa sowohl auf Seiten der Linken als auch auf Seiten der Rechten gibt, sehr erschwerten Bedingungen ausgesetzt. Das hat dazu geführt, dass diese Arbeit keineswegs einfach war. Es gab viele Erfolge im Hinblick auf die Mobilisierung und den Kampf für die Rechte rassialisierter Subjekte/Untertanen, aber im Allgemeinen ist es ein Kampf unter sehr aggressiven und harten Bedingungen.
Die Frage ist: Wie kann ein strategisches Bündnis erreicht werden, das diese rassialisierten und in antirassistischen Kämpfen organisierten Subjekte/Untertanen mit anderen Teilen der sozialen Bewegungen in Europa verbindet?
Wir haben festgestellt, dass ein solches Bündnis mit den staatlichen Linken des spanischen, französischen, britischen oder niederländischen Staates nicht möglich war. Die europäische Linke teilt im Allgemeinen die gleichen epistemologischen, rassistischen und eurozentrischen Prämissen wie der Rest der politischen Subjekte/Untertanen. Rassismus war und ist in allen europäischen Gesellschaften und auch im Umfeld der sozialen Bewegungen strukturell vorhanden. Was dabei herauskommt, ist, dass es in Europa eine ganze Reihe von antikolonialen und antiimperialistischen Kämpfen der unterdrückten Nationen innerhalb Europas gibt – damit meine ich die nationalistischen Bewegungen der Linken sowie die souveränistischen und popularen Bewegungen der unterdrückten Nationen, die ein enormes dekoloniales Potenzial haben.
Dies hat mich dazu veranlasst, für einen Raum des Dialogs, des gemeinsamen Engagements und der Vernetzung zwischen antikolonialen und antiimperialistischen Kämpfen, den popularen Kämpfen für die Souveränität unterdrückter Nationen und den dekolonialen antirassistischen Kämpfen, die sich gegen den Staat in denselben Gesellschaften richten, zu plädieren.
Ich erachte dieses Bündnis als wesentlich für die Dekolonisierung Europas, denn es handelt sich um Kämpfe, die im Moment parallel laufen, die nicht miteinander verknüpft sind, die aber miteinander verknüpft werden müssen.
Das Bündnis zwischen den dekolonialen Kämpfen der rassialisierten Subjekte/Untertanen, der Migranten, die sich in Europa als Fortsetzung der kolonialen Geschichte in Algerien, Marokko, Tunesien, Ecuador, Bolivien, Senegal, Indien, Pakistan, der Region der Karibik und anderen Ländern befinden, und den Kämpfen der Nationen ohne Souveränität, die in der Entwicklung der westeuropäischen Moderne von den hegemonialen Staaten Europas untergeordnet und beherrscht wurden, ist strategischer Natur. Die Zukunft der Dekolonisierung Europas liegt in einem strategischen Bündnis zwischen den migrantischen Subjekten/Untertanen der Kolonialgeschichte, den rassialisierten Subjekten/Untertanen wie den Roma, den schwarzen Kariben und Afrikanern, den Muslimen aus der ganzen Welt und den Subjekten/Untertanen der Nationen ohne Staat, sofern priorisiert und sichergestellt wird, dass dieses Bündnis ohne Unterordnung besteht und dass niemand die Agenda des anderen unterminiert.
Ich sehe ein enormes Potenzial in diesem gemeinsamen Kampf, der auf die Dekolonisierung der metropolitanen Räume gerichtet ist. Ich sehe auch ein Potenzial darin, dass diese souveränistischen Linken der Nationen ohne Staat für die dekoloniale Wende sensibilisiert sind, was nicht heißt, dass sie ihrem Wesen nach dekolonial ausgerichtet sind, aber ich sehe das Potenzial für die Schaffung politischer Subjekte, die diese beiden Agenden der dekolonialen antirassistischen Kämpfe und der antiimperialistischen Kämpfe der Nationen ohne Souveränität in sich vereinen.
Damit dies geschehen kann, müssen die souveränistischen Bewegungen der Nationen ohne Souveränität in Europa erkennen und verstehen, dass dieselben unterdrückten Nationen zur gleichen Zeit, in der sie gegen einen Staat kämpfen, der sie unterdrückt, andere rassialisierte Subjekte/Untertanen unterdrücken, die im Inneren der Nation leben, die sie befreien wollen, und die ebenso unter Rassismus, polizeilicher Aggression und rassischer Herrschaft innerhalb ihrer eigenen Nation leiden, auch wenn sie selbst eine unterdrückte Nation sind.
Als unterdrückte Nation kann man sich nicht von der Herrschaft des spanischen imperialen Staates befreien, ohne seinerseits seine eigenen internen Kolonialitäten gegen die schwarze, „zigeunerische“ (gitanas) oder muslimische Bevölkerung zu bekämpfen, die nicht nur vom spanischen Staat, sondern auch von der unterdrückten Nation ohne Souveränität unterdrückt wird. Ebenso können sich die rassisch inferiorisierten Subjekte/Untertanen nicht vom Rassismus befreien, ohne einen antiimperialistischen Horizont zu entwickeln, der politische Bündnisse mit Nationen ohne Souveränität gegen den spanischen imperialen Staat einschließt, um Projekte der anti-systemischen Befreiung zu schaffen.
Wenn die Nationen ohne Souveränität weiterhin gegen die spanische Herrschaft kämpfen, ohne ihre eigene Kolonialität anzuerkennen, werden sie Spanien in ihrem zukünftigen republikanischen Staat reproduzieren. Und wenn rassisch inferiorisierte Subjekte/Untertanen im antirassistischen Kampf verbleiben, ohne ein spanisches antiimperialistisches politisches Projekt und die entsprechenden politischen Bündnisse zu entwickeln, wird der institutionelle Rassismus niemals überwunden und die antirassistischen Forderungen bezwungen werden. In diesem Fall wird der Antirassismus immer vom imperialen Staat vereinnahmt und erstickt werden.
Das strategische Bündnis ist der antiimperialistische Dekolonisierungskampf der Nationen ohne Souveränität und der aus der Kolonialgeschichte hervorgehenden Subjekte/Untertanen, die heute als rassisch inferiorisiert gelten.
Javier García Fernández: Nun, Ramón, an dieser Stelle möchte ich dir die letzte Frage dieses Interviews stellen: Was bedeutet es, Europa zu dekolonisieren?
Ramón Grosfoguel: Europa zu dekolonisieren, würde bedeuten, das real existierende Europa zu zerstören, das imperialistische, kapitalistische, kolonialistische und patriarchalische Europa. Diese Dekolonisierung wäre die dekoloniale Transformation Europas hin zu einem anderen Europa, das jenseits jenes zivilisatorischen Projekts liegt, von dem wir sagen, dass es 1492 begann, von dem wir aber wissen, dass es schon viel früher mit der Eroberung von al-Andalus begann.
Damit es dazu kommen kann, muss zunächst eine Dekolonisierung der peripheren Nationalismen selbst stattfinden, das heißt, die Nationalismen der Nationen ohne Souveränität müssen den kritischen Blick auch nach innen richten und die Kolonialismen, die sie ausüben, revidieren und nicht nur diejenigen, die sie erleiden. Es kann nicht sein, dass man gegen Spanien kämpft, bloß um einen anderen Nationalstaat zu schaffen, eine andere Fiktion, die den anderen das antut, was Spanien einem selbst angetan hat.
Der Ausweg ist eine Dekolonisierung der politischen Projekte der Befreiung der Nationen ohne Staat, für die man ein Konzept des Staates und der Republik jenseits der eurozentrischen Republik nach französischem Vorbild entwickeln muss. Dafür muss es einen Prozess der Dekolonisierung im Innern des eigenen Hauses geben.
Deshalb sage ich, dass es Potenzial für ein dekoloniales Bündnis gibt, wenngleich es Schritte der Dekolonisierung der eigenen politischen Projekte geben muss, jener souveränistischen Bewegungen, die die Schaffung eines dekolonisierenden politischen Subjekts im Innern Europas ermöglichen. Diese Veränderungen müssen von einer Offenheit in den antirassistischen Bewegungen begleitet werden, mit diesen souveränistischen und popularen Bewegungen zusammenzuarbeiten; gerade darin sehe ich das Potenzial dieser beiden Kämpfe, die sich getrennt voneinander gegen die Kolonialität des Staates richten und die die Matrix eines gemeinsamen Feindes teilen, und darin erkenne ich, dass ein sehr fruchtbares strategisches Bündnis entstehen kann, wenn die entsprechenden dekolonialen Wendungen auf beiden Seiten vollzogen werden. Eine jede Seite wird isoliert von der anderen nicht sehr weit kommen.
Um dieses strategische Bündnis zu erreichen, müssen sich einerseits die antirassistischen Bewegungen von dem durch die Identitätspolitik erzeugten Sektierertum und andererseits die souveränistischen Bewegungen von ihrem eigenen Rassismus, Eurozentrismus und internen Kolonialismus dekolonisieren.
Literatur
Nkrumah, Kwame, Neo-Colonialism, the Last Stage of Imperialism, Thomas Nelson & Sons, London, 1965.
1Anm. d. Übers.: Der Albaicín ist das älteste Stadtviertel von Granada in Andalusien.
2Kwame Nkrumah, Neo-Colonialism, the Last Stage of Imperialism, Thomas Nelson & Sons, London, 1965.
3Guagua aérea ist die umgangssprachliche Bezeichnung für den Luftverkehr, der Puerto Rico mit den USA verbindet. Guagua ist die volkstümliche Bezeichnung für den Bus des öffentlichen Verkehrssystems.
4Biljmerbus ist die umgangssprachliche Bezeichnung für den Flugverkehr zwischen den niederländischen Karibikinseln und den Großstädten der Niederlande. Biljmer ist das Ghetto der Afrokariben von den niederländischen Inseln in Amsterdam.
5Nuyorican ist eine gängige Bezeichnung für Menschen puertoricanischer Herkunft, die in New York City leben, einschließlich der dort Geborenen.
6Negropolitan ist die Bezeichnung für die migrantische Bevölkerung afrokaribischer Herkunft, die in den Metropolen des kontinentalen Frankreichs leben.
7Die Boricua-Volksarmee (Ejército Popular Boricua) – auch Los Macheteros genannt – war eine politische und militärische Organisation zur Verteidigung der puertoricanischen Unabhängigkeit mit Sitz in Puerto Rico, den USA und anderen karibischen Ländern. In den 1970er und 1980er Jahren entwickelte das FBI eine Politik der Aufstandsbekämpfung, indem es die EPB-Macheteros zu einer terroristischen Organisation erklärte und massive Verhaftungen durchführte, die die Organisation praktisch auslöschten. In einem Hinterhalt ermordete das FBI im Jahr 2005 Filiberto Ojeda Ríos, der Anführer und maßgeblicher Ideologe der EPB-Macheteros gewesen war.