3.2 Einführung

Autor: Yusuf Kuhn - Do., 12.11.2020 - 16:12

Mise en scène (Szenerie)

Es ist das Jahr 1300. Syrien erzittert vor der mongolischen Invasion. Die meisten Einwohner sind bereits aus Damaskus geflohen. Währenddessen sitzt einer der berühmtesten Bürger dieser Stadt, Ibn Taymiyya, im Kerker der Zitadelle von Kairo und schreibt und schreibt, solange der Nachschub an Papier und Tinte anhält. Er war zu einer Gefängnisstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt worden wegen angeblich anthropomorpher Vorstellungen vom Wesen Gottes. Dies konnte einen so kraftvollen und mutigen Denker jedoch nicht abhalten, seinen geistigen Kampf mit spitzer Feder fortzuführen.

Die Kampflinien waren schon lange zuvor gezogen worden. Nahezu sieben Jahrhunderte waren vergangen, seit der Prophet des Islam Gottes endgültige Botschaft der Menschheit überbracht hatte. Diese Offenbarung war das Wort Gottes. Ihre Botschaft war klar und ursprünglich. Gott war al-haqq, die wahre Wirklichkeit. Er war auch al-khāliq, der Schöpfer der Himmel und der Erde und allem, was darin ist.

Gott hat auch den Menschen erschaffen und auf die Erde gesetzt, damit er seinem Herrn diene und gute Werke verrichte, bis er eines unvermeidlichen Tages den Tod kostet. Dann lässt Gott ihn, Körper und Geist, wiederauferstehen, um Rechenschaft über Glauben wie Taten abzulegen und gerichtet zu werden. Das war den Menschen offenbart worden, und daran glaubten sie mit Herz und Verstand.

Doch das Wort Gottes wurde im Laufe der Jahrhunderte langsam, aber beständig von äußeren Einflüssen überdeckt, die manchen muslimischen Denker zu überwältigen drohten. Die Übersetzungen wissenschaftlicher und vor allem philosophischer Texte aus dem Griechischen ins Arabische seit dem frühen 3./9. Jahrhundert führten zu einem Zustrom allerlei neuer und eigentümlicher Ideen ins muslimische Denken. Die Werke von Aristoteles und verschiedenen neuplatonischen Denkern über Logik, Epistemologie und Metaphysik stießen auf Begeisterung und Ablehnung zugleich. Denn sie boten ein umfassendes und ausgearbeitetes Weltbild, das seine Überzeugungskraft nicht zuletzt aus dem Versprechen schöpfte, der Vernunft selbst zu entspringen.

Aber warum sollte es überhaupt Grund zur Sorge geben? Ersucht der Koran selbst nicht die Muslime an vielen Stellen, nachzudenken, zu überlegen, ihren gottgegebenen Verstand zu gebrauchen, um das Geheimnis ihres Daseins zu ergründen? »Wollen sie denn nicht ihren Verstand gebrauchen?« (Koran 36:68); »Wollen sie denn nicht verstehen?« (Koran 4:82); »… auf dass sie nachdenken mögen.« (Koran 7:176).

Doch was tun, wenn sich dabei herausstellen sollte, dass die vernunftgegründeten Lehren der Philosophen über Mensch, Welt und Gott dem, was Gott selbst, der Schöpfer von Mensch, Himmel und Erde offenbart hat, nicht entsprechen oder gar widersprechen? Die Vernunft, so lehrt Aristoteles, erkennt, dass Gott ein vollkommenes Wesen ist. Nun, dem mögen alle zustimmen. Aber die Vernunft, so Aristoteles weiter, urteilt zudem, dass ein vollkommenes Wesen auch vollkommen einfach, unteilbar und nicht-zusammengesetzt sein muss. Während also die Offenbarung Gott mancherlei Eigenschaften, Qualitäten oder Attribute zuschreiben mag – wie etwa hayy (lebendig), dschabbār (mächtig), wadūd (liebend), ʿalīm (wissend), basīr (sehend), samīʿ (hörend) -, erklärt die Vernunft, dass Gott in Wirklichkeit solche Attribute nicht besitzen kann, da Er sonst nicht mehr vollkommen einfach wäre, was die Vernunft doch von Ihm verlangt, sondern zusammengesetzt, nämlich zusammengesetzt aus Seinem einzigartigen unteilbaren Wesen und Seinen vermeintlichen Attributen oder Qualitäten.

Desgleichen fordert die Vernunft, so heißt es der philosophischen Tradition zufolge weiter, dass Gott nicht das Wissen von irgendeinem besonderen, individuellen, gewordenen Ding zugeschrieben werden kann, da solche Dinge vergänglich sind, in der Zeit entstehen und vergehen und ein Wissen solcher Flüchtigkeiten eine Veränderung in Seinem Wissen bedingen würde. Aber Gott Selbst sagt doch in der Offenbarung: »Kein Blatt fällt herab, ohne dass Er es weiß« (Koran 6:59).

So sind die Kampflinien gezogen. Und die Fehde wird ausgetragen.

3.2.1 Überblick

In diesem Text wird Ibn Taymiyyas Versuch, den vermeintlichen Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung im islamischen Denken seiner Zeit aufzulösen, in groben Umrissen dargestellt. Dieses Ziel verfolgte Ibn Taymiyya vor allem in seinem großen Werk Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql (Die Widerlegung des Widerspruchs von Vernunft und Offenbarung), das in zehn Bänden 4046 Seiten umfasst.1

Ibn Taymiyya verfolgt darin das Anliegen, den Gegensatz von Vernunft und Offenbarung zu überwinden, indem die Voraussetzungen und Kategorien, die der Debatte über den Begriff der Vernunft und ihr Verhältnis zur Offenbarung zugrunde liegen, untersucht, kritisiert und neu gefasst werden. Ibn Taymiyya vertritt dabei die Auffassung, dass die klare und reine Vernunft (ʿaql sarīh) und die recht verstandene Offenbarung (naql sahīh) gar nicht in Widerspruch zueinander geraten können. Jeder vermeintliche Gegensatz zwischen ihnen entspringt entweder einem Missverstehen der Offenbarung oder einem verfehlten Verständnis und Gebrauch der Vernunft. Je spekulativer und deshalb zweifelhafter die rationalen Prämissen und vorgängigen Festlegungen sind, desto ausgefallener muss die Offenbarung interpretiert oder nach Ibn Taymiyya »verdreht« werden, um sie in Gleichschritt mit solcher »Vernunft« zu zwingen.

Carl Sharif El-Tobgui veranschaulicht diese Auffassung in folgender Abbildung mit einer »taymiyyanischen Pyramide«, an deren Spitze gesunde, unverfälschte Vernunft und authentische Offenbarung zusammenstimmen:

Schaubild 2: Taymiyyanische Pyramide

 

Wahrheit ist der Punkt der Einigkeit, Klarheit und Gewissheit (yaqīn), an dem das Zeugnis der gesunden Vernunft und der authentischen Offenbarung völlig übereinstimmen. Am Gegenpol liegen Sophisterei (safsata) im Vernunftgebrauch und Allegorisierung (qarmata; abgeleitet von qarāmita, einer ismaʿilitischen Gruppe, die für ihre äußerst esoterische Interpretation des Koran bekannt war) der Offenbarung. Je weiter die Entfernung vom Einklang zwischen Vernunft und Offenbarung desto größer wird die Uneinigkeit (ikhtilāf) und Zweifelhaftigkeit, selbst in grundlegenden Fragen, in absteigender Reihenfolge ausgehend von den Aschʿariten über die Muʿtaziliten bis hin zu den falāsifa (Philosophen).

Die Debatte um das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung drehte sich weitgehend um die Frage der Attribute Gottes. Die Offenbarung beruht nicht nur darauf, dass Gott überhaupt existiert, sondern auch als besonderes Wesen mit bestimmten intrinsischen und irreduziblen Eigenschaften. Doch manche dieser Eigenschaften wurden von verschiedenen Gruppen wie den falāsifa, Muʿtaziliten und Aschʿariten als rational unhaltbar erachtet, da sie zu einer unzulässigen Angleichung Gottes an erschaffene Dinge (taschbīh) führen müssten oder im Widerspruch zu den rationalen Argumenten stünden, die zum Beweis der Existenz Gottes vorgebracht wurden. Als Abhilfe für dieses Problem wurde die Leugnung oder Reinterpretation der entsprechenden Eigenschaften oder Attribute angeboten. Die sowohl der Lösung wie auch der Stellung des Problems zugrunde liegende Ansicht beruht auf der Annahme, dass es einen grundlegenden Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung gibt oder zumindest geben kann, die gleichwohl als zuverlässige und unersetzliche Quellen des Wissens über Mensch, Welt und Gott gelten.

Die Frage, wie nun mit solchen rationalen Einwendungen gegen den deutlichen Sinn der Offenbarung verfahren werden sollte, führte schließlich zur Entwicklung des qānūn kullī (universelle Regel), die Ibn Taymiyya auf der ersten Seite des Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql in der Fassung des aschʿaritischen Gelehrten Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī anführt.

Der qānūn kullī besagt demzufolge im Kern: Wenn es zu einem Konflikt zwischen Offenbarung und Vernunft kommt, muss den Forderungen der Vernunft Vorrang eingeräumt und die Offenbarung mittels taʾwīl allegorisch reinterpretiert werden.

Als Begründung wird angeführt: Die Vernunft begründet die Wahrheit der Offenbarung; wenn daher zugelassen würde, dass die Offenbarung im Falle eines Konflikts von Vernunft und Offenbarung die Vernunft aufhebt, käme dies einer Bezweifelung und Infragestellung der Vernunft insgesamt gleich; und damit würde die rationale Grundlage, auf der das Wissen von der Echtheit und Wahrheit der Offenbarung basiert, untergraben.

Ibn Taymiyya setzt sich im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql die Widerlegung des qānūn kullī ausdrücklich zur vorrangigen Aufgabe. Dafür entwickelt er in einem ersten Schritt etwa vierzig verschiedene Argumente gegen die logische Kohärenz dieser Regel und die Voraussetzungen und Annahmen, auf denen sie basiert. In einem zweiten Schritt nimmt er sich dann praktisch alle Fälle eines vermeintlichen Konflikts zwischen Vernunft und Offenbarung vor, die von Philosophen und Mutakallimun (Gelehrten des kalām) im islamischen Denken vorgebracht wurden. In diesem Zusammenhang entwickelt er seine charakteristische Philosophie und Methodologie, mittels derer er den so lange schwärenden Konflikt endgültig aufzulösen trachtet.

Seine Kritik richtet sich dabei auf den von Philosophen und Mutakallimun verwandten Begriff der Vernunft selbst, um damit allen Argumenten die rationale Grundlage zu entziehen, die dem widersprechen, was die Offenbarung beispielsweise über die besonderen Attribute und Handlungen Gottes oder die zeitliche Entstehung der Welt mitteilt. Die Grundlage dieser Kritik wiederum bildet ein Begriff der Vernunft, der von allen Verfehlungen und zweifelhaften Voraussetzungen befreit ist: die reine, klare, eingeborene, unverfälschte Vernunft, die Ibn Taymiyya als ʿaql sarīh bezeichnet.

Mit der Frage, worin genau diese reine und klare Vernunft besteht und in welchem Verhältnis sie zur Offenbarung steht, befasst Ibn Taymiyya sich im abschließenden Teil des Darʾ. Um der überbordenden Allegorisierung, die sich aus der rationalistischen Auslegung der Offenbarung durch die Philosophen ergibt, zu wehren, entfaltet er eine Hermeneutik, die sich auf den natürlichen kontextuellen Gebrauch der Sprache stützt. Sodann wendet er sich einer Rekonstruktion der Vernunft selbst zu, indem er die vielfältigen Weisen untersucht, in der das menschliche Denken zu Wissen gelangt. Diese reformierte Epistemologie wiederum stellt die von den Philosophen vorausgesetzte Ontologie grundsätzlich in Frage, insbesondere deren realistische Theorie der Universalien, die zu einer chronischen Konfusion zwischen dem, was logisch im Geist existiert, und dem, was ontologisch in der äußeren Wirklichkeit existiert, geführt hat. Durch eine deutliche Unterscheidung zwischen mentaler und äußerer Existenz ersetzt Ibn Taymiyya die von den Philosophen vorgenommene Intellektualisierung der Wirklichkeit durch eine strikt auf Erfahrung basierende Epistemologie, welche die gültigen Quellen des Wissens über die Wirklichkeit auf Wahrnehmung (hiss) und »Bericht« (khabar) beschränkt. Gleichwohl sind die abstrakten und universalisierenden Funktionen des Geistes wie auch die darin eingebetteten apriorischen logischen Prinzipien von entscheidender Bedeutung für das Verstehen der verborgenen Wirklichkeiten, von denen die Offenbarung berichtet, insbesondere die Attribute Gottes.

El-Tobgui beschließt diesen Abschnitt folgendermaßen:

Ibn Taymiyyas gesamtes epistemisches System stützt sich auf einen erweiterten Begriff der fitra oder »ursprünglichen normativen Veranlagung« und wird letztlich von einem universalisierten Begriff des tawātur garantiert, der aus den muslimischen textlichen und rechtlichen Traditionen übernommen ist, aber als letztlicher Garant aller menschlichen Erkenntnis breit angewandt wird. Die getrennten Elemente von Ibn Taymiyyas Theorie der Sprache, seiner Ontologie und seiner Epistemologie fließen schließlich in eine Synthese zusammen, die dazu bestimmt ist, einen robusten und rational vertretbaren Affirmationismus hinsichtlich der Attribute Gottes aufzunehmen und zugleich einen »Assimilationismus« oder taschbīh zu vermeiden, von dem die spätere Tradition so oft angenommen hat, dass er dadurch impliziert wird. (S. xviii-xix)2

3.2.2 Struktur der Abhandlung

Die Abhandlung besteht aus zwei Teilen. In Teil 1 wird der Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung verhandelt: »Vernunft vs. Offenbarung?« In Teil 2 wird Ibn Taymiyyas Philosophie und Methodologie im Darʾ vorgestellt: »Ibn Taymiyyas Reform der Sprache, Ontologie und Epistemologie«.

Kapitel 1 gibt einen groben Überblick über die historische Entwicklung dieses Konflikts im islamischen Denken bis zur Zeit Ibn Taymiyyas. In Kapitel 2 wird das Leben und die Zeit von Ibn Taymiyya vorgestellt. Darauf folgt eine Darstellung, wie Ibn Taymiyya selbst diese historische Entwicklung aufgefasst hat. Dies ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, nicht nur seine Motivationen zu verstehen, sondern auch seine Strategie und umfassende Methodologie zur Auflösung des Problems. Dem schließt sich eine kurze Erörterung der Lösungsversuche von al-Ghazālī (gest. 505/1111) und Ibn Ruschd (gest. 595/1198) an, die zugleich das Verhältnis von Ibn Taymiyyas Projekt im Darʾ zu ihnen beleuchtet. In Kapitel 3 werden die wichtigsten theoretischen Einwendungen gegen die universelle Regel (qānūn kullī) vorgestellt.

Kapitel 4 eröffnet den zweiten Teil mit einer Untersuchung des Begriffs der »authentischen Offenbarung« (naql sahīh) und der hermeneutischen Prinzipien zu ihrer Interpretation. In Kapitel 5 wird der Begriff der »reinen Vernunft« (ʿaql sarīh) erkundet wie auch die damit einhergehende Ontologie. Damit sollen die wichtigsten Elemente von Ibn Taymiyyas Philosophie – Linguistik, Ontologie und Epistemologie – samt der Prinzipien und Methoden, die zur Auflösung des Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung eingesetzt werden, in ihrem Kerngehalt präsentiert werden.

Im Schlusskapitel wird sodann aufgezeigt, wie Ibn Taymiyya diese verschiedenen Elemente zu systematischer Anwendung auf die Frage der Attribute Gottes bringt. Dem folgen abschließend etwas allgemeinere Überlegungen zu den weiteren Implikationen seines Werkes.

El-Tobgui stellt dazu fest:

Das breitere Interesse – und die Genialität – von Ibn Taymiyyas Projekt, das es in künftiger Forschung zu erkunden gilt, liegt vor allem in seiner breit angelegten Auffassung von Wissen, in der er die Begriffe der »Vernunft« und des »rationalen Beweises« dergestalt erweitert, dass sie einen wesentlich größeren Bereich von Quellen und Argumenten einschließen als in der obskuren und seiner Ansicht nach willkürlich eingeschränkten Syllogistik der Philosophen erlaubt. Darüber hinaus beschränkt Ibn Taymiyya sich nicht auf die Argumentation, dass Vernunft und Offenbarung nicht in Konflikt zueinander stehen. Er besteht vielmehr darauf, dass die Offenbarung selbst das rechte Funktionieren und den authentischen Gebrauch reiner Vernunft (ʿaql sarīh) unterstützt und aufzeigt. Auf diesen Grundsätzen aufbauend behauptet Ibn Taymiyya letztlich, dass wir echtes Wissen (und nicht bloß »Glauben«) von den grundlegenden Wahrheiten der Religion besitzen – insbesondere von der Existenz und den fundamentalen Attributen Gottes – auf der Basis ebenderselben Art von Axiomen, Intuitionen und anderen Elementen, die allem menschlichen Wissen zugrunde liegen und dafür konstitutiv sind. In der Tat kommt die große Mehrheit, vielleicht sogar alles, von dem, wofür wir ständig und mit Recht für uns Wissen beanspruchen, auf unterschiedliche Weise und oftmals durch eine sich gegenseitig bestätigende Kombination von ebendenselben Arten von Faktoren und Überlegungen zustande, auf deren Grundlage, so behauptet Ibn Taymiyya, das am meisten solide, stabile und beweiskräftige Argument für die Existenz Gottes und die grundlegenden Wahrheiten der Religion gemacht werden kann. (S. xx-xxi)

3.2.3 Warum der Darʾ at-taʿārudh?

Ibn Taymiyyas Darʾ at-taʿārudh zeugt von einem erstaunlichen Reichtum an Gelehrsamkeit und einer gewaltigen Bandbreite an Themen und Lehren, die darin verhandelt werden. Gewiss kann Ibn Taymiyya als einer der bedeutendsten Leser der falāsifa gelten, der deren Werke nicht nur genauestens kannte und analysierte, sondern selbst bedeutende Beiträge zum philosophischen Denken leistete.

Angesichts des reichen und vielversprechenden Gehalts des Darʾ ist es umso erstaunlicher, dass es auch nach mehr als dreißig Jahren seit dem Erscheinen der ersten vollständigen Ausgabe noch keine umfassende Behandlung durch einen westlichen Wissenschaftler gibt. Abgesehen von einigen kleineren und vorläufigen Studien von Y. Michot, B. Abrahamov und N. Heer, wurde dieses Werk von der westlichen Wissenschaft mit völliger Missachtung gestraft.

Dafür lassen sich verschiedene Gründe anführen. Ibn Taymiyya pflegte einen außergewöhnlichen Schreibstil, der es dem Leser nicht immer leicht macht, seine Gedanken zu einem bestimmten Thema zu verfolgen, die oftmals auf viele Stellen in mehreren Werken verteilt und zudem von vielen Exkursen durchsetzt sind. Die vorliegende Abhandlung möchte daher einen Überblick über dieses Werk als Ganzes liefern, das weiteren Forschungen als »Landkarte des Darʾ« dienen mag.

Ein zweiter Grund mag die Stellung des Autors in der Geschichte sein. Ibn Taymiyya folgte auf die sogenannte »klassische Periode« der islamischen Zivilisation, der als deren vermeintlicher Höhepunkt die meiste Aufmerksamkeit der geistesgeschichtlichen Erforschung zufiel, während die folgende Periode dem orientalistischen Vorurteil als Zeit des Verfalls galt, die keine Beachtung verdiente. Zur Korrektur dieses Bildes, die mittlerweile eingesetzt hat, mag auch diese Abhandlung einen Beitrag leisten.

Ein dritter Grund mag in der überkommenen Vorstellung von Ibn Taymiyya als intellektueller Figur zu finden sein, die kaum je in Bücher über islamisches Denken, islamische Philosophie oder sogar islamische Theologie aufgenommen wurde. Er galt nicht als Denker, sondern bloß als simpler »Apologet der Theologie«, von dem schon gar nichts auf dem Gebiet der Philosophie zu erwarten war. Demgegenüber schickt sich diese Abhandlung an, den philosophischen Gehalt, der den gesamten Darʾ in mannigfaltigen Ideen und Argumenten durchzieht, zu untersuchen und herauszuarbeiten.

Darüber hinaus erschließt sich die eigentliche Bedeutung des Darʾ allererst durch die Einsicht in die Aktualität des darin behandelten Problems des spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen Vernunft und Offenbarung, das als das zentrale Thema in der islamischen Moderne gelten kann. Hinter vielen aktuellen Debatten lauern die gleichen Themen, mit denen Ibn Taymiyya sich so intensiv befasst hat, als er die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung für seine Zeit zu klären versuchte.


1Taqī al-Dīn Ahmad Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, aw muwāfaqat sahīh al-manqūl as-sarīh al-maʿqūl, Hg. Muhammad Rashad Salim, 11 Bände, Riyadh, 1399/1979.

2Diese wie auch die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Carl Sharif El-Tobgui, Reason, Revelation & the Reconstitution of Rationality: Taqi al-Din Ibn Taymiyya‘s (d. 728/1328) Dar’ Ta'arud al-'Aql wa-l-Naql or »The Refutation of the Contradiction of Reason and Revelation«. A Thesis submitted to the Faculty of Graduate Studies and Research in partial fulfillment of the requirements for the degree of Doctor of Philosophy; Institute of Islamic Studies, McGill University, Montreal; Final Submission April 12, 2013.