Ibn Sīnā (gest. 428/1037) hatte ein ausgearbeitetes philosophisches System hinterlassen, das viele für den Gipfelpunkt der Philosophie hielten, das alle vergangene Philosophie zugleich in sich enthielt und übertraf. Von diesem Denken ging auch eine gewisse Anziehungskraft für manche sunnitische Kreise aus, die sich nicht nur von seiner besonders ausgefeilten Methode der Darstellung beeindrucken ließen, sondern auch von der darin enthaltenen Behandlung vieler theologischer und religiöser Themen angesprochen fühlten, die sich mit den im Kalām erörterten Fragen überschnitten, wie etwa Gott, Jenseits, Vorherbestimmung, Prophetentum, Offenbarung usw.
Die Anschauungen von Ibn Sīnā und allgemeiner der falāsifa (Philosophen), zu denen neben Ibn Sīnā beispielsweise auch dessen Vorgänger al-Kindī und al-Farābī gehörten, fanden in al-Ghazālī einen scharfen Kritiker. Er schreibt in seinem Tahāfut al-falāsifa (Inkohärenz der Philosophen):
Die Absicht ist, diejenigen zu warnen, die gut von den falāsifa denken und meinen, dass ihre Verfahrensweisen frei von Widerspruch sind, indem wir die Aspekte ihrer Inkohärenz (tahāfut) aufdecken. Und deshalb werde ich mich nur insofern auf die Auseinandersetzung mit ihnen einlassen, als es für eine Bestreitung erforderlich ist, nicht um Behauptungen und Thesen aufzustellen. Ich werde das, woran sie glauben, als dunkel und undurchsichtig erweisen, [indem ich] schlüssig [aufzeige], dass sie an verschiedenen Konsequenzen [ihrer Theorien] festhalten müssen. […] Ich werde mich nicht zur Verteidigung einer bestimmten Lehre aufschwingen.
Al-Ghazālī, The Incoherence of the Philosophers. A parallel English-Arabic text translated, introduced, and annotated by Michael E. Marmura, Provo, Utah, 1997, S. 7-8.
Diese ausschließlich kritische Verfahrensweise, der es nicht darum geht, eine eigene Lehre zu vertreten, lässt sich darauf zurückführen, dass al-Ghazālī den Tahāfut als ein Kalām-Werk betrachtet. Denn sie erfüllt eine der beiden wesentlichen Aufgaben, die er dem Kalām zuschreibt. Die erste Funktion besteht in der Verteidigung der islamischen Glaubenslehre durch die Widerlegung widersprechender Auffassungen. Und das ist offensichtlich die Absicht, die al-Ghazālī mit dem Tahāfut verfolgt.
Die zweite Funktion des Kalām sieht al-Ghazālī darin, die Zweifel und Unsicherheiten, die einfache Muslime wie auch Kalām-Gelehrte (mutakallimūn) befallen haben mögen, mittels verschiedener Argumente zu vertreiben. Diese Argumente können je nach Person und deren jeweiligen Bedürfnissen sehr unterschiedlich ausfallen. Ihre Tauglichkeit bemisst sich daran, ob der erstrebte Zweck, nämlich die Wiederherstellung eines festen Glaubens, damit erreicht werden kann. al-Ghazālī vergleicht sie daher mit einem Heilmittel, das einem Kranken verabreicht wird.
Shihadeh kommentiert:
So wird der mutakallim zu dem mehr oder weniger gleichen Punkt gelangen, an dem der durchschnittliche unkritische Nachahmer (muqallid) steht, nämlich zu bloßem Glauben (iʿtiqād) an die Wahrheit der formalen Ausdrücke der Lehren, welche die Glaubenslehre bilden. Nach al-Ghazālī kann die wirkliche und direkte positive Erkenntnis dessen, worauf sich diese doktrinellen Formulierungen beziehen, durch eine höhere Theologie gesucht werden, die »Wissenschaft der spirituellen Illumination« (ʿilm al-mukāschafa), in Verbindung mit spiritueller Disziplin. (Shihadeh, S. 143)
Ob diese Behauptungen hinsichtlich des »bloßen Glaubens« und der »höheren Theologie« tatsächlich zutreffen, wäre an den Texten al-Ghazālīs zu überprüfen. Diese Frage soll hier offen bleiben. Die für unseren Gedankengang wesentlichen Punkte dürften aber unstrittig sein.
Denn es geht aus al-Ghazālīs Zuschreibung der beiden Aufgaben an den Kalām klar hervor, dass er der Auffassung ist, dass auf den Kalām nur dann zurückgegriffen werden sollte, wenn Gegner oder Zweifel auftreten. Sonst ist der Kalām von geringem oder gar keinem Nutzen und sollte demnach gemieden werden. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Kalām nicht mehr als individuelle Pflicht (fardh ʿayn) gelten kann, sondern lediglich als kollektive Pflicht (fardh kifāya) unter der Voraussetzung, dass bestimmte Bedingungen eintreten, die seine Ausübung erforderlich erscheinen lassen.
Damit wird die Bedeutung des Kalām von al-Ghazālī stark abgeschwächt. Denn seine Vorgänger hatten dem Kalām neben der Widerlegung von Gegnern noch eine Aufgabe von größter Wichtigkeit zugeschrieben, nämlich die theoretische Begründung der Wahrheit der Offenbarung und des Glaubens selbst. Sie betrachteten dies auch als individuelle Pflicht jedes Muslim. Manche mutakallimūn gingen dabei sogar so weit, einen Glauben, der sich dieser rationalen Begründung nicht mit vollem Bewusstsein und Verständnis unterzogen hatte, nicht anzuerkennen, mit allen Konsequenzen bis hin zum Ausschluss aus dem Islam (takfīr).