1 Zu al-Ghazālīs Widerlegung der Philosophen: Tahāfut al-falāsifa

1 Zu al-Ghazālīs Widerlegung der Philosophen: Tahāfut al-falāsifa Yusuf Kuhn
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 50

Vorbemerkung

Es gibt noch immer keine Übertragung von al-Ghazālīs Tahāfut al-falāsifa ins Deutsche, allerdings zwei ins Englische. Ich habe mich vor allem auf die Ausgabe von Marmura gestützt, die neben der englischen Übersetzung auch den arabischen Text bietet und deren Einleitung ich wertvolle Hinweise entnommen habe. Al-Ghazālī, The Incoherence of the Philosophers. A parallel English-Arabic text translated, introduced, and annotated by Michael E. Marmura, Provo, Utah, 1997. Daneben gibt es noch die ältere Übersetzung von Kamali, die sich oftmals allzu weit von der Vorlage entfernt und weithin eher einer Paraphrase gleicht. Al-Ghazālī's Tahafut al-Falasifah [Incoherence of the Philosophers], translated into English by Sabih Ahmed Kamali, Lahore, 1963 (erste Auflage 1958). Bei allen Schwächen hat sich die Übersetzung von Marmura als vergleichsweise zuverlässiger erwiesen.

1.1 Einführung

1.1 Einführung Yusuf Kuhn

al-Ghazālī entwickelt in seinem Werk Tahāfut al-falāsifa (Inkohärenz der Philosophen) eine Kritik der Philosophie, wie sie es im islamischen Denken bis dahin nicht gegeben hat. Der Tahāfut stellt daher einen Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte des islamischen Denkens dar.

al-Ghazālī setzt sich darin die Aufgabe, zwanzig philosophische Thesen zu widerlegen, indem er deren Inkohärenz (tahāfut) aufweist. Siebzehn der Thesen werden als unzulässige Neuerungen (bidʿa) und drei als nicht-islamisch (kufr) verurteilt.

Die kritisierten Philosophen (falāsifa) waren keineswegs Atheisten. Denn ihr philosophisches System beinhaltete die These, dass Gott existiert. Die Kritik richtete sich also in erster Linie gegen ihr spezifisches Verständnis des Gottesbegriffs. Ihr Gott war für al-Ghazālī der Gott der Philosophen, nicht der Offenbarung – zumindest hinsichtlich der von ihm kritisierten Thesen.

Während der Gott der Offenbarung alles Seiende in einem Willensakt als Schöpfung hervorbringt, steht der Gott der Philosophen in einem Kausalverhältnis, also von Ursache und Wirkung, zur Welt, das von Notwendigkeit bestimmt ist. Aus dem Wesen Gottes als erster Ursache geht so die Welt als dessen notwendige Wirkung hervor. Nach al-Ghazālī bedeutet dies, dass Gott die Welt in der gleichen Weise notwendig bewirkt, wie beispielsweise ein unbelebtes Objekt wie die Sonne aufgrund ihrer Natur Licht erzeugt. Dies bedeutete für ihn die Leugnung solcher Eigenschaften Gottes wie Leben, Wille, Macht und Wissen.

al-Ghazālī geht es darum, den Gottesbegriff der Philosophen zu untersuchen, auf seine Übereinstimmung mit der Offenbarung hin zu prüfen und wo nötig zu kritisieren. Dabei bediente er sich wiederum selbst philosophischer Mittel wie der aristotelischen Logik und Begriffen, die der griechischen Philosophie entstammten.

Die Wirkung von al-Ghazālīs Kritik der Philosophie erscheint daher in einem doppelten Licht. Einerseits drängte er die Philosophie zurück, indem er bestimmte ihrer Thesen als mit dem islamischen Denken unvereinbar kritisierte, andererseits propagierte er geradezu philosophisches Denken. Denn schon um diese Thesen gründlich und überzeugend zu widerlegen, war es erforderlich, sie ausführlich darzustellen, was al-Ghazālī meisterlich gelang. Allerdings führte seine Kritik auch dazu, dass diese Thesen in weiteren Kreisen bekannt wurden und rasch größere Verbreitung fanden. Noch wichtiger war jedoch, dass al-Ghazālī sich bei seiner Widerlegung selbst philosophischer Begriffe und Methoden bediente, die dadurch wie nie zuvor Eingang in das islamische Denken fanden. Der Kalam (kalām, »islamische Theologie«) sollte fortan sich nicht nur ausführlich mit philosophischen Ideen beschäftigen, sondern in noch stärkerem Maße als bisher schon vom philosophischen Denken geprägt werden.

Von al-Ghazālī heißt es im allgemeinen, dass er auf dem Gebiet des fiqh (Recht) ein Anhänger der schafiʿitischen Schule und auf dem Gebiet des Kalam ein Anhänger der aschʿaritischen Schule gewesen sei. Ob letzteres wirklich zutrifft, wird von manchen (z.B. von den Orientalisten Richard M. Frank und Frank Griffel) bestritten. Die Kritik, die al-Ghazālī selbst am Kalam, auch dem aschʿaritischen, übt, mag allemal Zweifel an einer allzu glatten Zuordnung zu einer Schule wecken. Doch davon unabhängig ist jedenfalls unübersehbar, dass aschʿaritisch geprägte Denkweisen den Hintergrund von al-Ghazālīs Kritik bilden, auch wenn der Tahāfut vor allem der Widerlegung dient und nicht der Darstellung einer bestimmten Lehre.

Der Aschʿarismus wurde im elften Jahrhundert zur vorherrschenden Schule des Kalam. Er beruhte auf verschiedenen metaphysischen Voraussetzungen. Seine Ontologie zeichnet sich dadurch aus, dass die Existenz von kleinsten unteilbaren Teilen, Atomen, und Akzidenzien angenommen wird, aus denen materielle Körper zusammengesetzt sind. Auch die Zeit wird als aus kleinsten Einheiten, Zeitatomen, bestehend begriffen. Die Teilchen sind insofern äußerst flüchtig, als sie immer nur für einen Moment, ein Zeitatom, im Dasein Bestand haben. Die Gesamtheit aller Teilchen und deren Akzidenzien wird von Gott geschaffen, und zwar in jedem Moment neu. Da sie von sich aus keinen Bestand haben, müssen sie in jedem Zeitatom insgesamt neu geschaffen werden. Nur dadurch werden sie in ihrem Dasein erhalten.

Alles in der Zeit Seiende ist somit eine direkte Schöpfung Gottes, von Seinem Willen bestimmt und Seiner Macht verwirklicht. Da die Zeit eine distinkte Abfolge von Momenten ist, die ausschließlich über den Willen Gottes miteinander verbunden sind, gibt es keine davon unabhängigen Beziehungen von Ursache und Wirkung. Was den Menschen für gewöhnlich als eine Kette von Ursachen und Wirkungen erscheint, ist in Wirklichkeit ein Auftreten von zeitlich benachbarten Ereignissen, deren Verbindung einzig durch Gott willkürlich hergestellt wird. Zwischen geschaffenen Dingen gibt es keine kausalen Verbindungen; und daher schon gar keine notwendigen.

Gott gilt im Aschʿarismus als die einzige »Ursache«. Alles ist Wirkung dieser einzigen Ursache, was zugleich als Schöpfungsvorgang begriffen wird. Es gibt in der Natur keine davon unabhängigen Gesetze oder Wesen, die von sich aus oder kraft einer inhärenten Notwendigkeit eine Gleichförmigkeit oder Regelmäßigkeit bestimmen. Diese beruhen lediglich auf dem Willen Gottes, wie er von Moment zu Moment die Welt neu erschafft, indem er dank Seiner Gnade zum Wohle der Menschen eine gewisse Regelmäßigkeit walten lässt. Wenn Gott diesen regelmäßigen Lauf zu gewissen Zeiten unterbricht und beispielsweise für einen Propheten ein Wunder schafft, kann kein Gegensatz zu irgendeiner der Natur selbst inhärenten Ordnung auftreten, da eine solche gar nicht existiert. Diese von Atomismus und Okkasionalismus geprägte Lehre des Aschʿarismus bildet den Hintergrund, dessen Kenntnis allemal für ein Verständnis von al-Ghazālīs Kritik der Philosophie und ihrer metaphysischen Voraussetzungen förderlich ist, unabhängig von der Frage, welche Position al-Ghazālī selbst bezogen haben mag.

al-Ghazālī schrieb den Tahāfut vermutlich in der Zeit zwischen 1091 bis 1095. Daneben verfasste er in diesem Zeitraum noch drei weitere Werke, die kurz vorgestellt seien.

al-Ghazālī begann nach einem gründlichen Studium der Philosophie mit einem Werk, das sich die Darstellung derselben zur Aufgabe machte, insbesondere in der seinerzeit vorherrschenden Gestalt, die vor allem von Ibn Sīnā geprägt war, der eine originelle Synthese auf der Grundlage der griechischen Philosophie und seiner arabischen Vorgänger wie al-Kindī und al- Fārābī hervorgebracht hatte. Dieses erste Werk trägt bezeichnenderweise den Titel Maqāsid al-falāsifa: Lehren der Philosophen. Darin schreibt al-Ghazālī, dass er diese Darstellung verfasst hat, um die Theorien der Philosophen zunächst als Vorbereitung zu erklären und sodann in einem weiteren Schritt zu widerlegen. Im Tahāfut findet sich allerdings kein Verweis auf Maqāsid.

Das zweite Werk ist eine Darstellung der Logik von Ibn Sīnā unter dem Titel Miʿyār al-ʿilm: Richtmaß des Wissens. al-Ghazālī erachtete diese Logik für philosophisch neutral und gebrauchte sie als bloßes Instrument zur Gewinnung von Wissen, ohne ihre metaphysischen Voraussetzungen zu untersuchen, womöglich sogar ohne sich auch nur ihrer bewusst zu sein. Nicht zufällig verfasste al-Ghazālī sie als Anhang zum Tahāfut, in dessen Einleitung er sich dazu bekennt, die Logik der Philosophen selbst zu verwenden, um diese zu widerlegen, was freilich noch nicht als Übernahme schlechthin verstanden werden darf.

Das dritte Werk plante al-Ghazālī als Fortsetzung des Tahāfut. Es ist eine Darstellung der aschʿaritischen Lehre und trägt den Titel al-Iqtisād fī al-iʿtiqād: Die Mäßigung im Glauben. Der Tahāfut diente der Kritik und Widerlegung, der Iqitisād der Entfaltung und Darlegung der Lehre.

Die Kritik im Tahāfut richtete sich in erster Linie gegen das Denken von al-Fārābī (gest. 950) und Ibn Sīnā (gest. 1037), die beide die griechische Philosophie in Gestalt von Platon und Aristoteles in Verbindung mit zahlreichen Elementen des Neoplatonismus aufgriffen und im Kontext der islamischen Kultur fortführten. Die Unterschiede zwischen ihnen sind für al-Ghazālīs Kritik nicht von erheblicher Bedeutung, da sich diese vorwiegend gegen Thesen richtet, die beiden gemeinsam sind, und wenn dies nicht der Fall sein sollte, so zielt die Kritik letztlich auf Ibn Sīnā, der seine arabischen Vorgänger in Größe und Wirkung deutlich überragte.

Die im Tahāfut behandelten zwanzig Thesen gliedern sich in zwei Teile. Der erste Teil umfasst sechzehn Erörterungen auf dem Gebiet metaphysischer Fragen. Darin wird zum Beispiel die These von der anfangslosen Ur-Ewigkeit der Welt diskutiert. Zum zweiten Teil gehören die restlichen vier Themen, die sich auf die Physik oder Naturphilosophie beziehen. Dieser Teil beginnt mit der berühmten Kritik an der Kausalität und widmet sich dann der Theorie von der Seele sowie der Frage der körperlichen Auferstehung. Die Einteilung in metaphysische und naturphilosophische Thesen stammt von al-Ghazālī selbst.

Die Abhandlung über die Theorie der Ur-Ewigkeit der Welt bildet das längste Kapitel das Tahāfut und lässt charakteristische Züge der Kritik der Philosophie von al-Ghazālī deutlich hervortreten. Im Zentrum der Debatte steht die Frage nach dem Wesen des göttlichen Wirkens. al-Ghazālī stellt die Behauptung der Philosophen dar, dass die Welt eine notwendige Wirkung einer ewigen Ursache sei und daher selbst ewig sein müsse. Es geht letztlich um die Frage, ob Gott kraft der Notwendigkeit Seines Wesens oder kraft Seines Willens wirkt bzw. handelt. al-Ghazālī geht davon aus, dass die Lehre von der Ewigkeit der Welt darauf hinausläuft, den Willen Gottes zu verneinen. Um diese Lehre zu begründen, müssten die Philosophen beweisen, dass es unmöglich ist, eine Welt durch einen Willen in der Zeit zu erschaffen. al-Ghazālī zeigt aber auf, dass ihnen dies nicht gelingt. Damit bleibt die Gegenthese von der Erschaffung der Welt in der Zeit als Möglichkeit bestehen und die These von der Ewigkeit der Welt zumindest unbewiesen. Und das ist, was al-Ghazālī zeigen wollte.

Was Ibn Sīnās Theorie über die Seele, welche die körperliche Auferstehung leugnet, betrifft, so zeigt al-Ghazālī auch hier wieder in einer gründlichen Argumentation auf, dass die zugrunde liegende Theorie von der Immaterialität der Seele nicht bewiesen ist. Es gibt also keinen Grund, die ausdrücklichen Aussagen des Koran über die körperliche Auferstehung zu bestreiten. Sie müssen daher in ihrer äußeren Bedeutung angenommen werden und bedürfen keiner weiteren Interpretation und Umdeutung.

Und hiermit kommen wir in unserem Zusammenhang ins Zentrum des Interesses. Denn darin ist bereits ein wesentlicher Bestandteil der Regel der Interpretation, des qānūn at-taʾwīl, zum Ausdruck gebracht, der sich nach al-Ghazālī grob, in einer ersten Annäherung etwa so verstehen lässt:

Den Ausgangspunkt des Verständnisses der Offenbarung bildet die äußere Bedeutung ihrer Aussagen. Gibt es keinen zwingenden Grund, ist eine darüber hinaus gehende Interpretation nicht erforderlich oder sogar abzulehnen. Eine Interpretation, die von der äußeren Bedeutung auf die allegorische, bildliche oder metaphorische Ebene übergeht, ist nur dann nötig, wenn bewiesen werden kann, dass der Inhalt von Aussagen, die in ihrer äußeren Bedeutung verstanden werden, unmöglich ist. Welche Formen des Beweises al-Ghazālī dabei für gültig erachtet, ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage, doch sicherlich gehört dazu auch der Beweis im strengen Sinne der aristotelischen Logik, der in der Auseinandersetzung mit den arabischen Philosophen, welche die griechische Tradition fortführen, allemal im Vordergrund steht. Dieses Kriterium des Beweises der Unmöglichkeit als Voraussetzung für den Übergang zur allegorischen Interpretation liegt der gesamten Argumentation des Tahāfut zugrunde.

al-Ghazālī legt seine Absicht, die er beim Schreiben des Tahāfut verfolgt, in der Vorrede zum Werk ausdrücklich dar. Er verurteilt darin scharf »eine Gruppe«, die sich »völlig von den Zügeln der Religion gelöst« und »einen anderen Weg als den der Religion des Islam eingeschlagen« hat. Ihre Ablehnung der islamischen Lehren und Gebote geht so weit, dass sie sich vom Islam abwenden. Den Grund dafür erkennt al-Ghazālī darin, dass sie so »hochtönende Namen wie Sokrates, Hippokrates, Platon, Aristoteles und dergleichen« sowie die übertriebenen Beschreibungen von ihren vermeintlich überragenden geistigen Fähigkeiten hörten und sich davon derart beeindrucken ließen, dass sie zu bloßen Nachahmern dieser Philosophen und deren Nachfolger wurden, ohne sich wirklich mit deren Denken zu befassen. al-Ghazālī kommentiert: »Welchen Rang in Gottes Welt gibt es, der niedriger ist als der Rang desjenigen, der sich selbst mit der Aufgabe der Wahrheit, die traditionell geglaubt wird, durch die eilfertige Annahme des Falschen als wahr schmückt, indem er es ohne (verlässliche) Überlieferung und Verifikation anerkennt?« (Tahāfut, S. 2; alle Verweise beziehen sich auf die oben genannte Ausgabe von Marmura.)

Angesichts dessen, so al-Ghazālī, hat er »sich zur Aufgabe gemacht, dieses Buch zu schreiben als Widerlegung der alten Philosophen, um die Inkohärenz ihrer Überzeugungen und den Widerspruch ihrer Worte in Fragen bezüglich der Metaphysik aufzuzeigen«. Und al-Ghazālī will »zugleich ihre Lehre so, wie sie tatsächlich ist, darstellen, um denjenigen, die den Irrglauben (ilhād) durch Nachahmung annehmen, klarzumachen, dass alle bedeutenden Denker in Gegenwart und Vergangenheit darin übereinstimmen, an Allah und den Letzten Tag zu glauben.« (S. 3)

In der darauf folgenden Einleitung verdeutlicht al-Ghazālī, dass seine Kritik nicht gegen die Mathematik, Astronomie und Logik der Philosophen gerichtet ist, die er für metaphysisch neutral hält, sondern nur gegen solche Lehren, die mit den Grundsätzen des Islam in Konflikt stehen. Seine Aufgabe sieht er hierbei nicht darin, selbst eine bestimmte Lehre zu vertreten. Sie beschränkt sich vielmehr darauf, lediglich die Philosophen zu widerlegen, indem er aufzeigt, dass diejenigen ihrer Thesen, die mit bestimmten Lehren des Islam nicht vereinbar sind, im Gegensatz zu den von ihnen erhobenen Ansprüchen nicht bewiesen sind. Als Kriterium für die Gültigkeit eines Beweises bedient al-Ghazālī sich hier der Bedingungen, welche die Philosophen selbst für die richtige Beweisführung vor allem in ihren Werken über die Logik aufgestellt haben. Es handelt sich also in erster Linie um eine immanente Kritik der Philosophie mit den ihr eigenen Instrumenten nach den von ihr selbst aufgestellten Kriterien.

al-Ghazālī erkannte aus muslimischer Perspektive die Gefahren, die von der griechischen Philosophie und der von ihr abgeleiteten vermeintlich islamischen Philosophie für die Glaubenslehre und Lebensweise (dīn) des Islam ausgingen, und bemühte sich daher um deren Schutz und Verteidigung. Dies war sicherlich einer seiner Beweggründe für die Widerlegung bestimmter Thesen der falāsifa. Darüber hinaus war es ihm als Denker, der nach sicherem Wissen strebte, auch daran gelegen, zu prüfen, ob solches Wissen in der Philosophie zu finden ist. Deshalb unternahm er über mehrere Jahre hinweg ausführliche und gründliche Studien, deren Ergebnisse er in seinem großen Werk über die Absichten, Anschauungen und Lehren der Philosophen (Maqāsid al-falāsifa) darstellte.

Seine Untersuchungen führten ihn zu der Erkenntnis, dass im philosophischen Denken die von ihm erstrebte Gewissheit nicht zu finden war. Er musste einsehen, dass es den Philosophen nicht gelang, ihre Thesen wirklich zu beweisen. Und ohne hinreichende Beweise reduzierten sich diese auf unbegründete, bloße Behauptungen. Darauf wollte al-Ghazālī nun mit der breit angelegten Kritik des Tahāfut aufmerksam machen.

Allerdings behielt er bei all seiner Kritik die Maßstäbe und Methoden der Philosophen selbst bei. In welchem Ausmaß und Sinn dies genau geschieht, ist nicht immer leicht zu erkennen. Aber in mancher Hinsicht kann es kaum Zweifel geben. So hält er ganz ausdrücklich an Mathematik, Logik und vielen Begriffen und Methoden der aristotelischen Wissenschaftstheorie fest und betont wiederholt deren Neutralität gegenüber der Lehre des Islam.

Wie konnte es dazu kommen? Warum hat er keinen Blick für die metaphysischen Voraussetzungen dieser Denkformen gehabt? Was hat ihn daran so fasziniert, dass er derart verblendet wurde? War es der Begriff der Vernunft und das damit verbundene Erkenntnisideal? War es das Streben nach absoluter Gewissheit, das nur durch diese Methoden zu befriedigen zu sein schien?

Können wir Aufschluss darüber in seiner autobiographischen Darlegung al-Munqidh min adh-dhalāl (Der Erretter aus dem Irrtum) finden, in dem er doch selbst eben dieses Erkenntnisideal zutiefst in Zweifel zieht?

Darauf können wir an dieser Stelle nicht näher eingehen. Wir wollen aber kurz al-Ghazālīs Position, wie sie sich in der Gedankenführung des Tahāfut niederschlägt, ganz allgemein skizzieren.

Er geht zunächst als Muslim von den Aussagen der Offenbarung aus. Sollten diesen Aussagen Behauptungen der Philosophen widersprechen, so gilt es, diese zu prüfen. Überstehen sie die Prüfung aufgrund ihrer mangelhaften Begründung, Inkohärenz oder inneren Widersprüchlichkeit nicht, so hat sich der vermeintliche Widerspruch erledigt. In diesem Fall ist die Aussage der Offenbarung am Maßstab der rationalen Beweisführung, also der sogenannten »Vernunft«, gemessen zumindest möglich, da ihre Unmöglichkeit durch einen Widerspruch mit ihr ja nicht erwiesen werden konnte. Es spricht somit nichts dagegen, die vom Zeugnis der Offenbarung bestätigte Aussage anzunehmen.

Sollte es sich jedoch herausstellen, dass eine These der Philosophen den strengen Kriterien der korrekten Beweisführung, die er großteils der aristotelischen Wissenschaftstheorie entnimmt, genügt, in diesem Sinne also sicheres Wissen darstellt, so muss die betreffende Aussage der Offenbarung einer Interpretation unterzogen werden, welche die Bedeutung dieser Stelle mit der bewiesenen These in Einklang bringt und dadurch den Widerspruch als bloß scheinbar erweist. Wenn also die Unmöglichkeit der Aussage der Offenbarung durch »rationale« Beweisführung, also die sogenannte »Vernunft« erwiesen ist, muss sie anders gedeutet werden, um dadurch den Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung aufzuheben. Diese Deutung verlangt einen Übergang von der äußeren Bedeutung der betreffenden Aussage, die zunächst den Ausgangspunkt für das Verstehen gebildet hatte, zu einer bildlichen, allegorischen oder metaphorischen Bedeutung. Diese Reinterpretation ist das, was al-Ghazālī unter taʾwīl versteht. Und das Verfahren insgesamt ist nichts anderes als die Anwendung der Regel der Interpretation, des qānūn at-taʾwīl.

al-Ghazālī verfolgt damit das Ziel, Vernunft und Offenbarung miteinander in Einklang zu bringen. Deren Verhältnis beschreibt er in al-Iqtisād fī al-iʿtiqād mit einer bemerkenswerten Metapher, die es verdient, angeführt zu werden. Das folgende Zitat ist dem Buch Al-Ghazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie von Muhammad ʿAbd Al-Hadi Abu Ridah entnommen. Die Anmerkungen in runden Klammern stammen von Abu Ridah. al-Ghazālī schreibt also in al-Iqtisād fī al-iʿtiqād über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung:

Wer die Offenbarung und die Vernunft nicht miteinander in Einklang bringt, geht ganz sicher fehl und verstrickt sich in die Schlingen des Irrtums, denn die Vernunft gleicht dem gesunden Auge und die Offenbarung (wörtlich: der Koran) der scheinenden Sonne. Der Sucher, welcher auf das eine verzichtet und sich mit dem anderen begnügt, ist sicherlich dumm. Wer nämlich auf die Vernunft verzichtet und sich mit dem Licht der Offenbarung begnügt, gleicht einem, der sich nach der scheinenden Sonne richtet, aber die Augen schliesst; es gibt keinen Unterschied zwischen ihm und einem Blinden (und wer sich von der Offenbarung abwendet und sich mit der Vernunft begnügt, ist wie einer, der gesunden Auges ist, sich aber in Dunkelheit befindet; er ist auch als ein Blinder anzusehen. [Fußnote: Dies ist der andere Teil des Vergleiches, den Ghazālī nicht ausdrücklich erwähnt.]) Wenn die Vernunft mit der Offenbarung vereint wird, ist sie wie ein Licht, das ein anderes Licht noch heller macht; und derjenige, der sich nur mit einem von beiden begnügt, ist das Opfer einer gefährlichen Täuschung.Zitiert nach: Muhammad ʿAbd Al-Hadi Abu Ridah, Al-Ghazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie, Madrid, 1952, S. 86-87.

1.2 Vorgeschichte des Tahāfut

1.2 Vorgeschichte des Tahāfut Yusuf Kuhn

al-Ghazālī beschreibt in seiner Schrift al-Munqidh min adh-dhalāl (Der Erretter aus dem Irrtum), in der er seinen Denkweg rückblickend darstellt, dass er nach dem Studium des Kalam dazu übergegangen ist, sich mit der Philosophie zu beschäftigen. Er ist davon überzeugt, dass erst eine vertiefte Untersuchung einer Wissenschaft zu einer gründlichen und tragfähigen Kritik derselben befähigt:

Nachdem ich das Studium der islamischen Scholastik [kalām] beendet hatte, begann ich, mich mit der Philosophie zu beschäftigen. Ich erfuhr mit Gewißheit, daß man die Fäulnis einer Wissenschaft nicht erkennen kann, solange man nicht in die Tiefe ihrer Grundlagen eingedrungen ist, bis man dabei dem besten ihrer Gelehrten gleichkommt und ihn übertrifft. In dieser Lage wird man erkennen, was jener Gelehrte selbst von dieser Wissenschaft an Tiefe und Gefahr nicht entdeckt hat. Erst dann könnte die Behauptung von der Fäulnis jener Wissenschaft sich als richtig erweisen.al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, al-Munqidh min adh-dhalāl. Aus dem Arabischen übersetzt von Elschazli, Hamburg, 1988, S. 15.

In diesem Bestreben scheint er eine Ausnahme gewesen zu sein, denn er sagt über den Zustand der Erforschung der Philosophie unter den Gelehrten des Kalam:

Ich habe keinen einzigen Gelehrten des Islam gefunden, der sich mit dieser Aufmerksamkeit und diesem Eifer dem Studium der Philosophie widmete. Vielmehr gab es in den Büchern der islamischen Scholastiker [mutakallimūn] dort, wo sie sich mit den Antworten auf die Philosophen beschäftigen, nichts außer unzusammenhängenden und komplizierten Worten, deren Widersprüchlichkeit und Falschheit eindeutig ist.Ebenda, S. 15.

Aus dieser Lage zog al-Ghazālī den Schluss, sich auf eine Kritik der Philosophie intensiv vorbereiten zu müssen. Er widmete sich daher mit großem Eifer dem autodidaktischen Studium ihrer Lehren:

Daraufhin erkannte ich, daß die Zurückweisung einer Lehrmeinung, bevor man sie verstanden und ergründet hat, ein Herumtappen im Dunkeln ist. Deshalb strengte ich mich an, mir diese Wissenschaft aus ihren Quellen durch die bloße selbständige Lektüre, ohne Hilfe eines Lehrers anzueignen. Diesem widmete ich mich in der Zeit, in der ich mich von meiner üblichen Autorentätigkeit, der Lehre in den religiösen Wissenschaften und der Verpflichtung frei war, dreihundert Studenten in Bagdad zu unterrichten.Ebenda, S. 15-16.

Diese Beschäftigung mit der Philosophie dauerte insgesamt etwa drei Jahre lang (1093-1095), bis al-Ghazālī schließlich den Eindruck gewonnen hat, sich die für eine Kritik nötigen Kenntnisse angeeignet zu haben:

Der erhabene Gott ließ mich allein durch die Lektüre während dieser mir abgestohlenen Zeit den höchsten Grad ihrer (philosophischen) Wissenschaft in weniger als zwei Jahren erkennen. Nachdem ich all diese verstanden hatte, hörte ich nicht auf, darüber noch ungefähr ein Jahr lang nachzudenken; ich bewegte es in meinen Gedanken hin und her und überprüfte noch einmal seine Tiefen und Gefahrstellen, bis ich ein unbezweifelbares Wissen darüber erlangte, worin die Täuschung und die Verfälschung besteht, was davon wahr ist und was bloße Einbildung darstellt.Ebenda, S. 16.

Aus diesen Worten geht nicht nur deutlich hervor, wie ernst al-Ghazālī seine Aufgabe nahm und mit welcher Gründlichkeit er sich darauf vorbereitete, sondern auch, dass es ihm dabei um eine ernsthafte Prüfung einzelner Thesen auf ihren Wahrheitsgehalt hin und keineswegs um eine pauschale Verurteilung oder gar blindwütige Zerstörung der Philosophie insgesamt ging, was vor nicht allzu langer Zeit noch von den meisten Orientalisten unterstellt wurde. al-Ghazālī war vielmehr an einer realistischen und eingehenden Prüfung, Einschätzung und Beurteilung auf der Grundlage genauer Kenntnisse gelegen, was die Übernahme des für richtig Befundenen nicht nur nicht ausschloss, sondern geradezu beförderte, wobei dies allerdings keineswegs ins andere Extrem einer unkritischen Übernahme und blinden Nachahmung der Philosophie umschlagen muss, wie es in jüngerer Zeit von einer ganzen Reihe von Orientalisten zwar im Widerspruch zu ihrer eigenen Tradition, aber unter Beibehaltung des dichotomischen Bewertungsschemas auf der Grundlage eines unkritisch vorausgesetzten Vernunftbegriffs der philosophischen Tradition unterstellt wird.

Daher sollte die erste Frucht dieser Bemühungen al-Ghazālīs auch nicht eine Widerlegung, sondern eine genaue Darstellung der Lehren der Philosophen sein, die wohl im Jahr 1094 unter dem Titel Maqāsid al-falāsifa erschienen ist. al-Ghazālī verfolgte damit die Absicht, eine getreue Darstellung der Philosophie, insbesondere des Ibn Sīnā, zu verfassen, die zugleich als Vorstudie zu einer künftigen Widerlegung dienen konnte. Dass er die Anschauungen der falāsifa selbst nicht teilte, brachte er in der Einleitung des Maqāsid zum Ausdruck.

In der ersten lateinischen Übersetzung, die schon im 12. Jahrhundert in Toledo auf der spanischen Halbinsel erstellt wurde, ließ man jedoch diese Einleitung weg, so dass al-Ghazālī im lateinischen Westen, der erst durch dieses Werk mit der Philosophie des Ibn Sīnā, den die Lateiner Avicenna nannten, vertraut gemacht wurde, lange Zeit als herausragender Vertreter eben der Philosophie galt, die er doch in Wirklichkeit zu widerlegen trachtete. In der langen Geschichte des Orientalismus ist das Pendel also schon öfter umgeschlagen, so dass sich die Frage aufdrängt, ob die heutigen Orientalisten wieder da angelangt sind, wovon ihre Altvorderen in der Bewertung al-Ghazālīs einst ausgegangen sind.

Als zweite Frucht dieser gedanklichen Arbeit al-Ghazālīs von drei Jahren wurde endlich im Jahr 1095 die Widerlegung der Philosophen unter dem Titel Tahāfut al-falāsifa veröffentlicht.

1.3 Was bedeutet »tahāfut al-falāsifa«?

1.3 Was bedeutet »tahāfut al-falāsifa«? Yusuf Kuhn

al-falāsifa ist eine arabische Lehnübersetzung aus dem Griechischen und bedeutet »die Philosophen«. Der Singular lautet faylasūf (Philosoph). Und griechisch philosophia wurde mit falsafa übertragen.

Im geschichtlichen Kontext von al-Ghazālī sind mit falāsifa aber nicht schlechthin alle Philosophen gemeint, sondern vor allem einerseits die alten griechischen Philosophen (mutaqaddimūn) wie Sokrates, Platon und Aristoteles sowie andererseits die späteren arabischen Philosophen (mutaʾakhkhirūn) wie al-Kindī, al-Fārābī und Ibn Sīnā.

Durch die besondere Weise, in der die Werke der griechischen Philosophie ins Arabische übersetzt worden sind, wurde dieser eine bestimmte Gestalt verliehen. Was als griechische falsafa galt, war aristotelische Philosophie mit einer gewissen neoplatonischen Färbung. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass ein Werk des Neoplatonikers Plotin, nämlich ein Teil seiner Enneaden, fälschlich dem Aristoteles zugeschrieben wurde und als »Theologie des Aristoteles« in Umlauf war.

Diese Mischung aus aristotelischem und neoplatonischem Denken wurde sodann von den arabischen falāsifa weiter entwickelt. al-Fārābī und Ibn Sīnā stimmen auf dieser Grundlage daher in vielem überein, auch wenn es einige Unterschiede gibt. Diese sind aber für die Kritik von al-Ghazālī nicht von großer Bedeutung, da er sich vor allem auf die reifste Gestalt dieses Denkens bezieht, nämlich auf Ibn Sīnā.

tahāfut hat verschiedene Bedeutungen und wurde daher auch unterschiedlich übersetzt. Die lateinische Übersetzung wählte beispielsweise destructio (Zerstörung). Die heute wohl verbreitetste Übertragung dürfte »Inkohärenz« sein.

Die lexikalische Bedeutung der Wurzel hafata, von der tahāfut abgeleitet ist, ist: stürzen, zusammenstürzen, fallen, leichtfertig sprechen, Unsinn reden, Zusammenbruch erleiden, sich selbst widerlegen.

Ein Aspekt dieser Bedeutungen verdient besondere Erwähnung:

Der lexikalische Sinn des Wortes »Tahāfut« ist [...] bezüglich der Schmetterlinge, dass sie sich ins Feuer stürzen […] In einem bekannten Ausspruch des Propheten heisst es, dass die Menschen sich in die Hölle stürzen (jatahāfatūn) wie Schmetterlinge ins Feuer. Abu Ridah, op. cit., S. 69.

Abu Ridah gibt in seiner Untersuchung des Tahāfut auf der Grundlage der lexikalischen Bedeutung des Wortes tahāfut eine kleine Auflistung der möglichen Bedeutungen des Titels Tahāfut al-falāsifa:

1) »Schwäche der Philosophen«, weil sie nicht imstande sind, ihre Lehren zu beweisen.
2) »Widerspruch der Philosophen oder der (Systeme) der Philosophen«, weil ihre Lehren nicht in Harmonie miteinander stehen.
3) »Leeres Geschwätz der Philosophen«, weil ihre Lehren unbewiesene Behauptungen darstellen.
4) »Unüberlegtheit der Philosophen«, weil sie unbewiesenen gefährlichen Lehren folgen.
5) »Sturz der Philosophen oder ihrer Systeme«, weil ihre Lehren unbegründet und widerspruchsvoll sind.Alle diese Bedeutungen lassen sich durch die Äußerungen Ghazālīs oder durch den allgemeinen Charakter seines Buches gegen die Philosophen begründen. Abu Ridah, op. cit., S. 69-70.

1.4 Aufbau des Tahāfut

1.4 Aufbau des Tahāfut Yusuf Kuhn

Es sei in Erinnerung gerufen, dass ich mich bei den Angaben zum Tahāfut auf die englische Übersetzung von Michael E. Marmura beziehe, die unter dem Titel The Incoherence of the Philosophers erschienen ist und dankenswerterweise auch das gesamte arabische Original reproduziert. Denn eine deutsche Übersetzung gibt es bis heute nicht.

al-Ghazālī hat den Tahāfut al-falāsifa in drei klar voneinander getrennte Teile gegliedert.

Der erste Teil besteht aus fünf kurzen Einleitungen von jeweils wenigen Seiten (S. 1-11). Die erste trägt keinen Titel, wohingegen die folgenden vier jeweils mit muqaddima (Einleitung) überschrieben sind. Am Ende der letzten muqaddima bringt al-Ghazālī ein Inhaltsverzeichnis, in dem alle behandelten Themen aufgelistet sind.

Der zweite Teil setzt sich aus zwanzig Kapiteln zusammen. Jedes Kapitel ist mit masʾala (Frage, Streitfrage, Problem) und der Anführung des darin behandelten Themas überschrieben. Das erste Thema lautet zum Beispiel: »Über die Widerlegung ihrer Lehre von der Ur-Ewigkeit der Welt«. Die Länge der Kapitel ist sehr unterschiedlich. Das erste und längste hat 35 Seiten, die kürzesten haben nur 3-4 Seiten.

Die Fragen 17-20 hat al-Ghazālī durch eine kleine Einleitung gesondert abgesetzt, in der er sie den tabīʿiyyāt (Physik oder Naturphilosophie im aristotelischen Sinne) zuordnet. Dadurch trennt er sie von den vorausgehenden Kapiteln, in denen Fragen der ilāhiyyāt (Metaphysik) erörtert werden.

Den dritten und letzten Teil bildet die khātima al-kitāb, das Schlusswort des Buches, das nur eine Seite lang ist. So kurz dieser Abschnitt ist, so berühmt ist er geworden, wodurch die Wirkungsgeschichte des Tahāfut weithin überschattet wurde.

In ihm antwortet al-Ghazālī auf die Frage, die er eine nicht näher bezeichnete Person stellen lässt (»wenn jemand sagt«), ob es sich bei den dargestellten Lehren der falāsifa um kufr (Nicht-Islam) handelt, also ob diese im Widerspruch zum Islam stehen. al-Ghazālī erwidert darauf, dass er in der Tat drei der Thesen als kufr beurteilt, während die übrigen siebzehn lediglich als bidʿa (problematische Neuerung) einzuschätzen sind. Letztere bewegen sich mithin im Rahmen dessen, was auch von anderen islamischen Gruppen wie der muʿtazila, die ausdrücklich genannt wird, vertreten wurde.

Die drei als kufr bewerteten Lehren sind: die Ur-Ewigkeit der Welt; Gottes Nicht-Wissen der »geschehenden Einzelheiten von den Individuen (Einzeldingen)«; die Leugnung der leiblichen Auferstehung.

1.5 Themen des Tahāfut

1.5 Themen des Tahāfut Yusuf Kuhn

al-Ghazālī behandelt im Tahāfut in den zwanzig Kapiteln des Hauptteils jeweils ein Thema, das er als masʾala (Frage) bezeichnet und zu Anfang jedes Kapitels als knappe These einführt. Um einen Überblick über diese Streitfragen zu ermöglichen, gebe ich sie allesamt in einer Liste wieder, die ich von Elschazli übernehme, der sie im Anmerkungsapparat zu seiner Übersetzung des Munqidh anführt. Auch wenn es dafür Anlass gäbe, verzichte ich der Einfachheit halber darauf, Änderungen vorzunehmen, was ein Eindringen in den Inhalt selbst fast unvermeidlich machen würde. Denn dafür ist an dieser Stelle vorerst kein Raum. Jedenfalls ist die folgende Liste auch so gut geeignet, einen ersten Eindruck von Art und Vielfalt der Fragen zu bieten, die al-Ghazālī im Tahāfut verhandelt.

Die zwanzig Thesen (masʾala), die al-Ghazālī in seiner Widerlegung der falāsifa erörtert, sind also nach Elschazli folgende:

1. Widerlegung von der Lehre der Anfangslosigkeit der Welt;
2. Widerlegung ihrer Lehre von der Ewigkeit der Welt, der Zeit und der Bewegung;
3. Erörterung ihrer vorgetäuschten Aussage, Gott sei Schöpfer der Welt und die Welt sei von ihm gemacht; daß dies bei ihnen eine bloße Metapher ohne Wahrheitsgehalt sei;
4. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis für die Existenz des Schöpfers der Welt zu erbringen;
5. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis darüber zu führen, daß nur ein Gott sei und daß es nicht zwei Wesen geben könne, deren Existenz notwendig und ohne Ursache sei;
6. Widerlegung ihrer Lehre, Gott habe keine Eigenschaften, wie etwa Allwissen und Allmacht;
7. Widerlegung ihrer Aussage, daß es nicht möglich sei, daß der Erste mit einem Anderen an einem Genus teilhabe, und er sich von ihm im Hinblick auf die Spezies unterscheidet;
8. Widerlegung ihrer Aussage, daß der Erste einfach (ohne Eigenschaften) existiere, d.h. daß er reine Existenz sei;
9. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis zu erbringen, daß der Erste unkörperlich sei;
10. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis zu führen, daß die Welt einen Schöpfer und eine Ursache habe;
11. Darlegung der Unfähigkeit derjenigen unter ihnen (der Philosophen), die der Ansicht sind, der Erste kenne zwar anderes außer sich selbst, aber nur Gattungen und Arten im universellen Sinne;
12. Über ihre Unfähigkeit, den Beweis zu führen, daß Er auch sich selbst kenne;
13. Widerlegung ihrer Aussage, daß Gott – erhaben sei Er – keine singularia kenne;
14. Über ihre Unfähigkeit, den Beweis zu erbringen, daß der Himmel ein Lebewesen sei, das Gott in freiwilliger Bewegung gehorche;
15. Widerlegung ihrer Aussage, daß es für die Himmelsbewegung einen Zweck gebe;
16. Widerlegung ihrer Aussage, daß die Seelen der Himmel um alle in dieser Welt geschehenden singularia wüßten;
17. Die Verknüpfung zwischen dem, was man gewöhnlicherweise als Ursache bezeichnet, und dem, was man für die Wirkung hält, ist für uns nicht notwendig;
18. Die Untauglichkeit rationaler Beweisführung darüber, daß die menschliche Seele als geistige Substanz in sich selbst existiere, keinen Sitz im Körper habe und weder selbst Körper noch einem Körper eingeprägt sei und weder mit einem Körper in Verbindung stehe noch von ihm getrennt sei;
19. Widerlegung ihrer Aussage, daß die menschlichen Seelen nicht vergehen könnten, nachdem sie einmal existierten, und daß sie ewig seien und ihre Vergänglichkeit unvorstellbar sei;
20. Beweisführung, daß sie (die Philosophen) zu Unrecht die Auferstehung der menschlichen Körper, die Rückkehr der Seelen in die Körper, die materielle Existenz der Hölle, des Paradieses, der Paradiesjungfrauen und alles anderen leugneten, was den Menschen im Jenseits versprochen ist. Siehe al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, al-Munqidh min adh-dhalāl. Aus dem Arabischen übersetzt von Elschazli, Hamburg, 1988, S. 113-115.

1.6 Zu den Einleitungen des Tahāfut

1.6 Zu den Einleitungen des Tahāfut Yusuf Kuhn

al-Ghazālī eröffnet den Tahāfut mit einführenden Worten, die er nicht mit einer Überschrift versieht, im Gegensatz zu den folgenden vier Einleitungen, die er als muqaddima betitelt. Wir wollen zunächst diese Einführung näher betrachten.

1.6.1 Zur Einführung

1.6.1 Zur Einführung Yusuf Kuhn

al-Ghazālī beginnt die inhaltliche Erörterung mit einer Darstellung seiner Beweggründe, den Tahāfut zu verfassen. Den Ausgangspunkt bildet die Beschreibung einer »Gruppe«, die sich von den Lehren und Geboten des Islam gelöst hat:

Ich habe eine Gruppe (tāʾifa) gesehen, die an ihre Überlegenheit gegenüber Gefährten und Kameraden kraft ihres größeren Begriffsvermögens und Intellektes glaubten, die islamischen Pflichten bezüglich der gottesdienstlichen Handlungen verwarfen, die Riten der Religion (dīn) hinsichtlich der Verrichtung der Gebete und der Vermeidung der verbotenen Dinge verachteten, die gottesdienstlichen Handlungen des Religionsgesetzes (scharʿ) und seiner Grenzen (hudūd) herabsetzten und angesichts seiner Gebote und Beschränkungen nicht haltmachten. Im Gegenteil, sie haben die Zügel der Religion durch verschiedenerlei Spekulationen abgeworfen, wobei sie einer Schar folgten, »die andere vom Pfad Gottes abwenden und versuchen, ihn krumm erscheinen zu lassen – da sie es sind, sie, die sich weigern, die Wahrheit des kommenden Lebens anzuerkennen!« [Koran 11:19] (Tahāfut, S. 1-2)

al-Ghazālī hat demnach eine »Gruppe« gesehen, die er nicht näher benennt, aber eindringlich beschreibt. Dass damit die falāsifa gemeint sind, dürfte außer Zweifel stehen, auch wenn hier noch nicht eindeutig zu erkennen sein sollte, wer genau damit gemeint ist.

Die erste Eigenschaft, die al-Ghazālī dieser »Gruppe« zuschreibt, ist ihre vermeintliche »Überlegenheit«. Denn sie waren davon überzeugt, dass sie ihren Mitmenschen überlegen waren, da sie über einen größeren Intellekt verfügten.

Sodann beschreibt al-Ghazālī weitere Eigenschaften dieser Leute, die sich darin zusammenfassen lassen, dass sie die islamischen Regeln, Gesetze und Gebote missachteten und herabsetzten, also kurzum »die Zügel der Religion (dīn)« abwarfen. Sie waren also offenbar der Auffassung, dass diese Gebote für sie nicht gültig und bindend waren. Wie sind sie dazu gekommen? »Durch verschiedenerlei Spekulationen«, so heißt es bei al-Ghazālī.

Ein bestimmtes Denken hat sie mithin zu dem zuvor beschriebenen Handeln, der Verwerfung der islamischen Praxis, geführt. Welches Denken? al-Ghazālī nennt es hier »Spekulationen« (dhunūn). In der Übersetzung von dhunūn mit »Spekulationen« folge ich der ersten englischen Übertragung des Tahāfut von Kamali, da damit der von al-Ghazālī gemeinte Bedeutungskranz wohl am besten getroffen wird. dhann (Pl. dhunūn) trägt etwa folgende Bedeutungen: Meinung, Annahme, Ansicht, Vermutung, Mutmaßung. Einerseits kann es sich nicht um völlig unbestimmte und vage Vermutungen handeln, da die dhunūn ja im Kontext des »größeren Begriffsvermögens« der falāsifa zu verstehen sind; andererseits soll gleichzeitig ihr subjektiver und zweifelhafter Charakter betont werden. Und da es um falsafa geht, drängt sich der philosophische Begriff der Spekulation geradezu auf, der in seinem metaphysischen Gebrauch die höchste Erkenntnisform bezeichnet und doch zugleich in seinem alltäglichen Gebrauch die Assoziation der auf bloßer Mutmaßung basierenden Behauptung weckt. Genau das scheint mir zu sein, was al-Ghazālī an dieser Stelle damit zum Ausdruck bringen wollte: Die falāsifa sind durch ihre philosophischen Spekulationen dazu verführt worden, die »Zügel der Religion« fallenzulassen und einem Pfad zu folgen, der nicht der Pfad Gottes ist.

Denn sie folgten dabei einer Schar – sagt al-Ghazālī, indem er einen Teil eines Koranverses zitiert -, von der sie vom Pfad Gottes abgewendet wurden. Und das tat diese Schar, indem sie den Pfad Gottes als krumm erscheinen ließ. Das muss wohl so verstanden werden, dass die falāsifa ihre Spekulationen von dieser Schar übernahmen, die vorgaben, in ihrem Denken über einen eigenen Pfad, jedenfalls über einen anderen Pfad als den Pfad Gottes, zu verfügen, der sich im Lichte ihres »größeren Intellektes« als überlegen erweist, eben den Pfad der falsafa.

Und dieser philosophische Pfad des überlegenen Intellekts ist den intellektuell minderbemittelten Mitmenschen nicht zugänglich, für die – das sagt al-Ghazālī hier noch nicht, lässt sich aber erschließen – die Religion (dīn) bestimmt ist. Die philosophische Religion (falsafa) steht also in einem gewissen, mehr oder weniger gegensätzlichen Verhältnis zur Religion (dīn) des Islam, das hier noch nicht näher erläutert wird.

Und was liegt dem Denken der falāsifa zugrunde? Ihre Weigerung, die Wahrheit des kommenden Lebens anzuerkennen! Die philosophische Religion hat also offensichtlich eine ganz andere Konzeption dessen, was das gemeine Leben übersteigt. Darauf wird noch zurückzukommen sein, insbesondere auch was das Schlusswort betrifft.

al-Ghazālī setzt nun seinen Gedankengang fort, indem er sich näher mit den Grundlagen dieser philosophischen Religion befasst:

Es gibt keine Grundlage für ihren kufr (Nicht-Islam, Ablehnung des Islam) außer der Nachahmung (taqlīd) dessen, was sie hören und womit sie vertraut sind, wie die Nachahmung der Juden und Christen, da ihre Erziehung und die ihrer Kinder einem anderen Weg gefolgt ist als dem der Religion des Islam (ghayr dīn al-islām). (S. 2)

Zuerst bestimmt al-Ghazālī die Beschreibung des Denkens der genannten »Gruppe« genauer, indem er es als kufr bezeichnet. kufr wird oftmals mit Unglauben übersetzt, so hier auch von Marmura, was jedoch meist nicht nur ungenau, sondern falsch ist. Denn kufr kann sehr wohl für einen Glauben stehen, der aber eben nicht der islamische ist. Daher wäre es angebracht, unter kufr den Gegensatz zum Islam oder islamischen Glauben (īmān), also den Nicht-Islam oder den nicht-islamischen Glauben zu verstehen, auch wenn dies sprachlich unschön ist.

al-Ghazālī bezeichnet daher hier gerade den Glauben der falāsifa, also ihre philosophische Religion, als kufr. Denn sie sind damit einem »anderen Weg gefolgt […] als dem der Religion des Islam«. Die Religion der falāsifa ist außerhalb der Religion des Islam (ghayr dīn al-islām), doch gleichwohl eine Religion – in Gestalt der Philosophie (falsafa).

Und worin sieht al-Ghazālī nun die Grundlage des kufr der falāsifa? In der »Nachahmung (taqlīd) dessen, was sie hören und womit sie vertraut sind«. Und durch ihre Erziehung bedingt ahmten sie eine andere Religion nach als die des Islam.

Daher trifft auch der Vergleich mit den Juden und Christen, deren Religionen zwar auf Offenbarungen zurückgehen, die jedoch auch nach der letzten Offenbarung durch den Gesandten Allāhs Muhammad (sas) entgegen der Botschaft ihrer eigenen Offenbarung und ihrer anerschaffenen, allgemein menschlichen Veranlagung (fitra) an ihren nunmehr überholten Religionen festhalten. Der Grund dafür ist das unreflektierte Verharren in ihrer Tradition, das – nach einem berühmten Hadith – durch die Erziehung vermittelt wird. Würden sie hingegen der im Koran wiederholt vorgebrachten Aufforderung nachkommen, ihre Traditionen und hergebrachten Glaubensüberzeugungen kritisch zu hinterfragen und aufzuklären, stünde ihnen der Weg zur vernünftigen Einsicht in die Wahrheit des Islam offen. So jedenfalls dürfte der eingeschobene Vergleich der falāsifa mit Juden und Christen zu verstehen sein.

al-Ghazālī sieht also die Grundlage des kufr der falāsifa in ihrer blinden Nachahmung. Auf den ersten Blick ist dies erstaunlich, da doch gerade die Philosophen für sich in Anspruch nehmen, eben nicht der Nachahmung zu folgen, sondern der selbständigen Leitung ihres Verstandes. Doch darin scheinen sie einer Täuschung zu erliegen.

Nachahmung an sich muss nicht zum Falschen führen. Sie ist für al-Ghazālī also nicht das eigentliche Problem. Nachahmung des Wahren führt zum Wahren, obschon solcherart gewonnene Erkenntnis der vollständigen Einsicht ermangeln und nicht ohne Risiken sein mag. Dem Falschen ist sie allemal vorzuziehen. Nachahmung gepaart mit Täuschung und Hochmut setzt allererst das ganze Potential an Gefahren frei.

Wenn wir noch einmal auf den ersten Absatz zurückblicken, können wir feststellen, dass al-Ghazālī dort als Grund für die Abwendung der falāsifa vom Islam das Bewusstsein ihrer Überlegenheit anführt. Und hier bringt er nun als zweiten Grund ihre Nachahmung einer nicht-islamischen Religion. Aber das eine bedingt das andere, ihr Hochmut, d.h. ihr Glaube an die Überlegenheit der philosophischen Religion die Nachahmung, und umgekehrt die unbewusste, da auf Täuschung basierende Nachahmung den Hochmut.

Das wahre Problem ist also die Nachahmung des Falschen. Aber was ist das Falsche, dem die falāsifa im Glauben, der bloßen Leitung der Vernunft zu folgen, doch in Wahrheit blind gehorchen? al-Ghazālī gibt folgende Antwort:

Der Ursprung ihres kufr ist, dass sie so hochtönende Namen gehört haben wie Sokrates, Hippokrates, Platon, Aristoteles und ihresgleichen und die Übertreibung und Fehlgeleitetheit von Gruppen von ihren Anhängern, wenn sie ihre Vernunft (ʿaql), die Vortrefflichkeit ihrer Prinzipien und die Genauigkeit ihrer Wissenschaften der Geometrie, der Logik, der Physik (Naturphilosophie) und der Metaphysik beschreiben und als einzige aufgrund ihres übermäßigen Intellekts und Begriffsvermögens (als fähig) zur Entdeckung dieser verborgenen Dinge (beschreiben); (und auch gehört haben) was sie sagen (über ihre Meister, nämlich) dass mit der Nüchternheit ihrer Vernunft und der Fülle ihres Verdienstes einhergeht ihre Verwerfung der offenbarten Gesetze und Glaubensrichtungen und ihre Ablehnung der Einzelheiten der Religionen und Bekenntnisse, da sie diese für menschengemachte Gesetze und beschönigte Tricksereien hielten. (S. 2)

Den Ursprung des kufr der falāsifa erkennt al-Ghazālī demnach darin, was diese von »Gruppen von ihren Anhängern« hören, d.h. von Anhängern der zuvor genannten großen griechischen Philosophen, deren bloße Namen für sie schon so hoch tönen, dass sie ihnen eine gewisse Autorität einflößen.

Und was bekommen sie da zu hören? Die Anhänger der falsafa beschreiben die Vernunft (ʿaql) der griechischen Philosophie, die ausgehend von ihren vollkommenen Prinzipien überragend genaue Wissenschaften aufbaut. Genannt werden ausdrücklich Geometrie, Logik, Physik (Naturphilosophie) und Metaphysik. »Genauigkeit« soll hier wohl darauf anspielen, dass die genannten Wissenschaften dem Anspruch der aristotelischen Wissenschaftstheorie auf ein nach den Regeln der syllogistischen Logik axiomatisch aufgebautes System genügen müssen, eben dem, was nach Aristoteles einzig Wissenschaft im wahren Sinne genannt zu werden verdient. Als klassischer Musterfall für eine solche Theorie gilt gemeinhin die euklidische Geometrie.

Zu diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist jedoch nicht jeder befähigt, sondern nur die Philosophen, die »aufgrund ihres übermäßigen Intellekts und Begriffsvermögens zur Entdeckung dieser verborgenen Dinge« fähig sind. Verborgen sind diese Dinge für den gemeinen Menschenverstand der großen Masse. Zu ihrer Entdeckung bedarf es der besonderen Vermögen, über die lediglich die ebenso kleine wie herausragende Elite der Philosophen verfügt.

Und des weiteren bekommen sie über ihre vielbewunderten Meister zu hören, dass diese im gleichen Maße, wie sie nüchtern der Vernunft folgten, was sie zu ihren überragenden wissenschaftlichen Leistungen befähigte, die Religionen und deren Gesetze verwarfen. Denn diese Gesetze waren in ihren Augen in Wirklichkeit doch nur von Menschen gemacht. Und die Religion erschien ihnen als bloße List, um die unverständigen Menschen mit schönem Schein in ihren Bann zu locken. Wer sich indes zu dieser Erkenntnis aufschwingen konnte, für den musste jede Religion als bloßer Trug erscheinen, mit Ausnahme seiner eigenen freilich – der philosophischen Religion der falāsifa.

Wer nun meint, dieser so besonderen Einsichten teilhaftig geworden zu sein und somit dieser Elite anzugehören, wird zu einem gewissen Hochmut neigen. al-Ghazālī fährt daher mit ihrer Beschreibung fort:

Und wenn sie dies hören, […] erheben sie sich selbst über die Unterstützung des Volkes (dschamāhīr) und der breiten Masse. (S. 2)

In ihrem elitären Hochmut können sie ihre Aufgabe nicht darin sehen, in den Dienst des einfachen Volkes zu treten, das sie dank ihrer philosophischen Religion so weit übertreffen, dass sie es vielmehr für seine Dummheit verachten und der trügerischen List der offenbarten Religion die Aufgabe überlassen, es zu zügeln und seiner Kontrolle zu unterwerfen. Denn dies ist bestenfalls die Rolle, die der Religion in ihrem Denken verbleibt.

Für die falāsifa selbst kommt es freilich nicht in Frage, sich mit dem religiösen Schein zufriedenzugeben:

Und sie verachten es, sich mit den religiösen Überzeugungen ihrer Vorfahren zu begnügen, in der Mutmaßung, dass die Bezeigung der Klugheit in der Aufgabe der Nachahmung des Wahren durch die Aufnahme der Nachahmung des Falschen eine schöne Sache ist, wobei sie sich dessen nicht bewusst sind, dass der Übergang von einer Nachahmung zur anderen Torheit und Verworrenheit ist. (S. 2)

Wie al-Ghazālī aufzeigt, verfallen sie hiermit jedoch selbst einem trügerischen Schein. Denn während die einfachen Menschen in ihrer Nachahmung immerhin dem Wahren treu bleiben, verfallen die falāsifa im Glauben, ihre philosophische Religion sei »eine schöne Sache«, der »Nachahmung des Falschen«. Sie täuschen sich dabei darüber, dass sie bloße Nachahmung betreiben, da sie von ihrer Vernünftigkeit, ihrer Rationalität überzeugt sind. Und da sie sich dessen nicht bewusst sind, können sie auch nicht erkennen, dass das, was sie in Wirklichkeit tun, nämlich von einer Nachahmung zur anderen zu wechseln, keine rationale Entscheidung ist, sondern Torheit.

Angesichts dessen bleibt al-Ghazālī nur die rhetorische Frage:

Welchen Rang in der Welt Gottes (Allāh) gibt es, der niedriger ist als der Rang desjenigen, der sich selbst mit der Aufgabe der Wahrheit, die traditionell geglaubt wird, durch die eilfertige Annahme des Falschen als wahr schmückt, indem er es ohne (verlässliche) Überlieferung und Verifikation anerkennt? (S. 2)

Die vermeintliche Rationalität der falsafa erweist sich daher als Trug und Falschheit. Wahre Vernunft ist nur um den Preis strenger Überprüfung und Verifikation aller Ansprüche auf Wahrheit zu haben, auch derjenigen Ansprüche, die im Namen einer vermeintlich überlegenen Vernunft erhoben werden.

Und zu dieser Aufgabe schickt al-Ghazālī sich nun an, angespornt durch den tiefen Blick in den Abgrund, der sich auftut, wenn man die vorgeblich sicheren Wahrheiten der älteren griechischen und späteren arabischen Philosophie einer gründlichen Prüfung und Kritik unterzieht.

Als ich diese Ader von Narrheit in diesen Toren pulsieren sah, nahm ich es auf mich, dieses Buch zu schreiben als Widerlegung (radd) der alten Philosophen, um die Inkohärenz (tahāfut) ihrer Glaubenslehre (ʿaqida) und die Widersprüchlichkeit ihrer Worte in bezug auf die Metaphysik (ilāhiyyāt) aufzuzeigen, um die Gefahren ihrer Lehre (madhhab, auch: Schule) und ihre Fehler aufzudecken, die genau genommen Gegenstände des Gelächters für die Vernünftigen und eine warnende Lektion für die Verständigen sind. Ich meine damit die Arten von vielerlei Glaubenslehren und Meinungen, durch die sie sich speziell ausgezeichnet sehen gegenüber dem Volk und der breiten Masse. (S. 3)

al-Ghazālī legt mit aller Deutlichkeit dar, was sein Beweggrund war und worum es ihm im Wesentlichen geht. Das wichtigste Motiv war demnach, dass er in den vorgeblich so rationalen falāsifa die Toren erkannt hat, die sie in Wirklichkeit sind. Dies will er ausführlich darstellen, so dass die Gefahren, die von ihrer Lehre ausgehen, und ihre Fehler offengelegt werden. Zu diesem Zweck schreibt er den Tahāfut als Widerlegung (radd) – und zwar von wem? Der alten Philosophen! Seine Kritik richtet sich also ganz ausdrücklich nicht nur gegen die späteren falāsifa, nicht einmal nur gegen die älteren, sondern gegen die alten Philosophen, womit wohl niemand anderes als die großen griechischen Meister der falāsifa gemeint sein dürften, namentlich Sokrates, Platon und Aristoteles.

Und wogegen richtet sich seine Kritik? Sie zielt auf die Glaubenslehren und die Metaphysik der alten Philosophen, deren Inkohärenz und Widersprüchlichkeit nachgewiesen werden soll. Bei einem Denken wie dem der griechischen Philosophie, das systematische Wissenschaft im Sinne der aristotelischen Wissenschaftslehre zu sein beansprucht, kommt dies einer umfassenden Widerlegung gleich, die zwangsläufig den Zusammenbruch (tahāfut) des ganzen Systems nach sich zieht. Es ist also keineswegs übertrieben, wenn al-Ghazālī von einer »Widerlegung der alten Philosophen« spricht. Denn wenn ihm der Nachweis ihrer Inkohärenz und Widersprüchlichkeit gelingt, ist nicht nur die eine oder andere These widerlegt, sondern das gesamte Gebäude ihres Denkens in seinen Fundamenten so tief erschüttert, dass es in sich zusammenstürzt – und somit verdient, in einem befreienden »Gelächter« der wahrhaft Vernünftigen unterzugehen. Daneben sollte es freilich auch als »warnende Lektion« für die Verständigen dienen, was bis heute viel zu wenig geschehen und ernst genommen worden ist.

Nicht übersehen werden darf gleichwohl, dass die Kritik inhaltlich eingeschränkt ist auf »Glaubenslehre« und »Metaphysik«. Das ist das anvisierte Gebäude. Sollte dieses nun mit Mitteln errichtet worden sein, die bloß äußerlich hinzugekommen sind, könnte es wohl möglich sein, mit diesen Mitteln auf neuen Fundamenten ein anderes Gebäude zu errichten. Das ist damit ja keineswegs ausgeschlossen. Diese Frage scheint al-Ghazālī bis hierhin nicht eindeutig geklärt zu haben: Könnte, gemäß al-Ghazālī, nach dem Zusammenbruch der Metaphysik mit diesen Mitteln ein alternatives philosophisches System entwickelt werden? Darauf wird zurückzukommen sein.

Gegen Ende des zuletzt zitierten Abschnittes betont al-Ghazālī noch einmal den elitären Charakter der falāsifa, die sich im Besitz eines privilegierten Zugangs zur Wahrheit wähnen und sich deshalb verächtlich über das gemeine Volk erheben. Nach der Widerlegung ihrer »vielerlei Glaubenslehren und Meinungen« wäre ihnen die Grundlage dafür entzogen und ihnen bliebe nichts anderes übrig, als sich demütig ins Volk einzureihen.

Was al-Ghazālī in der Folge sagt, scheint dem allerdings zu widersprechen und gibt einige Rätsel auf. Denn er unterscheidet nun bei den »alten Philosophen« selbst eine Oberfläche, die Fehler in manchen Einzelheiten birgt, aber nichtsdestoweniger wie ein trügerischer Popanz wirkt, von ihrer wahren Lehre. Dieser Popanz werde von den nachahmenden Anhängern vor sich hergetragen, um sich selbst und andere damit zu täuschen und irrezuführen. Und um diese vom Trug zu heilen, nimmt sich al-Ghazālī vor, die Lehre (madhhab) der alten Philosophen so darzustellen, »wie sie wirklich ist«. Damit soll dem Nachahmer gezeigt werden, dass

jene Führer und Köpfe der falāsifa, die er imitiert, zu Unrecht bezichtigt werden, die Gesetze der Religion zu verwerfen, dass sie im Gegenteil an Gott (Allāh) und Seine Gesandten glaubten (muʾminūn billāh wa musaddiqūn birusulihi). Sie sind jedoch jenseits dieser Prinzipien in bestimmten Einzelheiten in Verwirrung geraten, haben sich darin geirrt, sind abgewichen und haben andere irregeleitet vom rechten Pfad. (S. 3)

Da drängt sich freilich die Frage auf, um wen es sich dabei handeln mag. Es werden keine Namen genannt. Wer sind die alten Philosophen? Und wer die »Führer und Köpfe der falāsifa«? Dazu müssen doch wohl Platon, Aristoteles, al-Fārābī und Ibn Sīnā gerechnet werden. Oder kann es sein, dass al-Ghazālī an andere Philosophen denkt? So wäre jedenfalls der Widerspruch leicht aufzulösen. Nur ist dies kaum vorstellbar. Schließlich vertreten diese Denker ja Thesen, die al-Ghazālī als kufr wertet, wie die Ur-Ewigkeit der Welt und die Leugnung der leiblichen Auferstehung. kufr als Gegensatz zum Islam, als Nicht-Islam ist jedenfalls nicht mit dem islamischen Glauben (īmān) zu vereinbaren, der hier den Führern der falāsifa zugeschrieben wird.

Der Widerspruch lässt sich nicht ohne weiteres beseitigen. Es ist daher schwierig zu erkennen, was al-Ghazālī damit gemeint haben könnte. Will er wirklich damit sagen, dass unter der fehlerhaften Oberfläche des philosophischen Denkens, wenn man nur ein wenig daran kratzt, der Islam zum Vorschein kommt? Immerhin beinhaltet diese Oberfläche ja Auffassungen, die al-Ghazālī zufolge kufr sind und in einem systematischen Zusammenhang mit dem übrigen Gedankengebäude zu stehen beanspruchen.

Und wie steht es mit al-Ghazālīs Behauptung, zusammen mit der Widerlegung der »alten Philosophen« zugleich »ihre Lehre darzustellen, wie sie wirklich ist«? Hat er dies in dem von ihm gemeinten spezifischen Sinn wirklich getan? Und wo lässt sich diese Darstellung dann im Tahāfut finden? Darauf eine bejahende Antwort zu geben, scheint kaum möglich.

Wie man es auch dreht und wendet, so drängt sich unabweislich der Eindruck auf, dass der hier zur Erscheinung kommende Widerspruch in Wirklichkeit nur Ausdruck einer Widersprüchlichkeit ist, die im Denken al-Ghazālīs selbst tief verwurzelt ist. Das aufzuklären, bedürfte einer gründlichen Untersuchung, die an dieser Stelle nicht zu leisten ist.

Damit sind wir am Ende der Einführung angelangt und wollen nun al-Ghazālīs Gedankengang in den übrigen vier Einleitungen, die jeweils mit muqaddima überschrieben und ab der zweiten nummeriert sind, weiter verfolgen und mehr oder weniger ausführlich referieren.

1.6.2 Zur ersten Einleitung

1.6.2 Zur ersten Einleitung Yusuf Kuhn

In der ersten Einleitung wird auf die Vielzahl der Unterschiede zwischen den Philosophen verwiesen, die sich einer Darstellung entziehen. Daher will al-Ghazālī sich auf den »Aufweis der Widersprüche in den Anschauungen ihres Führers beschränken, den Philosophen schlechthin und »den ersten Lehrer« (al-muʿallim al-awwal)« (Tahāfut, S. 4), namentlich Aristoteles, der diesen Rang verdient, da er ihre Wissenschaften systematisch organisiert und entwickelt hat.

al-Ghazālī bringt eine harsche Kritik gegen die Philosophen vor: Sie urteilen auf der Grundlage von Mutmaßung, ohne Verifikation und Gewissheit. Um dies zu verschleiern, setzen sie den trügerischen Glanz von Mathematik und Logik ein, mit dem sie den Anschein erwecken, auch ihre Metaphysik würde den gleichen Ansprüchen an methodisch gesicherte Wahrheit genügen, was die Schwachen im Geiste zu verlocken vermag. al-Ghazālī hält dagegen:

Wären ihre metaphysischen Wissenschaften ebenso vollkommen in der Beweisführung und frei von Vermutung wie ihre mathematischen Wissenschaften, wären sie in den ersteren nicht uneins gewesen, wie sie auch in der Mathematik nicht uneins waren. (S. 4)

Das ist ein durchaus gewichtiges und ernstzunehmendes Argument gegen ein Denken, das sich ganz der logischen Beweisführung im Rahmen axiomatisch aufgebauter Theorien verschrieben hat und deren Modell, dem alle Theorien nachzubilden sind, die euklidische Geometrie ist. Vielfalt der Meinungen ist in einem System unter der Herrschaft des Prinzips der Widerspruchsfreiheit ausgeschlossen und untrügliches Anzeichen für Falschheit. Die Einheit der so verstandenen Vernunft lässt solche Vielfalt nicht zu. Das hat al-Ghazālī klar erkannt und gegen die Philosophen gewendet.

Überdies gibt es auch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Übersetzung und Interpretation des Aristoteles. Um dieser unübersichtlichen Wirrnis aus dem Weg zu gehen, beschließt al-Ghazālī sich auf die zuverlässigsten Vermittler des aristotelischen Denkens zu beschränken, namentlich auf al-Fārābī und Ibn Sīnā. Denn sie haben schon eine Vorauswahl der besten Lehren ihres Meisters getroffen. Und es genügt daher, sich bei der Widerlegung auf sie zu konzentrieren.

1.6.3 Zur zweiten Einleitung

1.6.3 Zur zweiten Einleitung Yusuf Kuhn

In der zweiten Einleitung geht es um die Differenzen zwischen den Philosophen und anderen Gruppen (firaq), die in drei Teile untergliedert werden.

Im ersten Teil beschränkt sich der Disput auf die bloß verbale Ebene, auf einen Streit um Worte. Als Beispiel wird angeführt, dass der Schöpfer der Welt als »Substanz« (dschawhar) bezeichnet wird. al-Ghazālī scheint sagen zu wollen, dass es, wenn man sich einmal auf die zugrunde liegende Bedeutung, den Begriff, der auf das Bezeichnete tatsächlich zutrifft, verständigt hat, zwecklos ist, sich um bloße Worte zu streiten. al-Ghazālī hält es daher in diesem Fall nicht für erforderlich, in eine Widerlegung einzutreten.

Das ist sicherlich nicht falsch, aber die enge Verbindung von Worten und Begriffen im Kontext unterschiedlicher Denkweisen birgt doch erheblich mehr Spannungspotential, wofür gerade der Begriff der Substanz ein besonders geeignetes Beispiel wäre. Wir wollen es dabei bewenden lassen, zumal die knappen Bemerkungen von al-Ghazālī nicht dazu angetan sind, die Frage tiefer zu behandeln.

Der zweite Teil betrifft Fragen, in denen die Lehre der Philosophen mit keinem religiösen Grundsatz (usūl) in Konflikt gerät und es daher aus Sicht der Offenbarung auch keine Notwendigkeit gibt, mit ihnen darüber zu streiten.

Als Beispiele nennt al-Ghazālī zunächst physikalische Erklärungen für die Mond- und Sonnenfinsternis, um sogleich festzustellen, dass auch hier eine Widerlegung zwecklos ist, ja sogar der Religion schaden würde. Seine Begründung lautet:

Denn diese Dinge basieren auf geometrischen und arithmetischen Beweisen (burhān), die keinen Raum für Zweifel lassen. (S. 6)

Für al-Ghazālī gehören Erkenntnisse der mathematischen Physik also offensichtlich zur Kategorie des notwendigen Wissens, das durch logische Beweisverfahren unwiderleglich feststeht. Dieser Frage wollen wir jetzt nicht nachgehen, sondern lediglich festhalten, worauf es al-Ghazālī hier wirklich ankommt, nämlich auf die Feststellung, dass es diese Art von zweifelsfreiem, sicherem Wissen gibt, das auf Beweisen basiert, die den Regeln der syllogistischen Logik folgen.

Und da dieses Wissen nach al-Ghazālī nicht in Gegensatz zu religiösem Wissen steht, macht es keinen Sinn, es widerlegen zu wollen oder seine Widerlegung gar zur religiösen Pflicht zu erheben. Denn wer dies auch in der guten Absicht der Verteidigung der Religion unternimmt, kann sich angesichts des Status der Gewissheit dieser Erkenntnisse nur lächerlich machen und letztlich die Arbeit der Feinde der Religion dadurch sogar erleichtern.

Wie das Sprichwort sagt: Ein rationaler (ʿāqil) Feind ist besser als ein unwissender (dschāhil) Freund. (S. 6)

Im folgenden Beispiel macht al-Ghazālī noch eine aufschlussreiche Bemerkung: Und sollte es doch eine den Regeln der Überlieferung entsprechende Aussage der Offenbarung geben, die einer notwendigen Erkenntnis widerspricht, so muss man von deren äußerer Bedeutung (dhāhir) zu einer anderen übergehen, statt die bewiesene und daher zweifelsfrei gewisse Aussage (qatʿī) zu verwerfen. Diese Umdeutung zur Auflösung eines vermeintlichen Widerspruches nennt al-Ghazālī an dieser Stelle ausdrücklich taʾwīl. Wir treffen hier also auf eine weitere Formulierung des qānūn at-taʾwīl.

In einem letzten Beispiel bringt al-Ghazālī noch einmal deutlich seine Auffassung zum Ausdruck, dass eine Wissenschaft wie die Mathematik gegenüber der Offenbarung neutral ist.

Es geht hier nämlich um die Untersuchung der Welt, ob ihr Sein einen Anfang in der Zeit hat oder ur-ewig ist. Wenn ihr Anfang in der Zeit erwiesen ist, ist es gleichgültig, ob sie eine Kugel oder ein einfaches Ding oder ein Oktagon oder ein Hexagon ist [...] (S. 7)

al-Ghazālī führt noch einige weitere Beispiele für Beschreibungen der mathematischen Physik an. Kurz gesagt, diese machen keinen Unterschied. Ein Bewusstsein davon, dass in die mathematischen Theorien selbst wie zum Beispiel die euklidische Geometrie sehr allgemeine Vorstellungen über den Raum und in die Physik ganz bestimmte Vorstellungen über Raum und Zeit eingehen, deren Übereinstimmung mit dem islamischen Denken allererst zu prüfen wäre, lässt sich bei al-Ghazālī nicht erkennen. Er setzt dabei im Gegenteil einfach voraus, dass dieses Wissen keinerlei metaphysische Voraussetzungen besitzt, ja es scheint ihm überhaupt nicht in den Sinn zu kommen, dass es anders sein könnte.

Der nächste Abschnitt über den dritten Teil sei wieder vollständig zitiert, da er das zentrale Vorhaben des Tahāfut anspricht:

Der dritte Teil ist derjenige, in dem der Disput sich auf einen der Grundsätze (usūl) der Religion (dīn) bezieht, wie das Aufrechterhalten der Lehre vom zeitlichen Hervorgehen der Welt und der Attribute (sifāt) des Schöpfers, den Beweis der Auferstehung der Leiber und Körper. Dies alles wurde (von den falāsifa) geleugnet. Es ist dieses Gebiet und seinesgleichen, auf dem man die Falschheit ihrer Lehre aufweisen muss. (S. 7)

al-Ghazālī bestimmt ganz klar, welchem Auswahlkriterium er bei seiner Erwiderung auf die falāsifa folgt. Er sucht die Thesen heraus, die mit den Grundsätzen der Religion (usūl ad-dīn) in Konflikt stehen und schickt sich an, diese zu widerlegen. Der Ausgangspunkt ist also nicht ein allgemeines und unbestimmtes Interesse an philosophischen Fragen, sondern die Absicht, die Grundsätze der Offenbarung gegen die Angriffe der falsafa zu verteidigen. Der qānūn at-taʾwīl kommt mithin von Anfang an zur Anwendung.

1.6.4 Zur dritten Einleitung

1.6.4 Zur dritten Einleitung Yusuf Kuhn

Zu Beginn legt al-Ghazālī erneut seine Absicht dar und macht ganz ausdrücklich klar, dass diese im Tahāfut ausschließlich kritischer Natur ist:

Die Absicht ist, diejenigen zu warnen, die gut von den falāsifa denken und meinen, dass ihre Verfahrensweisen frei von Widerspruch sind, indem wir die Aspekte ihrer Inkohärenz (tahāfut) aufdecken. Und deshalb werde ich mich nur insofern auf die Auseinandersetzung mit ihnen einlassen, als es für eine Bestreitung erforderlich ist, nicht um Behauptungen und Thesen aufzustellen. Ich werde das, woran sie glauben, als dunkel und undurchsichtig erweisen, [indem ich] schlüssig [aufzeige], dass sie an verschiedenen Konsequenzen [ihrer Theorien] festhalten müssen. (S. 7)

al-Ghazālī lässt keinen Zweifel daran, dass es ihm im Tahāfut nicht daran gelegen ist, eine eigene Lehre auszubreiten und zu verteidigen. Er macht sich nicht zum Fürsprecher der Auffassungen einer bestimmten islamischen Gruppe, sondern zielt vielmehr auf die Einheit all derer ab, die sich in ihrer Vielfalt und Pluralität innerhalb des wahrhaft islamischen Denkens bewegen, aus dessen Rahmen manche Thesen der falāsifa herausfallen.

Ich werde mich nicht zur Verteidigung einer bestimmten Lehre aufschwingen, sondern werde alle Gruppen (firaq) zu einer Gruppe gegen sie (falāsifa) machen. Denn die anderen Gruppen mögen sich in Einzelheiten von uns unterscheiden, wohingegen sie (falāsifa) sich den Grundsätzen der Religion widersetzen. So lasst uns gemeinsam gegen sie obsiegen. Denn angesichts der Not vergeht der Groll. (S. 8)

1.6.5 Zur vierten Einleitung

1.6.5 Zur vierten Einleitung Yusuf Kuhn

In der vierten Einleitung geht es vor allem um Mathematik und Logik sowie deren Verhältnis zur Metaphysik. Dieses Verhältnis betrachtet al-Ghazālī unter der Fragestellung, ob und inwiefern Mathematik und Logik als Voraussetzungen für die Metaphysik nötig sind.

Zunächst beschreibt al-Ghazālī einen Trick, den die Philosophen anzuwenden belieben, wenn sie im Verlauf einer Debatte auf eine Schwierigkeit stoßen. Dann verweisen sie nämlich darauf, wie dunkel und schwierig die Metaphysik sei, so dass sie überhaupt nur von den intelligentesten Köpfen erfasst und ihre Schwierigkeiten durch die Einführung von Mathematik und Logik gelöst werden könnten. Wenn jemand, der ihnen nachahmend folgt, nun auf eine Schwierigkeit in ihrer Lehre stößt, wird er sich damit beruhigen, dass er sie wohl lösen könne, wenn er nur Logik und Mathematik beherrschte.

Diese Schilderung hat gewiss nichts an Aktualität eingebüßt und trifft auf das heute herrschende Wissenschaftsverständnis, mutatis mutandis, vollauf zu.

al-Ghazālī geht zuerst der Frage nach, ob Mathematik zum Verständnis der Metaphysik erforderlich ist, wie die falāsifa behaupten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass weder Arithmetik noch Geometrie irgendeine Beziehung zu Untersuchungen im Bereich der Metaphysik haben. Seine Argumente gleichen dem oben in bezug auf die Schöpfung der Welt in der Zeit: Wenn einmal erwiesen ist, dass etwas – ein Haus oder die Welt – das Werk eines mit Wissen, Willen und Macht ausgestatteten Schöpfers ist, kommt es nicht mehr darauf an, welche Zahl und räumliche Gestalt dieses Werk im einzelnen besitzt. Kenntnisse der Mathematik sind daher für metaphysische Belange überflüssig.

Die Frage, ob und inwiefern die Mathematik Voraussetzungen macht, die womöglich das Denken über den Schöpfer in der einen oder anderen Weise einschränken oder gar determinieren, scheint außerhalb des Gesichtskreises von al-Ghazālī zu liegen. Um eine Antwort darauf geben zu können, ist ein Verständnis der Mathematik als Theorie sowie ihrer Grundlagen unerlässlich. Die von den Philosophen und anderen Wissenschaftlern als Trick eingeführte Schutzbehauptung zur Wahrung ihrer Autorität gegenüber den blinden Nachahmern erweist sich aus diesem Blickwinkel durchaus als höchst relevant für ein rechtes Verständnis der Metaphysik, was al-Ghazālī allerdings verborgen blieb.

Dann wendet al-Ghazālī sich der Frage nach der Logik zu und stellt fest:

Ja, wenn sie sagen, dass die Logik beherrscht werden muss, so ist dies richtig. (S. 9)

Allerdings widersetzt er sich ihrem Anspruch auf Exklusivität. Nicht nur in der Philosophie gibt es Logik, sondern auch im Kalam, wenn auch nicht unter diesem Namen. Die Philosophen haben dieser Kunst nur den Namen »Logik« gegeben, um damit die Schwachen zu beeindrucken, die darauf hereinfallen und glauben, dass die Logik eine neue Kunst ist, die nicht den Kalam-Gelehrten (mutakallimūn), sondern ausschließlich den falāsifa vertraut ist.

In der Sache aber weist die Logik im Kalam und in der Philosophie keine wesentlichen Unterschiede auf. Da drängt sich freilich die Frage auf, ob al-Ghazālī es sich hier nicht allzu leicht macht. Können die beiden »Logiken« angesichts der Unterschiede wirklich so einfach gleichgesetzt werden? Wohl kaum. Dennoch ist eine solche Verwischung der Unterschiede zwischen zwei offenbar so grundverschiedenen »Logiken« sehr bemerkenswert. Die Frage, was al-Ghazālī damit meint und bezweckt, muss hier offenbleiben, zumal sie im Kontext der Auseinandersetzung mit den falāsifa im Tahāfut nicht von vorrangiger Bedeutung ist.Siehe dazu Kapitel 6 »al-Ghazālī und aristotelische Logik« in diesem Band: https://alastu.net/node/81

Um darüber also keine unnötige Debatte aufkommen zu lassen sowie den falāsifa gewissermaßen einen Gefallen zu tun und auf ihrem eigenen Terrain zu begegnen, beschließt al-Ghazālī, den Tahāfut in der Terminologie der philosophischen Logik zu verfassen – auch um ihnen damit ihr Scheitern an den eigenen Maßstäben besonders klar vor Augen zu führen:

Wir werden deutlich aufzeigen, dass das, was sie (falāsifa) als Bedingung für die Richtigkeit der Materie (Prämisse) des Syllogismus in der Lehre vom Beweis (Analytica posteriora) der Logik aufgestellt haben und was sie als Bedingung für die Form (Schlussfigur) des Syllogismus in der Lehre vom logischen Schluss (Analytica priora) aufgestellt haben, und die Forderungen, die sie in der Isagoge und in den Kategorien, die allesamt Teile der Logik und ihrer Einleitungen sind, postuliert haben, in ihren metaphysischen Wissenschaften nicht erfüllen können. (S. 9)

al-Ghazālī verweist auf die verschiedenen Bücher, insbesondere des Aristoteles, aus dem Organon, in dem die aristotelische Logik und Wissenschaftstheorie dargelegt ist, und kündigt den Nachweis an, dass die falāsifa in ihrer Metaphysik den von ihnen selbst aufgestellten Kriterien und Regeln nicht genügen. Damit wäre der Anspruch der falāsifa auf Richtigkeit und Wahrheit der von ihnen vertretenen Theorien und Thesen grundlegend erschüttert und zunichte gemacht. Das von ihnen errichtete Gebäude einer philosophischen Religion würde in sich zusammenstürzen, einen tahāfut bis in die Fundamente erleiden.

Damit mag die Falschheit einzelner Thesen nicht unbedingt erwiesen sein. Denn al-Ghazālī zeigt vor allem auf, dass sie unbegründet und inkohärent sind. Da das auf der Grundlage der aristotelischen Wissenschaftstheorie, d.h. der Prinzipien des ausgeschlossenen Widerspruchs und der Identität, errichtete Gebäude aber den Anspruch einer als System organisierten Wissenschaft erhebt, übertreibt al-Ghazālī keineswegs, wenn er dessen tahāfut (Zusammensturz) in Aussicht stellt.

An welchen Stellen dieses Gebäude erschüttert werden soll, um es schließlich zum Einsturz zu bringen, verdeutlicht al-Ghazālī nun, indem er die Liste der im Tahāfut verhandelten Themen bringt. Das erübrigt sich für uns, da wir sie weiter oben bereits vorgestellt haben.

al-Ghazālī schließt die vierte und letzte Einleitung nach der Auflistung der zu behandelnden Thesen mit einem Absatz, in dem er einige Punkte kurz zusammenfasst. Er sei, die Erörterung der Einleitungen abschließend, angeführt:

Dies ist es also, in dem wir aus der Gesamtheit ihrer metaphysischen und physikalischen Wissenschaften ihre Widersprüche aufweisen wollen. Hinsichtlich der mathematischen Wissenschaften macht es keinen Sinn, sie zu verneinen oder anderer Meinung zu sein. Denn diese führen letztlich auf Arithmetik und Geometrie zurück. Was die Logik betrifft, so ist sie mit der Untersuchung des Instruments des Denkens von Intelligibilia (maʿqūlāt) befasst. Darin begegnet man keiner bedeutenden Meinungsverschiedenheit. Wir werden in dem Buch Das Richtmaß des Wissens (miʿyār) von seiner Art bringen, was nötig ist, um den Inhalt dieses Buches zu verstehen, so Allāh will. (S. 11)

al-Ghazālī wiederholt seine These von der metaphysischen Neutralität von Mathematik und Logik. In bezug auf die Logik führt er allerdings einen Begriff ein, der eher dazu angetan ist, diese vermeintliche Neutralität in Frage zu stellen, nämlich das »Denken von Intelligibilia (maʿqūlāt)«. Die Logik soll nur ein Instrument sein und daher neutral. Was aber meint al-Ghazālī genau mit maʿqūlāt? Der Anklang an einen platonischen Vernunftbegriff lässt sich nicht leugnen. Wäre es da nicht naheliegend, danach zu fragen, ob der Inhalt des Denkens (maʿqūlāt) nicht auch das Instrument, nämlich die Logik, bestimmt oder zumindest beeinflusst, dessen sich die Vernunft (ʿaql) bei der Erkenntnis der Vernunftwahrheiten (maʿqūlāt) bedient? Und steht nicht auch der Vernunftbegriff in enger Beziehung zum Gottesbegriff, so dass auch dann nicht von Neutralität gesprochen werden könnte, wenn man Metaphysik von den Gotteswissenschaften (ʿulūm ilāhiyya) unterscheiden wollte? Diese Fragen jedenfalls stellen sich für al-Ghazālī nicht. Warum dies so ist, muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.

Im letzten Satz sodann gibt al-Ghazālī einen Hinweis auf eine von ihm verfasste Abhandlung über die Logik, die unter dem Titel Miʿyār al-ʿilm (Das Richtmaß des Wissens) veröffentlicht wurde und von al-Ghazālī ausdrücklich als Anhang zum Tahāfut vorgesehen war, um im Bedarfsfall die für ein Verständnis des Tahāfut erforderlichen logischen Vorkenntnisse zu liefern.

Wir werden nun einen großen Sprung über den Mittelteil des Werkes hinweg machen, der in Marmuras Ausgabe 218 Seiten füllt und in dem al-Ghazālī die von ihm ausgewählten Themen für die Widerlegung der falāsifa im einzelnen verhandelt, und direkt zum Schlusswort übergehen, das kaum eine Seite in Anspruch nimmt. Es wäre freilich nützlich, an bestimmten Beispielen die Argumentationsweise al-Ghazālīs näher zu betrachten, insbesondere auch, was seine Anwendung der Interpretationsregel (qānūn at-taʾwīl) betrifft. Ich habe allerdings den Eindruck gewonnen, dass es sich dabei nicht mit einer oberflächlichen Betrachtung und einer daraus resultierenden schematischen Darstellung bewenden ließe, sondern dass es unerlässlich wäre, gründlich vorzugehen und tief in die Einzelheiten einzudringen, um dem Denken al-Ghazālīs wirklich gerecht zu werden. Das würde aber über den Rahmen dieser Studie hinausgehen und verlangt also zumindest nach Aufschub.

1.7 Zum Schlusswort

1.7 Zum Schlusswort Yusuf Kuhn

Was wir bisher als Schlusswort bezeichnet haben, ist eine magere Seite mit einigen Zeilen am Ende des Werkes, die al-Ghazālī selbst mit khātima al-kitāb überschrieben hat: Abschluss des Buches. Diese Zeilen sind zu so großer Berühmtheit gelangt, dass sie den Rest des Werkes zu überschatten drohen, da angenommen wurde, darin eine Fatwa samt Todesurteil ausfindig machen zu können. Manche meinten gar, al-Ghazālī habe darin nicht nur das Todesurteil einiger Philosophen gesprochen, sondern der gesamten Philosophie.

Wir wollen in diese Debatte hier nicht eintreten, sondern uns darauf beschränken, genau darzustellen, was auf dieser Seite tatsächlich gesagt wird und was nicht, um an die Stelle übereilter Schlüsse Bedachtsamkeit treten zu lassen. Ohnehin kann es uns hier nicht darum gehen, die so schwierige und unübersehbare Frage nach den Folgen von al-Ghazālīs Kritik an den falāsifa für das Schicksal der Philosophie im – nicht nur islamischen – Denken zu erörtern.

al-Ghazālī eröffnet das Schlusswort mit einer Frage, die ihm von einer nicht näher bezeichneten Person gestellt wird:

Wenn jemand sagt: Du hast nun die Lehren jener (falāsifa) erklärt; sprichst du also mit Bestimmtheit das Wort über ihren kufr und die Pflicht der Tötung desjenigen, der ihre Glaubenslehren vertritt?, sagen wir: […] (S. 230)

Es wird nach zweierlei gefragt: erstens, ob jene – wir nehmen an die falāsifa, ausdrücklich genannt werden sie nicht – mit ihren Lehren, die im Tahāfut dargelegt und kritisch erörtert werden, kufr (Nicht-Islam, Ablehnung des Islam) begehen, und zweitens, ob sich daraus eine Pflicht zur Tötung desjenigen ableitet, der diese Lehren vertritt.

Was antwortet al-Ghazālī darauf?

Ihr takfīr (takfīrihim: sie – die falāsifa – des kufr zu bezichtigen), ist unvermeidlich in Hinsicht auf drei Fragen: Eine von ihnen ist die Frage der Ur-Ewigkeit der Welt und ihre Behauptung, dass alle Substanzen ur-ewig sind. Die zweite ist ihre Behauptung, dass Allāhs Wissen die geschehenden Einzelheiten von den Individuen (Einzeldingen) nicht umfasst. Die dritte ist ihre Leugnung der Auferstehung der Leiber und ihrer Versammlung. (S. 230)

al-Ghazālī äußert sich ganz klar. Drei der von den falāsifa vertretenen Thesen stellen kufr dar, bündig zusammengefasst: die Ur-Ewigkeit der Welt, Allāhs Unwissen von Einzeldingen und die Leugnung der leiblichen Auferstehung. Mehr sagt er zunächst nicht. Es ist nicht die Rede von einer Fatwa; das Wort fatwā kommt gar nicht vor. Und selbst wenn es im Text vorkäme oder der Text als Fatwa gemeint sein sollte, obwohl die formalen Mindestanforderungen für eine fatwā im rechtlichen Sinne wohl kaum erfüllt sein dürften, so läge allenfalls eine Rechtsmeinung des Gelehrten al-Ghazālī vor.

Und von einem Urteil, gar einem Todesurteil ist noch weniger die Rede. Es wird zwar in der Frage »die Pflicht zur Tötung« erwähnt, aber es gibt keine ausdrückliche Antwort auf diesen Teil der Frage.

So ist in aller Deutlichkeit zu erkennen, was al-Ghazālī im Text tatsächlich sagt und was nicht. Mir scheint es daher ratsam zu sein, voreilige Schlüsse zu vermeiden und bedächtige Umsicht walten zu lassen.

Im nächsten Absatz folgen einige zusätzliche Erläuterungen:

Diese drei Thesen stimmen mit dem Islam überhaupt nicht überein. Wer sie glaubt, glaubt, dass die Propheten Lügen äußern und dass sie, was immer sie sagten, um des Nutzens (maslaha) willen sagten als Gleichnis für die Massen der Menschen und zur Unterweisung. Und das ist offenkundiger kufr, an den keine einzige von den Gruppen (firaq) der Muslime geglaubt hat. (S. 230)

al-Ghazālī betont zuerst noch einmal, dass die genannten drei Thesen mit dem Islam nicht vereinbar sind, und zwar ganz und gar nicht. Das kann so verstanden werden, dass es auch beim besten Willen nicht möglich ist, diese Thesen in irgendeiner Weise durch eine Umdeutung (taʾwīl) der Aussagen der Offenbarung nach den Interpretationsregeln des qānūn at-taʾwīl in Übereinstimmung mit dem Islam zu bringen, um dadurch den Widerspruch aufzulösen. Da diese Reinterpretation nicht möglich ist, bleibt der Widerspruch zwischen diesen Thesen der falāsifa und den Aussagen der Offenbarung bestehen, so dass unter der Voraussetzung der Wahrheit dieser Thesen die betreffenden Worte der Propheten zwangsläufig Unwahrheiten sein müssen. Der Schluss ist unter diesen Bedingungen nicht zu vermeiden: Die Propheten lügen.

Da sich die falāsifa gleichwohl als »islamische Philosophen« verstehen und von der Vereinbarkeit ihrer philosophischen Religion mit dem Islam ausgehen, stellt sich die Frage, wie sie diesen Widerspruch ihrerseits auflösen wollen. Für die falāsifa steht fest, dass ihre Anschauungen wahr sind, da sie diese im Sinne der aristotelischen Wissenschaftstheorie als bewiesen erachten. Das ist für sie also sicheres und zweifelsfreies Wissen, an dem nicht zu rütteln ist. Wie wir bereits gesehen haben, ist dieses Wissen jedoch nur dem kleinen Kreis einer Elite zugänglich, die über die nötigen geistigen Fähigkeiten verfügt, über ein Begriffsvermögen, das die begrenzten Verstandeskräfte der Masse der gemeinen Menschen bei weitem übersteigt. Ihnen muss die hehre Philosophie der falāsifa für immer verschlossen bleiben. Nur letzteren steht der exklusive Zugang zur Wahrheit in ihrer reinen Gestalt offen.

Wenn die Wahrheit in diesem Sinne schon vergeben ist, bleibt für das gemeine Volk eben bestenfalls eine mindere Gestalt derselben. In ihrer reinen begrifflichen Form kann es diese überlegene Wahrheit nicht erfassen. Also dient die Religion dazu, sie den Massen im Gewand von Gleichnissen und Bildern wenigstens näherzubringen. Das ist die Aufgabe und Rolle der Propheten. Den falāsifa zufolge sprechen die Propheten mithin eigentlich keine Lügen aus, sondern die Wahrheit in einer bildlichen Form, wie sie einzig dem gemeinen Menschen zugänglich ist. Durch diese Unterweisung werden die Propheten zu Erziehern der breiten Masse, die in ihrer Unverständigkeit und Vernunftferne sonst zügellos den niedersten Trieben verfallen würden.

Und so ahnt man auch bereits, zu welchem Nutzen (maslaha) gemäß den falāsifa die offenbarte Religion mit ihrer gleichnishaften Gestalt dem einfachen Menschen frommt: der Kontrolle. Während die von der Philosophie zur wahren Tugendhaftigkeit erhobenen falāsifa in ihrem Hochmut die Zügel der Religion abwerfen zu können glauben, bedarf das Volk ihrer umso mehr. Die Herrschaft der Elite geht somit weit über das rein Geistige hinaus. Und es verwundert nicht, dass die philosophische Elite in der Geschichte allenthalben die Nähe zur staatlichen Macht gesucht hat, die ihrerseits gerne auf erstere zurückgriff, um sich ideologische Legitimität zu verschaffen. Rechtfertigung fand dieses Vorgehen dadurch, dass dem gemeinen Menschen nebenbei doch auch die Aussicht auf Glückseligkeit im Jenseits in Aussicht gestellt wurde. Denn schließlich konnte von ihm nicht mehr verlangt werden, als sich in das von den philosophischen Intellektuellen und ihren staatlichen Bündnispartnern gesponnene Netz zu fügen.

al-Ghazālī hingegen deckt diese Täuschung auf und beharrt darauf:

Und das ist offenkundiger kufr.

Denn in Wirklichkeit zeigt die kritische Anwendung des qānūn at-taʾwīl auf, dass die Thesen der falāsifa nicht bewiesen sind, ja sogar aufgrund ihrer Inkohärenz in sich zusammenstürzen, und daher überhaupt keinen Rechtsanspruch darauf geltend machen können, die Aussagen der Offenbarung derart herabzusetzen, dass sie nicht mehr als Wahrheit gelten können. Und die Behauptung, dass die Propheten Falschheiten als Offenbarung anbieten, ist für al-Ghazālī ein entscheidendes Kriterium für kufr.

Diese Bemerkung von al-Ghazālī verdiente eine eingehendere Erläuterung, da sie einen zentralen Aspekt der philosophischen Religion der falāsifa betrifft. Es ist gewiss kein Zufall, dass sie an dieser Stelle im Tahāfut steht. Und sie schließt zugleich den Kreis, da sie an die Einleitung anknüpft, in der diese These, wie wir gesehen haben, bereits erwähnt wurde. Das verdeutlicht den zentralen Stellenwert, der dieser Kritik im Tahāfut zukommt.

Dieser elitistischen Theorie der falāsifa gebührte eine ausführliche Darstellung und Kritik, die hier keinen Platz finden kann. Sie wurde nicht nur von al-Fārābī und Ibn Sīnā vertreten, sondern ist tief im philosophischen Denken in der griechischen Tradition verwurzelt. Sie reicht einerseits mindestens bis Platon und sogar bis Parmenides zurück und hat andererseits das gesamte philosophische Denken, das sich auf der Grundlage der griechischen Philosophie entwickelte, zutiefst geprägt – bis in die heutige Zeit mit ihrer Wissenschaftsgläubigkeit und ihrem Expertenkult.

Etliche muslimische Denker waren davon überzeugt, dass sie sich mit dem islamischen Denken in Einklang bringen ließe. Und es gibt sogar Stimmen, die behaupten, al-Ghazālī selbst sei doch auch, trotz all seiner Kritik, die wir uns vor Augen geführt haben, in der einen oder anderen Weise dieser Auffassung verfallen. Nach alledem scheint es eher unwahrscheinlich, ja kaum vorstellbar. Doch die Frage muss gestellt werden: Könnte es sein, dass al-Ghazālī sich so tief in Widersprüchlichkeit verstrickt hat, dass er trotz all seiner scharfsinnigen Kritik selbst Anhänger dieses Konzeptes einer philosophischen Religion werden konnte?

Die damit zusammenhängenden Fragen weisen weit über den Horizont hinaus, den wir uns hier als Rahmen gesetzt haben. Wenden wir uns also wieder dem Tahāfut und seinen abschließenden Worten zu.

Im letzten Absatz geht al-Ghazālī auf die Frage ein, wie die anderen siebzehn Thesen – außer den drei genannten – zu bewerten sind. Er hebt hervor, dass alle diese Thesen von der einen oder anderen Gruppe (firaq) des Islam vertreten worden ist. Ausdrücklich nennt er die Muʿtazila, der er eine besondere Nähe zu den Anschauungen der falāsifa zuschreibt. Aus seinen Aussagen geht hervor, dass er diese Thesen der falāsifa als bidʿ einschätzt, d.h. als problematische Neuerung, die aber nicht zwangsläufig dem Islam widerspricht. Die Anhänger dieser Thesen nennt er daher »Leute der problematischen Neuerung« (ahl al-bidʿ). Er macht zudem deutlich, dass er über dieses Urteil nicht hinausgehen will, und schließt seine Überlegungen daher mit folgenden Worten, die auch den Tahāfut insgesamt beschließen:

Wir ziehen es allerdings vor, nicht auf die Frage des takfīr (des kufr Bezichtigens) der Leute der problematischen Neuerung (ahl al-bidʿ) einzugehen und nicht zu entscheiden, was davon richtig ist und was nicht, damit die Rede nicht vom Zweck dieses Buches abkommt. Und Allāh der Erhabene ist der Bescherer des Rechten.