Horizonte dekolonialen Denkens

Horizonte dekolonialen Denkens Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf

Horizonte dekolonialen Denkens

Ramón Grosfoguel

Horizonte dekolonialen Denkens

Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne

Herausgegeben und übersetzt von
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf

Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken

Band 4

Seitenanzahl: 428

ISBN Taschenbuch: 978-3-347-76359-3
ISBN Hardcover: 978-3-347-76360-9
ISBN e-Book: 978-3-347-76361-6
Erscheinungsdatum: Juli 2024

Erhältlich als Paperback, Hardcover und e-Book (epub) bei tredition und im Buchhandel

Dies ist ein Aufruf zu einer Universalie, die eine Pluriversalie ist, zu einer konkreten Universalie, die alle epistemischen Besonderheiten in Richtung einer „transmodernen dekolonialen Sozialisierung der Macht“ einschließt. Wie die Zapatisten sagen: „Kämpfen für eine Welt, in der andere Welten möglich sind“.
Ramón Grosfoguel

Ramón Grosfoguel ist einer der bedeutendsten Vertreter des dekolonialen Denkens der Gegenwart. Er ist Professor für ethnische Studien an der University of California in Berkeley und veröffentlichte zahlreiche Publikationen über die politische Ökonomie des Weltsystems, internationale Migration und die Dekolonisierung von Macht, Wissen und Sein. Ein besonderer Schwerpunkt seines Schaffens liegt auf der Betonung kolonialer Kontinuitäten in miteinander verflochtenen politisch-rechtlichen, ökonomischen, kulturellen und epistemischen Hierarchien und der darin gründenden Notwendigkeit der globalen Dekolonisierung.

INHALT

Motto

Motto Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 1

Kolonisation: Brückenkopf einer Zivilisation der Barbarei, aus der jederzeit die schiere Negation der Zivilisation hervorbrechen kann.
Aimé Césaire, Über den Kolonialismus

Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt.
Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde

The most potent weapon in the hands of the oppressor is the mind of the oppressed.
Steve Biko, Black Consciousness and 
the Quest for a True Humanity

Emancipate yourself from mental slavery. None but ourselves can free our minds.
Bob Marley, Redemption Song

Vorwort der Herausgeber

Vorwort der Herausgeber Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 17

Liebe Leserin, lieber Leser,

die hier versammelten Texte von Ramón Grosfoguel sind als Teil eines größeren Projektes zu verstehen, das sich mit der Kritik der Philosophie im islamischen Denken befasst. Es trägt den Titel: alastu-Projekt – Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Eine Erläuterung dieses Titels1 und eine knappe Vorstellung des Projektes2 finden sich auf der Website3 des Projektes. Die Texte, die aus diesem Projekt hervorgehen, sollen in Gestalt von Büchern wie dem vorliegenden und auf der Website des Projektes alastu.net veröffentlicht werden.

Das vorliegende Buch ist der vierte Band der Reihe Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Bisher erschienen sind Band 1 mit dem Titel Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken4, Band 2 mit dem Titel Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat5 und Band 3 mit dem Titel Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken6. Weitere Bände sind in Vorbereitung und Planung.

Das Projekt als Ganzes versteht sich als work in progress. Dies gilt entsprechend auch für die hier in deutscher Übersetzung als Teil dieses Projektes vorgelegten Texte von Ramón Grosfoguel.7 Die darin versammelten Studien liefern also keine abschließenden Ergebnisse, sondern bieten vielmehr einen schlaglichtartigen Einblick in die Werkstatt einer fortschreitenden Arbeit, deren derzeitigen und vorläufigen Stand sie widerspiegeln. Die Texte sind eher als Materialien zu betrachten und könnten daher auch als Vorstudien bezeichnet werden.

Mit dem folgenden inhaltlichen Überblick sollen nach einer Kurzvorstellung des Autors Ramón Grosfoguel der Reihe nach kleine Abrisse der in den jeweiligen Texten/Kapiteln diskutierten Themen des vorliegenden Bandes dargestellt werden. Wenngleich wir die Texte in eine inhaltlich und im Hinblick auf die Querbezüge der Texte aufeinander sinnvolle Reihenfolge gebracht haben, lassen sie sich dennoch unabhängig voneinander lesen. Einstieg und Abfolge der Lektüre mögen also Vorlieben und Interessen gemäß erfolgen.

Die Texte für die jeweiligen Kapitel wurden von Ramón Grosfoguel im Laufe der letzten Jahre zu verschiedenen Anlässen und Zwecken verfasst. Die Spuren davon haben wir nicht zu beseitigen versucht, da es sonst nur darauf hätte hinauslaufen können, sie in erheblichem Maße umzuschreiben. Daher kommt es auch zu manchen Wiederholungen und Überschneidungen, die sich aufgrund der Unabhängigkeit der Texte nicht immer vermeiden ließen und sich hoffentlich als für das Verständnis eher zuträglich erweisen.

Ramón Grosfoguel ist einer der bedeutendsten Vertreter des dekolonialen Denkens der Gegenwart. Da er aus dem karibischen Puerto Rico stammt, das mit seinem historischen Hintergrund von Kolonisation und Versklavung weiterhin unter US-amerikanischem Verwaltungskolonialismus steht, wurde sein Bewusstsein für die anhaltenden Formen der kolonialen Machthierarchien und den dagegen gerichteten Kampf schon früh geschärft. Mit dazu beigetragen haben mag auch sein familiärer Hintergrund – sein Vater ein Argentinier jüdischer Herkunft, seine Mutter eine Puertoricanerin afrikanischer Abstammung -, der nicht nur weitreichende historische, geographische und kulturelle Horizonte eröffnet, sondern auch einen Lebensweg außergewöhnlicher Bandbreite ebnete: von militantem Befreiungskampf über politischen Aktivismus bis hin zu akademischer Forschung und Lehre. Im Fokus seiner aktivistischen wie auch intellektuellen Tätigkeiten stehen die komplexen Dynamiken von Macht, Kolonialismus und globaler Ungleichheit. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Betonung kolonialer Kontinuitäten in miteinander verflochtenen politisch-rechtlichen, ökonomischen, kulturellen und epistemischen Hierarchien und der darin gründenden Notwendigkeit der globalen Dekolonisierung. Er hat zahlreiche wegweisende Bücher und Artikel veröffentlicht, die weit über seine akademische Einflusssphäre hinaus dazu geführt haben, neue Ansätze in Politik, Kultur und Fragen sozialer Gerechtigkeit zu inspirieren.

Nachdem die meisten Artikel von Ramón Grosfoguel auf Spanisch und/oder Englisch veröffentlicht wurden, erscheint in dem vorliegenden Band eine Auswahl zentraler Texte erstmalig in deutscher Sprache. Die Auswahl dieser Texte ist in Rücksprache mit dem Autor insbesondere unter dem Leitgedanken erfolgt, das Bewusstsein für die Rolle des antimuslimischen Rassismus in den globalen kolonialen Hierarchien zu schärfen und dekoloniale Potentiale des islamischen Denkens auszuloten, die zu einer globalen Dekolonisierung beizutragen vermögen. Von dieser Auswahl erhoffen wir uns, das Augenmerk auf die Fragestellung zu richten, inwiefern sowohl Gemeinsamkeiten als auch sich gegenseitig möglicherweise auf konstruktive Weise befruchtende Unterschiede des dekolonialen und islamischen Denkens dafür nutzbar gemacht werden können, den Einklang einer globalen Dekolonisierung unter dem Leitbild der Wiederbelebung und Weiterentwicklung des islamischen Denkens herbeizuführen.

Der Einführung in den vorliegenden vierten Band dient ein biographisches Interview, bei dem Grosfoguel im Rahmen eines Rückblicks auf für sein Denken prägende Erinnerungen darlegt, was – entsprechend des Titels Gespräch mit Ramón Grosfoguel: Erinnerungen und Horizonte des dekolonialen Denkens – seinen Weg hin zum dekolonialen Denken von heute bereitete.

In Puerto Rico geboren wuchs er als Kind mit seinen Eltern in New York auf, bevor ihn sein Weg dem üblichen puertoricanischen Migrationskreislauf sowie politischer Verfolgung erliegend von seinem Studium in Puerto Rico über Jobs als Anstreicher in puertoricanischen Ghettos in Philadelphia vermöge eines Stipendiums zum weiterführenden Studium an der Temple University wieder in das Land zurückführte, unter dessen kolonialer Verwaltung sein Heimatland als US-amerikanische Kolonie nach wie vor steht. So war seine Kindheit und Jugend sowohl aus der Perspektive der Kolonie als auch aus der als Minderheit in der Metropole der kolonialen Herrschaft schon früh von Konfrontationen mit einer Reihe von über mehrere Jahrhunderte Kolonialismus hinweg geschaffenen Herrschaftshierarchien gezeichnet, deren Grundfrage lautete: Was bedeutet die Befreiung von diesen Formen des Kolonialismus? Was bedeutet Dekolonisierung?

Diese Fragestellung wie auch die Lebenskonstellation einte ihn mit karibischen Autoren und Denkern wie Aimé Césaire, Frantz Fanon und C. L. R. James, die ebenso auf ihren Studienreisen in den europäischen bzw. nordamerikanischen Metropolen mit den Dimensionen der kolonialen Herrschaft konfrontiert wurden, die ihre Erfahrung über die Lage in den Kolonien selbst hinaus schärfte und vertiefte. So gelangte Grosfoguel nach zahlreichen und auf unterschiedlichen Ebenen stattfindenden Rassismus-Erfahrungen zur Einsicht der besonderen Bedeutung der Kategorie der Rasse in der historisch-strukturellen Logik des globalen Kapitalismus, im Gegensatz zur üblichen Privilegierung der Kategorie der Klasse oder der unterdrückten Nation. Im Zuge der Anfertigung seiner Doktorarbeit über die Auswirkungen der Wohnungspolitik des nordamerikanischen Imperialismus in Puerto Rico sowie im Rahmen seines weiteren akademischen Werdegangs – nach Stationen an der John Hopkins University, der State University of New York Binghamton und dem Boston College arbeitet er seit 2001 als Professor für ethnische Studien an der University of California, Berkeley – knüpfte er schon früh Kontakt mit bedeutenden Vertretern der Welt-System-Analyse wie Giovanni Arrighi und Immanuel Wallerstein.

Um seine Arbeit und Mitstreiter herum etablierte er zudem in den 1990er Jahren das von lateinamerikanischen Intellektuellen an latein- und nordamerikanischen Universitäten ins Leben gerufene Netzwerk Modernität/Kolonialität, dessen Programmatik auf theoretische und kämpferische Auseinandersetzung mit dem Erbe von Kolonialismus, Rassismus und Kapitalismus ausgerichtet war. Zu diesem Netzwerk gehörten mit Enrique Dussel, Aníbal Quijano, Walter Mignolo und Nelson Maldonado-Torres einige der wichtigsten Vertreter des lateinamerikanischen dekolonialen Denkens. Darüber hinaus etablierte Grosfoguel ein zuvorderst in Europa verortetes akademisches und aktivistisches Netzwerk antirassistischer Bewegungen, das sich in Zusammenarbeit mit der Islamic Human Rights Commission (Islamische Menschenrechtskommission), der Parti des indigènes de la république (Partei der Indigenen/Eingeborenen der Republik) und der niederländischen Schwarzen-Bewegung (Movimiento Negro holandés) entwickelte. Dies führte 2012 zu dem Schritt, das European Decolonial Network (Europäisches Dekoloniales Netzwerk) zu gründen. Die personale Überschneidung mit der Studiengruppe des Sindicato Andaluz de Trabajadores/as (Andalusische Arbeiter/innen-Syndikat) ebnete schließlich den Weg dafür, die erste dekoloniale Annäherung zwischen den antirassistischen Bewegungen der rassialisierten Subjekte/Untertanen (subjects) in Europa und den nationalistischen Bewegungen der Linken der unterdrückten Nationen in Europa herbeizuführen.

Gleichwohl erinnert Grosfoguel wiederholt daran, dass trotz dieser Netzwerke und Annäherungen nicht über die grundsätzlichen Differenzen und voneinander abweichenden Visionen der unterschiedlichen Akteure hinweggesehen werden darf. Ein wiederkehrendes Hindernis auf dem Weg hin zu einer übereinstimmenden Vision im Hinblick auf die Überwindung des zivilisatorischen Projekts der Moderne stellt dabei das eurozentrische Paradigma dar, in dem weiterhin viele – und gerade auch postmoderne – Linke verhaftet zu sein scheinen. Dies gilt zumal für manche Strömungen der postkolonialen Theorie, die ihrer poststrukturalistischen Ausrichtung verhaftet bleiben und sich weiterhin vorwiegend auf einen engen Kreis von Autoren wie Gramsci, Foucault, Lacan und Derrida stützen. So erfasst ihre Kritik die Moderne/Modernität (modernity) nicht in deren wesenhaften Tiefe und Breite, sondern lediglich in einigen Erscheinungsformen. Derart kann insbesondere die westliche Epistemologie nicht überwunden werden. Und dies hat bisweilen zu einer Verstrickung in kulturalistische Nebensächlichkeiten geführt, mit der eine gewisse Ausblendung politischer und ökonomischer Aspekte der Postkolonialität einherging.

Andererseits warnt er davor, die Moderne/Modernität im Vergleich zu anderen Faktoren übermäßig zu ökonomisieren und demnach das Wirtschaftssystem der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab als das einzig Neuartige und Charakteristische des modernen Weltsystems zu betrachten. Dekoloniales Denken ist weder ein nur intellektuell-kulturalistisches noch ein nur ökonomisches, sondern ein zivilisatorisches Projekt. Dekoloniales Denken zielt darauf ab, den Eurozentrismus und die Moderne als zivilisatorisches System zu überwinden.

Grosfoguels Projekt der Dekolonisierung der Paradigmen der politischen Ökonomie ist genau in diesem Sinne angelegt. Durch die Kartographie der Macht des Weltsystems hat er etliche Herrschaftshierarchien dieser Paradigmen identifiziert, die durch eine Wende in der Geographie der Vernunft transformiert beziehungsweise überwunden werden müssen. Obgleich es eigentlich eine selbstverständliche Charakterisierung sein sollte, spezifiziert Grosfoguel sein Verständnis des dekolonialen Denkens im Gegensatz zum Selbstverständnis der postmodernen kulturalistischen und entpolitisierten Positionen, die nicht in der politischen Ökonomie oder der antiimperialistischen Kritik verortet sind und womöglich darüber hinaus im konkreten politischen Geschehen Gefahr laufen, wie es sich etwa in Venezuela erwiesen hat, dem US-Imperialismus Vorschub leisten, zudem als antiimperialistisch. Um sich einer solchen Verengung des dekolonialen Denkens zu erwehren, spricht er in besonderer Betonung von einem dekolonialen Antiimperialismus. So lautet der Titel seines zuletzt erschienenen Buches De la sociología de la descolonización al nuevo antiimperialismo decolonial (Von der Soziologie der Dekolonisierung zum neuen dekolonialen Antiimperialismus).8

Dieser dekoloniale Antiimperialismus versteht sich zudem als marxistisch verwurzelte Dekolonialität und wird im weiteren Verlauf dieses Bandes auch als schwarzer dekolonialer Marxismus in Erscheinung treten. Neben dieser expliziten Spezifizierung spricht sich Grosfoguel entgegen verbreiteten Exklusivismen und reaktionären Fundamentalismen für ein auf die Überwindung der Moderne ausgerichtetes, indessen unter dem Leitgedanken des antiimperialistischen Dekolonisierungskampfs stehendes strategisches Bündnis aus – ein Bündnis zwischen den migrantischen Subjekten/Untertanen (subjects) der Kolonialgeschichte, den rassialisierten Subjekten/Untertanen wie den Roma, den schwarzen Kariben und Afrikanern, den Muslimen aus der ganzen Welt und den Subjekten/Untertanen der Nationen ohne Staat.

Im ersten Kapitel, das den Titel Epistemischer Rassismus/Sexismus, verwestlichte Universitäten und die vier Genozide/Epistemizide des langen 16. Jahrhunderts trägt, thematisiert Grosfoguel das Verhältnis zwischen Wissen und Macht am Beispiel der Entstehung der Wissensformen der europäischen Moderne. Dabei stützt er sich auf das von Immanuel Wallerstein konzipierte lange 16. Jahrhundert 1450-1650 als Zeitraum der Herausbildung eines neuen historischen Systems. Zudem knüpft er an die Analyse von Enrique Dussel an, der im Rahmen des historischen Rückbezugs der durch Rassismus und Sexismus charakterisierten modernen Wissensformen auf die Neuzeitphilosophie von René Descartes den europäischen Kolonialismus als die Bedingung ihrer Möglichkeit erachtet. Grosfoguel verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Wissen und Macht, indem er über die Dusselsche Darstellung hinausgehend das von ihm so genannte ego extermino („Ich vernichte“) als sozio-historisches und strukturelles Bindeglied zwischen dem ego conquiro („Ich erobere“) des europäischen Kolonialismus und dem Descartes’schen ego cogito („Ich denke“) ausmacht. Dieses Bindeglied ist dabei die Formel für vier historische Ereignisse des langen 16. Jahrhunderts (die Rückeroberung von al-Andalus, die Eroberung der Amerikas, die Versklavung von Afrikanern in den Amerikas und die Ermordung von Millionen von Frauen, weil sie beschuldigt wurden, Hexen zu sein), die als Genozide/Epistemizide in der Überlagerung ihrer sowohl materiellen (Genozid: materielle Vernichtung) als auch kulturellen Gestalt (Epistemizid: kulturelle Vernichtung) die Macht- und Wissen-Dimensionen vermittelt und historisch miteinander verschränkt haben.

Im Zentrum des zweiten Kapitels mit dem Titel Dekolonisierung westlicher Uni-versalismen: Dekoloniale Pluri-versalismen von Aimé Césaire bis zu den Zapatisten steht die dekoloniale Vision der Überwindung universalistischer Irrtümer, wie sie im Denken von Descartes über Hegel bis hin zu Marx zum Ausdruck gekommen sind. An die Stelle der eurozentrischen Universalismen dieser Philosophen rückt das von Aimé Césaire vorgebrachte Konzept des Pluri-versalismus. In Analogie dazu rückt an die Stelle der durch koloniale Universalismen geprägten Moderne die von Dussel vorgeschlagene und durch dekoloniale Pluri-versalismen gekennzeichnete Transmoderne. Am Beispiel der Zapatisten legt Grosfoguel dar, inwiefern sich das transmoderne Projekt der Überwindung der Moderne von postmodernen Ansätzen unterscheidet.

Vermöge der Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität führt das dritte Kapitel in das Herz von Grosfoguels Denken. Letzteres zielt darauf ab, einen Ausweg aus den als Reaktion auf die Misere der Moderne entstandenen Dichotomien (wie Kultur versus Ökonomie, Handlung versus Struktur usw.) zu weisen. So setzt Grosfoguel sowohl auf die Dekolonisierung postkolonialer bzw. kultureller Studien als auch auf die der politisch-ökonomischen Paradigmen und der Welt-System-Analyse. Er tritt ein für eine radikale antisystemische Befreiung, die auf die Verschmelzung antikapitalistischer, antipatriarchalischer, antiimperialistischer und gegen die Kolonialität der Macht gerichteter Ansätze ausgerichtet ist. Die Kolonialität der Macht fasst er dabei als eine Verflechtung mannigfaltiger und heterogener globaler Hierarchien sexueller, politischer, epistemischer, ökonomischer, spiritueller, sprachlicher und rassialistischer Formen der Unterdrückung und Ausbeutung, deren zugrunde liegendes Organisationsprinzip auf der Idee der Rasse beruht. Die Perspektive, die Grosfoguel dabei einnimmt, ist die von der subalternen Seite der kolonialen Differenz. Dies macht sein Vorhaben zu einem echten dekolonialen Projekt, das darauf abzielt, eine umfassende Transformation der sexuellen, geschlechtlichen, spirituellen, epistemischen, ökonomischen, politischen, sprachlichen, ästhetischen, pädagogischen und rassialistischen Hierarchien des modernen/kolonialen westlich-/christlich-zentrischen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystems herbeizuführen, ohne jedoch in die Falle der Dritte-Welt-Fundamentalismen als Antworten auf den kolonialen Eurozentrismus zu geraten.

Im vierten mit Was ist Rassismus? Zone des Seins und Zone des Nicht-Seins in den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos betitelten Kapitel geht Grosfoguel näher auf den der Kolonialität der Macht als Organisationsprinzip zugrunde liegenden Rassismus ein, indem er basierend auf der Begegnung mit den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos die mit dem Rassismusbegriff verbundenen Komplexitäten darzulegen versucht. Fanon zufolge entspricht Rassismus einer mit je nach lokalem/kolonialem Kontext unterschiedlichen Kennzeichen (Religion, Kultur, Ethnie, Farbe, Klasse, Sexualität, Identität usw.) geschaffenen intersektional wirkenden Hierarchie der Superiorität/Inferiorität entlang der Grenze des Menschseins (de Sousa Santos spricht von der abyssalen Linie). Die Subjekte, die sich auf der superioren Seite der Grenze des Menschseins befinden, leben demnach in der Zone des Seins, während die Subjekte/Untertanen, die sich auf der inferioren Seite der Grenze des Menschseins befinden, in der Zone des Nicht-Seins verbleiben. Gemäß de Sousa Santos sind beide Zonen Teil des Projekts der kolonialen/kapitalistischen/imperialen Moderne. Die intersektionale Verflechtung/Verschachtelung (das heißt, auch innerhalb der Zone des Seins bzw. Nicht-Seins gibt es jeweils wiederum möglicherweise mittels verschiedener Kennzeichen superiorisierte/inferiorisierte Subjekte usw.) dieser Zonen gehört für Grosfoguel schließlich zu den Ausgangspunkten, um für eine Dekolonisierung zu plädieren, die über die unterschiedlichen (Sub-)Grenzen hinweg der Pluralität und der Bündnisbereitschaft verschrieben ist.

Das fünfte Kapitel, das mit dem Titel Epistemischer Extraktivismus. Ein Dialog mit Alberto Acosta, Leanne Betasamosake Simpson und Silvia Rivera Cusicanqui versehen ist, ist der kritischen Betrachtung einer Form des Denkens und Handelns gewidmet, die Grosfoguel im Anschluss an Alberto Acosta und Lenna Betasamosake Simpson Extraktivismus nennt. Extraktivismus bezeichnet dabei ein wesenhaftes und vereinendes Element von Kapitalismus und Kolonialismus, dessen Zweck darin besteht, im Prozess der Extraktion objektivierte Ressourcen – seien es natürliche Rohmaterialien, indigene Wissensbestände, kulturelle Güter usw. – zu rauben und sich anzueignen. In der Praxis ist Extraktivismus ein der kapitalistischen Akkumulation dienender Mechanismus der (neo-)kolonialen Ausplünderung und Aneignung. In der Theorie liegt ihm eine Sichtweise auf die Welt zugrunde, die das dem Subjekt entgegengesetzte Objekt rassialistisch-inferiorisiert, entpolitisiert und dekontextualisiert, um es der Herrschaft der Kolonialität der Macht, des Wissens und des Seins zu unterwerfen. Während der globale Süden historisch und bis in die Gegenwart hinein das Objekt der Extraktion darstellt, steht der globale Norden samt seiner ökonomischen, akademischen, politischen und militärischen imperialen Maschinerie als Akteur und folglich als Nutznießer des Extraktivismus dar. Grosfoguel stellt im Rahmen seiner kritischen Betrachtung schließlich fest, wie selbst der Dekolonisierung verschriebene Denker der Versuchung unterliegen können, sich extraktivistischer Methoden zu bedienen.

Im sechsten Kapitel Schwarzer dekolonialer Marxismus geht es um das dekoloniale Potential der Tradition schwarzer Marxisten wie Aimé Césaire und Cedric J. Robinson sowie darum, inwiefern die fehlende Wertschätzung bis hin zur Ignoranz ihr gegenüber ein Beispiel für den epistemischen Extraktivismus dreier Denkschulen liefert, die sich eigentlich dem dekolonialen Denken verschrieben haben: Welt-System-Analyse, interner Kolonialismus und Kolonialität der Macht. Denn so besteht die Gefahr der Reproduktion eines epistemischen Rassismus, der schwarzes Denken inferiorisiert und weißes oder europäisches/euro-amerikanisches Denken als superior konstruiert. Dies ist von besonderer Bedeutung vor dem Hintergrund, dass die Ursprünge vieler kritischer und dekolonialer Theorien, die sich kritisch mit dem epistemischem Rassismus/Extraktivismus beschäftigen, gerade zum kritischen Denken von schwarzen Marxisten zurückverfolgt werden können. Die Fähigkeit schwarzer Marxisten, einen dekolonialen Marxismus hervorzubringen, besteht gerade darin, so betont Grosfoguel, dass durch ihre gelebte Erfahrung der Unterdrückung ein Zugang zu der Verbindung von Rassismus und Kapitalismus eröffnet wird, der anderen Schulen womöglich verschlossen bleibt.

Die vielen Gesichter der Islamophobie nimmt Grosfoguel im siebten Kapitel gleichen Titels zum Anlass, die Verortung der Islamophobie – die rassialistische Inferiorisierung von Muslimen – als konstitutiven Bestandteil des modernen/kolonialen christozentrischen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystems vorzunehmen. In Anerkennung der Verwobenheit der in komplexen historischen Weisen miteinander verflochtenen Machthierarchien des Weltsystems unternimmt Grosfoguel den Versuch, die vielen Gesichter der Islamophobie in gebührender Weise zu benennen. Dazu gehört Islamophobie als eine Form des Rassismus in einer welthistorischen Perspektive, als eine Form des kulturellen Rassismus, als Orientalismus, als epistemischer Rassismus, in Gestalt eurozentrischer Sozialwissenschaften und innerhalb der gegenwärtigen islamophoben Debatten.

Im achten Kapitel, das den Titel Menschenrechte und Antisemitismus nach GAZA trägt, setzt sich Grosfoguel in seinem Text, verfasst anlässlich des Kriegs, mit dem Israel 2009 Gaza überzogen hat, mit der hegemonialen, stillschweigenden und allgegenwärtigen Form des Fundamentalismus auseinander, und zwar mit dem eurozentrischen Fundamentalismus. Wesentlicher Bestandteil dieses Fundamentalismus ist der Menschenrechts- und Antisemitismusdiskurs. Am Beispiel der durch eurozentrische Menschenrechts- und Antisemitismusnarrative legitimierten einer genozidalen Logik unterliegenden israelisch-zionistischen Politik der Apartheid und ethnischen Säuberung sowie der Massaker an den in Gaza unter israelischer Besatzung lebenden Palästinensern legt er dar, wie die kolonialen Kontinuitäten und Inkonsistenzen des Menschenrechts- und Antisemitismusdiskurses so offen zum Vorschein getreten und so pervers geworden sind, dass wir uns mittlerweile in einem unaufhaltsamen Prozess befinden, der das Ende der Ära des eurozentrischen Fundamentalismus einläutet.

Das neunte und letzte Kapitel ist dem führenden lateinamerikanischen Befreiungstheologen und Grosfoguels langjährigem Mitstreiter gewidmet: Enrique Dussel: Ein Denker der Befreiung. Der Anlass der Veröffentlichung des diesem Kapitel zugrunde liegenden Artikels war das Versterben Dussels am 05. November 2023. Dabei wird deutlich, dass Grosfoguel und Dussel nicht nur ihre theoretischen Ansätze dekolonialen Denkens einen, sondern insbesondere auch die konkrete Praxis, die sowohl ihrem Denken entsprang als auch auf die es immer wieder bezogen werden konnte.

Dussel ist eine Quelle der Inspiration indes nicht nur für Grosfoguel. Weit darüber hinaus lässt sich seine herausragende Bedeutung für das dekoloniale Denken nicht zuletzt daran festmachen, dass er als Hegel des globalen Südens bezeichnet wurde. Damit wird vor dem Hintergrund der apotheotischen Kulmination der eurozentrischen Philosophie in Hegel auf ironische Weise darauf angespielt, dass ihm desgleichen die Synthese des gerade gegen den Eurozentrismus gerichteten dekolonialen Denkens des globalen Südens gelungen sei.

Dussels Kritik der eurozentrischen Moderne setzt dabei an den weltgeschichtlichen Wurzeln der Moderne an. Diese Wurzeln reichen für ihn bis ins Jahr 1492 zurück, das die koloniale Expansion Spaniens in die Amerikas datiert und sich im weiteren Verlauf als Bedingung der Möglichkeit der Herausbildung der neuzeitlichen Philosophie von Descartes samt der damit zutiefst verbundenen kolonialistischen Geisteshaltung herausstellen sollte.

Auf dieser Grundlage entwickelte er eine umfassende Philosophie und Ethik der Befreiung – bestehend aus Metaphysik, Epistemologie, Moralphilosophie, Politik, Ökonomie, usw. -, deren Aufgabe und Bestimmung er darin sieht, die Moderne als zivilisatorisches System zu überwinden. In diesem Zusammenhang prägte er den Begriff der Transmoderne/Transmodernität (transmodernity), der sowohl der Versuchung eines vermeintlichen radikalen Bruchs mit der Moderne widersteht als auch ganz bewusst gegen die Konzeption der Postmoderne gerichtet ist, die trotz aller Beteuerungen allzu sehr der Verlängerung des Eurozentrismus verfallen bleibt. Die Transmoderne ist für ihn zudem ganz im Gegensatz zum eurozentrischen Fundamentalismus mit der Anerkennung verbunden, dass es nicht bloß eine einzige Epistemologie in der Welt gibt, sondern dass diverse Epistemologien existieren und dass es verschiedene Antworten auf ein und dasselbe Problem geben kann. Dies wiederum führt zu der Anerkennung verschiedener Arten des Denkens, des Seins und des In-der-Welt-Seins.

Dussels intellektuelle und aktivistische Bemühungen erfolgten dabei stets in großer Demut. Auf dem Boden der befreiungstheologischen Weltsicht des Christentums, das er zeitlebens als Sinnhorizont seines Denkens und Handelns voraussetzte und zugleich stets auf den universellen Horizont einer Ethik der Befreiung hin eröffnete, war er der Befreiung der Völker zutiefst verpflichtet. Jedoch war seine Verwurzelung in der prophetischen und messianischen Weltsicht nicht auf die Theologie beschränkt. Er war offen für vielfältige und heterogene Wissensbereiche, was ihn grenzübergreifend zu einem Denker machte, dessen Bedeutung und Erbe für das dekoloniale Denken der Gegenwart und Zukunft in geradezu unermesslicher Weise lehrreich zu sein verspricht.

Die Kurzfassungen der Texte/Kapitel des vorliegenden Bandes resümierend soll zum Abschluss dieses Vorworts auf die Aktualität des dekolonialen Denkens im Allgemeinen sowie des von Ramón Grosfoguel besonders hervorgehobenen dekolonialen Antiimperialismus im Speziellen hingewiesen werden.

In Anbetracht des nach einem langen Vorlauf am 24. Februar 2022 ausgebrochenen Krieges in der Ukraine und des vonseiten Israels unter dem Vorwand der Reaktion auf die Operation Al-Aqsa Flut (ʿamaliyya tūfān al-aqsā) der Hamas am 7. Oktober 2023 geführten Angriffs auf die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza befinden wir uns in einer Zeit enormer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Spannungen. Diese Spannungen werden durch die fortschreitende militärische Eskalationsspirale und die damit einhergehenden atomaren Bedrohungsszenarien von weltweitem Ausmaß nur noch verstärkt.

Ohne an dieser Stelle näher auf die weitreichenden Zusammenhänge der gegenwärtigen Konflikte eingehen zu können, stellt sich vor dem Hintergrund der in diesem Band versammelten Beiträge indes die Frage nach einer dekolonialen Perspektive und dem Beitrag, den das dekoloniale Denken zur Überwindung dieser so leidvollen wie unerträglichen Lage zu liefern vermag.

In diesem Sinne möchten wir das Augenmerk auf zwei Andeutungen richten, ohne die uns eine angemessene Analyse der gegenwärtigen geopolitischen Situation kaum aussichtsreich zu sein scheint.

Einerseits führt es zu schwerwiegenden Verzerrungen, wenn die derzeitigen politischen Konflikte von ihrer konkreten Vorgeschichte und ihrer allgemeinen kolonial-historischen Genese losgelöst werden. Erinnert sei hier lediglich – den obigen beiden Kriegen jeweils vorausgehend – sowohl an den deutschen Griff zur Weltmacht samt Drang nach Osten, der schamlose Urständ feiert, die NATO-Osterweiterungen und das bewusste Übergehen russischer Sicherheitsinteressen vonseiten des vom US-Imperialismus geführten Westens als auch an den mittlerweile viele Jahrzehnte andauernden israelischen Siedlerkolonialismus, der die Vertreibung der Palästinenser, die weitreichende Besatzung palästinensischer Gebiete und die zionistische Siedlungspolitik zur Folge hat.

Andererseits läuft die fehlende Berücksichtigung wie auch die kulturalistische und entpolitisierte Einengung des dekolonialen Denkens im Hinblick auf die Überwindung der gegenwärtigen Konflikte auf eine Perspektive hinaus, die die ursächliche und entscheidende Rolle des Imperialismus aus dem Blick zu verlieren droht und damit einhergehend sogar der fortwährenden Kolonialität selbst. Doch nur dann, wenn der Kampf gegen Kolonialität, Rassismus und Imperialismus aus einem Verständnis ihres inneren Zusammenhangs heraus geführt wird, lässt sich vor dem Hintergrund des augenscheinlichen Niedergangs der westlichen Hegemonialmacht samt ihrem anmaßenden Universalismus und der zunehmenden Erstarkung des globalen Südens, der schon den Weg in eine multipolare und gerechtere Weltordnung eingeschlagen hat, die Einsicht gewinnen, welches Potential in der antiimperialistischen und wahrlich dekolonialen Achse des Widerstands und der Befreiung angelegt ist, die es vermag, dekoloniale Auswege in eine andere Welt zu eröffnen, die transmodern, pluriversal, gerechter und menschlicher ist, kurz gesagt, die der alles verschlingenden Zivilisation des Todes ein Schnippchen schlägt und in eine Zivilisation des wahren Lebens aufbricht.

Wir wollen diese kleine Einleitung in eben diesem Geiste beschließen, indem wir Ramón Grosfoguel selbst zu Wort kommen lassen:

[I]ch [ziehe] es heute vor, mich als „dekolonialer Antiimperialist“ zu bezeichnen. Ich habe immer gedacht, dass diese Bezeichnung überflüssig ist, weil das Dekoloniale den Antiimperialismus bereits in sich trägt. Als jemand, der aus einer antiimperialistischen Militanz in Puerto Rico kommt, war das für mich immer selbstverständlich. Aber nachdem ich gesehen habe, wie Leute, die sich selbst als dekolonial bezeichnen, inmitten der Aggressionen des US-Imperialismus [...] Partei für den Imperialismus ergriffen haben, sehe ich es als unbedingt nötig an, mich als dekolonialer Antiimperialist zu bezeichnen, um mich von diesen anderen „dekolonialen Pro-Imperialisten“ oder „dekolonialen Kolonialisten“ zu unterscheiden.

Dies ist ein Aufruf zu einer Universalie, die eine Pluriversalie ist, zu einer konkreten Universalie, die alle epistemischen Besonderheiten in Richtung einer „transmodernen dekolonialen Sozialisierung der Macht“ einschließt. Wie die Zapatisten sagen: „Kämpfen für eine Welt, in der andere Welten möglich sind“.

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Unser Dank gilt all denen, die uns durch ihre anregenden und bereichernden Beiträge in Diskussionen und anderweitig bei der Arbeit an diesem Projekt, mitunter über viele Jahre, unterstützt haben und die viel zu zahlreich sind, um namentlich aufgeführt werden zu können. Besonders bedanken möchten wir uns bei den Mitgliedern des VDM9, die uns mit ihrer großmütigen Unterstützung in allerlei Gestalt stets tatkräftig zur Seite standen. Und besonderer Dank gilt auch Ramón Grosfoguel für die gute Zusammenarbeit. Möge Allāh es ihnen allen reichlich lohnen und unser Projekt mit Seinem Beistand zum Gelingen führen!

Juni 2024 / Dhū-l-hiddscha 1445

Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf

 


1https://alastu.net/ueber

2https://alastu.net/node/29

3https://alastu.net

4Yusuf Kuhn, Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken. Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken – Band 1, Hamburg, 2018; https://alastu.net/node/109.

5Yusuf Kuhn, Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat. Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken – Band 2, Hamburg, 2019; https://alastu.net/node/113.

6Yusuf Kuhn, Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken – Band 3, Hamburg, 2020; https://alastu.net/node/172.

7Übersetzung und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

8Ramón Grosfoguel, De la sociología de la descolonización al nuevo antiimperialismo decolonial. Selección de textos, prólogo y entrevista introductoria a cargo de Javier García Fernández, Ediciones Akal, México, 2022.

9Verein für denkende Menschen e.V., Website: https://vdmev.de

Einführung - Gespräch mit Ramón Grosfoguel: Erinnerungen und Horizonte des dekolonialen Denkens

Einführung - Gespräch mit Ramón Grosfoguel: Erinnerungen und Horizonte des dekolonialen Denkens Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 33

Dieses biographische Interview ist die Transkription von zwei Gesprächen, die Javier García Fernandez mit Professor Ramón Grosfoguel geführt hat. Das erste fand an der Fakultät für Philosophie und Künste der Universität Granada im Rahmen der Reihe El intelectual y su Memoria (Der Intellektuelle und seine Erinnerungen) statt, mit dem die entsprechende Fakultät den Werdegang der bedeutendsten Intellektuellen auf der internationalen Bühne würdigt, die an der Fakultät für Philosophie und Künste arbeiten sowie mit ihr zusammenarbeiten. Der zweite Teil des Interviews fand im Albaicín1 statt und ist das Ergebnis eines langen Gesprächs zwischen Ramón Grosfoguel und Javier García Fernández. Beide Gespräche fanden im Mai 2019 im Rahmen der IV. Escuela Decolonial de Granada: Diálogos y Horizontes Decoloniales en las Ciencias Sociales y Humanidades Iberoamericanas (IV. Dekoloniale Schule von Granada: Dekoloniale Dialoge und Horizonte in den iberoamerikanischen Sozial- und Geisteswissenschaften) statt, an der auch der Dekan der Fakultät und die Philosophieprofessoren José Antonio Pérez Tapias, Nelson Maldonado-Torres und Karina Ochoa teilnahmen. Wir danken dem Dekan José Antonio Pérez Tapias und der Fakultät für Philosophie und Künste aufrichtig für die Anerkennung und Ehrung von Professor Ramón Grosfoguel, die auch eine Anerkennung des dekolonialen Denkens ist, das Ramón Grosfoguel in Granada und in Andalusien zusammen mit einer ganzen Reihe von andalusischen Forschern und Denkern entwickelt.

Javier García Fernández: Welche Erfahrungen hast du mit dem Leben in Puerto Rico und vor allem in der Karibik gemacht? Du hast eine internationale Debatte über Kolonialismus, Rassismus und Dekolonisierung im 21. Jahrhundert angestoßen. Was bedeutet es für dich, Puertoricaner zu sein? – und Bewohner der Karibik?

Ramón Grosfoguel: Nun, wenn man in Puerto Rico aufwächst, wird man mit einer Reihe von weltgeschichtlichen Problemen konfrontiert. Warum ist das so? Puerto Rico ist heute im 21. Jahrhundert eine Kolonie, aber als wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Puerto Rico aufwuchsen und in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gegen den Verwaltungskolonialismus (colonialismo administrativo) kämpften, stellten wir uns folgende Fragen: Was ist die Lösung? Wie können wir das Problem des US-Kolonialismus in Puerto Rico lösen? Ist es die Unabhängigkeit? Was wäre der politische Ausweg aus dieser Situation?

Am Ende des 20. Jahrhunderts hatten wir bereits die Enttäuschung über die lateinamerikanischen und afrikanischen Unabhängigkeiten erlebt, die in neuen Formen des Kolonialismus oder des so genannten Neokolonialismus endeten, was bedeutet, dass das koloniale Problem nicht gelöst wurde; in vielen Fällen setzten die Imperien in der Region ihre kolonialen Projekte fort. Wenn man sich umschaute, fragte man sich: Was wollen wir eigentlich? Wollen wir eine weitere nordamerikanische Neokolonie in der Karibik sein oder wollen wir etwas anderes?

Die Karibik, die nach Andalusien der erste Ort auf der Welt war, an dem sich die kastilische Krone ausbreitete, war der erste Ort, der als Peripherie konstituiert wurde. Aus diesem Grund haben sich in der Karibik alle bekannten Formen des Kolonialismus ausgebildet, alle möglichen Formen kolonialer Verhältnisse: die assoziierte Republik in der niederländischen Karibik; die Assimilation durch Annexion auf den französischen Inseln; die Unabhängigkeiten (nicht die gewünschten, sondern die neokolonialen, was die real existierenden tatsächlich sind) in Jamaika, Haiti, der Dominikanischen Republik usw.; und auch die Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus des 20. Jahrhunderts in Kuba. Angesichts all dessen gab es große Unzufriedenheit. In Anbetracht all dieser Optionen gab es keine, die wir als unseren Weg annehmen konnten. Außerdem sahen wir am Ende des 20. Jahrhunderts auch die Grenzen des sozialistischen Modells des 20. Jahrhunderts, das 1989 zusammenbrechen sollte und dessen Grenzen wir seit den 1970er Jahren kommen sahen.

Wenn man aus Puerto Rico kommt, fragt man sich also: Was bedeutet Dekolonisierung? Das zwang uns, zu verstehen, dass Dekolonisierung nicht länger eine neue Formel für den rechtlich-politischen Status sein kann, denn als wir uns umschauten, sahen wir, dass das, was im 20. Jahrhundert Dekolonisierung genannt wurde, ein großer Mythos war. Was tatsächlich entstanden ist, waren neue Formen des Kolonialismus, die nach der Unabhängigkeit geschaffen worden sind. Kwame Nkrumah, der große Panafrikanist aus Ghana, nannte dies Neokolonialismus. Als erster Anführer einer erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegung in Afrika erlebte er am eigenen Leib, wie die neuen Formen kolonialer Herrschaft sich gestalteten. Letzten Endes unterstützte die CIA einen Militärputsch in Ghana, und Nkrumah starb im Exil. Doch aufgrund seiner Erfahrungen schrieb Nkrumah ein Buch mit dem Titel Neo-Colonialism, the Last Stage of Imperialism2. Dieses Buch wurde weltweit bekannt und brachte uns dazu, viel über den Kontext von Puerto Rico nachzudenken, das sich in der anomalen Situation befand, am Ende des 20. Jahrhunderts eine Kolonie zu sein. Wir erkannten, dass die Situation der kolonialen Herrschaft des westlichen Imperialismus nicht beseitigt, sondern auf neue Weise aktualisiert worden war. So sahen wir uns mit dem Dilemma konfrontiert, dass Veränderungen des Status allein das Problem der kolonialen Herrschaft nicht lösen würden.

In diesem Kontext des Kolonialismus mit kolonialer Verwaltung, wie wir ihn in Puerto Rico erlebt haben, und des Neokolonialismus in allen Ländern in unserer Umgebung erwächst der Gedanke, dass die Formen kolonialer Herrschaft nicht mit dem Ende des rechtlich-politischen Regimes der kolonialen Verwaltungen enden, sondern eine ganze Reihe von Herrschaftshierarchien durchlaufen, die sich in dieser langen kolonialen Geschichte von mehreren Jahrhunderten konstituiert haben und die in neuen Formen wieder aufgegriffen werden. Alle diese durch mehrere Jahrhunderte Kolonialismus geschaffenen Herrschaftsformen waren auch dann noch präsent und keineswegs dekolonisiert, als die Peripherien der Welt größtenteils als formal unabhängige Staaten konstituiert wurden. Diese Hierarchien überstiegen die so genannten Unabhängigkeiten und blieben in gewisser Weise bis heute festgefahren. Es ist ein Erbe, das nicht nur in der Vergangenheit liegt, sondern bis heute fortwährt.

Es gibt immer noch eine internationale Arbeitsteilung zwischen Zentren und Peripherien, eine Form der politischen Autorität, nämlich den Nationalstaat, der sehr eurozentrische Wurzeln hat, einen für koloniale Gesellschaften typischen Rassismus, ein Patriarchat, das auch heute noch in Kraft ist, welches typisch für das Christentum ist und durch die koloniale Herrschaft aufgezwungen wurde, eine Vorherrschaft der Werte des Christentums, auch eine ganze Reihe eurozentrischer epistemischer Strukturen in den verwestlichten Universitäten und so weiter.

Aus all diesen Gründen kamen wir auf den Gedanken, dass der Kolonialismus nicht auf ein ökonomisches oder rechtlich-politisches System beschränkt ist, sondern dass es sich um eine Reihe von Herrschaftsbeziehungen handelt, die ein zivilisatorisches System konstituieren. Es ist die Realität von Puerto Rico, die uns gezwungen hat, über das traditionelle Verständnis der Dekolonisierung hinauszudenken.

Betrachtet man alle Inseln der Karibik und Mittelamerikas, ist es leicht, zu verstehen, dass es keine wirkliche Dekolonisierung gibt, sondern dass die Hierarchien der kolonialen Macht unter der formalen rechtlich-politischen Unabhängigkeit weiter reproduziert werden, wenn auch in neuen Formen. Die Hierarchien ökonomischer, politischer, epistemischer, rassischer, kultureller und patriarchalischer Herrschaft sind in den neuen, formal unabhängigen Staaten, die wir heute als neokolonial bezeichnen, immer noch sehr präsent.

Und gerade damit wird man, wenn man in Puerto Rico aufwächst, in gewisser Weise konfrontiert: Wie kann man Puerto Rico von der kolonialen Herrschaft des US-Imperiums dekolonisieren, wenn der Rest der formal unabhängigen Republiken weiterhin unter kolonialer Herrschaft ohne koloniale Verwaltung, also unter Neokolonialismus fortbesteht?

In einer Debatte, die wir vor etwa zwölf Jahren in Venezuela mit dem Netzwerk Modernität/Kolonialität führten, entwickelte ich all dies, und es gab Leute im Publikum, die mich als Puertoricaner in Frage stellten, weil ich von einem Land aus über Dekolonisierung sprach, das immer noch eine Kolonie war. Ich erinnere mich, dass Aníbal Quijano aufstand und sagte: „Ich habe in den 1980er Jahren in Puerto Rico gelebt, und das hat mich dazu gebracht, über die Frage der Kolonialität nachzudenken! Dadurch, dass ich in Puerto Rico war und mit den Menschen diskutiert habe, habe ich die Idee der Kolonialität verstanden.“

In Puerto Rico sagen wir, dass die Debatte über den Status der Insel der Nationalsport ist. Aber das ist nicht nur in Puerto Rico so, denn die existentielle Erfahrung einiger karibischer Inseln von heute besteht darin, dass sie noch immer nicht-unabhängige Territorien irgendeiner Metropole sind. Ich war auf den niederländischen Inseln, den französischen Inseln, einigen britischen Inseln und den US-Jungferninseln, allesamt Inseln, die derzeit noch Kolonien europäischer oder US-amerikanischer Metropolen sind, so dass mir auffiel, dass die so genannte puertoricanische Anomalie in Wirklichkeit die Regel für all jene karibischen Inseln ist, die noch immer nicht-unabhängige Territorien sind. Als ich nach Martinique, Curaçao, Tortola, St. Croix, Aruba und Guadeloupe reiste, war der Nationalsport aller die Statusdebatte, insbesondere die Diskussion über den gegenwärtigen rechtlich-politischen Status einer nicht-unabhängigen Situation der kolonialistischen Integration und Unterordnung unter die Metropole.

So entdeckte ich, dass Puerto Rico zu dem gehört, was ich später in Anlehnung an den haitianischen Intellektuellen Gérard Pierre-Charles als die modernen Kolonien der Karibik bezeichnete, denn obwohl wir unter Verwaltungskolonialismus stehen, haben wir die Staatsbürgerschaft der Metropole, das heißt nordamerikanische Pässe, so wie sie in Guadeloupe oder Martinique die französische oder auf den niederländischen Inseln die niederländische Staatsbürgerschaft haben. Außerdem haben wir, wie auf diesen nicht-unabhängigen Inseln, die Hälfte des Landes, die als billige Arbeitskräfte in den Metropolen lebt. Das, was wir als guagua aérea3 bezeichnen, ist dasselbe wie das in Curaçao, wozu man Biljmerbus4 sagt. Dieses Kommen und Gehen ist ein Zustand, den alle Bevölkerungen der nicht-unabhängigen Inseln der Karibik teilen; dieses ständige Gehen in die Metropolen innerhalb eines internen Kreislaufs von zirkulären Migrationen, bei denen man einige Jahre außerhalb arbeiten kann, zurückkehrt und einige Jahre später wieder auswandert. Bei uns gibt es auch den Begriff des nuyorican5, auf den französischen Inseln gibt es den Begriff des negropolitano6.

All dies führte uns zu der Einsicht, dass diese Anomalie gar nicht so anomal war, und ermöglichte uns gleichzeitig, auf eine Art und Weise zu denken, die uns dazu brachte, uns mit den verschiedenen Kolonialitäten, die uns begegneten, auseinanderzusetzen.

Javier García Fernández: Dann kommst du zu einer bestimmten Zeit in die USA. Was sind die ersten Erfahrungen, die du in diesem Land gemacht hast? Bist du auch an die Universität gekommen? Wie sieht der Weg dorthin aus?

Ramón Grosfoguel: Im Rahmen dieses zirkulären Migrationskreislaufs haben die Puertoricaner immer einen Verwandten oder waren selbst in den USA, genauso wie dies auch auf allen nicht-unabhängigen Karibik-Inseln der Fall ist, da dies Teil der von den Metropolen organisierten Migrationspolitik ist.

Als Kind lebte ich mit meinen Eltern in New York. Mein Vater war Argentinier jüdischer Herkunft und meine Mutter Puertoricanerin afrikanischer Abstammung. Die Häuser, in denen Puertoricaner lebten, gehörten amerikanischen Juden. Mein Vater erzählte mir, dass er als argentinischer Jude eine Art Vermittler zwischen den amerikanischen Juden, denen die Gebäude gehörten, und den puertoricanischen Mietern war. Jahre später, zurück in Puerto Rico, erzählte er mir, dass er sich entschlossen hatte, die USA zu verlassen, als er sah, wie rassistisch und abschätzig amerikanische Juden die Puertoricaner behandelten. Angesichts dieser Behandlung, die Puertoricaner in den USA erfuhren, beschloss mein Vater, dass wir nach Puerto Rico zurückkehren sollten. Er sagte zu mir: „Wenn das die Juden waren, wie würden dann die weißen Amerikaner sein?“ Schließlich wuchs ich in Puerto Rico auf.

Bereits in den 1980er Jahren ging das FBI sehr hart gegen die puertoricanische Unabhängigkeitsbewegung vor, an der ich beteiligt war. In diesem Zusammenhang führten die Polizeibehörden eine Razzia gegen die Los Macheteros7 durch und stellten mir in meinem Haus nach. Ich hatte allerdings bereits Vorkehrungen getroffen und war darauf vorbereitet, zusammen mit anderen Mitstreitern in den USA unterzutauchen, ein Exil, das alle puertoricanischen Aktivisten erleiden.

Ich suchte Zuflucht im puertoricanischen Ghetto in Nord-Philadelphia. Als ich dort zur Arbeit ging, erlebte ich am eigenen Leib, wie der Rassismus den nordamerikanischen Arbeitsmarkt organisierte. Letzterem lag eine ethno-rassische Segregation zugrunde, das heißt, bestimmten migrantischen Gemeinschaften wurden bestimmte Arbeiten zugewiesen. Im postindustriellen Philadelphia wurden Puertoricaner für Bauarbeiten, Maurerarbeiten, Malerarbeiten und alle mit diesen Sektoren verbundenen Arbeiten eingeteilt. So arbeitete ich zeitweilig als Anstreicher.

Nach einiger Zeit, als ich mein Soziologie-Studium an der Universität von Puerto Rico bereits abgeschlossen hatte, fand ich dank der Stipendien für rassische Minderheiten in den USA, die durch die damaligen Bürgerrechtskämpfe errungen worden waren, eine Möglichkeit, ein Studium aufzunehmen. Ich bewarb mich um eines dieser Stipendien; und auf diese Weise bin ich an die Universität gekommen. Ich betrachtete dies zunächst als eine vorübergehende Lösung, bis ich nach Puerto Rico zurückkehren konnte. Das wichtigste Charakteristikum dieses Stipendiums war, dass ich alle Fächer bestehen und das Studienjahr ohne Fehlversuche abschließen musste. Wie im Flug vergingen zwei Jahre, und ich schloss die erforderlichen Kurse ab. Ich war bereit, mit meiner Doktorarbeit zu beginnen.

Ich beschloss, nach Puerto Rico zurückzukehren, um mir einen Job zu suchen. Da ich vom FBI allerdings als Unabhängigkeitsaktivist registriert worden war, war es unmöglich, einen Job zu finden. Angesichts dieser Situation war ich gezwungen, in die USA zurückzukehren und zu versuchen, eine Stelle an einer Universität zu bekommen.

Meine Erfahrungen in diesem Land waren immer sehr traumatisch, vor allem was das Bewusstsein von der Bedeutung rassischer Kategorien angeht. In Puerto Rico bin ich aufgrund meiner Hautfarbe weiß, aber mein eigener Bruder, der dunkler ist als ich, wird als schwarz angesehen. In den USA begann ich, all die Diskriminierungserfahrungen zu verstehen, die mein Bruder in Puerto Rico durchgemacht hatte und von denen er mir erzählte, die ich in Puerto Rico aber nicht durchgemacht hatte.

Dies veranlasste mich dazu, die Kategorien, mit denen ich die Herrschaftsformen in Puerto Rico analysierte, einer Umkehr zu unterziehen, indem ich von einer Analyse, die die Kategorie der Klasse oder der unterdrückten Nation privilegierte, dazu überging, die Kategorie der Rasse in der historisch-strukturellen Logik des globalen Kapitalismus zu verstehen.

Dies widerfuhr auch all den karibischen Autoren und Denkern wie Aimé Césaire, Frantz Fanon, C. L. R. James und vielen anderen, die auf ihren Studienreisen in die europäischen und/oder nordamerikanischen Metropolen mit neuen Dimensionen der Herrschaft konfrontiert wurden, die sie in den Kolonien nicht mit derselben Klarheit wahrnehmen konnten.

Wenn man in den Kolonien im Rahmen der Systeme kolonialer Bildung erzogen wird, glaubt man, dass man Franzose, Engländer oder Niederländer ist. Wenn man jedoch in die Metropole kommt, wird man mit dem Rassismus, der dem Kolonialismus innewohnt, konfrontiert, den man auf den Inseln nicht in dieser Deutlichkeit wahrnehmen konnte.

Javier García Fernández: Kaum als du in den USA und an der nordamerikanischen Universität warst, hast du an den Diskussionen teilgenommen, aus denen das so genannte Netzwerk Modernität/Kolonialität hervorgehen sollte. Bevor dieses Netzwerk Gestalt annahm, hattest du bereits mit Giovanni Arrighi und Immanuel Wallerstein zusammengearbeitet. Wie hat sich dein akademisches Leben in den USA entwickelt?

Ramón Grosfoguel: Wie ich gerade erklärt habe, gab es in jenen Jahren bereits eine Reihe von Themen, die diskutiert wurden, eine Reihe von Erfahrungen, die uns dazu veranlassten, eine ganze Reihe offener Probleme, die sich um die Bedeutung des Kolonialismus und der Dekolonisierung in den politischen Horizonten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts drehten, zu hinterfragen und zu analysieren.

Ich habe meine Doktorarbeit über die Auswirkungen der Wohnungspolitik des nordamerikanischen Imperialismus in Puerto Rico und ihre negativen Folgen für die puertoricanische Unabhängigkeitsbewegung geschrieben. Ich habe versucht, die tiefe Krise zu verstehen, die die Unabhängigkeitsbewegung im Zusammenhang mit der nordamerikanischen Investitionspolitik in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren erlitt. Zu dieser Politik gehörte auch der Export von Armut in die Metropolen durch eine organisierte Migration billiger Arbeitskräfte und die Investition von Bundesmitteln zur Subventionierung der auf der Insel verbliebenen puertoricanischen Bevölkerung.

In jenen Jahren, als ich meine Doktorarbeit fertigstellte und als Gastprofessor an der John Hopkins University in Baltimore tätig war, lernte ich Beverly Silver kennen, die dort arbeitete und am Institut für Soziologie der Binghamton University bei Giovanni Arrighi und Immanuel Wallerstein promoviert hatte. In jenen Jahren war Beverly Silver die Partnerin von Giovanni Arrighi, und bei einem von Giovannis Besuchsreisen von Binghamton nach Baltimore lud mich Beverly zu sich nach Hause ein und stellte mich Giovanni vor. Zu dieser Zeit arbeitete ich unter der Aufsicht eines kubanischen Soziologen, Alejandro Portes, eines kubanischen Dissidenten, der ein super-reaktionäres Denken offenbarte und den ihm unterstellten Mitarbeitern super-ausbeuterische Bedingungen auferlegte. Beverly und Giovanni erkannten, dass dies kein guter Ort war, und schlugen vor, dass ich mich um ein Postdoc-Stipendium der Gulbenkian-Stiftung, die von Immanuel Wallerstein geleitet wurde, bewerben sollte. Nachdem ich ein gutes Projekt entworfen hatte, bekam ich das Stipendium und erhielt Zugang zum Fachbereich Soziologie der Binghamton University. Dadurch konnte ich ein Jahr lang mit Immanuel Wallerstein zusammenarbeiten, vier Monate in Binghamton und acht Monate in Paris. Während dieses Jahres hatten wir ein von Wallerstein organisiertes Arbeitsprogramm, das aus zwei Sitzungstagen pro Woche bestand: eine Sitzung, um die Lektüre, an der alle Mitglieder der Gruppe arbeiteten, eingehend zu besprechen; eine weitere Sitzung, um unsere eigenen Forschungsprojekte vorzustellen. Das Thema meines Forschungsprojekts war Zeit und Raum in den lateinamerikanischen Sozialwissenschaften.

Doch darüber hinaus hatte ich in Paris die Möglichkeit, mit der Realität der Migranten aus den französischen Karibikkolonien in Kontakt zu kommen. Ich war immer sehr interessiert an den Migrationserfahrungen der nicht-unabhängigen karibischen Gebiete unter französischer Kolonialherrschaft. Damals konnte ich feststellen, dass die Mechanismen und die Logik Frankreichs gegenüber der Bevölkerung seiner Kolonien in der Karibik der Migrationspolitik der nordamerikanischen Kolonien in der Karibik verblüffend ähnlich waren. Die Kolonialbevölkerungen wanderten als Bürger in die Metropolen ein und galten nach ihrer Ankunft nicht wirklich als Bürger, sondern als eine Unterklasse, die unter der Logik der Rasse als rassialisierte Subjekte/Untertanen agierte. In der französischen und amerikanischen Karibik wurde die Migration von den Metropolen als staatliche Politik organisiert, mit einem ganzen institutionellen Apparat, der die Massenmigration der Kolonialbevölkerung in die Metropolen förderte und erleichterte, um den Arbeitsmarkt der Metropolen mit billigen Arbeitskräften zu versorgen.

Während ich mit Wallersteins Team an der Maison des sciences de l’homme in Paris an dem Projekt über das Konzept von Zeit und Raum in den lateinamerikanischen Sozialwissenschaften arbeitete, begann ich auf eigene Faust, all diese Fragen über koloniale Migrationen aus der französischen Karibik nach Paris zu untersuchen. Damals, als ich begann, mich mit diesen Fragen zu beschäftigen, lernte ich dank Immanuel Wallerstein Maurice Aymard kennen, den Direktor der Fondation Maison des sciences de l’homme und einen der großen Schüler von Fernand Braudel.

Eines Tages lud mich Aymard zum Kaffee ein, ohne dass ich wusste, dass es im französischen Kontext eine sehr starke symbolische Bedeutung hat, wenn ein Direktor einer Institution zum Kaffee einlädt. Während in der nordamerikanischen Universität die hierarchischen Beziehungen symbolisch viel horizontaler sind, bedeutet in der französischen Welt die Einladung zum Kaffee durch den Leiter einer Institution hingegen, dass er eine neue Zusammenarbeit vorschlägt. Ohne dies zu wissen, nahm ich die Einladung an und erzählte ihm, ohne die symbolischen Abläufe zu kennen, von meinem Interesse an der Untersuchung der kolonialen Beziehungen des französischen Staates zu seinen karibischen Kolonien im Vergleich zu den kolonialen Beziehungen des nordamerikanischen Empires. Aymard war von diesem Vorschlag sehr überrascht und schlug mir vor, mich an den führenden Spezialisten für die Migrationen der französischen Karibik in Paris zu wenden, Michel Giraud, einen aus Guadeloupe stammenden Forscher in Paris, der zu dieser Zeit an einem Projekt der Fondation Maison des sciences de l’homme arbeitete. Einen Monat später stellten Giraud und ich Aymard ein Forschungsprojekt über vergleichende nicht-unabhängige karibische Migrationen vor, das die Migration aus der niederländischen Karibik nach Amsterdam, aus der englischen Karibik nach London, aus Puerto Rico nach New York und aus der französischen Karibik nach Paris untersuchen sollte. Das Institut, das Aymard leitete, genehmigte das Projekt, und in den folgenden siebzehn Jahren habe ich vier Monate pro Jahr in Paris an der Entwicklung vergleichender Projekte zu den verschiedenen kolonialen Realitäten und der von den verschiedenen Metropolen entwickelten Politik gearbeitet, zunächst beginnend mit der Karibik und später auf andere Teile der Welt ausweitend.

Ausgehend von den Migrationsstudien untersuchten wir die verschiedenen Formen des Rassismus, die als Verlängerung der kolonialen Verhältnisse entstanden, nicht nur in der Gegend der Karibik, sondern auch den Rassismus und die Islamophobie gegenüber Migranten und Minderheiten in Europa aus der arabisch-muslimischen Welt und den anti-schwarzen Rassismus gegenüber afrikanischen Migranten.

All dies führte dazu, dass sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts um meine Arbeit herum ein akademisches und aktivistisches Netzwerk antirassistischer Bewegungen in ganz Europa organisierte. Ich arbeitete bereits mit der Islamic Human Rights Commission (Islamischen Menschenrechtskommission), der Parti des indigènes de la république (PIR, Partei der Indigenen/Eingeborenen der Republik) und der niederländischen Schwarzen-Bewegung (Movimiento Negro holandés) zusammen. Dies führte dazu, dass wir 2012 den Schritt unternahmen, das European Decolonial Network (Europäische Dekoloniale Netzwerk) zu gründen, dem anfangs auch andere Intellektuelle aus Spanien angehörten, wie Heriberto Cairo Carou und Montserrat Galcerán Huguet. Sie waren auch Teil der Studiengruppe des Sindicato Andaluz de Trabajadores/as (Andalusische Arbeiter/​innen-Syndikat). Ihre Anwesenheit dort stellt die erste dekoloniale Annäherung zwischen den antirassistischen Bewegungen der rassialisierten Subjekte/Untertanen in Europa und den nationalistischen Bewegungen der Linken der unterdrückten Nationen in Europa dar.

Javier García Fernández: Andererseits und parallel dazu warst du in den 1990er Jahren Teil eines neuen Netzwerks lateinamerikanischer Intellektueller, die an verschiedenen latein- und nordamerikanischen Universitäten arbeiteten und publizierten und die eine profunde Debatte über das Verhältnis zwischen Moderne/Modernität und Kolonialismus forderten, das so genannte Netzwerk Modernität/Kolonialität. Du selbst warst an der Gründung dieses Netzwerks von Intellektuellen beteiligt und hast an dieser Strömung der theoretischen und kämpferischen Diskussion über das Erbe von Kolonialismus, Rassismus und Kapitalismus an den Universitäten und in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften teilgenommen.

Erzähl uns: Was waren die Umstände, die zu diesem Anbruch von Reflexion, Diskussion und Produktion einer neuen lateinamerikanischen kritischen Theorie geführt haben? Die Theorie der Dekolonialität ist die Antwort auf welche Frage?

Ramón Grosfoguel: Nun, ich denke, es gibt zwei wesentliche Ereignisse, um das Aufkommen der dekolonialen Debatte zu verstehen.

Erstens die Frage nach dem 500. Jahrestag der Eroberung der Amerikas. Dies wurde bereits von Nelson Maldonado-Torres in hervorragender Weise dargelegt. 1992 war der 500. Jahrestag des Beginns der Eroberung der Amerikas. Dies bringt einmal mehr den kolonialen Charakter der Moderne ins Gespräch und zeigt, dass die Kolonialgeschichte nicht mit den amerikanischen Unabhängigkeiten endete. Im Gegenteil, der Kolonialismus wurde durch ökonomische, machtpolitische, pädagogische, epistemologische und spirituelle Formen verlängert, das heißt durch alle Formen der sozialen Verhältnisse der westlichen modernen kapitalistischen Zivilisation, auch wenn es keine kolonialen Verwaltungen mehr gibt.

Das zweite grundlegende Element zum Verständnis des Aufkommens der dekolonialen Debatte ist die große Krise der Paradigmen der eurozentrischen Linken, die mit dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion eintrat. Viele Menschen wandten sich damals an die dekoloniale Theorie, um eine Antwort auf die folgende Frage zu finden: Welche Art von linkem Projekt können wir von Lateinamerika aus entwerfen, das nicht die Fehler des Sozialismus und der eurozentrischen Linken des 20. Jahrhunderts reproduziert? Die dekoloniale Theorie brachte in diesem Sinne eine Reihe von erfrischenden Ansätzen, die in dieser Diskussion entwickelt werden konnten.

Wenn ich heute zurückblicke, stelle ich fest, dass damals nur sehr wenige Personen von diesen beiden Anliegen angesprochen wurden.

Es gab eine ganze Reihe von Leuten, die auf der Suche nach einer Kritik der Moderne/Modernität waren und nach einem neuen lateinamerikanischen Horizont jenseits der westlichen Moderne/Modernität suchten, ohne an der Suche nach Antworten auf den Zusammenbruch der politischen Strategien der lateinamerikanischen und globalen Linken interessiert zu sein. Diese Sektoren waren am engsten mit den lateinamerikanischen Universitäten und akademischen Debatten verbunden.

Auf der anderen Seite gab es eine ganze Reihe anderer Leute, die im dekolonialen Paradigma einen neuen strategischen Sinn, eine neue Richtung für die Ideen, Programme und politischen Horizonte der lateinamerikanischen Linken als Ausweg aus der Krise der Paradigmen der globalen eurozentrischen Linken suchten, aber nicht bereit waren, die Moderne als zivilisatorisches System zu kritisieren. Dieser Sektor war deutlicher mit den politischen Organisationen und dem studentischen, feministischen und gewerkschaftlichen Aktivismus der eher eurozentrischen Linken verbunden.

Ich war immer auf der Suche nach Antworten auf beide Probleme: die Überwindung des zivilisatorischen Projekts der Moderne und die Überwindung der eurozentrischen Paradigmen der westlich orientierten Linken hin zu einem strategischen dekolonialen Paradigma, das es uns ermöglichen würde, neue transmoderne politische Horizonte der revolutionären Transformation zu entwerfen.

Nun, wie ich schon sagte, war ich bereits mit der Binghamton University verbunden. Andererseits besuchte Aníbal Quijano seit Anfang der 1980er Jahre jedes Jahr die Binghamton Univer­sity, um ein sechswöchiges Seminar zu geben. Mein Aufenthalt in Binghamton fiel zusammen mit Quijanos Seminar. Damals stand Aníbal Quijanos These von der Kolonialität der Macht noch zu sehr in der Nähe der marxistischen Studien über die Dependenz und hatte den rassischen Charakter des Kapitalismus und die Dimension der globalen Struktur noch nicht in die Diskussion miteinbezogen. Quijano kam dann mit denselben Fragen, die puertoricanische Aktivisten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stellten. Das sind genau die, die ich schon erwähnt habe: die Dimensionen des Kolonialismus nach der Unabhängigkeit; die Frage, wie man das epistemologische und kulturelle Erbe der kolonialen Herrschaft überwinden kann; und vor allem die Analyse der Kontinuitäten des Kolonialismus jenseits des historischen Kolonialismus als juristisch-administratives Regime.

Während seiner Aufenthalte an der Binghamton University war der Dialog, den Quijano mit afroamerikanischen und karibischen Studenten führte, die in der Tradition des schwarzen Marxismus arbeiten, sehr wichtig. Cedric J. Robinson zum Beispiel war Professor in Binghamton und hatte eine sehr starke Gruppe von Studenten, die Quijano Jahr für Jahr zu den Theorien des rassischen Kapitalismus befragten, die er nach und nach in seine Dissertation aufnahm und die er später als Kolonialität der Macht bezeichnen sollte.

Darüber hinaus gab es zwei Treffen, die für das Entstehen dieser neuen Theorie und dieses Netzwerks der Kritik der Modernität/Kolonialität von zentraler Bedeutung waren. Das erste fand im Oktober 1998 an der Duke University statt, organisiert von Walter Mignolo, an dem Aníbal Quijano, Enrique Dussel, Nelson Maldonado-Torres und ich teilnahmen. Dieses Treffen sollte all diese Debatten in einen Dialog mit der indischen postkolonialen Theorie bringen, die dort von Dipesh Chakrabarty und anderen Intellektuellen aus der Bewegung der Subalternen Studien vertreten wurde.

In den Diskussionen auf diesem Treffen wurde uns schnell klar, dass die Vorschläge und Diskussionslinien der postkolonialen Strömung aufgrund ihrer theoretischen und intellektuellen Bezüge die lateinamerikanischen Debatten nicht prägen konnten. Für die postkoloniale Schule waren die ausschließlichen theoretischen Bezüge immer noch Marx, Gramsci, Foucault, Lacan und Derrida, die auf die Untersuchung der Volksklassen Indiens in der postkolonialen Periode angewandt wurden. Das heißt, sie haben sich nicht mit dem Problem der epistemischen Dekolonisierung des Eurozentrismus oder der epistemischen Diversität der Welt auseinandergesetzt. Sie dachten weiterhin einzig und allein vom epistemischen Rassismus/Sexismus her, der alle westlich orientierten Universitäten kennzeichnet, in denen westliche Männer aus fünf Ländern (Deutschland, England, USA, Frankreich und Italien) in allen Disziplinen privilegiert sind.

Auch bei der Diskussion über die Moderne/Modernität stellte sich eine umgehende Distanz ein. Für die postkoloniale Strömung war die Moderne/Modernität nicht das Problem, sondern der Horizont, da sie zu intellektuellen Strömungen mit einer starken eurozentrischen Komponente gehörten, vor allem zur französischen Philosophie. Dieses erste Treffen markierte einen Tempowechsel in den Debatten, der uns schnell von der postkolonialen Strömung und den Subalternisten Indiens abbrachte.

Das zweite Treffen fand einen Monat später, im Dezember 1998, im Fernand Braudel Center in Binghamton statt und wurde von mir als Professor des Fachbereichs Soziologie zusammen mit einigen Doktoranden organisiert. Bei diesem zweiten Treffen brachten wir drei Konzepte von drei verschiedenen Autoren miteinander ins Gespräch: Wallersteins Idee des Historischen Kapitalismus, Quijanos Kolonialität der Macht und Dussels Transmoderne. Drei Tage lang diskutierten wir mit Wallerstein, Quijano und Dussel über das Verhältnis zwischen diesen drei Konzepten, mit Präsentationen der Autoren und intensiven Diskussionen an verschiedenen Tischen und Workshops.

Die erste Zäsur, die sich bei diesem Treffen ergab, betraf Wallersteins Lesart der Moderne. Für ihn begann die Moderne im 18. Jahrhundert mit der Französischen Revolution, was in krassem Gegensatz zu Dussels Vorstellung stand, dass die Moderne im Jahr 1492 mit der kolonialen Expansion der spanischen Krone in die Amerikas begann. Daher drehten sich bei diesem Treffen die wesentlichen Elemente, die die Debatten über Modernität/Kolonialität ausmachen sollten, um die kolonialen Bedingungen des modernen Weltsystems, das nach 1492 Gestalt annahm.

Zu dieser Zeit arbeitete ich in Boston, und ab 2001 in Berkeley. Von diesen beiden Orten aus widmete ich mich der Organisation eines jährlichen Kongresses zu den Themen, die sich bereits in einer ganzen Reihe von lateinamerikanischen intellektuellen Debatten konsolidiert hatten. Diese Reihe von Kongressen begründete das Netzwerk, das als Netzwerk Modernität/Kolonialität bekannt wurde.

Javier García Fernández: Nun, du selbst bist eine der Referenzen dieser Strömung des dekolonialen Denkens. In vielerlei Hinsicht ist sie eine der letzten großen intellektuellen, theoretischen und akademischen Strömungen des lateinamerikanischen Denkens. Für diejenigen, die diese Strömung nicht genau kennen: Was sind deiner Meinung nach die wichtigsten Beiträge der dekolonialen Theorie und des dekolonialen Denkens, die von dir und anderen Personen des Netzwerks im Bereich der zeitgenössischen Sozialwissenschaften entwickelt wurden?

Ramón Grosfoguel: Nun, diese Frage erfordert eine sehr lange Antwort. Ich habe viele Texte, Videos und Interviews zu diesem Thema herausgebracht, aber um dir eine kurze und schnelle Antwort zu geben, würde ich sagen, dass sich die wesentlichen Beiträge dieser Strömung auf mehrere Bereiche verteilen lassen.

Erstens versuche ich in meiner Arbeit seit Jahrzehnten, eine notwendige Dekolonisierung der Paradigmen der politischen Ökonomie zu entwickeln, indem ich eine Kartographie der Macht des Weltsystems identifiziere, die viel weiter gefasst ist als zwei oder drei Hierarchien, das heißt, eine neue Kartographie der Macht, in der ich bis zu fünfzehn globale Hierarchien der Herrschaft identifiziere. Diese dekolonisierende Wende, wie auch andere, ist nur möglich, wenn man eine Wende in der Geographie der Vernunft vollzieht, das heißt, wenn man Europa hereinkommen (llegando) und nicht nur hinausgehen (saliendo) sieht.

Dies war eine der großen Diskussionen mit Wallerstein und Arrighi. Sie sahen in dem neuen kapitalistischen Weltsystem ein neues, im Wesentlichen ökonomisches Modell der Akkumulation: den Kapitalismus. Wenn ich sie nach den anderen Machthierarchien, wie die kultureller, religiöser, patriarchalischer, rassischer, epistemischer Natur usw., fragte, antworteten sie immer, dass diese in Europa bereits existierten und dass das Neue die Logik der Kapitalakkumulation sei.

Das ist der große Irrtum des Eurozentrismus, die lokale Geschichte Europas als Weltgeschichte zu betrachten, das heißt, anzunehmen, dass das, was in Europa geschah, überall geschah. Aber wenn man Europa hereinkommen sieht, von der anderen Seite der Geographie der Vernunft aus, aus der Erfahrung der kolonisierten Völker, zum Beispiel aus der Erfahrung der indigenen Völker der Amerikas oder der afrikanischen Bevölkerung oder aus der Erfahrung in der arabisch-muslimischen Welt, dann sieht man ein zivilisatorisches System, das sich nicht in der Ökonomie erschöpft, sondern auch rassistisch, patriarchalisch, christozentrisch, eurozentrisch, ökozidal ist, ein System mit konkreten Formen politischer Autorität, das heißt, eine Vielzahl von Herrschaftshierarchien, die eine Zivilisation ausmachen.

Aber um dies zu erkennen, muss man eine dekoloniale Wende in der Epistemologie vollziehen. Wenn man anfängt, denselben Prozess der kolonialen Expansion von der Seite der Kolonisierten aus zu betrachten, nimmt man all diese zivilisatorischen Veränderungen wahr. Betrachtet man jedoch den gesamten Prozess von der Seite des Eroberers aus, wird nur die Logik der Kapitalakkumulation als neu wahrgenommen, wobei fälschlicherweise angenommen wird, dass alle anderen Elemente des zivilisatorischen Systems überall auf der Welt existierten, weil sie in Europa bereits vorhanden waren. Wenn all diese Elemente wie Feudalismus, Christentum, Rassismus und Patriarchat in Europa als konkrete soziale und ökonomische Formationen existierten und nicht im Rest der Welt, muss man dies in seinem theoretischen und epistemologischen Bezugsrahmen berücksichtigen, ansonsten verfällt man in den schlimmsten Irrtum des Eurozentrismus, der darin besteht, das, was in Europa geschieht, als universal zu betrachten, nur weil man in Europa die Geschichte eines Teils von Europa als Weltgeschichte betrachtet.

Um nicht in diesen Eurozentrismus zu verfallen, muss man daher eine andere Konzeptualisierung vornehmen, die all die neuen Herrschaftshierarchien sichtbar macht, die vor der Ankunft der Europäer nicht existierten und mit dem zivilisatorischen Paket der kolonialen westlichen Expansion einhergingen, die bisher geleugnet und unsichtbar gemacht wurden, da die eurozentrischen Theorien sie zu Universalien naturalisiert hatten.

Deshalb antworteten Wallerstein und Arrighi auf meine Frage, dass das einzig Neue, das in dem durch die europäische koloniale Expansion nach 1492 geschaffenen System auftaucht, ein Wirtschaftssystem der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab sei. Damit rechtfertigten sie die Theoretisierung des Weltsystems als Wirtschaftssystem und die Nichtberücksichtigung anderer Herrschaftshierarchien als zentraler und wesentlicher Bestandteil dieses Systems, da diese ihrer Meinung nach nicht neu seien, da sie bereits im mittelalterlichen Europa existierten.

Wenn diese Hierarchien jedoch außerhalb Europas nicht existierten und der Prozess der kolonialen Expansion sie auf andere Teile der Welt, in denen diese Hierarchien nicht existierten, ausdehnte, dann müssen sie logischerweise als Teil der Hierarchien begriffen werden, die das nach 1492 geschaffene Weltsystem ausmachen. Daher habe ich mich daran gemacht, fünfzehn Hierarchien der Herrschaft zu identifizieren, die inhärenter und konstitutiver Bestandteil des Weltsystems sind.

Ein weiterer zentraler Beitrag der dekolonialen Strömung bestand darin, Kolonialismus, Rassismus und Macht als eine globale historisch-strukturelle Dimension zu begreifen, die Quijano als Kolonialität der Macht bezeichnete, mit der sich aber andere Autoren bereits viele Jahre vor Quijano unter anderen konzeptionellen Rahmenbedingungen wie dem modernen Weltsystem, dem globalen System, dem internen Kolonialismus oder dem rassischen Kapitalismus befasst hatten.

Wie ich an anderer Stelle bereits betont habe, ging Quijano bei seiner Theoretisierung des Kapitalismus von einer sehr viel stärker auf die Staaten und die Dependenztheorie zentrierten Sichtweise aus, zumindest bis er in Binghamton mit Robinsons Studenten und den Theoretikern des schwarzen Marxismus ins Gespräch kam. Von da an begann er, die globale rassische Dimension in seine Theorie des Kapitalismus miteinzubeziehen, wenngleich das eine Hypothese darstellte, an der viele Autoren gearbeitet hatten und die auf dieselbe politische Situation und dieselbe theoretische Reflexion reagierte, die damit zu tun hatte, dass die Macht weiterhin einen kolonialen Charakter hatte, obwohl die kolonialen Verwaltungen in Lateinamerika, von einigen Ausnahmen abgesehen, vor Jahrhunderten überwunden worden waren.

Diese Diskussion war dieselbe, die auch in Puerto Rico geführt wurde, als wir mit der Frage konfrontiert wurden: Was bedeutet Dekolonisierung? Nach dem Scheitern aller Erfahrungen der Dekolonisierung und angesichts der verschiedenen Arten des Status, die in der Karibik existierten, waren wir gezwungen, nach einer anderen Theorie der Kolonisierung und Dekolonisierung zu suchen.

Die dekoloniale Theorie ermöglicht es uns, die Kontinuitäten der kolonialen Geschichte zu verstehen und zu erkennen, dass die Unabhängigkeiten in Lateinamerika zutiefst koloniale Unabhängigkeiten waren, da sie keine Prozesse der Dekolonisierung darstellten, sondern vielmehr die systemische und strukturelle Abhängigkeit dieser Länder von den Ländern des Nordens aufrechterhielten und auch nicht die sozialen Strukturen innerhalb der Länder dekolonisierten, die rassisch, ethnisch und patriarchalisch geprägt waren. Die Unabhängigkeiten waren lediglich Prozesse, durch die die weiße kreolische Elite die Macht übernahm, nun unter der Rechtsformel einer abhängigen unabhängigen Republik.

Ein weiterer wichtiger Beitrag der dekolonialen Perspektive stammt von Maldonado-Torres: die Kolonialität des Seins, das heißt, die Kolonialität derjenigen, deren Menschlichkeit nicht anerkannt wird, derjenigen, die entmenschlicht werden. Es geht um eroberte Gesellschaften, die nicht als Menschen anerkannt werden, sondern vielmehr als Menschen ohne Seele oder Menschen ohne menschliche DNA angesehen werden. Dies ist eine Unterscheidung geistigen und existenziellen Charakters, die die gesamte rassistische Entwicklung der kolonialen Moderne gegenüber der indigenen Bevölkerung und der schwarzen und islamischen Bevölkerung in der Welt prägt.

Ein zentraler Beitrag der dekolonialen Theorie wird zweifelsohne auch die so genannte Kolonialität des Geschlechts im Rahmen der Debatte um die so genannten dekolonialen Feminismen sein. Die Kolonialität des Geschlechts ist ein Beitrag von María Lugones, der uns verstehen lässt, dass das Geschlecht eine der Achsen der Hierarchie der globalen Herrschaft darstellt. Die Theoretikerinnen des dekolonialen Feminismus haben dargelegt, dass die Konstruktion der Kategorie des Geschlechts eine weitere koloniale Aufzwingung der Reorganisation der gemeinschaftlichen Beziehungen war und dass sie nicht zu den Formen der sozialen Beziehungen vor der Ankunft der Europäer in Afrika oder Lateinamerika passte. Zu nennen sind die Werke von Sylvia Marcos für Mittelamerika und Oyeronke Oyewumi für Westafrika.

Die Anerkennung der epistemischen Diversität wird ein weiterer wichtiger Beitrag der dekolonialen Perspektive im Lichte der Dusselschen Transmoderne sein: die Anerkennung, dass es nicht bloß eine einzige Epistemologie in der Welt gibt, sondern dass diverse Epistemologien existieren und dass es verschiedene Antworten auf ein und dasselbe Problem geben kann. Dies führt uns vom Uni-versalismus zum Pluri-versalismus, das heißt, zur Anerkennung verschiedener Arten des Denkens, des Seins und des In-der-Welt-Seins. Wir können einen negativen Universalismus verfolgen, das heißt, wir können herausfinden und definieren, womit wir es zu tun haben, aber immer mit Respekt für die Diversität der Lösungen, die wir für dasselbe Problem vorschlagen.

Zusammenfassend würde ich sagen, dass die große Transformation der Sozial- und Geisteswissenschaften aus dekolonialer Perspektive darin bestand, zu verstehen, dass dekoloniales Denken auch ein politisches Projekt ist, nicht nur ein intellektuelles Projekt. Es ist ein intellektuelles Projekt, das einem politischen Projekt der Transformation der Welt untergeordnet ist, einer dekolonisierenden Transformation der Welt.

Was wir bisher gesehen haben, ist, dass wir keine eurozentrischen Paradigmen mehr brauchen, auch wenn es sich um jene der radikalen Linken handelt. Diese eurozentrischen Paradigmen der radikalen Linken sind in den Prämissen und Voraussetzungen des Systems gefangen, das sie zu transformieren beabsichtigen. Die Moderne ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern auch ein zivilisatorisches System. In diesem Sinne denke ich, dass wir den zapatistischen Leitsatz mit einer neuen Bedeutung versehen sollten: „wir wollen eine Welt, in der andere Welten möglich sind und diese Welt unmöglich ist“.

Javier García Fernández: Du hast uns von den beiden Treffen erzählt, die in den Monaten Oktober und Dezember 1998 stattgefunden haben. Es sind bereits zwei Jahrzehnte vergangen, seitdem das dekoloniale Denken und die Perspektive der Kolonialität entworfen und konkretisiert worden ist. Es waren zwanzig Jahre voller Begegnungen, Debatten, Veröffentlichungen, wissenschaftlicher Arbeiten, aber auch politischer Interventionen, Konfrontationen, Öffnungen und Brüche. Die lateinamerikanische politische Situation hat ebenfalls tiefgreifende Transformationen durchlaufen, ein neues verlorenes Jahrzehnt ist wieder eingetreten, fortschrittliche Regierungen sind in Brasilien, Argentinien und Ecuador abgewählt worden, die Lage in Venezuela war in den letzten Jahren sehr schwierig, und die Denker der dekolonialen Theorie haben sich in vielen Richtungen politisch eingemischt sowie divergierende und zu bestimmten Zeitpunkten sogar antagonistische Positionen eingenommen. Wie ist der aktuelle Stand des dekolonialen Denkens auf der lateinamerikanischen politischen Bühne?

Ramón Grosfoguel: Nun, ich denke, das Netzwerk hat sich aufgrund der politischen Situation in Venezuela zutiefst gespalten, aber das war nur ein Symptom. Das Problem war nicht Venezuela an sich, sondern Venezuela war vielmehr das Symptom anderer Probleme. Es hatte damit zu tun, wie wir Politik verstehen.

Es gibt diejenigen unter uns, die sich politisch engagieren und soziale und politische Bewegungen unterstützen, die möglicherweise einen Platz innerhalb des Staates einnehmen oder auch nicht, und es gibt diejenigen, die prinzipiell antistaatlich sind und nichts unterstützen, was über den Staat läuft, was in einer drastischen Entpolitisierung endet und manchmal, wie im Fall Venezuelas, auf der Seite des Imperialismus gegen Venezuela endet.

Diese Spannung war zwischen Dussel und Quijano immer vorhanden. Quijano war immer Anarchist, seine Prinzipien bestanden darin, nicht mit dem Staat zusammenzuarbeiten, während Dussel immer eine eher politische Vision hatte, die ihn manchmal dazu brachte, mit politischen Organisationen mit einer gewissen Präsenz im Staat zusammenzuarbeiten, und manchmal nicht, je nach dem Kontext. Diese Spannung entlud sich in der politischen Krise in Venezuela durch Quijanos Vision, die aberwitzig antistaatlich war und in der jede Intervention in die Sphäre des Staates von vornherein als reaktionär oder rechtsextrem angesehen wurde. Angesichts einer solchen Vision wurden natürlich alle Projekte der Linken, die sich der Institutionen bedienten, um die Realität zu transformieren, mit Misstrauen aufgenommen.

Dies bringt mich zurück zu einer libertären und liberalen Vision der Politik, in der, wie Dussel sagt, Individuen, die sich zu nichts verpflichten, keine Widersprüche empfinden, aber auch nicht die Welt transformieren. Hinter der ultraradikalen Rhetorik ist man genauso reaktionär wie die Rechten, man ist genauso mit dem Status quo versöhnt wie die Rechten. Das war eine Kritik, die Dussel immer wieder vorgebracht hat.

Auf der anderen Seite gab es innerhalb der dekolonialen Strömung eine postmoderne Tendenz, die nie verstanden hat, was Imperialismus ist, die geglaubt hat, dass der Imperialismus etwas Äußerliches ist, und die nie verstanden hat, dass der Imperialismus die lateinamerikanischen Gesellschaften von innen heraus zutiefst durchdringt. Deshalb haben sie, als es darum ging, die politische Situation in Venezuela einzuschätzen, alle Probleme auf Nicolás Maduro geschoben und dabei ebendie Begrifflichkeiten und Argumente des Imperialismus verwendet. Das heißt, sie wiederholten das Mantra der imperialistischen Presse, dass die Probleme der venezolanischen Gesellschaft durch eine autoritäre, korrupte Regierung verursacht würden, und wiesen auf Maduro als Ursache für das Leiden der Venezolaner hin. Diese Tendenz hat nie verstanden, dass der Imperialismus schon lange vor den Sanktionen einen ökonomischen und militärischen Krieg gegen Venezuela geführt hat und dass dieser Wirtschaftskrieg in einer Hyperinflation zum Ausdruck kommt, die die Menschen leiden lässt und die darauf abzielt, die allgemeine Unzufriedenheit auf die Regierung umzulenken, die das Imperium stürzen will.

Diese Mechanismen des Imperialismus sind sehr alt. Sie wurden gegen Allende in Chile eingesetzt und vor kurzem beim Putsch in Ägypten gegen die Muslimbrüder, der die blutige Militärdiktatur von as-Sisi an die Macht brachte. Was war geschehen? Es gab eine zahlreiche Fraktion der dekolonialen Strömung, die die Prämissen der Antistaatlichkeit von Quijano übernahm und von dort aus eine großtönende Kritik an der Regierung von Nicolás Maduro lancierte, die eine antiimperialistische, demokratische Regierung ist, die die kommunale Macht und viele Transformationen im ganzen Land förderte, mit all ihren Widersprüchen, mit all ihren Problemen und Konflikten. Diese Fraktion der Intellektuellen macht Maduro für alle Übel der venezolanischen Gesellschaft verantwortlich und versteht nicht, dass die Krise in Venezuela im Grunde eine direkte Folge der Hyperinflation, der Blockade und der Sanktionen ist, die vom Imperialismus zur Zerstörung des bolivarischen chavistischen Projekts eingesetzt werden.

Aber in diesem Sinne ist diese Spannung nicht nur in Venezuela zu beobachten. In Mexiko zum Beispiel haben Dussel und Karina Ochoa [den jetzigen Präsidenten Mexikos] Andrés Manuel López Obrador unterstützt, und in Kolumbien hat Santiago Castro-Gómez [den jetzigen Präsidenten Kolumbiens] Gustavo Petro unterstützt. In Portugal hat Boaventura de Sousa Santos die linke Koalitionsregierung der Sozialisten mit Unterstützung des Bloco de Esquerda (Linksblock) und der Kommunisten unterstützt. Politik bedeutet auch, sich zu positionieren, den Kontext zu berücksichtigen und die Prozesse, die in den verschiedenen Ländern ablaufen, zu unterstützen.

Die venezolanische Frage war das Szenario, in dem sich die Spannungen mit dem Imperium am gewaltsamsten entluden, aber die Spaltung der dekolonialen Netzwerke und der Linken war im gesamten lateinamerikanischen Kontext allgemeiner und struktureller Natur. Deshalb ziehe ich es heute vor, mich als „dekolonialer Antiimperialist“ zu bezeichnen. Ich habe immer gedacht, dass diese Bezeichnung überflüssig ist, weil das Dekoloniale den Antiimperialismus bereits in sich trägt. Als jemand, der aus einer antiimperialistischen Militanz in Puerto Rico kommt, war das für mich immer selbstverständlich. Aber nachdem ich gesehen habe, wie Leute, die sich selbst als dekolonial bezeichnen, inmitten der Aggressionen des US-Imperialismus in Venezuela und Bolivien Partei für den Imperialismus ergriffen haben, sehe ich es als unbedingt nötig an, mich als dekolonialer Antiimperialist zu bezeichnen, um mich von diesen anderen „dekolonialen Pro-Imperialisten“ oder „dekolonialen Kolonialisten“ zu unterscheiden.

Javier García Fernández: Gut, in diesem Kontext, den du zeichnest: Wie siehst du die Zukunftsperspektiven des dekolonialen Denkens? Was siehst du als die kommenden Szenarien der Zukunft?

Ramón Grosfoguel: Ich sehe eine Annäherung in der Verbindung von Dekolonialität und Marxismus. Das heißt, ich sehe, dass die Leute, die nicht vom Marxismus kommen, sondern die das Dekoloniale von eher kulturalistischen und weniger ökonomischen und strukturellen Positionen aus entwickelt haben, fast immer diejenigen sind, die in diesen entpolitisierten, problematischen Positionen landen, die mit dem imperialistischen Herrschaftssystem im Namen einer Hyperradikalität versöhnt sind, was man so nicht erwartet hätte. Ich sehe, dass es in diesem historischen Moment eine Rückkehr zu einer stärker marxistisch verwurzelten Dekolonialität gibt, vor allem bei denjenigen von uns, die mehr in marxistischem Denken ausgebildet wurden und die, obwohl wir mit dem eurozentrischen Marxismus gebrochen haben, weiterhin das Denken von Marx und antiimperialistische Positionen wiederbeleben. Heute nehme ich mehr Wesensverwandtschaft mit marxistischen und antiimperialistischen Positionen wahr als mit diesen dekolonialen Tendenzen, die eine entpolitisierte kulturalistische Kritik üben und diese Kritik von postmodernen Positionen aus vorbringen, die nicht in der politischen Ökonomie oder der antiimperialistischen Kritik verortet sind. Ich habe immer gesagt, dass nicht jeder Antiimperialist dekolonial ist, aber jeder Dekoloniale sollte in erster Linie Antiimperialist sein. Von welcher Dekolonialität ist die Rede, wenn man in Venezuela die Regierung von Nicolás Maduro mit denselben Argumenten und derselben Denkweise angreift wie die imperialistische Rechte?

Ich glaube, dass der dekoloniale Marxismus in dieser neuen Konjunktur stark im Kommen ist. Ich habe gerade eine Sonderausgabe über schwarzen Marxismus in diesem Sinne herausgegeben. Dussel hat außerdem fünf Bände einer dekolonialen Lektüre des Marxschen Werks vorgelegt, das heißt einer nicht-eurozentrischen Lektüre der Marxschen Thesen. Es scheint mir von grundlegender Bedeutung zu sein, nicht das gesamte Werk von Marx und die gesamte Tradition des Antiimperialismus über Bord zu werfen. Darin sehe ich die Zukunft des dekolonialen Denkens, eines dekolonialen, kämpferischen, antiimperialistischen und antisystemischen Denkens, im Gegensatz zur liberalen Vision der Politik.

Javier García Fernández: Im Jahr 2012 hat sich eine ganze Reihe von dekolonialen Intellektuellen in Europa wie Arzu Merali von der Islamic Human Rights Commission (Islamische Menschenrechtskommission), Dew Baboeram von der Bewegung der Schwarzen Niederländer (Black Dutch Movement), Houria Bouteldja und andere Mitglieder der Parti des indigènes de la république (Partei der Indigenen/Eingeborenen der Republik), Montserrat Galcerán Huguet und Heriberto Cairo Carou, und wir, als Mitglieder der Studiengruppe des Sindicato Andaluz de Trabajadores/as (Andalusische Arbeiter/innen-Syndikat), als Initiatoren des European Decolonial Network (Europäisches Dekoloniales Netzwerk), das jetzt International Decolonial Network (Internationales Dekoloniales Netzwerk) heißt, in Madrid getroffen, um ebenjenes European Decolonial Network zu gründen. 2016 fand in Santiago de Compostela das von Xosé Manuel Beiras, Lidia Senra sowie anderen Mitstreitern und Mitstreiterinnen der galicischen nationalistischen Bewegung und dir selbst organisierte I Encuentro da Historia da Europa Decolonial e da Europa dos Povos sin Estado (Erste Begegnung mit der Geschichte des dekolonialen Europas und des Europas staatenloser Völker) statt, an dem alle Mitglieder dieses Netzwerks zusammen mit Boaventura de Sousa Santos teilnahmen, zudem Mitglieder der Candidatura d’Unitat Popular (Kandidatur der Volkseinheit, CUP) Kataloniens, wie Anna Gabriel und Quim Arrufat, sowie Mitglieder des Sindicato Andaluz de Trabajadores/as, wie Nestor Salvador und ich. Seit mehreren Jahren ist deine politische Intervention im spanischen Staat und vor allem im katalanischen Unabhängigkeitsprozess von dem Wunsch geprägt, ein politisches Bündnis zwischen den rassialisierten Subjekten/Untertanen des spanischen Staates und den politischen Bewegungen der unterdrückten Nationen in Europa als Opfer des Imperialismus und des inneren Kolonialismus in Europa herbeizuführen. Worin besteht das politische Potenzial dieses dekolonialen Bündnisses in Europa?

Ramón Grosfoguel: Seit vielen Jahrzehnten führen die sozialen Bewegungen der rassialisierten Subjekte/Untertanen in Europa Kämpfe und Bestrebungen für die Dekolonisierung Europas und gegen Rassismus und Islamophobie. Diese Bewegungen sind in den europäischen Staaten aufgrund des schrecklichen Rassismus und der Xenophobie, die es in Europa sowohl auf Seiten der Linken als auch auf Seiten der Rechten gibt, sehr erschwerten Bedingungen ausgesetzt. Das hat dazu geführt, dass diese Arbeit keineswegs einfach war. Es gab viele Erfolge im Hinblick auf die Mobilisierung und den Kampf für die Rechte rassialisierter Subjekte/Untertanen, aber im Allgemeinen ist es ein Kampf unter sehr aggressiven und harten Bedingungen.

Die Frage ist: Wie kann ein strategisches Bündnis erreicht werden, das diese rassialisierten und in antirassistischen Kämpfen organisierten Subjekte/Untertanen mit anderen Teilen der sozialen Bewegungen in Europa verbindet?

Wir haben festgestellt, dass ein solches Bündnis mit den staatlichen Linken des spanischen, französischen, britischen oder niederländischen Staates nicht möglich war. Die europäische Linke teilt im Allgemeinen die gleichen epistemologischen, rassistischen und eurozentrischen Prämissen wie der Rest der politischen Subjekte/Untertanen. Rassismus war und ist in allen europäischen Gesellschaften und auch im Umfeld der sozialen Bewegungen strukturell vorhanden. Was dabei herauskommt, ist, dass es in Europa eine ganze Reihe von antikolonialen und antiimperialistischen Kämpfen der unterdrückten Nationen innerhalb Europas gibt – damit meine ich die nationalistischen Bewegungen der Linken sowie die souveränistischen und popularen Bewegungen der unterdrückten Nationen, die ein enormes dekoloniales Potenzial haben.

Dies hat mich dazu veranlasst, für einen Raum des Dialogs, des gemeinsamen Engagements und der Vernetzung zwischen antikolonialen und antiimperialistischen Kämpfen, den popularen Kämpfen für die Souveränität unterdrückter Nationen und den dekolonialen antirassistischen Kämpfen, die sich gegen den Staat in denselben Gesellschaften richten, zu plädieren.

Ich erachte dieses Bündnis als wesentlich für die Dekolonisierung Europas, denn es handelt sich um Kämpfe, die im Moment parallel laufen, die nicht miteinander verknüpft sind, die aber miteinander verknüpft werden müssen.

Das Bündnis zwischen den dekolonialen Kämpfen der rassialisierten Subjekte/Untertanen, der Migranten, die sich in Europa als Fortsetzung der kolonialen Geschichte in Algerien, Marokko, Tunesien, Ecuador, Bolivien, Senegal, Indien, Pakistan, der Region der Karibik und anderen Ländern befinden, und den Kämpfen der Nationen ohne Souveränität, die in der Entwicklung der westeuropäischen Moderne von den hegemonialen Staaten Europas untergeordnet und beherrscht wurden, ist strategischer Natur. Die Zukunft der Dekolonisierung Europas liegt in einem strategischen Bündnis zwischen den migrantischen Subjekten/Untertanen der Kolonialgeschichte, den rassialisierten Subjekten/Untertanen wie den Roma, den schwarzen Kariben und Afrikanern, den Muslimen aus der ganzen Welt und den Subjekten/Untertanen der Nationen ohne Staat, sofern priorisiert und sichergestellt wird, dass dieses Bündnis ohne Unterordnung besteht und dass niemand die Agenda des anderen unterminiert.

Ich sehe ein enormes Potenzial in diesem gemeinsamen Kampf, der auf die Dekolonisierung der metropolitanen Räume gerichtet ist. Ich sehe auch ein Potenzial darin, dass diese souveränistischen Linken der Nationen ohne Staat für die dekoloniale Wende sensibilisiert sind, was nicht heißt, dass sie ihrem Wesen nach dekolonial ausgerichtet sind, aber ich sehe das Potenzial für die Schaffung politischer Subjekte, die diese beiden Agenden der dekolonialen antirassistischen Kämpfe und der antiimperialistischen Kämpfe der Nationen ohne Souveränität in sich vereinen.

Damit dies geschehen kann, müssen die souveränistischen Bewegungen der Nationen ohne Souveränität in Europa erkennen und verstehen, dass dieselben unterdrückten Nationen zur gleichen Zeit, in der sie gegen einen Staat kämpfen, der sie unterdrückt, andere rassialisierte Subjekte/Untertanen unterdrücken, die im Inneren der Nation leben, die sie befreien wollen, und die ebenso unter Rassismus, polizeilicher Aggression und rassischer Herrschaft innerhalb ihrer eigenen Nation leiden, auch wenn sie selbst eine unterdrückte Nation sind.

Als unterdrückte Nation kann man sich nicht von der Herrschaft des spanischen imperialen Staates befreien, ohne seinerseits seine eigenen internen Kolonialitäten gegen die schwarze, „zigeunerische“ (gitanas) oder muslimische Bevölkerung zu bekämpfen, die nicht nur vom spanischen Staat, sondern auch von der unterdrückten Nation ohne Souveränität unterdrückt wird. Ebenso können sich die rassisch inferiorisierten Subjekte/Untertanen nicht vom Rassismus befreien, ohne einen antiimperialistischen Horizont zu entwickeln, der politische Bündnisse mit Nationen ohne Souveränität gegen den spanischen imperialen Staat einschließt, um Projekte der anti-systemischen Befreiung zu schaffen.

Wenn die Nationen ohne Souveränität weiterhin gegen die spanische Herrschaft kämpfen, ohne ihre eigene Kolonialität anzuerkennen, werden sie Spanien in ihrem zukünftigen republikanischen Staat reproduzieren. Und wenn rassisch inferiorisierte Subjekte/Untertanen im antirassistischen Kampf verbleiben, ohne ein spanisches antiimperialistisches politisches Projekt und die entsprechenden politischen Bündnisse zu entwickeln, wird der institutionelle Rassismus niemals überwunden und die antirassistischen Forderungen bezwungen werden. In diesem Fall wird der Antirassismus immer vom imperialen Staat vereinnahmt und erstickt werden.

Das strategische Bündnis ist der antiimperialistische Dekolonisierungskampf der Nationen ohne Souveränität und der aus der Kolonialgeschichte hervorgehenden Subjekte/Untertanen, die heute als rassisch inferiorisiert gelten.

Javier García Fernández: Nun, Ramón, an dieser Stelle möchte ich dir die letzte Frage dieses Interviews stellen: Was bedeutet es, Europa zu dekolonisieren?

Ramón Grosfoguel: Europa zu dekolonisieren, würde bedeuten, das real existierende Europa zu zerstören, das imperialistische, kapitalistische, kolonialistische und patriarchalische Europa. Diese Dekolonisierung wäre die dekoloniale Transformation Europas hin zu einem anderen Europa, das jenseits jenes zivilisatorischen Projekts liegt, von dem wir sagen, dass es 1492 begann, von dem wir aber wissen, dass es schon viel früher mit der Eroberung von al-Andalus begann.

Damit es dazu kommen kann, muss zunächst eine Dekolonisierung der peripheren Nationalismen selbst stattfinden, das heißt, die Nationalismen der Nationen ohne Souveränität müssen den kritischen Blick auch nach innen richten und die Kolonialismen, die sie ausüben, revidieren und nicht nur diejenigen, die sie erleiden. Es kann nicht sein, dass man gegen Spanien kämpft, bloß um einen anderen Nationalstaat zu schaffen, eine andere Fiktion, die den anderen das antut, was Spanien einem selbst angetan hat.

Der Ausweg ist eine Dekolonisierung der politischen Projekte der Befreiung der Nationen ohne Staat, für die man ein Konzept des Staates und der Republik jenseits der eurozentrischen Republik nach französischem Vorbild entwickeln muss. Dafür muss es einen Prozess der Dekolonisierung im Innern des eigenen Hauses geben.

Deshalb sage ich, dass es Potenzial für ein dekoloniales Bündnis gibt, wenngleich es Schritte der Dekolonisierung der eigenen politischen Projekte geben muss, jener souveränistischen Bewegungen, die die Schaffung eines dekolonisierenden politischen Subjekts im Innern Europas ermöglichen. Diese Veränderungen müssen von einer Offenheit in den antirassistischen Bewegungen begleitet werden, mit diesen souveränistischen und popularen Bewegungen zusammenzuarbeiten; gerade darin sehe ich das Potenzial dieser beiden Kämpfe, die sich getrennt voneinander gegen die Kolonialität des Staates richten und die die Matrix eines gemeinsamen Feindes teilen, und darin erkenne ich, dass ein sehr fruchtbares strategisches Bündnis entstehen kann, wenn die entsprechenden dekolonialen Wendungen auf beiden Seiten vollzogen werden. Eine jede Seite wird isoliert von der anderen nicht sehr weit kommen.

Um dieses strategische Bündnis zu erreichen, müssen sich einerseits die antirassistischen Bewegungen von dem durch die Identitätspolitik erzeugten Sektierertum und andererseits die souveränistischen Bewegungen von ihrem eigenen Rassismus, Eurozentrismus und internen Kolonialismus dekolonisieren.

 Literatur

Nkrumah, Kwame, Neo-Colonialism, the Last Stage of Imperialism, Thomas Nelson & Sons, London, 1965.

 


1Anm. d. Übers.: Der Albaicín ist das älteste Stadtviertel von Granada in Andalusien.

2Kwame Nkrumah, Neo-Colonialism, the Last Stage of Imperialism, Thomas Nelson & Sons, London, 1965.

3Guagua aérea ist die umgangssprachliche Bezeichnung für den Luftverkehr, der Puerto Rico mit den USA verbindet. Guagua ist die volkstümliche Bezeichnung für den Bus des öffentlichen Verkehrssystems.

4Biljmerbus ist die umgangssprachliche Bezeichnung für den Flugverkehr zwischen den niederländischen Karibikinseln und den Großstädten der Niederlande. Biljmer ist das Ghetto der Afrokariben von den niederländischen Inseln in Amsterdam.

5Nuyorican ist eine gängige Bezeichnung für Menschen puertoricanischer Herkunft, die in New York City leben, einschließlich der dort Geborenen.

6Negropolitan ist die Bezeichnung für die migrantische Bevölkerung afrokaribischer Herkunft, die in den Metropolen des kontinentalen Frankreichs leben.

7Die Boricua-Volksarmee (Ejército Popular Boricua) – auch Los Macheteros genannt – war eine politische und militärische Organisation zur Verteidigung der puertoricanischen Unabhängigkeit mit Sitz in Puerto Rico, den USA und anderen karibischen Ländern. In den 1970er und 1980er Jahren entwickelte das FBI eine Politik der Aufstandsbekämpfung, indem es die EPB-Macheteros zu einer terroristischen Organisation erklärte und massive Verhaftungen durchführte, die die Organisation praktisch auslöschten. In einem Hinterhalt ermordete das FBI im Jahr 2005 Filiberto Ojeda Ríos, der Anführer und maßgeblicher Ideologe der EPB-Macheteros gewesen war.

1 Epistemischer Rassismus/Sexismus, verwestlichte Universitäten und die vier Genozide/Epistemizide des langen 16. Jahrhunderts

1 Epistemischer Rassismus/Sexismus, verwestlichte Universitäten und die vier Genozide/Epistemizide des langen 16. Jahrhunderts Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 48

Dieser Artikel ist inspiriert von Enrique Dussels historischer und philosophischer Arbeit über die cartesianische Philosophie und die Eroberung der Amerikas. Er erörtert den epistemischen Rassismus/Sexismus, der für die Wissensstrukturen der verwestlichten Universität (Westernized University) von grundlegender Bedeutung ist. Der Artikel legt dar, dass das epistemische Privileg des westlichen Mannes (Western Man) in den Wissensstrukturen der verwestlichten Universitäten das Ergebnis von vier Genoziden/Epistemiziden (genocides/epistemicides) im langen 16. Jahrhundert ist (an der jüdischen und muslimischen alteingesessenen Bevölkerung bei der Eroberung von al-Andalus, an der indigenen Bevölkerung bei der Eroberung der Amerikas, an den in die Amerikas entführten und versklavten Afrikanern und an den Frauen, die in Europa bei lebendigem Leib verbrannt wurden, weil sie beschuldigt wurden, Hexen zu sein).

Der Artikel legt zudem dar, dass Dussels Argument in dem Sinne, dass die Bedingung der Möglichkeit für das cartesianische „Ich denke, also bin ich“ (ego cogito) Mitte des 17. Jahrhunderts die 150 Jahre des „Ich erobere, also bin ich“ (ego conquiro) sind, historisch durch den Genozid/Epistemizid des „Ich vernichte, also bin ich“ (ego extermino) vermittelt ist. Das „Ich vernichte“ ist die sozio-historische, strukturelle Vermittlung zwischen dem götzendienerischen „Ich denke“ und dem „Ich erobere“.

1.1 Einführung

Die Werke von Enrique Dussel, Befreiungstheologe und Befreiungsphilosoph, sind von grundlegender Bedeutung für alle, die sich für die Dekolonisation von Wissen und Macht interessieren. Er hat mehr als 65 Bücher veröffentlicht. Sein gigantischer Einsatz galt der Zerstörung der philosophischen Grundlagen und weltgeschichtlichen Narrative des Eurozentrismus. Er hat nicht nur herrschende Wissensstrukturen dekonstruiert, sondern auch einen Korpus von Werken in der Ethik, politischen Philosophie und politischen Ökonomie geschaffen, die international einen sehr großen Einfluss gewonnen haben. Seine Werke umfassen viele Bereiche der Gelehrsamkeit wie etwa politische Ökonomie, Weltgeschichte und Philosophie neben vielen anderen.

Dieser Artikel ist von Dussels Kritik an der cartesianischen Philosophie und seinen weltgeschichtlichen Werken über die Eroberung der Amerikas im langen 16. Jahrhundert inspiriert worden.1 Angeregt von Dussels Einsichten fügt der Artikel seinen zahlreichen Beiträgen eine weitere Dimension hinzu, indem er die Eroberung der Amerikas im Zusammenhang mit drei anderen weltgeschichtlichen Prozessen wie der Eroberung von al-Andalus, der Versklavung von Afrikanern in den Amerikas und der Ermordung von Millionen von Frauen, die in Europa bei lebendigem Leib verbrannt wurden, weil sie beschuldigt wurden, Hexen zu sein, im Verhältnis zu Wissensstrukturen untersucht.2

So, wie Dussel sich auf die genozidale Logik der Eroberung konzentrierte, verfolgt dieser Artikel die Implikationen der vier Genozide des 16. Jahrhunderts auf das, was Boaventura de Sousa Santos3 als „Epistemizid“ bezeichnet, das heißt die Vernichtung von Wissen und Wissensformen.4 Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt im Wesentlichen auf der Entstehung moderner/kolonialer Wissensstrukturen als die grundlegende Epistemologie verwestlichter Universitäten und deren Auswirkungen auf die Dekolonisation des Wissens.

Die wichtigsten Fragen, die behandelt werden, sind die folgenden: Wie ist es möglich, dass der Kanon des Denkens in allen Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften in der verwestlichten Universität5 auf dem Wissen basiert, das von einigen wenigen Männern (men)6 aus fünf euro-nordamerikanischen Ländern (Italien, Frankreich, England, Deutschland und den USA) geschaffen wurde? Wie ist es möglich, dass Männer aus diesen fünf Ländern ein derartiges epistemisches Privileg erlangt haben, dass ihr Wissen dem Wissen der Rest der Welt gegenüber heute als überlegen angesehen wird? Wie kam es dazu, dass sie die Autorität über das Wissen in der Welt monopolisieren konnten? Wie kommt es, dass das, was wir heute als Gesellschaftstheorie, Geschichtsschreibung, Philosophie oder als Kritische Theorie kennen, auf den sozio-historischen Erfahrungen und Weltsichten von Männern aus diesen fünf Ländern beruht? Wenn man einen beliebigen Fachbereich der Sozial- oder Geisteswissenschaften betritt, beruht der zu lernende Kanon des Denkens im Wesentlichen auf Theorien, die von Männern aus den fünf oben genannten westlichen Ländern entwickelt wurden.7

Wenn jedoch Theorien aus der Konzeptualisierung, die auf den sozialen/historischen Erfahrungen und Empfindlichkeiten sowie der Weltsichten bestimmter Orte und Körper basieren, hervorgehen, dann sind sozialwissenschaftliche Theorien oder jede Theorie, die sich auf die Erfahrungen und Weltsichten von nur fünf Ländern der Welt beschränkt, gelinde gesagt provinziell. Aber dieser Provinzialismus wird durch einen Diskurs über „Universalität“ verschleiert. Die Behauptung lautet, dass das von den Männern dieser fünf Länder produzierte Wissen die magische Wirkung eines universalen Vermögens hat, das heißt, dass ihre Theorien genügen sollen, um die sozialen/geschichtlichen Realitäten im Rest der Welt zu erklären. Infolgedessen reduziert sich unsere Aufgabe in der verwestlichten Universität im Wesentlichen darauf, diese Theorien, die aus den Erfahrungen und Problemen einer speziellen Region der Welt (fünf Länder in Westeuropa und Nordamerika) mit ihren eigenen speziellen zeitlichen/örtlichen Dimensionen entstanden sind, zu lernen und sie auf andere geografische Orte „anzuwenden“, selbst wenn sich die Erfahrung und Zeit/Ort der ersteren von den letzteren gänzlich unterscheiden. Diese Gesellschaftstheorien, die auf den sozialgeschichtlichen Erfahrungen der Männer aus fünf Ländern beruhen, bilden heute die Grundlage der Sozial- und Geisteswissenschaften an den verwestlichten Universitäten. Die andere Seite dieses epistemischen Privilegs ist die epistemische Inferiorität. Epistemisches Privileg und epistemische Inferiorität sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die Münze heißt epistemischer Rassismus/Sexismus.8

An verwestlichten Universitäten wird das Wissen anderer Epistemologien, Kosmologien und Weltsichten, die aus anderen Regionen der Welt mit unterschiedlichen Zeit/Ort-Dimensionen stammen und durch eine andere Geo- und Körperpolitik des Wissens charakterisiert sind, als „inferior“ im Vergleich zu dem „superiorem“ Wissen betrachtet, das von den wenigen westlichen Männern aus fünf Ländern hervorgebracht wird, die den Kanon des Denkens in den Geistes- und Sozialwissenschaften bilden. Das Wissen, das aus den sozialen/historischen Erfahrungen und Weltsichten des globalen Südens, auch bekannt als „nicht-westlich“, hervorgeht, gilt als inferior und nicht als Teil des Kanons des Denkens. Darüber hinaus wird das von Frauen (westliche wie nicht-westliche) hervorgebrachte Wissen ebenfalls als inferior und aus dem Kanon des Denkens ausgeschlossen betrachtet. Die grundlegenden Wissensstrukturen der verwestlichten Universität sind gleichzeitig epistemisch rassistisch und sexistisch. Was sind die weltgeschichtlichen Prozesse, die Wissensstrukturen hervorgebracht haben, die auf epistemischem Rassismus/Sexismus beruhen?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir einige Jahrhunderte zurückgehen und die Entstehung von Rassismus/​Sexismus in der modernen Welt und ihre Beziehung zur longue durée (lange Dauer) moderner Wissensstrukturen diskutieren. Da das cartesianische Erbe so einflussreich für die westlichen Wissensstrukturen war, beginnt dieser Artikel im ersten Teil mit einer Erörterung der cartesianischen Philosophie. Der zweite Teil befasst sich mit der Eroberung von al-Andalus. Der dritte Teil befasst sich mit der Eroberung der Amerikas und ihren Auswirkungen auf die Bevölkerung muslimischer und jüdischer Herkunft im Spanien des 16. Jahrhunderts sowie auf die afrikanische Bevölkerung, die in Afrika entführt und in den Amerikas versklavt wurde. Der vierte Teil befasst sich mit dem Genozid/Epistemizid an indoeuropäischen Frauen, die von der christlichen Kirche bei lebendigem Leib verbrannt wurden, weil sie beschuldigt wurden, Hexen zu sein. Im letzten Teil geht es um Enrique Dussels Projekt der Transmoderne (transmodernity) und was es bedeutet, die verwestlichte Universität zu dekolonisieren.

1.2 Die cartesianische Philosophie

Wir müssen jede Diskussion über die Strukturen des Wissens an den verwestlichten Universitäten mit der cartesianischen Philosophie beginnen. Die moderne Philosophie soll von René Descartes9 begründet worden sein.10

Descartes’ berühmtester Ausspruch „Ich denke, also bin ich“ stellt eine neue Grundlage des Wissens dar, die die Autorität der Christenheit11 über das Wissen seit dem Römischen Reich in Frage stellte. Die neue Grundlage des Wissens, die der Cartesianismus hervorbringt, ist nicht mehr der christliche Gott, sondern dieses neue „Ich“. Obwohl Descartes zu keiner Zeit definiert, wer dieses „Ich“ ist, ist es klar, dass dieses „Ich“ in seiner Philosophie Gott als die neue Grundlage des Wissens ablöst und seine Eigenschaften eine Säkularisierung der Attribute des christlichen Gottes darstellen. Für Descartes kann das „Ich“ ein Wissen hervorbringen, das eine Wahrheit jenseits von Zeit und Ort ist, universal in dem Sinne, dass es von jeglicher Partikularität unbedingt ist – „objektiv“ verstanden als im Sinne von „Neutralität“ und gleichwertig mit einem Blick mit dem Auge Gottes (God-Eye view).

Um den Anspruch auf ein „Ich“ zu erheben, das ein Wissen hervorbringt, das einem Blick mit dem Auge Gottes gleichwertig ist, führt Descartes zwei Hauptargumente an: eins ist ontologischer, das andere epistemologischer Natur. Beide Argumente bilden die Bedingung der Möglichkeit für den Anspruch, dass dieses „Ich“ ein Wissen hervorbringen kann, das einem Blick mit dem Auge Gottes gleichwertig ist. Das erste Argument ist der ontologische Dualismus. Descartes behauptet, dass der Geist aus einer anderen Substanz besteht als der Körper. Dies ermöglicht es dem Geist, vom Körper unbestimmt, unbedingt zu sein. Auf diese Weise kann Descartes behaupten, dass der Geist dem christlichen Gott gleicht, der im Himmel schwebt und durch nichts Irdisches bestimmt ist, und dass er ein Wissen hervorbringen kann, das einem Blick mit dem Auge Gottes gleichwertig ist. Die Universalität gleicht hier der Universalität des christlichen Gottes in dem Sinne, dass sie nicht durch irgendeine Partikularität bestimmt ist, sondern jenseits jeglicher partikularen Bedingung oder Existenz besteht. Das Bild Gottes in der Christenheit ist das eines weißen, alten, bärtigen Mannes mit einem Gehstock, der auf einer Wolke sitzt, alle beobachtet und jeden bestraft, der sich vergeht.

Was würde mit dem „Blick mit dem Auge Gottes“-Argument geschehen, wenn der Geist aus einer ähnlichen Substanz wie der Körper bestehen würde? Die hauptsächliche Implikation wäre, dass die Behauptung, ein menschliches „Ich“ könne einen Blick mit dem Auge Gottes vorweisen, hinfällig werden würde. Ohne den ontologischen Dualismus würde sich der Geist in einem Körper befinden, wäre von ähnlicher Substanz wie der Körper und somit von dem Körper bedingt. Letzteres würde bedeuten, dass Wissen von einem bestimmten Ort in der Welt aus erzeugt wird und es somit keine unsituierte Wissensproduktion gibt. Wenn dies der Fall ist, dann kann nicht mehr behauptet werden, dass ein menschliches „Ich“ ein Wissen hervorbringen kann, das einem Blick mit dem Auge Gottes gleichwertig ist.12

Das zweite Argument von Descartes ist epistemologischer Natur. Er behauptet, dass das „Ich“ Gewissheit in der Wissensproduktion nur durch die Methode des Solipsismus erlangen kann. Wie kann das „Ich“ den Skeptizismus bekämpfen und Gewissheit in der Wissensproduktion erlangen? Die Antwort von Descartes lautet, dass dies durch einen inneren Monolog des Subjekts mit sich selbst (himself) erreicht werden kann (das Geschlecht ist hier aus Gründen, die später erläutert werden, nicht zufällig). Bei der Methode des Solipsismus stellt und beantwortet das Subjekt in einem inneren Monolog Fragen, bis es Gewissheit im Wissen erlangt.

Was würde geschehen, wenn menschliche Subjekte Wissen dialogisch, das heißt in sozialen Beziehungen mit anderen Menschen, hervorbringen? Die wichtigste Konsequenz wäre, dass der Anspruch auf ein „Ich“, das isoliert von sozialen Beziehungen zu anderen Menschen Gewissheit im Wissen hervorbringen kann, hinfällig wird. Ohne epistemischen Solipsismus wäre das „Ich“ in bestimmten sozialen Beziehungen, in bestimmten sozialen/historischen Kontexten verortet, und es gäbe somit keine monologische, unsituierte und asoziale Wissensproduktion. Wenn Wissen in bestimmten sozialen Beziehungen, das heißt innerhalb einer bestimmten Gesellschaft, hervorgebracht wird, dann kann nicht behauptet werden, dass das menschliche „Ich“ ein Wissen hervorbringen kann, das einem Blick mit dem Auge Gottes gleichwertig ist.

Die cartesianische Philosophie hat großen Einfluss auf verwestlichte Projekte der Wissensproduktion ausgeübt. Die Unsituiertheit von Descartes’ Philosophie begründete die Ego-Politik des Wissens: ein „Ich“, das davon ausgeht, ein Wissen aus dem Nirgendwo hervorzubringen. Wie der kolumbianische Philosoph Santiago Castro-Gomez13 argumentiert, geht die cartesianische Philosophie von einer Nullpunkt-Epistemologie aus, das heißt von einem Gesichtspunkt, der von sich selbst nicht als Gesichtspunkt ausgeht.

Die Bedeutung von René Descartes für die verwestlichte Epistemologie zeigt sich darin, dass die verwestlichten Uni­versitäten das cartesianische Erbe auch nach 370 Jahren noch als Gültigkeitskriterium für Wissenschaft und Wissensproduktion aufrechterhalten. Selbst diejenigen, die der cartesianischen Philosophie kritisch gegenüberstehen, verwenden sie immer noch als Kriterium für die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Die „Subjekt-Objekt“-Trennung, die als „Neutralität“ verstandene „Objektivität“, der Mythos eines EGO, das „unvoreingenommenes“ Wissen hervorbringt, das nicht von seinem Körper oder seiner Verortung bedingt ist, die Vorstellung von Wissen, das durch einen inneren Monolog ohne Verbindungen zu anderen Menschen hervorgebracht wird, und die Universalität, die als jenseits jeder Partikularität verstanden wird, sind immer noch die Kriterien für gültiges Wissen und Wissenschaft, die in den Disziplinen der verwestlichten Uni­versität verwendet werden. Jegliches Wissen, das den Anspruch erhebt, in der Körperpolitik14 oder Geopolitik des Wissens15 verortet zu sein, und zwar im Gegensatz zum Mythos des unsituierten Wissens der cartesianischen Ego-Politik des Wissens, wird als voreingenommen, ungültig, irrelevant, unseriös, also als inferiores Wissen verworfen.

Für die „Westliche-Männer-Tradition des Denkens“, die durch die cartesianische Philosophie begründet wurde, ist bedeutungsvoll, dass sie ein weltgeschichtliches Ereignis darstellte. Vor Descartes gab es keine Denktradition, die den Anspruch erhob, ein unsituiertes Wissen hervorzubringen, das gottgleich oder Gott gleichwertig ist. Dieser götzendienerische Universalismus der „Westliche-Männer-Tradition des Denkens“, den Descartes16 1637 begründete, gibt vor, Gott zu ersetzen und ein Wissen hervorzubringen, das gottgleich ist.

Die Dusselschen Fragen lauten: Was sind die politischen, ökonomischen, historischen und kulturellen Bedingungen der Möglichkeit für jemanden in der Mitte des 17. Jahrhunderts, eine Philosophie hervorzubringen, die den Anspruch erhebt, dem Auge Gottes gleichwertig zu sein und Gott zu ersetzen? Wer spricht und von welcher Körperpolitik des Wissens oder Geopolitik des Wissens aus spricht er?

Enrique Dussel17 antwortet auf diese Fragen mit dem folgenden Argument: Descartes’ „Ich denke, also bin ich“ geht ein 150 Jahre altes „Ich erobere, also bin ich“ voraus. Das ego conquiro ist die Bedingung der Möglichkeit von Descartes’ ego cogito. Dussel zufolge kommt die arrogante und götzendienerische gottgleiche Anmaßung der cartesianischen Philosophie aus der Perspektive von jemandem, der sich für das Zentrum der Welt hält, weil er die Welt bereits erobert hat. Wer ist dieses Sein/​Wesen (being)? Nach Dussel18 ist es das Imperiale Sein/Wesen (Imperial Being). Das „Ich erobere“, das mit der kolonialen Expansion der europäischen Männer im Jahr 1492 begann, ist die Grundlage und Bedingung der Möglichkeit des „Ich denke“, das alle Attribute des christlichen Gottes säkularisiert und Gott als neue Grundlage des Wissens ersetzt. Nach der Eroberung der Welt durch die europäischen Männer ist Gott als Grundlage des Wissens entbehrlich. Nachdem er die Welt erobert hatte, erwarb der europäische Mann „gottgleiche“ Eigenschaften, die ihm ein epistemisches Privileg verliehen.

Es gibt jedoch ein fehlendes Bindeglied zwischen dem „Ich erobere, also bin ich“ und dem „Ich denke, also bin ich“. Es besteht keine inhärente Notwendigkeit, aus dem „Ich erobere, also bin ich“ den „götzendienerischen Universalismus“ (den Blick mit dem Auge Gottes) oder den „epistemischen Rassismus/​Sexismus“ (die Inferiorität alles Wissens, das von Menschen stammt, die als nicht-westlich klassifiziert werden) abzuleiten. Was das „Ich erobere, also bin ich“ (ego conquiro) mit dem götzendienerischen, gottgleichen „Ich denke, also bin ich“ (ego cogito) verbindet, ist der epistemische Rassismus/Sexismus, der aus dem „Ich vernichte, also bin ich“ (ego extermino) hervorgeht. Es ist die gemeinsame Logik von Genozid/Epistemizid, die zwischen dem „Ich erobere“ und dem epistemischen Rassismus/​Sexismus des „Ich denke“ als neue Grundlage des Wissens in der modernen/kolonialen Welt vermittelt. Das ego extermino ist die sozio-historische strukturelle Bedingung, die das Bindeglied des ego conquiro mit dem ego cogito ermöglicht.

Im Folgenden wird argumentiert, dass die vier Genozide/Epistemizide des langen 16. Jahrhunderts die sozio-historische Bedingung der Möglichkeit für die Umwandlung des „Ich erobere, also bin ich“ in den epistemischen Rassismus/Sexismus des „Ich denke, also bin ich“ sind. Diese vier Genozide/Epistemizide im langen 16. Jahrhundert sind verübt worden:

  1. an den Muslimen und Juden bei der Eroberung von al-Andalus im Namen der „Reinheit des Blutes“ (limpieza de sangre);
  2. an den indigenen Völkern zunächst in den Amerikas und dann in Asien;
  3. an den afrikanischen Völkern mit dem Gefangenenhandel und ihrer Versklavung in den Amerikas;
  4. an den Frauen, die indoeuropäisches Wissen in Europa praktizierten und weitergaben, die bei lebendigem Leib verbrannt wurden, weil sie beschuldigt wurden, Hexen zu sein.

Diese vier Genozide/Epistemizide werden häufig als voneinander getrennt erörtert. Hier wird der Versuch unternommen, sie als miteinander verknüpft, aufeinander bezogen und als konstitutiv für die epistemischen Strukturen der modernen/kolonialen Welt zu betrachten. Diese vier Genozide waren zugleich Formen des Epistemizids, die für das epistemische Privileg der westlichen Männer konstitutiv sind. Um dieses Argument zu untermauern, müssen wir nicht nur die Geschichte durchgehen, sondern auch erklären, wie und wann der Rassismus daraus hervorgegangen ist.

 1.3 Die Eroberung von al-Andalus:
Der Genozid/Epistemizid an den Muslimen und Juden

Die endgültige Eroberung von al-Andalus im späten 15. Jahrhundert erfolgte unter der Parole der „Reinheit des Blutes“. Dies war ein proto-rassistischer Diskurs gegen die muslimische und jüdische Bevölkerung während der durch die katholische Monarchie betriebenen kolonialen Eroberung des andalusischen Gebietes mit dem Ziel, das Sultanat von Granada zu zerstören, das die letzte muslimische politische Autorität auf der Iberischen Halbinsel darstellte.19

Die Praxis der ethnischen Säuberung des andalusischen Gebietes führte zu einem physischen und kulturellen Genozid an Muslimen und Juden. Die in diesem Gebiet verbliebenen Juden und Muslime wurden entweder getötet (physischer Genozid) oder zur Konversion gezwungen (kultureller Genozid). Diese ethnische Säuberung wurde durch den folgenden Genozid (physisch) und Epistemizid (kulturell) erreicht:

  1. Die Zwangsvertreibung der Muslime und Juden aus ihrem Land (Genozid) führte zur Wiederbesiedlung des Gebietes mit christlichen Bevölkerungsgruppen aus dem Norden der Iberischen Halbinsel.20 Dies ist, was in der heutigen Literatur als „Siedlerkolonialismus“ bezeichnet wird.
  2. Die massive Zerstörung der islamischen und jüdischen Spiritualität und des Wissens durch Genozid führte zur Zwangskonversion (kultureller Genozid) derjenigen Juden und Muslime, die sich entschieden, in dem Gebiet zu bleiben.21 Durch die Umwandlung von Muslimen in Morisken (konvertierte Muslime) und von Juden in Marranen (konvertierte Juden) wurden ihre Erinnerung, ihr Wissen und ihre Spiritualität zerstört (kultureller Genozid). Letzteres war eine Garantie dafür, dass künftige Nachkommen von Marranen und Morisken als völlige Christen ohne jegliche Spur der Erinnerung an ihre Vorfahren geboren werden.

Der spanische Staatsdiskurs der „Reinheit des Blutes“ diente der Überwachung der muslimischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen, die die Massaker überlebten. Um zu überleben und im Gebiet zu bleiben, wurden sie gezwungen, zum Christentum zu konvertieren.22 Diejenigen Bevölkerungsgruppen, die zur Konversion gezwungen wurden oder die jüdische oder muslimische Vorfahren hatten, wurden von der christlichen Monarchie überwacht, um sicherzustellen, dass sie ihre Konversion nicht nur vortäuschten.

Die „Reinheit des Blutes“ war ein Diskurs, der zur Überwachung der Konvertiten oder der Nachkommen der Konvertiten diente. Er bezog sich auf den „Stammbaum“ der Bevölkerung. Der „Stammbaum“ lieferte den staatlichen Behörden die Informationen, die sie brauchten, um herauszufinden, ob die Abstammung einer Person oder einer Familie „rein“ christlich oder „nicht-christlich“ war, falls es sich um christliche Konvertiten handelte.

Der Diskurs der „Reinheit des Blutes“ stellte die Menschlichkeit der Opfer nicht in Frage. Er zielte vielmehr darauf ab, die Bevölkerung mit nichtchristlichen Vorfahren auf ihre Ferne oder Nähe zum Christentum hin zu überprüfen, um festzustellen, ob die Konversion echt war oder nicht. Für die kastilische christliche Monarchie waren Muslime und Juden Menschen mit dem „falschen Gott“ oder der „falschen Religion“. Sie wurden als „fünfte Kolonne“ des osmanischen Sultanats auf der Iberischen Halbinsel betrachtet.23 So wurden bei der Eroberung von al‑Andalus die alten europäisch-mittelalterlichen religiös-diskriminierenden Diskurse wie die alten antisemitischen Diskurse (judeophob oder islamophob) gegen Juden und Muslime eingesetzt.

Es ist wichtig zu betonen, dass die alte antisemitische, europäisch-mittelalterliche religiöse Diskriminierung von Seiten der kastilischen christlichen Monarchie (Ende des 15. Jahrhunderts), da die Möglichkeit des Gesprächs noch offen war, noch nicht rassistisch war und sowohl Muslime als auch Juden unter den semitischen Völkern einschloss24. Solange die Muslime und Juden zum Christentum konvertierten, waren die Türen für die Integration während der Eroberung von al-Andalus durch die mittelalterlich-spanische Monarchie offen.25 Das Menschsein der Opfer wurde nicht in Frage gestellt. Was in Frage stand, war die religiöse Identität der sozialen Subjekte/Untertanen. Die damalige soziale Klassifizierung stand im Zusammenhang mit der theologischen Frage, ob man den „falschen Gott“ oder die „falsche Religion“ hatte, um die Gesellschaft nach religiösen Gesichtspunkten hierarchisch zu ordnen.

Worauf es hier ankommt, lässt sich dergestalt zusammenfassen: der Diskurs von der „Reinheit des Blutes“, der bei der Eroberung von al-Andalus eingesetzt wurde, stellte eine Form der religiösen Diskriminierung dar, die noch nicht gänzlich rassistisch war, weil er das Menschsein der Opfer nicht in einer grundsätzlichen Weise in Frage stellte.

1.4 Die Eroberung der Amerikas im Zusammenhang mit der Eroberung von al-Andalus: Genozid/Epistemizid an den indigenen Völkern, Marranen, Morisken und Afrikanern

Als Christoph Kolumbus dem König und der Königin der kastilischen Monarchie zum ersten Mal das Dokument „Das indische Unternehmen“ vorlegte, akzeptierten sie es und verschoben es auf die Zeit nach der Eroberung des gesamten als al-Andalus bekannten Gebietes. Sie befahlen Kolumbus, bis zur endgültigen Eroberung des „Königreichs von Granada“, des letzten Sultanats auf der Iberischen Halbinsel, zu warten. Die Idee der kastilischen christlichen Monarchie war es, das gesamte Gebiet durch die Herrschaft „eines Staates, einer Identität, einer Religion“ unter ihrer Befehlsgewalt zu vereinen, im Gegensatz zu al-Andalus, wo es mehrere islamische Staaten (Sultanate) gab, die die Rechte der „vielfältigen Identitäten und Spiritualitäten innerhalb ihrer territorialen Grenzen“ anerkannten.26

Das Projekt der kastilischen christlichen Monarchie, eine Korrespondenz zwischen der Identität des Staates und der Identität der Bevölkerung innerhalb seiner territorialen Grenzen zu schaffen, war der Ursprung der Idee des Nationalstaates in Europa. Das Hauptziel, das die Königin und der König gegenüber Kolumbus zum Ausdruck brachten, war die Vereinigung des gesamten Territoriums unter der Macht der christlichen Monarchie als ein erster Schritt vor der Eroberung anderer Länder jenseits der Iberischen Halbinsel.

Der endgültige Sieg über die muslimische politische Autorität auf der Iberischen Halbinsel wurde am 2. Januar 1492 mit der Kapitulation des Nasriden-Emirats von Granada abgeschlossen. Nur neun Tage später, am 11. Januar 1492, traf Kolumbus erneut mit Königin Isabella zusammen. Diesmal fand das Treffen im Nasriden-Palast der Alhambra von Granada statt, wo Kolumbus die königliche Genehmigung und die Mittel für seine erste Überseereise erhielt. Nur zehn Monate später, am 12. Oktober 1492, erreichte Kolumbus die Küste dessen, was er „Indias Occidentales“ (West-Indien) nannte, weil er fälschlicherweise glaubte, er sei in Indien angekommen.

Die Beziehung zwischen der Eroberung von al-Andalus und der Eroberung der Amerikas ist in der Literatur unzureichend erforscht. Die gegen al-Andalus angewandten Methoden der Kolonialisierung und Beherrschung wurden auf die Amerikas übertragen.27 Die Eroberung von al-Andalus war im Denken der spanischen Eroberer von so großer Bedeutung, dass Hernan Cortés, der Eroberer Mexikos, die heiligen Tempel der Azteken mit Moscheen verwechselte.

Zusätzlich zum Genozid an Menschen ging die Eroberung von al-Andalus auch mit einem Epistemizid einher. So war beispielsweise die Verbrennung von Bibliotheken eine grundlegende Methode, die bei der Eroberung von al-Andalus angewandt wurde. Die Bibliothek von Córdoba, die zu einer Zeit, als die größte Bibliothek des christlichen Europas nicht mehr als 1000 Bücher enthielt, rund 500 000 Bücher umfasste, wurde im 13. Jahrhundert verbrannt. Viele andere Bibliotheken ereilte während der Eroberung von al-Andalus das gleiche Schicksal, bis zur letzten Verbrennung von mehr als 250 000 Büchern der Bibliothek von Granada Anfang des 16. Jahrhunderts durch Kardinal de Cisneros. Diese Methoden wurden auf die Amerikas übertragen. So geschah das Gleiche mit den indigenen „Codices“, die die Schreibpraxis war, die von den Amerindianern zur Archivierung von Wissen verwendet wurde. Tausende von „Codices“ wurden ebenfalls verbrannt, was das indigene Wissen in den Amerikas vernichtete. Genozid und Epistemizid gingen im Zuge der Eroberung sowohl der Amerikas als auch von al-Andalus zusammen.

Ein ähnlicher Prozess vollzog sich bei den Methoden der Evangelisierung, die gegen die indigene Bevölkerung in den Amerikas eingesetzt wurden.28 Sie wurden von den Methoden inspiriert, die gegen die Muslime auf der Iberischen Halbinsel eingesetzt wurden.29 Es handelte sich um eine Form von „Spiritualizid“ und „Epistemizid“ zugleich. Die Zerstörung von Wissen und Spiritualität ging gleichermaßen bei der Eroberung sowohl von al-Andalus als auch der Amerikas zusammen.

Es ist jedoch auch von grundlegender Bedeutung zu verstehen, wie sich die Eroberung der Amerikas auf die Eroberung der „Morisken“ (konvertierte Muslime) und „Marranen“ (konvertierte Juden) auf der Iberischen Halbinsel im 16. Jahrhundert auswirkte. Die Eroberung der Amerikas stand im Zentrum der neuen Diskurse und Formen der Beherrschung, die im langen 16. Jahrhundert mit der Schaffung des modernen/kolonialen Weltsystems aufkamen. Hier ist der Beitrag von Nelson Maldonado-Torres von entscheidender Bedeutung, wenn er sagt, dass das 16. Jahrhundert die alten Formen der imperialen sozialen Klassifizierung umwälzte, die seit dem 4. Jahrhundert existierte, als das Christentum unter Konstantin die herrschende Ideologie des Römischen Reiches wurde. Wie Maldonado-Torres schrieb:

[...] die konzeptuellen Koordinaten, die den „Kampf für das Reich“ und die Formen der sozialen Klassifizierung des 4. Jahrhunderts und der späteren Jahrhunderte vor der „Entdeckung“ und Eroberung der Amerikas definierten, ändern sich im 16. Jahrhundert drastisch. Das Verhältnis zwischen Religion und Reich sollte im Mittelpunkt eines dramatischen Wandels von einem System der Macht, das auf religiösen Unterschieden beruhte, zu einem, das auf rassialistischen Unterschieden basierte, stehen. Gerade aus diesem Grund sollte die vorherrschende Episteme in der Moderne nicht nur durch die Spannung zwischen und das gegenseitige Zusammenwirken der Idee der Religion und der imperialen Vision der bekannten Welt definiert werden, sondern, genauer gesagt, durch eine dynamische Beziehung zwischen Reich, Religion und Rasse. Ideen über Rasse, Religion und Reich fungierten als wichtige Achsen in der Vorstellungswelt der entstehenden modernen/kolonialen Welt […].30

Wenn die militärischen und zur Evangelisation eingesetzten Methoden der Eroberung, die in al-Andalus zur Anwendung kamen, um Genozid und Epistemizid herbeizuführen, auf die Eroberung der indigenen Völker in den Amerikas übertragen wurden, schuf die Eroberung der Amerikas auch eine neue rassialistische Vorstellungswelt und eine rassialistische Hierarchie, die die Eroberung der Morisken und Marranen auf der Iberischen Halbinsel im 16 Jahrhundert umgestaltete. Die Eroberung der Amerikas wirkte sich auf die alten Formen der mittelalterlichen religiösen Diskriminierung der Morisken und Marranen im Spanien des 16. Jahrhunderts aus. Der erste Punkt, der in dieser Geschichte hervorgehoben werden muss, ist, dass Kolumbus, als er am 12. Oktober 1492 nach monatelanger Navigation durch den Atlantischen Ozean vom Schiff stieg, Folgendes in sein Tagebuch schrieb:

[…] allein mir schien es, als litten sie Mangel an allen Dingen.
Sie gehen nackend umher, so wie Gott sie erschaffen hat […]
Sie müssen gewiss treue und kluge Diener sein, da ich die Erfahrung machte, dass sie in Kürze alles, was ich sagte, zu wiederholen verstanden; überdies glaube ich, dass sie leicht zum Christentum übertreten können, da sie allem Anschein nach keiner Sekte angehören.31

Diese Aussage von Christoph Kolumbus löste eine Debatte aus, die die nächsten 60 Jahre (1492-1552) andauerte. Wie Nelson Maldonado-Torres32 argumentiert, bedeutete Kolumbus’ Ausdruck „Völker ohne Sekte“ („Völker ohne Religion“) im späten 15. Jahrhundert etwas Neues. Wenn man heute „Völker ohne Religion“ sagt, bedeutet das „atheistische Völker“. In der christlichen Vorstellungswelt des späten 15. Jahrhunderts hatte der Ausdruck „Völker ohne Religion“ jedoch eine andere Konnotation. In der christlichen Vorstellungswelt haben alle Menschen eine Religion. Sie konnten den „falschen Gott“ oder die „falschen Götter“ haben, es konnte Kriege geben, und die Völker konnten sich im Kampf gegen den „falschen Gott“ gegenseitig umbringen, aber das Menschsein des Anderen, als Entwicklungsrichtung und als Form der Beherrschung, wurde noch nicht in Frage gestellt. Was in Frage gestellt wurde, war die Theologie des „Anderen“. Letzteres hat sich nach 1492 mit der Eroberung der Amerikas und der Charakterisierung der indigenen Völker durch Christoph Kolumbus als „Völker ohne Religion“ radikal verändert. Eine anachronistische Lesart dieses Ausdrucks könnte uns zu der Annahme verleiten, dass Kolumbus „atheistische Völker“ meinte. Aber keine Religion zu haben, war in der damaligen christlichen Vorstellungswelt gleichbedeutend damit, keine Seele zu haben, das heißt aus dem Bereich des Menschlichen ausgeschlossen zu sein. Wie Nelson Maldonado-Torres schrieb:

Indem man die Indigenen als Subjekte/Untertanen ohne Religion bezeichnet, werden sie aus der Kategorie der Menschen entfernt. Die Religion ist unter den Menschen universal, aber das vermeintliche Fehlen derselben bei den Indigenen darf zunächst nicht als Hinweis auf die Falschheit dieser Aussage gewertet werden, sondern im Gegenteil als Hinweis darauf, dass es in der Welt Subjekte/Untertanen gibt, die nicht gänzlich menschlich sind.33

Kolumbus’ Behauptung über das Fehlen von Religion bei den Eingeborenen führt eine anthropologische Bedeutung dieses Ausdrucks ein. In Anbetracht dessen, was wir hier gesehen haben, ist es notwendig hinzuzufügen, dass diese anthropologische Bedeutung auch mit einer sehr modernen Methode, die Menschen zu klassifizieren, verbunden ist: die rassialistische Klassifizierung. Mit einem Schlag hat Kolumbus den Diskurs über die Religion aus dem theologischen Bereich in eine moderne philosophische Anthropologie überführt, die zwischen verschiedenen Graden des Menschseins durch Identitäten unterscheidet, die in das unterteilt werden, was man später als Rassen bezeichnen würde.34

Im Gegensatz zum heute üblichen Verständnis war der „Hautfarben-Rassismus“ nicht der erste rassistische Diskurs. Der „religiöse Rassismus“ („Völker mit Religion“ versus „Völker ohne Religion“ oder „Völker mit Seele“ versus „Völker ohne Seele“) war das erste Kennzeichen des Rassismus im „kapitalistischen/patriarchalischen west-/christozentrischen modernen/kolonialen Weltsystem“,35 das sich im langen 16. Jahrhundert herausbildete. Die Definition von „Völker ohne Religion“ wurde im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert in Spanien geprägt. Die durch die Eroberung der Amerikas ausgelöste Debatte drehte sich um die Frage, ob die „Völker ohne Religion“, die Kolumbus auf seinen Reisen vorfand, „Völker mit einer Seele oder ohne Seele“ waren. Die Logik des Arguments lautete wie folgt: 

  1. Wer keine Religion hat, der hat auch keinen Gott;
  2. wer keinen Gott hat, der hat auch keine Seele; und
  3. wer keine Seele hat, der ist nicht menschlich, sondern tiergleich.

Die Debatte verwandelte „Völker ohne Religion“ in „Völker ohne Seele“. Diese koloniale rassistische Debatte löste einen Bumerangeffekt aus, der die herrschende Vorstellungswelt der Zeit und die mittelalterlichen religiös-diskriminierenden Diskurse neu definierte und veränderte. Das Konzept der „Reinheit des Blutes“ erhielt eine neue Bedeutung. Die „Reinheit des Blutes“ war nicht länger eine Technologie der Macht, um Personen zu überwachen, die muslimische oder jüdische Vorfahren im Stammbaum haben, um sicherzustellen, dass sie ihre Konversion nicht vortäuschen, wie bei der Eroberung von al-Andalus im 15. Jahrhundert. Die Bedeutung der „Reinheit des Blutes“ nach der Eroberung der Amerikas mit dem Aufkommen des Konzepts der „Völker ohne Seele“ verlagerte sich von einer theologischen Frage über die „falsche Religion“ zu einer Frage über das Menschsein des Subjekts/Untertans, das/der die „falsche Religion“ praktiziert.36

Die große Debatte in den ersten fünf Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts drehte sich folglich um die Frage, ob „Indianer“ eine Seele haben oder nicht. In der Praxis versklavten sowohl die Kirche als auch der spanische imperiale Staat die indigene Bevölkerung bereits massiv, wobei sie von der Vorstellung ausgingen, dass „Indianer“ keine Seele haben. Staatlicher Rassismus ist kein Phänomen, das erst nach dem 18. Jahrhundert auftrat, sondern ein Phänomen, das bereits nach der Eroberung der Amerikas im 16. Jahrhundert aufkam.

Innerhalb der Kirche gab es jedoch kritische Stimmen, die diese Vorstellung in Frage stellten und vorschlugen, dass „Indianer“ eine Seele hätten, aber Barbaren seien, die christianisiert werden müssten.37 Sie behaupteten, da die „Indianer“ eine Seele hätten, sei es in den Augen Gottes eine Sünde, sie zu versklaven, und die Aufgabe der Kirche müsse es sein, sie mit friedlichen Methoden zu christianisieren. Diese Debatte war die erste rassistische Debatte der Weltgeschichte, und „Indianer“ als Identität war die erste moderne Identität.

Die Kategorie „Indianer“ stellte eine neue moderne/koloniale Identitätserfindung dar, die die heterogenen Identitäten, die in den Amerikas vor der Ankunft der Europäer existierten, homogenisierte. Es ist auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass Kolumbus glaubte, in Indien angekommen zu sein, was zur Verwendung des Begriffes „Indianer“ führte, um die Bevölkerungen zu benennen, auf die er traf. Aus diesem eurozentrischen geografischen Irrtum heraus entstand der Begriff „Indianer“ als eine neue Identität. Aber die Frage, ob „Indianer“ eine Seele haben oder nicht, war bereits eine rassistische Frage, die sich direkt auf die Frage nach ihrem Menschsein bezog.38

In der christlichen Vorstellungswelt des 16. Jahrhunderts hatte diese Debatte wichtige Auswirkungen. Wenn die „Indianer“ keine Seele hatten, dann war es in den Augen Gottes gerechtfertigt, sie zu versklaven und sie im Arbeitsprozess wie Tiere zu behandeln. Wenn sie aber eine Seele hatten, dann war es in den Augen Gottes eine Sünde, sie zu versklaven, zu ermorden oder schlecht zu behandeln. Diese Debatte war ausschlaggebend für die Veränderung der alten europäisch-mittelalterlichen religiös-diskriminierenden Diskurse und Praktiken. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts wurden die alten islamophoben und judeophoben Diskurse mit dem „falschen Gott“, der „falschen Theologie“ und dem Einfluss des Satans in der „falschen Religion“ in Verbindung gebracht, ohne das Menschsein ihrer Anhänger in Frage zu stellen.39 Für die Opfer dieser diskriminierenden Diskurse bestand die Möglichkeit der Konversion. Doch mit der Kolonisierung der Amerikas mutierten diese alten mittelalterlichen religiös-diskriminierenden Diskurse rasch und verwandelten sich in moderne rassialistische Beherrschung.

Auch wenn das Wort „Rasse“ damals nicht verwendet wurde, war die Debatte über die Frage nach dem Haben einer Seele oder ihrem Nicht-Haben bereits eine rassistische Debatte im Sinne des wissenschaftlichen Rassismus des 19. Jahrhunderts. Die theologische Debatte des 16. Jahrhunderts über die Frage nach dem Haben einer Seele oder ihrem Nicht-Haben hatte dieselbe Bedeutung wie die wissenschaftlichen Debatten des 19. Jahrhunderts über die Frage nach dem Haben der menschlichen biologischen Verfassung oder ihrem Nicht-Haben. In beiden Fällen handelte es sich um Debatten über das Mensch- oder Tiersein der Anderen, die durch den institutionellen rassistischen Diskurs von Staaten wie der kastilischen christlichen Monarchie im 16. oder den westeuropäischen imperialen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert artikuliert wurden. Diese institutionellen rassistischen Logiken des „Habens einer Seele“ im 16. oder des „Nicht-Habens der menschlichen Biologie“ im 19. Jahrhundert wurden zum Organisationsprinzip der internationalen Arbeitsteilung und der kapitalistischen Akkumulation im Weltmaßstab.

Die Debatte hielt bis zum berühmten Prozess von Valladolid gegen die Schule von Salamanca im Jahr 1552 an. Da die christliche Theologie und die Kirche zu dieser Zeit die Autorität über das Wissen darstellten, legte die christlich-spanische imperiale Monarchie die Frage, ob „die Indianer eine Seele haben oder nicht“, in die Hände eines Tribunals unter christlichen Theologen. Die Theologen waren Bartolomé de las Casas und Ginés Sepúlveda. Nach 60 Jahren (1492-1552) Debatte beauftragte die christlich-spanische imperiale Monarchie schließlich ein christlich-theologisches Tribunal, eine endgültige Entscheidung über das Menschsein oder Nicht-Menschsein der „Indianer“ zu treffen.

Bekanntlich vertrat Ginés Sepúlveda den Standpunkt, dass „Indianer“ „Völker ohne Seele“ seien und daher Tiere, die im Arbeitsprozess versklavt werden könnten, ohne in den Augen Gottes eine Sünde zu sein. Ein Teil seines Arguments, mit dem er die Inferiorität der „Indianer“ unterhalb der Grenze des Menschseins beweisen wollte, war das Argument des modernen Kapitalismus, dass „Indianer“ keinen Sinn für Privateigentum und keine Vorstellung von Märkten hätten, weil sie in kollektiven Formen produzierten und den Reichtum untereinander aufteilten.

Bartolomé de las Casas vertrat die Ansicht, dass die „Indianer“ eine Seele hätten, sich aber in einem barbarischen Stadium befänden, das der Christianisierung bedürfe. Für Las Casas war es daher in den Augen Gottes eine Sünde, sie zu versklaven. Er schlug vor, sie zu „christianisieren“. Sowohl Las Casas als auch Sepúlveda stehen für die Einführung der beiden großen rassistischen Diskurse mit lang anhaltenden Folgen, die von den westlichen imperialen Mächten für die nächsten 450 Jahre mobilisiert werden sollten: biologisch-rassistische Diskurse und kulturell-rassistische Diskurse.

Der biologisch-rassistische Diskurs ist eine wissenschaftlich geprägte Säkularisierung des theologisch-rassistischen Diskurses von Sepúlveda im 19. Jahrhundert. Als die Autorität über das Wissen im Westen nach dem Projekt der Aufklärung im 18. Jahrhundert und der Französischen Revolution von der christlichen Theologie auf die modernen Wissenschaften überging, mutierte der theologisch-rassistische Diskurs von Sepúlveda über „Völker ohne Seele“ mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften zu einem biologisch-rassistischen Diskurs über „Völker ohne menschliche Biologie“ und später „Völker ohne Gene“ (ohne die menschliche Genetik). Dasselbe geschah mit dem Diskurs von Bartolomé de las Casas. Der theologische Diskurs von Las Casas über „zu christianisierende Barbaren“ im 16. Jahrhundert verwandelte sich mit dem Aufkommen der Sozialwissenschaften in einen anthropologischen kulturell-rassistischen Diskurs über „zu zivilisierende Primitive“.

Der Ausgang des Prozesses von Valladolid ist ebenfalls bekannt: Obwohl Sepúlvedas’ Auffassung auf lange Sicht siegte, gewann Las Casas den Prozess auf kurze Sicht. So entschied die spanische imperiale Monarchie, dass „Indianer“ eine Seele haben, aber Barbaren sind, die christianisiert werden müssen. Daher wurde anerkannt, dass es in den Augen Gottes eine Sünde war, sie zu versklaven. Die Schlussfolgerung bedeutete dem Anschein nach die Befreiung der „Indianer“ von der spanischen Kolonialherrschaft. Dies war jedoch nicht der Fall. Die „Indianer“ wurden im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung von der Sklavenarbeit in eine andere Form der Zwangsarbeit, bekannt als „Encomendia“, überführt. Seitdem wurde die Idee der Rasse und des institutionellen Rassismus als Organisationsprinzip der internationalen Arbeitsteilung und der kapitalistischen Akkumulation im Weltmaßstab in einer systematischeren Weise institutionalisiert.

Während die „Indianer“ in der „Encomendia“ als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, wurden die Afrikaner, die bereits als „Völker ohne Seele“ eingestuft worden waren, in die Amerikas gebracht, um die „Indianer“ in der Sklavenarbeit zu ersetzen. Afrikaner wurden damals als Muslime angesehen, und die Rassialisierung der Muslime im Spanien des 16. Jahrhunderts wurde auf sie ausgedehnt. Die Entscheidung, Gefangene aus Afrika zu holen, um sie in den Amerikas zu versklaven, stand in direktem Zusammenhang mit dem Abschluss des Prozesses von Valladolid im Jahre 1552. Damit begann die massive Entführung und der Gefangenenhandel von Afrikanern, der für die nächsten 300 Jahre zwangsweise durchgesetzt werden sollte. Mit der Versklavung der Afrikaner wurde der religiöse Rassismus durch den Hautfarben-Rassismus ergänzt oder langsam ersetzt. Seitdem wurde der anti-schwarze Rassismus zu einer grundlegenden, konstitutiven, strukturierenden Logik der modernen/kolonialen Welt.

Die Entführung von Afrikanern und ihre Versklavung in den Amerikas war ein großes und bedeutendes weltgeschichtliches Ereignis.40 Millionen von Afrikanern starben bei der Gefangennahme, dem Transport und der Versklavung in den Amerikas. Dies war ein Genozid von gewaltigem Ausmaß. Doch wie in den anderen oben beschriebenen Fällen war der Genozid seinem Wesen nach Epistemizid. Den Afrikanern in den Amerikas wurde verboten, zu denken, zu beten oder ihre Kosmologien, ihre Kenntnisse und ihre Weltbilder zu praktizieren. Sie wurden einem Regime des epistemischen Rassismus unterworfen, das ihre autonome Wissensproduktion verbot. Die epistemische Inferiorität war ein entscheidendes Argument, mit dem die biologisch-soziale Inferiorität unterhalb der Grenze des Menschseins behauptet wurde. Die rassistische Vorstellung des späten 16. Jahrhunderts bestand darin, dass es „Negern an Intelligenz fehlt“, was sich im 20. Jahrhundert in „Neger haben einen niedrigen IQ“ umwandelte.

Eine weitere Folge der Debatte über die „Indianer“ und das Tribunal von Valladolid war ihre Auswirkung auf die Morisken und Marranen im Spanien des 16. Jahrhunderts. Die alten islamophoben und judeophoben mittelalterlichen religiös-diskriminierenden Diskurse gegen Juden und Muslime wurden in rassistische Diskriminierung umgewandelt. Es ging nicht mehr um die Frage, ob die religiös-diskriminierte Bevölkerung den falschen Gott oder die falsche Theologie hat. Der anti-indigene religiöse Rassismus, der das Menschsein der „Indianer“ in Frage stellte, wurde auf die Morisken und Marranen übertragen, indem das Menschsein derjenigen in Frage gestellt wurde, die zum „falschen Gott“ beteten. Diejenigen, die zum „falschen Gott“ beteten, wurden als seelenlos, als „seelenlose Subjekte/Untertanen“ („sujetos desalmados“), als Nicht- oder Untermenschen betrachtet. Ähnlich wie die indigenen Völker in den Amerikas wurden sie aus dem „Reich des Menschlichen“ ausgeschlossen und als „tiergleich“ beschrieben.41

Letzteres stellte eine radikale Veränderung dar, die von der Inferiorität der nichtchristlichen Religionen (Islam und Judentum) im mittelalterlichen Europa zur Inferiorität der Menschen führte, die diese Religionen im neu entstehenden Europa der Neuzeit praktizierten (Juden und Muslime). Demnach ist es ein Ergebnis der Wirkung der Eroberung der Amerikas im 16. Jahrhundert, dass sich die alte europäische, islamophobe und judeophobe, antisemitisch-religiöse Diskriminierung, die auf die Kreuzzüge und davor zurückgeht, in eine rassialistische Diskriminierung wandelte. Dies ist der Bumerangeffekt des Kolonialismus, der auf Europa zurückschlägt.

Die Verflechtung zwischen der religiösen christozentrischen globalen Hierarchie und der rassialistischen/ethnischen westzentrischen Hierarchie des „kapitalistischen/patriarchalischen west-/christozentrischen modernen/kolonialen Weltsystems“, das nach 1492 geschaffen wurde, identifizierte die Anhänger einer nicht-christlichen Spiritualität damit, als inferiore Wesen unterhalb der Grenze des Menschseins rassialisiert worden zu sein.

Im Gegensatz zu eurozentrischen Erzählungen wie der von Foucault42, der den Übergang vom religiösen Antisemitismus zum rassialistischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert zusammen mit dem Aufkommen des wissenschaftlichen Rassismus verortet, entstand der antisemitische Rassismus im Spanien des 16. Jahrhunderts, als die alte mittelalterliche antisemitisch-religiöse Diskriminierung mit der neuen modernen rassialistischen Vorstellungswelt verwoben wurde, die durch die Eroberung der Amerikas entstand. Die neue rassialistische Vorstellungswelt verwandelte den alten religiösen Antisemitismus zum rassialistischen Antisemitismus. Im Gegensatz zu Foucaults Auffassung war dieser antisemitische Rassismus des 16. Jahrhunderts bereits als staatlicher biopolitischer Rassismus institutionalisiert.43

Das Konzept der „Völker ohne Seele“ wurde nicht sofort auf die Morisken übertragen. Es dauerte mehrere Jahrzehnte im 16. Jahrhundert, bis es auf die Morisken übertragen wurde. Erst nach Mitte des 16. Jahrhunderts und insbesondere während des Prozesses von Alpujarras44 wurden die Morisken zu den „seelenlose Völkern“ („sujetos desalmados“) gerechnet. Darüber hinaus wurden die Morisken, da sie als „seelenlose Völker“ kategorisiert wurden, infolgedessen ab Mitte des 16. Jahrhunderts in Granada massiv versklavt. Trotz des Verbots der christlichen Kirche, Christen und christlich getaufte Menschen zu versklaven, wurden Morisken (zum Christentum konvertierte Muslime) weiterhin versklavt.45

Nun wurde „Reinheit des Blutes“ mit „seelenlosen Völkern“ in Verbindung gebracht, was die Frage danach, wie assimiliert sie an das Christentum waren, irrelevant machte. Ihr Wesen selbst wurde in Frage gestellt, sodass ihr Menschsein beargwöhnt wurde. Daher wurden sie von nun an weder als echte Christen noch als den Christen gleichgestellt betrachtet. Der Anti-Morisken-Rassismus verschärfte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zu ihrer Massenvertreibung von der Iberischen Halbinsel im Jahr 1609.46

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Eroberung der Amerikas im 16. Jahrhundert den Prozess des Genozids/Epistemizids, der mit der Eroberung von al-Andalus begann, auf neue Subjekte/Untertanen wie indigene Völker und Afrikaner ausweitete, während sie gleichzeitig durch eine neue rassialistische Logik den Genozid/Epistemizid an Christen jüdischer und muslimischer Herkunft in Spanien intensivierte.

1.5 Die Eroberung indoeuropäischer Frauen: Genozid/Epistemizid an Frauen

Es gibt einen vierten Genozid/Epistemizid im 16. Jahrhundert, der nicht allzu oft mit der Geschichte der drei zuvor beschriebenen Genozide/Epistemizide in Verbindung gebracht wird.47 Es handelt sich um die Eroberung von und den Genozid an Frauen in europäischen Ländern, die indoeuropäisches Wissen von Generation zu Generation weitergaben.

Diese Frauen beherrschten das indigene Wissen der Antike. Ihr Wissen umfasste verschiedene Bereiche wie Astronomie, Medizin, Biologie, Ethik usw. Sie wurden ermächtigt vom Besitz des Wissens ihrer Vorfahren und ihrer führenden Rolle in den Gemeinschaften, die sich um Formen ökonomischer und politischer Organisation, die Kommunen glichen, gruppierten. Die Verfolgung dieser Frauen begann im Spätmittelalter. Sie verschärfte sich jedoch im 16. und 17. Jahrhundert (also im langen 16. Jahrhundert) mit dem Aufkommen der „modernen/kolonialen kapitalistischen/patriarchalischen“ Machtstrukturen.

Millionen von Frauen wurden in der Frühen Neuzeit bei lebendigem Leib verbrannt, weil sie beschuldigt wurden, Hexen zu sein. Angesichts ihrer Autorität und Führungsrolle war der Angriff auf diese Frauen eine Strategie zur Konsolidierung des christlich geprägten Patriarchats und zur Zerstörung autonomer kommunaler Formen des Landbesitzes. Die Inquisition stand bei dieser Offensive an vorderster Front. Die Beschuldigung war ein Angriff auf Tausende von Frauen, deren Autonomie, Führungsrolle und Wissen die christliche Theologie, die kirchliche Autorität und die Macht der Aristokratie bedrohten, die sich sowohl in den Kolonien als auch in der europäischen Landwirtschaft transnational zu einer kapitalistischen Klasse umwandelte.48

Silvia Federici49 argumentiert, dass sich diese Hexenjagd zwischen 1550 und 1650 intensivierte. Sie vertritt die These, dass die Hexenverfolgung von Frauen auf europäischem Boden mit der ursprünglichen Akkumulation während der frühkapitalistischen Expansion bei der Herausbildung der Arbeitskraftreserve für den globalen Kapitalismus zusammenhing. Sie brachte die Versklavung der Afrikaner in den Amerikas mit der Hexenverfolgung von Frauen in Europa als zwei Seiten derselben Medaille zusammen: Kapitalakkumulation im Weltmaßstab, die die Einbindung von Arbeitskräften in den kapitalistischen Akkumulationsprozess erfordert. Um dies zu erreichen, bedienten sich die kapitalistischen Institutionen extremer Formen der Gewalt.

Im Gegensatz zum Epistemizid an indigenen Völkern und Muslimen, bei dem Tausende von Büchern verbrannt wurden, gab es im Fall des Genozids/Epistemizids an indoeuropäischen Frauen keine Bücher zu verbrennen, da die Weitergabe des Wissens von Generation zu Generation durch mündliche Überlieferung erfolgte. Die „Bücher“ waren die Körper der Frauen, und so wurden sie, gleich den andalusischen und indigenen „Büchern“, bei lebendigem Leib verbrannt.

1.6 Konsequenzen der vier Genozide/Epistemizide für globale Wissensstrukturen: Die Herausbildung von epistemischen/sexistischen Strukturen und die Hoffnung auf eine zukünftige transmoderne Welt

Die vier bereits erwähnten Genozide/Epistemizide des langen 16. Jahrhunderts schufen rassialistische/patriarchalische Macht- und epistemische Strukturen im Weltmaßstab, die mit Prozessen der globalen kapitalistischen Akkumulation verwoben waren. Als Descartes im 17. Jahrhundert von Amsterdam50 aus „Ich denke, also bin ich“ schrieb, konnte dieses „Ich“ nach dem „Commonsense“ der damaligen Zeit weder ein Afrikaner, ein Indigener, ein Muslim, ein Jude noch eine (westliche oder nicht-westliche) Frau sein. Alle diese Subjekte/Untertanen galten in der globalen rassialistischen/patriarchalischen Machtstruktur bereits als „inferior“ und ihr Wissen wurde in Folge der vier Genozide/Epistemizide des 16. Jahrhunderts als inferior erachtet. Der einzige, der als epistemisch superior übrig blieb, war der westliche Mann. Im hegemonialen „Commonsense“ der damaligen Zeit war dieses „Ich“ das eines westlichen Mannes. 

Die vier Genozide/Epistemizide sind konstitutiv für die rassistischen/sexistischen epistemischen Strukturen, die eine epistemische Privilegierung und Autorität der Wissensproduktion des westlichen Mannes und eine Inferiorität des Restes erzeugten. Wie Maldonado-Torres51 bekräftigt, ist die andere Seite des „Ich denke, also bin ich“ die rassistische/sexistische Struktur des „Ich denke nicht, also bin ich nicht“. Letztere drückt eine „Kolonialität des Seins“ (coloniality of being) aus,52 in der alle Subjekte/Untertanen, die als inferior erachtet werden, nicht denken und nicht daseinswürdig sind, weil ihr Menschsein in Frage gestellt wird. Sie gehören zur Fanonschen „Zone des Nicht-Seins“ oder zur Dusselschen „Exteriorität“.

Verwestlichte Universitäten haben von Anfang an die rassistischen/sexistischen epistemischen Strukturen verinnerlicht, die durch die vier Genozide/Epistemizide des 16. Jahrhunderts geschaffen worden sind. Diese eurozentrischen Wissensstrukturen wurden zum „Commonsense“. Es wird als normal angesehen, dass nur westliche Männer aus 5 Ländern den Kanon des Denkens in all den akademischen Disziplinen der verwestlichten Universität erzeugen. Darin liegt kein Skandal, denn sie sind ein Spiegelbild der normalisierten rassistischen/sexistischen epistemischen Wissensstrukturen der modernen/kolonialen Welt.

Als sich die verwestlichte Universität im späten 18. Jahrhundert von einer christlich-theologischen Universität in die säkulare Humboldtsche Universität verwandelte, bediente sie sich der kantischen anthropologischen Vorstellung, dass die Rationalität im weißen Mann nördlich der Pyrenäen verkörpert sei, während die Iberische Halbinsel zusammen mit den schwarzen, roten und gelben Menschen in den Bereich der irrationalen Welt zu klassifizieren sei. Die Menschen „ohne Vernunft“ waren von den Wissensstrukturen der verwestlichten Universität epistemisch ausgeschlossen. Ausgehend von dieser kantischen Annahme wurde der Kanon des Denkens der zeitgenössischen verwestlichten Universität begründet.

Als sich das Zentrum des Weltsystems Mitte des 17. Jahrhunderts nach dem Dreißigjährigen Krieg, als die Niederländer die spanische Armada besiegten, von der Iberischen Halbinsel nach Nordwesteuropa verlagerte, ging das epistemische Privileg zusammen mit der systemischen Macht von den Imperien der Iberischen Halbinsel auf die nordwesteuropäischen Imperien über. Kants anthropologisch-rassistische Sichtweise, die die Pyrenäen als Trennlinie innerhalb Europas ansetzt, um Vernunft und Unvernunft zu definieren, folgt genau dieser geopolitischen Machtverschiebung im 17. Jahrhundert. Kant wandte auf die Iberische Halbinsel im 18. Jahrhundert die gleichen rassistischen Sichtweisen an, die die Iberische Halbinsel im 16. Jahrhundert auf den Rest der Welt anwandte. Dies ist wichtig, um zu verstehen, warum die Portugiesen und Spanier auch nicht zum Kanon des Denkens an der heutigen verwestlichten Universität gehören, obwohl sie im Zentrum des nach 1492 geschaffenen Weltsystems standen. Seit dem späten 18. Jahrhundert sind es nur Männer aus fünf Ländern (Frankreich, England, Deutschland, Italien und den USA), die das Privileg und die Autorität des Kanons der Wissensproduktion in der verwestlichten Universität monopolisieren.

Angesichts der Herausforderung, die die eurozentrische Moderne und ihre epistemischen, rassistischen/sexistischen kolonialen Wissensstrukturen darstellen, schlägt Enrique Dussel die Transmoderne als das Projekt vor, um das unvollendete Projekt der Dekolonisation zu vollbringen. Das „Trans“ von Transmoderne bedeutet „darüber hinaus“. Was bedeutet es, über die eurozentrische Moderne hinauszugehen?

Auch wenn das westliche koloniale Projekt des Genozids/Epistemizids an bestimmten Orten rund um die Welt bis zu einem gewissen Grad erfolgreich war, so war es doch in seinen Gesamtergebnissen in den meisten Teilen der Welt ein großer Misserfolg. Kritisches indigenes, muslimisches, jüdisches, afrikanisches und weibliches Denken sowie viele andere kritische Wissensbestände aus dem globalen Süden sind immer noch lebendig. Nach 500 Jahren Kolonialität des Wissens gibt es weder eine kulturelle noch epistemische Tradition in einem absoluten Sinne außerhalb der eurozentrischen Moderne. Alle wurden von der eurozentrischen Moderne in Mitleidenschaft gezogen, und sogar Aspekte des Eurozentrismus wurden in vielen dieser Epistemologien verinnerlicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass jede Tradition in einem absoluten Sinne innerhalb der westlichen Epistemologie ist und dass es nichts außerhalb ihrer gibt. Es gibt immer noch nicht-westliche epistemische Perspektiven, die eine relative Exteriorität gegenüber der eurozentrischen Moderne/Modernität aufweisen. Sie wurden vom Genozid/Epistemizid in Mitleidenschaft gezogen, aber nicht vollständig zerstört. Es ist diese relative Exteriorität, die gemäß Enrique Dussel die Hoffnung und die Möglichkeit für eine transmoderne Welt bietet: „eine Welt, in der viele Welten möglich sind“, um den Slogan der Zapatisten zu verwenden.

Die Existenz einer epistemischen Vielfalt bietet das Potenzial für Kämpfe der Dekolonisation und Depatriarchalisierung, die nicht mehr auf westzentrischen Epistemologien und Weltsichten ausgerichtet sind. Um über die eurozentrische Moderne hinauszugehen, schlägt Dussel ein dekoloniales Projekt vor, das das kritische Denken der epistemischen Traditionen des globalen Südens ernst nimmt. Auf der Grundlage dieser vielfältigen Traditionen können wir Projekte ins Leben rufen, die die unterschiedlichen Ideen und Institutionen, die sich die eurozentrische Moderne angeeignet hat, aufgreifen und in verschiedene Richtungen dekolonisieren. In der eurozentrischen Moderne hat der Westen die Definition von Demokratie, Menschenrechten, Frauenbefreiung, Ökonomie usw. gekidnapped und monopolisiert. Transmoderne schließt ein, diese Elemente entsprechend der epistemischen Vielfalt der Welt in verschiedene Richtungen neu zu definieren, hin zu einem Pluriversum (pluriverse) der Bedeutung und einer pluriversalen Welt.

Wenn Menschen aus dem globalen Süden nicht der westlichen hegemonialen Definition folgen, werden sie von der globalen Gemeinschaft sofort denunziert und marginalisiert, indem sie des Fundamentalismus bezichtigt werden. Wenn zum Beispiel die Zapatisten über Demokratie sprechen, tun sie das nicht aus einer westzentrischen Perspektive. Sie schlagen ein Demokratieprojekt vor, das sich deutlich von der liberalen Demokratie unterscheidet. Sie definieren die Demokratie aus der indigenen Perspektive des „zu befehlen und dabei zu gehorchen“ (mandar obedeciendo) neu, mit den Caracoles53 als die demokratisch-institutionelle Praxis.

Ein anderes Demokratiekonzept zu verwenden, wird in der eurozentrischen Moderne jedoch als eine Form des Fundamentalismus verurteilt. Dasselbe gilt für das Konzept des Feminismus. Wenn muslimische Frauen einen „islamischen Feminismus“ entwickeln, werden sie von eurozentrischen westlichen Feministinnen sofort als patriarchalisch und fundamentalistisch verurteilt. Die Transmoderne stellt eine Einladung dar, aus den unterschiedlichen politisch-epistemischen Projekten, die es heute in der Welt gibt, eine Neudefinition der vielen Elemente vorzunehmen, die sich die eurozentrische Moderne angeeignet hat und die behandelt werden, als seien sie naturgemäß und dem Wesen nach europäisch, hin zu einem dekolonialen Projekt der Befreiung über das „kapitalistische/patriarchale west-/christozentrische moderne/koloniale Weltsystem“ hinaus. Wie Dussel feststellt:

Wenn ich von Trans-Moderne spreche, beziehe ich mich auf ein globales Projekt, das die europäische oder nordamerikanische Moderne zu übersteigen sucht. Dies ist ein Projekt, das nicht post-modern ist, denn die Post-Moderne ist eine immer noch unvollständige Kritik der Moderne durch Europäer und Nordamerikaner. Hingegen ist Trans-Modernität eine Aufgabe, die in meinem Fall eben philosophisch zum Ausdruck kommt. Ihr Ausgangspunkt ist dasjenige, was verworfen, entwertet und als nutzlos bei den Kulturen dieser Erde beurteilt wurde, einschließlich der kolonisierten oder peripheren Philosophien.54

Darüber hinaus ruft die Transmoderne zu interphilosophischen politischen Dialogen auf, um Pluriversen von Bedeutungen zu erzeugen, wobei das neue Universum ein Pluriversum ist. Die Transmoderne ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer liberalen multikulturalistischen Zelebrierung der epistemischen Vielfalt der Welt, bei der die Machtstrukturen intakt bleiben. Die Transmoderne ist eine Anerkennung der epistemischen Vielfalt ohne epistemischen Relativismus. Die Forderung nach epistemischer Pluriversalität (pluriversality) im Gegensatz zu epistemischer Universalität (universality) ist nicht gleichbedeutend mit einer relativistischen Position. Im Gegenteil erkennt die Transmoderne die Notwendigkeit eines gemeinsamen universalen Projekts gegen Kapitalismus, Patriarchat, Imperialismus und Kolonialismus an. Aber sie lehnt eine Universalität von Lösungen ab, bei der einer für den Rest definiert, was „die Lösung“ ist.

Universalität in der europäischen Moderne bedeutete „einer, der für den Rest definiert“ (one that defines for the rest). Die Transmoderne fordert ein Pluriversum von Lösungen, bei denen „die Vielen für die Vielen definieren“ (the many defines for the many). Von verschiedenen kulturellen und epistemischen Traditionen aus wird es verschiedene Antworten und Lösungen für gleichartige Probleme geben. Der transmoderne Horizont hat zum Ziel, pluriversale Begriffe, Bedeutungen und Philosophien sowie eine pluriversale Welt hervorzubringen. Wie Dussel feststellt, ist die Transmoderne

[…] ausgerichtet auf eine pluriversale zukünftige globale Philosophie. Dieses Projekt ist notwendigerweise trans-modern und darum ebenfalls trans-kapitalistisch.

Für lange Zeit, vielleicht über Jahrhunderte, werden die vielen unterschiedlichen philosophischen Traditionen jeweils ihren eigenen Wegen folgen, aber nichtsdestoweniger taucht ein globales analogisches Projekt eines trans-modernen Pluriversums (das weder universal noch post-modern ist) am Horizont auf. Jetzt sind „andere Philosophien“ möglich, denn „eine andere Welt ist möglich“ – wie dies von der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung in Chiapas, Mexiko, proklamiert wird.55

1.7 Schluss

Diese Diskussion hat weitreichende Auswirkungen auf die Dekolonisation der verwestlichten Universität. Bisher agiert die verwestlichte Universität unter der Annahme des Universalismus, wo „einer (westliche Männer aus fünf Ländern) für den Rest definiert“, was wahres und gültiges Wissen ist. Die Wissensstrukturen der verwestlichten Universität zu dekolonisieren, wird unter anderem erfordern:

  1. den Provinzialismus und den epistemischen Rassismus/​Sexismus anzuerkennen, die die grundlegenden epistemischen Strukturen als Ergebnis der genozidalen/epistemizidalen kolonialen/patriarchalen Projekte des 16. Jahrhunderts bilden;
  2. mit dem Uni-versalismus (uni-versalism) zu brechen, bei dem einer („uni“) für den Rest definiert – in diesem Fall ist der eine die Epistemologie des westlichen Mannes;
  3. die epistemische Vielfalt in den Kanon des Denkens einzubringen, um ein Pluri-versum (pluri-versum) von Bedeutungen und Begriffen zu schaffen, in dem das interepistemische Gespräch zwischen vielen epistemischen Traditionen Re-Definitionen alter Begriffe hervorbringt und neue pluriversale Konzepte schafft, bei denen „die Vielen für die Vielen definieren“ (Pluriversum) statt „einer für den Rest“ (Universum).

Wenn die verwestlichten Universitäten diese drei programmatischen Punkte annehmen, würden sie aufhören, verwestlicht und eine Uni-versität (Uni-versity) zu sein. Sie würde sich von einer verwestlichten Universität in eine dekoloniale Pluriversität verwandeln. Wenn aus Kants und Humboldts eurozentrischen, modernen, rassistischen/sexistischen epistemischen Projekten die epistemische Grundlage der verwestlichten Universität seit dem späten 18. Jahrhundert als Ergebnis von dreihundert Jahren Genozid/Epistemizid in der Welt wurde, ist Enrique Dussels Transmoderne die neue epistemische Grundlage der zukünftigen dekolonialen Pluriversität, deren Wissensproduktion im Dienst einer Welt jenseits des „kapitalistischen/​patriarchalen west-/christozentrischen modernen/kolonialen Weltsystems“ steht.

 

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Nimako, Kwame & Willemsen, Glenn, The Dutch Atlantic: Slavery, Abolition and Emancipation, Pluto Press, London, 2011.

de Perceval, José María Pérez, „Animalitos del señor: Aproximación a una teoría de las animalizaciones propias y del otro, sea enemigo o siervo, en la España imperial (1550-1650)“, in: Áreas: Revista Internacionale de Ciencias Sociales, Universidad de Murcia, Nr. 14, 1992, S. 173-184.

de Perceval, José María Pérez, Todos son uno. Arquetipos, xenofobia y racismo. La imagen del morisco en la monarquía española durante los siglos XVI y XVII, Instituto de Estudios Almerienses, Almería, 1997.

de Sousa Santos, Boaventura, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).

 Wallerstein, Immanuel, Das moderne Weltsystem. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, Übers. Angelika Schweikhart, Syndikat/Promedia, Frankfurt am Main/Wien, 1986; englisches Original: Immanuel Wallerstein, The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, Academic Press, New York/London, 1974.

 


 1„Das lange 16. Jahrhundert“ ist eine Formulierung des französischen Historikers Fernand Braudel, der die Arbeit des Weltsystem-Forschers Immanuel Wallerstein (Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, Übers. Angelika Schweikhart, Syndikat/Promedia, Frankfurt am Main/Wien, 1986; englisches Original: Immanuel Wallerstein, The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, Academic Press, New York/London, 1974) beeinflusst hat. Es bezieht sich auf die 200 Jahre, die den Zeitraum zwischen 1450 und 1650 umfassen. Dies ist der Zeitraum der Herausbildung eines neuen historischen Systems, das Wallerstein als „Modernes Weltsystem“, „Europäische Weltwirtschaft“ oder „Kapitalistische Weltwirtschaft“ bezeichnete. Der historische Prozess, der dieses neue System ausgebildet hat, umfasst die 200 Jahre des langen 16. Jahrhunderts. Ich werde den Begriff „langes 16. Jahrhundert“ verwenden, um mich auf die Prozesse der longue durée (lange Dauer) zu beziehen, die die anfängliche Bildung dieses historischen Systems umfassen, und den Begriff „16. Jahrhundert“, um mich auf die 1500er zu beziehen.

2Ich glaube, dass die beste Hommage an Intellektuelle darin besteht, ihre Arbeit ernst zu nehmen und neue Aspekte einzubringen, die durch ihr Werk angeregt worden sind.

3Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).

4Anm. d. Übers.: „Epistemizid“ ist ein von Boaventura de Sousa Santos geprägter Begriff. In seinem Buch Epistemologien des Südens erläutert er ihn folgendermaßen: „Diese alleinige Sichtweise charakterisiert die moderne Wissenschaft und ihren epistemologischen Bruch sowohl mit dem Common Sense als auch mit allen alternativen Wissensformen wohl am besten. Die Kehrseite der Stärke dieser alleinigen Sichtweise bildet ihr Unvermögen, alternative Sichtweisen überhaupt zu erkennen. Soziale Praktiken sind Wissenspraktiken, aber sie können als solche nur erkannt werden, wenn sie das Spiegelbild des wissenschaftlichen Wissens sind. Jede Wissensform, die diesem Bild nicht entspricht, wird als Unwissen verworfen. Die alleinige Sichtweise ist kein natürliches Phänomen, sondern vielmehr das Produkt der kreativen Zerstörung der modernen Wissenschaft. Das epistemologische Privileg, welches die moderne Wissenschaft sich selbst verleiht, resultiert aus der Zerstörung von allen alternativen Wissensformen, die eines Tages dieses Privileg infrage stellen könnten. Anders formuliert, ist es ein Produkt dessen, was ich in einem vorherigen Kapitel Epistemizid genannt habe. Eine solche Zerstörung von Wissensformen ist kein epistemologisches Artefakt ohne jegliche Konsequenz. Es umfasst die Zerstörung sozialer Praktiken sowie den Ausschluss sozialer Handlungssubjekte, die gemäß dieser Wissensformen agieren. In der etablierten Wirtschaftswissenschaft hat die besondere Intensität des signifikanten Beobachters/der signifikanten Beobachterin zu einer besonders arroganten alleinstehenden Sichtweise geführt. In deren Folge wurde der Epistemizid noch umfangreicher und tiefgreifender.“ Siehe Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018, S. 228; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).

5Ramón Grosfoguel, „The Dilemmas of Ethnic Studies in the United States: Between Liberal Multiculturalism, Identity Politics, Disciplinary Colonization, and Decolonial Epistemologies“, in: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge, 9, 2012, S. 81-90.

6Anm. d. Übers.: Das englische Wort men kann mit sowohl „Menschen“ als auch „Männer“ übertragen werden. Ramón Grosfoguel spielt hier auf die Mehrdeutigkeit dieses Wortes und damit auf den im Artikel ausgeführten Sexismus an.

7Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014). Anm. d. Übers.: Im Gegensatz zu Ramón Grosfoguel spricht Boaventura de Sousa Santos im gleichen Zusammenhang von „fünf oder sechs Ländern des globalen Nordens (Deutschland, England, Frankreich, Russland, Italien und in kleineren [sic] Maße den Vereinigten Staaten)“ (S. 67).

8Ramón Grosfoguel, „The Dilemmas of Ethnic Studies in the United States: Between Liberal Multiculturalism, Identity Politics, Disciplinary Colonization, and Decolonial Epistemologies“, in: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge, 9, 2012, S. 81-90.

9René Descartes, „Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen“, Übers. Julius Heinrich von Kirchmann, in: René Descartes’ philosophische Werke, Abteilung 1, Berlin, 1870, S. 19; französisches Original: René Descartes, Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, Ian Maire, Leiden, 1637.

10Ich sage „soll“, denn wie Enrique Dussel in seinem Aufsatz Anti-cartesianische Meditationen (Enrique Dussel, „Erste Vorlesung. Anti-cartesianische Meditationen: Über den Ursprung des philosophischen Gegendiskurses der Moderne“, in: Enrique Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen, Übers. Christoph Dittrich, Turia + Kant, Wien-Berlin, 2013; spanisches Original: Enrique Dussel, „Anti-meditaciones cartesianas: sobre el origen del anti-discurso filosófico de la modernidad“, in: Tabula Rasa, 2008, S. 153-197) gezeigt hat, war Descartes stark von den christlichen Philosophen der spanischen Eroberung der Amerikas beeinflusst.

11Beachten Sie, dass ich einen Unterschied zwischen Christentum (Christianity) und Christenheit (Christendom) mache. Christentum ist eine spirituelle/religiöse Tradition, Christenheit ist, wenn das Christentum zur vorherrschenden Ideologie wurde, die vom Staat eingesetzt wurde. Christenheit entstand im 4. Jahrhundert nach Christus, als Konstantin sich das Christentum aneignete und es in die offizielle Ideologie des Römischen Reiches verwandelte.

12Eine sehr interessante Diskussion zu dieser Frage findet sich bei Enrique Dussel (Enrique Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen: ein Projekt der Transmoderne, Patmos, Düsseldorf, 1993; spanisches Original: Enrique Dussel, 1492: El encubrimiento del Otro. Hacia el origen del „mito de la Modernidad“, Facultad de Humanidades y Ciencias de la Educación, La Paz, 1992) und Donna Haraway (Donna Haraway, „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies, 14, 1988, S. 575-599).

13Santiago Castro-Gómez, Zero-Point Hubris. Science, Race, and Enlightenment in Eighteenth-Century Latin America, Rowman & Littlefield, Lanham/​Boulder/New York/London, 2021.

14Gloria Anzaldúa, Borderlands/La Frontera: The New Mestiza, Aunt Lute Books, San Francisco, 2012.

15Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Argument, Hamburg, 1989; spanisches Original: Enrique Dussel, Filosofía de Liberación, Edicol, México, 1977.

16René Descartes, „Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen“, Übers. Julius Heinrich von Kirchmann, in: René Descartes’ philosophische Werke, Abteilung 1, Berlin, 1870, S. 19; französisches Original: René Descartes, Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, Ian Maire, Leiden, 1637.

17Enrique Dussel, „Erste Vorlesung. Anti-cartesianische Meditationen: Über den Ursprung des philosophischen Gegendiskurses der Moderne“, in: Enrique Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen, Übers. Christoph Dittrich, Turia + Kant, Wien-Berlin, 2013; spanisches Original: Enrique Dussel, „Anti-meditaciones cartesianas: sobre el origen del anti-discurso filosófico de la modernidad“, in: Tabula Rasa, 2008, S. 153-197.

18Ebenda.

19Nelson Maldonado-Torres, „Religion, Conquest, and Race in the Foundations of the Modern/Colonial World“, in: Journal of the American Academy of Religion, 82, 2014, S. 636-665.

20Julio Caro Baroja, Los Moriscos del Reino de Granada, Ediciones Istmo, Madrid, 1991; Rafael Carrasco, Deportados en nombre de Dios: La explusión de los moriscos cuarto centenario de una ignominia, Ediciones Destino, Barcelona, 2009.

21Manuel Barrios Aguilera, La suerte de los vencidos: Estudios y reflexiones sobre la cuestión morisca, Universidad de Granada, Granada, 2009. Ali Kettani, El resurgir del Islam en Al-Ándalus, Abadia Editors, Barcelona, 2012.

22Ángel Galán Sánchez, Una sociedad en transición: Los granadinos de mudéjares a moriscos, Universidad de Granada, Granada, 2010.

23Aurelia Martín Casares, La esclavitud en la Granada del Siglo XVI, Universidad de Granada y Diputación Provincial de Granada, Granada, 2000. Rafael Carrasco, Deportados en nombre de Dios: La explusión de los moriscos cuarto centenario de una ignominia, Ediciones Destino, Barcelona, 2009. Ángel Galán Sánchez, Una sociedad en transición: Los granadinos de mudéjares a moriscos, Universidad de Granada, Granada, 2010.

24Es ist die neuere westeuropäische, nordamerikanische und israelisch-zionistische orientalistische Literatur, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Araber aus den semitischen Völkern ausschloss und die Definition des Antisemitismus auf die rassistische Diskriminierung der Juden reduzierte. Letzteres ist Teil einer perversen zionistischen Strategie, arabisch-muslimische Kritik am Zionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen (Ramón Grosfoguel, „Menschenrechte und Antisemitismus nach GAZA“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 343-375; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Human Rights and Anti-Semitism after GAZA“, in: Historicizing Anti-Semitism, Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge, Okcir Press, Belmont, MA, 7, 2009, S. 89-102).

25Ángel Galán Sánchez, Una sociedad en transición: Los granadinos de mudéjares a moriscos, Universidad de Granada, Granada, 2010. Antonio Dominguez Ortiz, Moriscos: la mirada de un historiador, Universidad de Granada, Granada, 2009.

26Felipe Maíllo Salgado, De la desaparición de Al-Andalus, Abada Editores, Madrid, 2004. Ali Kettani, El resurgir del Islam en Al-Ándalus, Abadia Editors, Barcelona, 2012.

27Antonio Garrido Aranda, Moriscos e Indios: Precedentes Hispánicos de la Evangelización de México, Universidad Nacional Autónoma de México, México, 1980.

28Ebenda. Juan Carlos Martín de la Hoz, El Islam y España, RIALP, Madrid, 2010.

29Antonio Garrido Aranda, Moriscos e Indios: Precedentes Hispánicos de la Evangelización de México, Universidad Nacional Autónoma de México, México, 1980.

30Nelson Maldonado-Torres, „Religion, Conquest, and Race in the Foundations of the Modern/Colonial World“, in: Journal of the American Academy of Religion, 82, 2014, S. 636-665.

31Christoph Kolumbus, Das Bordbuch. Leben und Fahrten des Entdeckers der Neuen Welt, Übers. Anton Zahorsky, Edition Erdmann, Lenningen, 2013, Kapitel: Land! Land! (Donnerstag-Freitag, den 11.-12. Oktober 1492).

32Nelson Maldonado-Torres, „Religion, Conquest, and Race in the Foundations of the Modern/Colonial World“, in: Journal of the American Academy of Religion, 82, 2014, S. 636-665.

33Ebenda, S. 641.

34Ebenda, S. 658.

35Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.

36Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Latein die Schriftsprache im Europa des 16. Jahrhunderts war. Da die christliche Kirche durch die christliche Theologie die Autorität über das Wissen war, gelangten die Debatten über die Eroberung der Amerikas in Spanien über die kirchlichen Netzwerke in andere europäische Gebiete. So wurden die Debatten über Kolumbus und die spanischen christlichen Theologen über die Neue Welt und die dort gefundenen Subjekte/Untertanen in anderen Teilen Europas mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen.

37Enrique Dussel, El episcopado latinoamericano y la liberación de los pobres (1504-1620), Centro de Reflexión Teológica, A.C., Mexico, 1979. Enrique Dussel, Die Geschichte der Kirche in Lateinamerika, Übers. Horst Goldstein, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz, 1988; spanisches Original: Enrique Dussel, Historia de la Iglesia en América Latina: Medio Milenio de Coloniaje y Liberación, Mundo Negro-Esquila Misional, 1992.

38Diese Skepsis in Bezug auf das Menschsein anderer Menschen ist das, was von Nelson Maldonado-Torres (Nelson Maldonado-Torres, Against War: Views from the Underside of Modernity, Duke University Press, Durham, 2008) als „misanthropischer Skeptizismus“ bezeichnet wird.

39Ich beziehe mich auf die soziale Klassifizierung des sozialen Systems. Wie Maldonado-Torres argumentiert, gab es bereits Individuen, die Diskurse artikulierten, die aus zeitgenössischer Sicht als rassistisch bezeichnet werden könnten. Die soziale Klassifizierung der Bevölkerung im mittelalterlichen Europa basierte jedoch nicht auf einer rassialistischen Klassifizierung, das heißt, sie war nicht um soziale Logiken herum organisiert, die mit einer radikalen Frage nach dem Menschsein der sozialen Subjekte/Untertanen verbunden waren. Die soziale Klassifizierung der Bevölkerung auf der Grundlage rassistischer sozialer Logiken war ein Prozess nach 1492, in dem sich das „kapitalistische/patriarchalische west-/christozentrische moderne/​koloniale Weltsystem“ herausbildete (Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011). Daher wird in diesem Artikel das Argument der Entstehung des Rassismus auf ein globales soziales System nach 1492 bezogen und nicht auf individuelle Aussagen vor 1492.

40Kwame Nimako & Glenn Willemsen, The Dutch Atlantic: Slavery, Abolition and Emancipation, Pluto Press, London, 2011.

41José María Pérez de Perceval, „Animalitos del señor: Aproximación a una teoría de las animalizaciones propias y del otro, sea enemigo o siervo, en la España imperial (1550-1650)“, in: Áreas: Revista Internacionale de Ciencias Sociales, Universidad de Murcia, Nr. 14, 1992, S. 173-184. José María Pérez de Perceval, Todos son uno. Arquetipos, xenofobia y racismo. La imagen del morisco en la monarquía española durante los siglos XVI y XVII, Instituto de Estudios Almerienses, Almería, 1997.

42Michel Foucault, „Leben machen und sterben lassen – Die Geburt des Rassismus“, in: Sebastian Reinfeldt, Richard Schwarz & Michel Foucault, Bio-Macht, Diss-Texte, Nr. 25, Duisburg, 1993, S. 27-50; französisches Original: Michel Foucault, „Faire vivre et laisser mourir : la naissance du racisme“, in: Les Temps modernes, 46, Nr. 535, S. 37-61 (Auszug aus der Vorlesung „Il faut défendre la société“ (In Verteidigung der Gesellschaft) am Collège de France aus den Jahren 1975/76 am 17. März 1976).

43Der wissenschaftliche Rassismus im 19. Jahrhundert war nicht, wie Foucault argumentierte, eine Resignifikation des alten europäischen Diskurses vom „Krieg der Rassen“, sondern eine Säkularisierung des alten christlich-religiösen theologischen Rassismus der „Völker ohne Seele“ im 16. Jahrhundert. Der alte Diskurs vom „Krieg der Rassen“ innerhalb von Europa war nicht die Grundlage des wissenschaftlichen Rassismus, worauf Foucault in seiner „Genealogie des Rassismus“ bestand. Die Grundlage des wissenschaftlichen Rassismus war der alte religiöse Rassismus des 16. Jahrhunderts mit Wurzeln in der europäischen kolonialen Eroberung der Amerikas. Foucault ist blind gegenüber der Eroberung der Amerikas, dem Kolonialismus und dem 16. Jahrhundert Spaniens.

44Es handelte sich dabei um die Prozesse gegen die Morisken, die ab Mitte des 16. Jahrhunderts im Gebirgszug der Alpujarras in der Umgegend der Stadt Granada aufkamen.

45Aurelia Martín Casares, La esclavitud en la Granada del Siglo XVI, Uni­versidad de Granada y Diputación Provincial de Granada, Granada, 2000.

46José María Pérez de Perceval, „Animalitos del señor: Aproximación a una teoría de las animalizaciones propias y del otro, sea enemigo o siervo, en la España imperial (1550-1650)“, in: Áreas: Revista Internacionale de Ciencias Sociales, Universidad de Murcia, Nr. 14, 1992, S. 173-184. José María Pérez de Perceval, Todos son uno. Arquetipos, xenofobia y racismo. La imagen del morisco en la monarquía española durante los siglos XVI y XVII, Instituto de Estudios Almerienses, Almería, 1997. Rafael Carrasco, Deportados en nombre de Dios: La explusión de los moriscos cuarto centenario de una ignominia, Ediciones Destino, Barcelona, 2009.

47Die bahnbrechende Arbeit von Silvia Federici (Silvia Federici, Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, Übers. Max Henninger, Mandelbaum, Wien, 2012; englisches Original: Silvia Federici, Caliban and the Witch: Women, the Body and Primitive Accumulation, Autonomedia, New York, 2004) ist eine der wenigen Ausnahmen. Obwohl Federici diese vier Prozesse nicht mit Genozid/Epistemizid in Verbindung bringt, verbindet sie zumindest die Hexenverfolgung von Frauen im 16./17. Jahrhundert mit der Versklavung von Afrikanern und der Eroberung Amerikas im Zusammenhang mit der globalen kapitalistischen Akkumulation, insbesondere mit der frühen Herausbildung des Kapitalismus, das heißt mit der „ursprünglichen Akkumulation“. Ihre Arbeit konzentriert sich eher auf die politische Ökonomie als auf die Strukturen des Wissens. Dennoch ist ihr Beitrag entscheidend für das Verständnis der Beziehung zwischen dem Genozid/Epistemizid an Frauen und den anderen Genoziden/Epistemiziden des 16. Jahrhunderts.

48Für eine Analyse der Transformation der europäischen Aristokratie in eine kapitalistische Klasse im Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Weltsystems siehe die Arbeiten von Immanuel Wallerstein; insbesondere sein Das moderne Weltsystem (Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, Übers. Angelika Schweikhart, Syndikat/Promedia, Frankfurt am Main/Wien, 1986; englisches Original: Immanuel Wallerstein, The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, Academic Press, New York/London, 1974).

49Silvia Federici, Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, Übers. Max Henninger, Mandelbaum, Wien, 2012; englisches Original: Silvia Federici, Caliban and the Witch: Women, the Body and Primitive Accumulation, Autonomedia, New York, 2004.

50Es ist wichtig zu erwähnen, dass, als die Niederländer die Spanier im Dreißigjährigen Krieg besiegten, sich das neue Zentrum des neuen Weltsystems, das nach 1492 im Zuge der spanischen Expansion in die Amerikas entstand, von der Iberischen Halbinsel nach Nordwesteuropa verlagerte, das heißt nach Amsterdam. Dussels Charakterisierung von Descartes’ Philosophie als eine, die von jemandem produziert wurde, der geopolitisch vom Zentrum des Weltsystems, dem imperialen Sein/Wesen, aus dachte, ist nicht metaphorisch.

51Nelson Maldonado-Torres, Against War: Views from the Underside of Modernity, Duke University Press, Durham, 2008.

52Ebenda.

53Anm. d. Übers.: Regionale autonome Kommunikations- und Verwaltungszentren.

54Enrique Dussel, „Eine neue Epoche in der Geschichte der Philosophie: Der Weltdialog zwischen philosophischen Traditionen“, in: Übersetzen, Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, polylog 24, 2010, S. 47-64, hier: S. 63; englisches Original: Enrique Dussel, „A New Age in the History of Philosophy: The World Dialogue Between Philosophical Traditions“, in: Prajñã Vihãra: Journal of Philosophy and Religion, 9, 2008, S. 1-21.

55Ebenda, S. 64.

2 Dekolonisierung westlicher Uni‑versalismen: Dekoloniale Pluri-versalismen von Aimé Césaire bis zu den Zapatisten

2 Dekolonisierung westlicher Uni‑versalismen: Dekoloniale Pluri-versalismen von Aimé Césaire bis zu den Zapatisten Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 34

Dieser Essay erörtert den Begriff des „Universalen“ innerhalb der westlichen philosophischen Tradition und schlägt vermittels des Denkens von Aimé Césaire, Enrique Dussel und den Zapatisten eine andere, mehr dekoloniale Weise des Denkens von Universalität vor. Der erste Teil untersucht den Begriff des „Universalen“ von René Descartes bis Karl Marx, während sich der zweite Teil auf Aimé Césaires aus einer afro-karibischen dekolonialen Perspektive eingebrachten Fassung dieses Begriffs konzentriert. Der dritte Teil analysiert den von Enrique Dussel vorgeschlagenen Begriff der Transmoderne, und der vierte Teil erörtert den Unterschied zwischen Postmoderne und Transmoderne am Beispiel des von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vorgebrachten postmodernen Verständnisses von Hegemonie sowie des von den Zapatisten in La otra campaña (Die Andere Kampagne) vorgebrachten transmodernen Verständnisses von Politik. Zum Abschluss erörtere ich die Auswirkungen all dieser Überlegungen im Hinblick auf die Debatte in der Linken über die Vorhutpartei (vanguard party) versus die Nachhutbewegung (rearguard movement).

2.1 Westlicher Universalismus: Von Descartes bis Marx

Im Westen gibt es eine lange Tradition des Denkens über das Universale. René Descartes, der Begründer der modernen Philosophie mit seinem Motto „Ich denke, also bin ich“, fasste das Universale als ein ewiges Wissen jenseits von Zeit und Raum auf, das heißt, es kommt einem Blick mit dem Auge Gottes gleich (equivalent to a God’s-eye view). Im Kampf gegen die hegemoniale christliche Theologie jenes Zeitalters (Mitte des 17. Jahrhunderts), die ich hier im Anschluss an Walter Mignolo als Theo-Politik des Wissens (theo-politics of knowledge) bezeichne,1 platzierte Descartes das Ich (ego) am Grund des Wissens in eine Stellung, die zuvor dem „christlichen Gott“ vorbehalten war. Alle Attribute dieses „christlichen Gottes“ wurden somit in das „Subjekt“, das Ego verlegt.

Um die Möglichkeit eines Wissens jenseits von Zeit und Raum, aus den Augen Gottes, beanspruchen zu können, war es grundlegend, das Subjekt von allen Körpern und Orten loszulösen, das heißt, das Subjekt von allen räumlichen oder zeitlichen Bestimmungen zu entleeren. So war dieser Dualismus zwischen dem Subjekt und allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen also eine grundlegende konstitutive Achse des Cartesianismus. Es war dieser Dualismus, der es Descartes ermöglichte, das Subjekt einem „Nicht-Raum“ und einer „Nicht-Zeit“ zuzuweisen und damit den Anspruch zu erheben, jenseits aller räumlich-zeitlichen Grenzen der Kartographie der globalen Macht zu sprechen.

Um das individuelle Subjekt am Grund allen Wissens platzieren zu können, stattete es der innere Monolog des Subjekts ohne jede dialogische Beziehung zu anderen Menschen mit der Befähigung aus, den Zugang zur Wahrheit in ihrer Form sui generis zu beanspruchen, das heißt, als selbsterzeugt, isoliert von sozialen Beziehungen zu anderen Menschen. Der Mythos der Selbstproduktion der Wahrheit durch das isolierte Subjekt ist ein konstitutiver Teil des Mythos der Moderne, des Mythos eines selbsterzeugten und isolierten Europas, das sich aus sich selbst heraus entwickelt, ohne von sonst irgendjemandem auf der Erde abhängig zu sein.

Wir sehen also, dass ebenso wie der Dualismus auch der Solipsismus konstitutiv für die cartesianische Philosophie ist. Ohne Solipsismus kann es keinen Mythos eines Subjekts mit uni­versaler Rationalität geben, das sich selbst als solches bestätigt. Wir sehen hier den Beginn der Ego-Politik des Wissens (ego-politics of knowledge),2 die nichts weniger ist als eine Säkularisierung der christlichen Kosmologie der Theo-Politik des Wissens. In der Ego-Politik des Wissens wird das Subjekt der Äußerung (subject of enunciation) ausgelöscht, versteckt, getarnt durch das, was Santiago Castro-Gómez Nullpunkt-Philosophie (zero-point philosophy) genannt hat.3 Letztere steht für den Standpunkt, der sich als Standpunkt verbirgt, oder, anders ausgedrückt, für den Standpunkt, der davon ausgeht, keinen Standpunkt zu haben.

Wir haben es also mit einer Philosophie zu tun, in der das epistemische Subjekt keine Sexualität, kein Geschlecht, keine Ethnizität, keine Rasse, keine Klasse, keine Spiritualität, keine Sprache und keine epistemische Verortung innerhalb von Machtverhältnissen hat, und mit einem Subjekt, das die Wahrheit aus einem inneren Monolog mit sich selbst hervorbringt, ohne Beziehung zu jemandem außerhalb von ihm. Das heißt, wir haben es mit einer tauben Philosophie zu tun, einer Philosophie ohne Gesicht, die keine Schwerkraft spürt. Dieses gesichtslose Subjekt schwebt durch den Himmel, ohne durch irgendetwas oder irgendjemanden bestimmt zu sein.

Enrique Dussel hat uns bei mehreren Gelegenheiten daran erinnert, dass dem cartesianischen „ego cogito“ des „Ich denke, also bin ich“ 150 Jahre des imperialen „ego conquiro“ des „Ich erobere, also bin ich“ vorausgehen.4 Wir sollten uns ins Gedächtnis rufen, dass Descartes seine Philosophie in Amsterdam genau zu dem Zeitpunkt in der Mitte des 17. Jahrhunderts entwarf, als Holland zum Zentrum des Weltsystems wurde. Dussel will uns damit sagen, dass die politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Bedingungen der Möglichkeit für ein Subjekt, das sich hochmütig anmaßt, so zu sprechen, als sei es das Auge Gottes, ein Subjekt ist, dessen geopolitischer Standort durch seine Existenz als Kolonisator/Eroberer (colonizer/conqueror), das heißt als Imperiales Sein/Wesen (Imperial Being), bestimmt ist.

Der dualistische und solipsistische Mythos eines selbsterzeugten Subjekts ohne räumlich-zeitliche Verortung innerhalb globaler Machtverhältnisse eröffnet daher den epistemologischen Mythos der eurozentrierten Moderne. Dies bezieht sich auf den Mythos eines selbsterzeugten Subjekts, das mittels eines Monologs Zugang zu einer universalen Wahrheit jenseits von Raum und Zeit hat; das heißt, durch eine Taubheit gegenüber der Welt und durch die Auslöschung des Gesichts des Subjekts der Äußerung, was so viel bedeutet wie eine Blindheit gegenüber seiner eigenen räumlichen und körperlichen Verortung innerhalb der Kartographie der globalen Macht.

Dieser cartesianische Solipsismus sollte zwar von der westlichen Philosophie selbst in Frage gestellt werden. Was jedoch als dauerhafterer Einfluss des Cartesianismus bis in die Gegenwart bestehen bleiben sollte, ist die gesichtslose Nullpunkt-Philosophie, die von den Humanwissenschaften ab dem 19. Jahrhundert als Epistemologie der axiologischen Neutralität und empirischen Objektivität des Subjekts, das wissenschaftliche Erkenntnis hervorbringt, aufgegriffen werden sollte.

Obwohl einige Strömungen wie die Psychoanalyse und der Marxismus diese Prämissen in Frage gestellt haben, neigen Marxisten und Psychoanalytiker immer noch dazu, Wissen vom Nullpunkt aus hervorzubringen, das heißt, ohne den Ort zu hinterfragen, von dem aus sie sprechen und dieses Wissen hervorbringen. Dies ist für unsere Zwecke von grundlegender Bedeutung, denn der Begriff der Universalität, den die westliche Philosophie von Descartes an prägen sollte, sollte ein abstrakter Universalismus sein. Abstrakt im doppelten Sinne:

1) Universalismus-Typ 1: Der erste im Sinne von Äußerungen (utterances), einem Wissen, das von jeder räumlich-zeitlichen Bestimmung losgelöst ist und den Anspruch erhebt, ewig zu sein.

2) Universalismus-Typ 2: Der zweite im epistemischen Sinne eines Subjekts der Äußerung (subject of enunciation), das losgelöst und entleert ist von Körper und Inhalt sowie von seiner Verortung innerhalb der Kartographie der globalen Macht, von der aus es Wissen hervorbringt.

Die Abspaltung des Subjekts von Körper und Raum erlaubt Descartes infolgedessen, Wissen mit einem Wahrheitsanspruch hervorzubringen, das für alle Menschen auf der Erde universal gültig ist. Der erste Typ des abstrakten Universalismus (der der Äußerungen) ist nur möglich, wenn man den zweiten (den des Subjekts der Äußerung) voraussetzt. Der erste Sinn des abstrakten Universalismus, der eines Universalismus, der auf einem Wissen mit Anspruch auf räumlich-zeitliche Universalität beruht, auf Äußerungen, die von jeglicher Räumlichkeit und Zeitlichkeit „losgelöst“ (abstracted) sind, wurde in eben dieser westlichen Kosmologie und Philosophie zwar hinterfragt. Aber der zweite Sinn des abstrakten Universalismus, der epistemische Sinn eines Subjekts der Äußerung, das in räumlich-zeitlicher Hinsicht gesichtslos und ortlos ist, der Universalismus der Ego-Politik des Wissens, hat sich vermittels des Nullpunkts der westlichen Wissenschaft bis in unsere Zeit behauptet – selbst bei denjenigen, die Descartes kritisiert haben -, und dies stellt eine der schädlichsten Hinterlassenschaften des Cartesianismus dar.

In der Kritik der reinen Vernunft5 versuchte Immanuel Kant, der ein Jahrhundert nach Descartes (im 18. Jahrhundert) schrieb, einige der Dilemmata des cartesianischen Universalismus aufzulösen, indem er die Kategorien von Raum und Zeit zu inhärenten Kategorien des Geistes der „Männer“ (men) und damit zu universalen, apriorischen Kategorien allen Wissens machte. Das transzendentale kantische Subjekt kann kein Wissen außerhalb der Kategorien von Zeit und Raum hervorbringen, wie es der Cartesianismus behauptet, weil diese Kategorien bereits im Geist aller Menschen vorhanden sind. Für Kant sind dies die Bedingungen der Möglichkeit einer universalistischen Intersubjektivität, in der alle Menschen eine Form des Wissens als wahr und universal anerkennen würden.

Im Gegensatz zu Descartes hat die menschliche Erkenntnis für Kant Grenzen und kann „das Ding an sich“ nicht erkennen. Indem er die cartesianische Tradition reformiert und fortsetzt, sieht Kant in den inhärenten apriorischen Kategorien, die dem Geist aller Menschen gemein sind, jedoch die Möglichkeit, das Chaos der empirischen Welt so zu organisieren, dass ein Wissen hervorgebracht werden kann, das intersubjektiv als wahr und universal anerkannt wird.

Es ist zudem wichtig, darauf hinzuweisen, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Eurozentrismus, der bei Descartes implizit bleibt, explizit macht. In Kants Werk ist die transzendentale Vernunft keine Eigenschaft all jener Wesen, die wir aus einer dekolonisierenden, antirassistischen und antisexistischen Perspektive zu den menschlichen Wesen zählen würden. Für Kant gehört die transzendentale Vernunft grundsätzlich zu denen, die als „Männer“ gelten. Wenn wir uns seine anthropologischen Werke vornehmen, können wir sehen, dass für Kant die transzendentale Vernunft überwiegend männlich, weiß und europäisch ist.6 Afrikanische, indigene asiatische und südeuropäische (spanische, italienische und portugiesische) Männer und alle Frauen (einschließlich Europäerinnen) haben nicht den gleichen Zugang zur „Vernunft“.7 Die Geographie der Vernunft ändert sich mit Kant, da er aus dem Deutschland des 18. Jahrhunderts zu genau dem Zeitpunkt schreibt, zu dem andere Imperien in Nordwesteuropa (einschließlich Frankreich, Deutschland und England) Holland verdrängen und in Konkurrenz zueinander den neuen Kern des Weltsystems ausbilden.

Kant hält den cartesianischen Geist-Körper-Dualismus und Solipsismus aufrecht, allerdings in einer reformierten und aktualisierten Form. Er stellt den ersten Typ des abstrakten cartesianischen Universalismus (den der Äußerungen) in Frage, das heißt die Möglichkeit der ewigen Erkenntnis des Dings an sich, jenseits aller räumlich-zeitlichen Kategorien. Aber er erhält und vertieft den zweiten Typ des abstrakten cartesianischen Universalismus, den epistemologischen Typ, in dem wir bei der Explizitmachung dessen, was bei Descartes implizit war, das Privileg des „europäischen Mannes“ in der Produktion universalen Wissens sehen. Das heißt, dass auf der Ebene des Subjekts der Äußerung ein Partikulares das Universale für den Rest des Planeten festlegt. Wenn Kant seinen Kosmopolitismus vorschlägt, handelt es sich daher in Wirklichkeit um einen europäischen Provinzialismus, der als universalistischer Kosmopolitismus getarnt und dem Rest der Welt als imperialer Entwurf verkauft wird.8

In den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts revolutioniert Hegel die westliche Philosophie auf bedeutende Weise. Sowohl in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte9 als auch in der Enzyklopädie10 stellt er den Solipsismus in Frage, um das Subjekt der Äußerung in seinem historisch-universalen Kontext zu verorten. Und in der Phänomenologie11 überwindet er den Dualismus, indem er die Identität von Subjekt und Objekt vorschlägt. Hegel erreicht dies, indem er den kantischen Transzendentalismus auf zweierlei Weise in Frage stellt: 1) anstelle der inhärenten Kategorien historisiert Hegel die philosophischen Kategorien,12 und 2) anstelle des kantischen Dualismus in Bezug auf die Unmöglichkeit, das Ding an sich zu erkennen, ist für Hegel das Wahre das Ganze, das heißt der Prozess der dialektischen Bewegung des Denkens selbst, der die wirkliche Bewegung des Dings an sich erfasst.13

Für Hegel verläuft die Bewegung des Denkens vom Abstrakten zum Konkreten. Die Entwicklung der Kategorien verläuft parallel zur Universalgeschichte, da letztere ein Ausdruck der ersteren ist. Kategorien oder Begriffe werden aus den Vermittlungen, Widersprüchen und Negationen des Denkens abgeleitet und führen von abstrakten Universalien zu konkreten Universalien. Mit der Negation der Kategorien meint Hegel nicht ihr Verschwinden, sondern lediglich ihre Aufhebung, das heißt, dass einfache Kategorien als Bestimmungen komplexerer Kategorien aufrechterhalten werden. Durch diese Bewegung behauptet Hegel, zu einem absoluten Wissen zu gelangen, das jenseits von Zeit und Raum gültig ist. Unter abstraktem Universalismus versteht Hegel einfache Kategorien, das heißt solche ohne Bestimmungen, die in sich selbst keine anderen Kategorien enthalten. Einfache Kategorien, abstrakte Universalien, sind Hegels Ausgangspunkt der Wissensproduktion.

Das konkrete Universale stellt für Hegel jene komplexen Kategorien dar, die, einmal gedacht, verschiedene Negationen und Vermittlungen durchlaufen haben und reich an mannigfaltigen Bestimmungen sind.14 Unter mannigfaltigen Bestimmungen versteht Hegel jene komplexen Kategorien, die durch Aufhebung (aber nicht durch Verschwinden) die einfachsten Kategorien enthalten, nachdem letztere durch einen dialektischen Prozess des Denkens negiert worden sind. Die Hegelsche dialektische Methode ist ein epistemischer Mechanismus, der alle Alterität und Differenz aufhebt und in einen Teil des Gleichen verwandelt, bis er zum absoluten Wissen gelangt, das „das Wissen allen Wissens“ wäre und mit dem Ende der Geschichte zusammenfiele, und zwar aus dem Grund, dass von diesem Punkt an auf der Ebene des Denkens und der menschlichen Geschichte nichts Neues mehr hervorgebracht werden könnte.

Mit dem Anspruch auf absolutes Wissen gelangt Hegel schließlich zu dem Punkt, seine Innovation auf der Ebene des Universalismus vom Typ 1, dem der Äußerungen, zu verraten, da, statt seine Historisierung der Kategorien und Äußerungen fortzuführen, das absolute Wissen als eine neue Art von cartesianischem Universalismus dient, der für die gesamte Menschheit und für alle Zeiten und Räume wahr ist. Der Unterschied zwischen Descartes und Hegel besteht also darin, dass für ersteren der ewige Universalismus apriorisch ist, während für letzteren das ewige Universale nur durch eine aposteriorische historische Rekonstruktion des allgemeinen Geists durch die gesamte Geschichte der Menschheit möglich wäre.

Aber mit „Menschheit“ meint Hegel nicht alle Menschen. Er sah sich selbst als Philosoph der Philosophen, als Philosoph des Endes der Geschichte. In Kontinuität mit dem epistemischen Rassismus der westlichen Philosophen, die ihm vorausgegangen waren, verstand Hegel den allgemeinen Geist, die Vernunft, als sich von Osten nach Westen bewegend.15 Der Osten ist die stagnierende Vergangenheit, der Westen ist die Gegenwart, die den allgemeinen Geist entwickelt hat, und das weiße Amerika ist die Zukunft. Wenn Asien eine inferiore Stufe des allgemeinen Geistes darstellte, bilden Afrika und die indigene Welt nicht einmal einen Teil davon, und Frauen wurden nicht einmal erwähnt, außer wenn von Ehe und Familie die Rede ist.

Für Hegel konnte das absolute Wissen, das ein konkretes Universales in dem Sinne darstellt, dass es aus mannigfaltigen Bestimmungen resultiert, nur von weißen, christlichen, heterosexuellen, europäischen Männern erreicht werden, und die Mannigfaltigkeit der Bestimmungen des absoluten Wissens wird dadurch in das Innere der westlichen Kosmologie/Philosophie aufgehoben. Im Hegelschen absoluten Wissen bleibt nichts außerhalb in einer Position der Alterität. Infolgedessen bleibt bei Hegel der cartesianische und kantische epistemologische Rassismus des abstrakten epistemischen Universalismus (Typ 2), in dem das Universale auf der Grundlage des Partikularen (des westlichen Mannes) bestimmt wird, intakt. Andere Philosophien, wie die des Ostens, werden als inferior betrachtet, und im Falle der indigenen und afrikanischen Philosophien sind sie nicht einmal des Namens Philosophie würdig, da der allgemeine Geist diese geografischen Zonen nie durchschritten hat.

Karl Marx, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb, nahm wichtige Modifikationen an dieser Tradition des westlichen philosophischen Denkens vor. Ich werde mich hier auf die beiden diskutierten Universalismus-Typen beschränken. Marx kritisiert die Hegelsche Dialektik für ihren Idealismus und den Feuerbachschen Materialismus für seinen Mechanizismus/Reduktionismus, das heißt für seinen Mangel an Dialektik angesichts der menschlichen Praxis, die Natur und sich selbst zu transformieren.

Für Marx ist die Hegelsche Bewegung vom Abstrakten zum Konkreten nicht einfach eine Bewegung von philosophischen Kategorien, sondern vielmehr eine der Kategorien der politischen Ökonomie.16 Im Gegensatz zu Hegel haben für Marx die Bestimmungen der politischen Ökonomie über das soziale Leben der Menschen Vorrang vor den begrifflichen Bestimmungen. Die Hegelsche Erhebung vom Abstrakten zum Konkreten wird daher bei Marx als eine Bewegung des Denkens innerhalb der politisch-ökonomischen Kategorien seiner Epoche verstanden. Obwohl seine Definition des Abstrakten und des Konkreten derjenigen Hegels sehr ähnlich ist, in der das Konkrete reich an mannigfaltigen Bestimmungen ist, unterscheidet sich Marx von Hegel durch den Vorrang, den er den Kategorien der politischen Ökonomie einräumt, und dadurch, dass er eine Bewegung vor der Erhebung vom Abstrakten zum Konkreten postuliert, die Hegel nicht berücksichtigt. Es handelt sich dabei um die Bewegung vom Konkreten zum Abstrakten, das heißt, von der Sinneswahrnehmung und der empirischen Realität, die innerhalb eines Moments der Entwicklungsgeschichte der politischen Ökonomie und des Klassenkampfes liegen, hin zu abstrakteren Kategorien.17

Ebenso wie Hegel historisiert Marx diese Kategorien. Das, was bei Hegel als Ausgangspunkt dient, nämlich die abstraktesten universalen Kategorien, aus denen die Wirklichkeit abgeleitet wird, wird bei Marx jedoch zu Ankunftspunkten. In der materialistischen Wende von Marx sind die abstraktesten Kategorien diejenigen, die durch einen sehr komplexen historisch-sozialen Prozess des Denkens hervorgebracht werden. Daher bewegt sich für Marx die Bewegung des Denkens zunächst vom Konkreten zum Abstrakten, um einfache und abstrakte Kategorien hervorzubringen, nur um anschließend vom Abstrakten zum Konkreten zurückzukehren, um komplexe Kategorien hervorzubringen.

Hegel sah die zweite Bewegung (vom Abstrakten zum Konkreten, von einfachen Begriffen zu komplexen), aber infolge seines Idealismus war er blind für die erste Bewegung (vom Konkreten zum Abstrakten, von leeren Begriffen zu einfacheren). Die Kategorie der Arbeit ist zum Beispiel eine einfache, die in einem bestimmten Moment der menschlichen Geschichte auftaucht, wenn die Arbeit gesellschaftlich von ihrer konkreten Mannigfaltigkeit losgelöst wird. Gemäß Marx geschieht dies erst im kapitalistischen System, wenn die Handelsbeziehungen in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen überwiegen. Das ökonomische Denken kann diese Kategorie als einfachen und abstrakten Begriff erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung der menschlichen Geschichte schaffen. Zuvor bezog man sich, wenn man von Arbeit sprach, auf die konkrete, vom Menschen verrichtete Arbeit: Schuster, Näherin, Bauer, usw. Erst wenn diese verschiedenen Tätigkeiten gesellschaftlich nach ihrem Tauschwert (der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit für die Produktion einer Ware) und nicht nach dem Gebrauchswert (der mit der Produktion verbundenen Art von qualitativer Arbeit) bemessen werden, wird die Entstehung der Kategorie „Arbeit“ als abstrakter, von der konkreten Arbeit unabhängiger Begriff gesellschaftlich möglich.

Das heißt, für Marx entspringt das Denken nicht aus den Köpfen der Menschen in einem bestimmten Moment der Entwicklung des Geistes, wie es bei Hegel der Fall zu sein scheint, sondern geht stattdessen aus der bestimmten, konkreten, historisch-sozialen Situation der Entwicklung der politischen Ökonomie hervor. Auf epistemische Weise verortet Marx die Wissensproduktion also nicht als Ergebnis der Entwicklung des Geistes in einer Epoche, sondern als Ergebnis der materiellen Entwicklung der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte („Produktionsweise“).

Dieses Gründen der Geschichte des Hegelschen Geistes in der Geschichte der politischen Ökonomie und ihrer Beziehung zum Denken einer Epoche ist es, was Marx dazu veranlasst, der Hegelschen Dialektik eine materialistische Wende zu geben. Infolgedessen sollte Marx den Klassencharakter der politischen, theoretischen und philosophischen Perspektive hervorheben. Der Standpunkt des Proletariats sollte für Marx der epistemologische Ausgangspunkt für eine Kritik dessen sein, was er als bürgerliche politische Ökonomie betrachtete. Dies stellte einen wichtigen Bruch mit der westlichen philosophischen Tradition in Bezug auf diese beiden Universalismus-Typen dar.

Bei Typ 1, dem Universalismus der Äußerungen, verortete Marx diese Äußerungen wie Hegel in ihrem historischen Kontext. Im Gegensatz zu Hegel war dieser historische Kontext nicht mehr der des allgemeinen Geistes, sondern die Entwicklung der politischen Ökonomie, der Produktionsweise und des entsprechenden Klassenkampfes. Die Produktionsbedingungen nehmen in allen geschichtlichen Epochen den Vorrang über das Bewusstsein ein, immer noch eine abstrakte universale Äußerung, aber eine, in der die Operation der Bestimmung „in letzter Instanz“18 der ökonomischen Prozesse in jeder Epoche unterschiedlich sein wird. Wir haben es hier mit einer abstrakten Universalie zu tun, die mit dem politisch-ökonomischen Inhalt jeder historischen Epoche gefüllt und dadurch konkret wird.

In Typ 2, dem abstrakten epistemischen Universalismus des Subjekts der Äußerung, verortet Marx die Position, von der aus die Subjekte denken, im Verhältnis zu Klassen und dem Klassenkampf. Gegen die Tradition, die von Descartes bis Hegel reicht, verortet Marx seine Geopolitik des Wissens also im Verhältnis zu sozialen Klassen. Marx denkt von der historisch-sozialen Situation des europäischen Proletariats aus, und auf der Grundlage dieser Perspektive schlägt er einen globalen/universalen Entwurf als Lösung für die Probleme der gesamten Menschheit vor: den Kommunismus.

Was Marx mit der westlichen bürgerlichen philosophischen Tradition gemein hat, ist, dass sein Universalismus, obwohl er von einem bestimmten Ort ausgeht – in diesem Fall dem Proletariat -, die Tatsache nicht problematisiert, dass dieses Subjekt europäisch, männlich, heterosexuell, weiß, jüdisch-christlich usw. ist. Marx’ Proletariat ist ein konflikthaftes Subjekt innerhalb Europas, das es ihm nicht erlaubt, außerhalb der eurozentrischen Grenzen des westlichen Denkens zu denken. Weder die kosmologische und epistemologische Diversalität noch die Mannigfaltigkeit der sexuellen, geschlechtlichen, rassischen und religiösen Machtverhältnisse werden in seinem Denken berücksichtigt oder epistemisch verortet.

Genau wie die westlichen Denker, die ihm vorausgingen, beteiligt sich Marx am epistemischen Rassismus, in dem es nur eine einzige Epistemologie mit Zugang zur Universalität gibt: die westliche Tradition. Bei Marx, im epistemischen Universalismus des zweiten Typs, bleibt das Subjekt der Äußerung verborgen, getarnt, versteckt unter einer neuen abstrakten Universalie, die nicht mehr „der Mann“, „das transzendentale Subjekt“, „das Ego“ ist, sondern „das Proletariat“ und sein universales politisches Projekt, „Kommunismus“. Das kommunistische Projekt des 20. Jahrhunderts war also, wenn auch von links, ein weiterer westlicher globaler imperialer/kolonialer Entwurf, der unter dem Sowjetimperium versuchte, sein universales Abstraktum des „Kommunismus“ als „die Lösung“ für globale Probleme in den Rest der Welt zu exportieren.

Marx reproduziert einen epistemischen Rassismus ähnlich dem von Hegel, der es ihm nicht erlaubt, außereuropäischen Völkern und Gesellschaften entweder zeitliche Gleichzeitigkeit oder die Fähigkeit zuzugestehen, Gedanken hervorzubringen, die es wert sind, als Teil des philosophischen Erbes der Menschheit oder der Weltgeschichte betrachtet zu werden. Für Marx waren die außereuropäischen Völker und Gesellschaften primitiv, rückständig, das heißt, Europas Vergangenheit. Sie hatten weder die Entwicklung der Produktivkräfte noch das Niveau der sozialen Evolution der europäischen Zivilisation erreicht. Im Namen ihrer Zivilisierung und Befreiung aus der ahistorischen Stagnation vorkapitalistischer Produktionsweisen sollte Marx daher die britische Invasion Indiens im 18. Jahrhundert und die Invasion der Vereinigten Staaten in Nordmexiko im 19. Jahrhundert befürworten.

Für Marx war die „asiatische Produktionsweise“ der orientalistische Begriff, mit dem er die nicht-westlichen Gesellschaften charakterisierte. Diese „asiatische Produktionsweise“ zeichnete sich durch ihre Unfähigkeit zur Veränderung und Transformation aus, das heißt durch ihre stets unendliche und ewige zeitliche Reproduktion. Marx hatte Teil an der Linearität der Zeit, die für das westliche evolutionistische Denken charakteristisch ist. Der Kapitalismus war ein weiter fortgeschrittenes System, und im Gefolge der Rhetorik der Errettung der eurozentrischen Modernität19 war es für die außereuropäischen Völker besser, ihren evolutionären Prozess hin zum Kapitalismus durch imperiale Invasionen zu beschleunigen, als weiterhin in antiquierten Formen der gesellschaftlichen Produktion zu stagnieren.

Dieser ökonomistische Evolutionismus sollte die Marxisten des 20. Jahrhunderts in eine Sackgasse führen. Das marxistische Denken, obwohl es von der Linken ausging, blieb letztlich in denselben Problemen des Eurozentrismus und des Kolonialismus verfangen, die die eurozentrischen Denker der Rechten gefangen hielten.

An dieser Stelle möchte ich zwei entscheidende Punkte hervorheben:

1) Jeder Kosmopolitismus oder jedes globale Projekt, das auf den abstrakten Universalismus des zweiten Typs gegründet wird, das heißt auf den epistemologischen Universalismus der Ego-Politik des Wissens, wird nicht vermeiden können, ein weiterer globaler imperialer/kolonialer Entwurf zu werden. Wenn die universale Wahrheit auf die Epistemologie eines bestimmten Territoriums oder Körpers (sei er westlich, christlich oder islamisch) und auf den Ausschluss anderer gegründet wird, dann wird der Kosmopolitismus oder das globale Projekt, das auf diese abstrakte universalistische Epistemologie gegründet wird, schon seinem Wesen nach imperialistisch/kolonial sein.

2) Der abstrakte epistemische Universalismus in der modernen/kolonialen westlichen philosophischen Tradition ist ein intrinsischer Bestandteil des epistemologischen Rassismus. Mit anderen Worten: Der epistemische Rassismus ist der modernen westlichen Philosophie inhärent. Wenn universale Vernunft und Wahrheit nur von einem weißen, europäischen, männlichen, heterosexuellen Subjekt hervorgebracht werden können und wenn die einzige Denktradition mit dieser Fähigkeit zur Universalität und mit Zugang zur Wahrheit die westliche Tradition ist (die alles nicht-westliche Wissen inferiorisiert), dann kann es keinen abstrakten Universalismus ohne epistemischen Rassismus geben. Epistemologischer Rassismus ist intrinsischer Bestandteil eines westlichen „abstrakten Universalismus“, der verschleiert, wer spricht und von wo aus gesprochen wird.

Die Frage ist also: Wie können wir dem Dilemma zwischen isolierten provinziellen Partikularismen und abstrakten Universalismen, die als „kosmopolitisch“ getarnt, aber ebenso provinziell sind, entkommen? Wie können wir den westlichen Universalismus dekolonisieren?

2.2 Aimé Césaire und ein „anderer“ Universalismus

Um der Misere der Ego-Politik des Wissens zu entkommen, ist es absolut notwendig, die Geographie der Vernunft in Richtung einer „anderen“ Geopolitik und Ego-Politik des Wissens zu verschieben. Hier werden wir die Geographie der Vernunft von den westlichen Philosophen zum afro-karibischen Denker Aimé Césaire verschieben, der von der Insel Martinique stammt und der Lehrer von Frantz Fanon war. Césaire ist einer der wichtigsten dekolonialen Denker, und sein immenser Beitrag bildet den Ausgangspunkt für eine Ära der „Césaireschen Dekolonialen Wissenschaften“ im Gegensatz zu den „Cartesianischen Kolonialen Wissenschaften“.20

Ich werde mich hier auf einen unerforschten Bereich in der Literatur über Césaires Denken konzentrieren: sein einzigartiger und origineller dekolonialer Begriff der „Universalität“.21 In seinem Rücktrittsschreiben an die Französische Kommunistische Partei Mitte der 1950er Jahre, das an den damaligen Generalsekretär Maurice Thorez gerichtet war, greift Césaire den abstrakten Universalismus des eurozentrischen marxistischen Denkens an. Césaire schreibt dazu Folgendes:

Provinzialismus? Ganz und gar nicht. Ich werde mich nicht auf einen engen Partikularismus beschränken. Aber ich beabsichtige auch nicht, mich in einem entkörperlichten Universalismus zu verlieren. Es gibt zwei Möglichkeiten, sich zu verlieren: durch die eingemauerte Absonderung im Partikularen oder durch die Auflösung im „Universalen“. Meine Vorstellung vom Universalen ist die eines Universalen, das reich an allem ist, was partikular ist, reich an allen Partikularien, die Vertiefung und Koexistenz aller Partikularien.22

Der Eurozentrismus hat sich auf dem Weg des entkörperlichten Universalismus, der alles Partikulare in das Universale auflöst, verloren. Der Begriff „entkörperlicht“ (décharné) ist hier entscheidend. Für Césaire ist der abstrakte Universalismus derjenige, der sich aus einem hegemonialen Partikularismus heraus als imperialer globaler Entwurf für die gesamte Welt zu etablieren sucht, und der, indem er sich als „entkörperlicht“ präsentiert, den epistemischen Ort der Äußerung verschleiert. Diese epistemische Bewegung, die für die eurozentrischen Epistemologien des „Nullpunkts“ und der „Ego-Politik des Wissens“ typisch ist, war für koloniale Projekte von zentraler Bedeutung. Mit dieser Kritik legt Césaire, ausgehend von der Erinnerung an die Sklaverei und der Erfahrung der Körperpolitik des Wissens eines französisch-karibischen schwarzen Subjekts/Untertans, die weiße westliche Geo- und Körperpolitik des Wissens, die sich unter dem „entkörperlichten“ abstrakten Universalismus der Ego-Politik des Wissens verbirgt, offen und macht sie sichtbar.

Der universalistische Republikanismus des französischen Empires war einer der wichtigsten Vertreter des abstrakten Universalismus in seinem Bestreben, alle Partikularien unter der Hegemonie einer einzigen Partikularität, in diesem Fall des weißen westlichen Mannes, zu subsumieren, sie zu verwässern und zu assimilieren. Es ist dieser Universalismus, den ein großer Teil der weißen, kreolischen Eliten in Lateinamerika in Nachahmung des französischen imperialen Republikanismus in Diskursen über die „Nation“ reproduziert hat, die afrikanische und indigene Partikularitäten in einer abstrakten, universalen „Nation“ auflösen, die die Partikularität des europäischen Erbes der weißen Kreolen gegenüber allen anderen privilegiert. Aber wir sehen die Reproduktion dieses kolonialen, eurozentrischen Universalismus nicht nur in Diskursen der Rechten, sondern auch in gegenwärtigen marxistischen und postmarxistischen Strömungen, wie weiter unten erörtert wird.

Gegen dieses Projekt eines abstrakten, rassistischen, imperialen Universalismus und gegen die Dritte-Welt-Fundamentalismen bekräftigt Césaires Dekolonisation, die sich auf die afro-karibische Erfahrung stützt, keinen engen und geschlossenen Partikularismus, der zu einem segregationistischen Provinzialismus oder Fundamentalismus führt, der sich in seiner eigenen Partikularität verschließt. Für Césaire bedeutet Dekolonisation vielmehr die Bekräftigung eines konkreten Universalen, in das alle Partikularien eingebettet sind. Während der abstrakte Universalismus vertikale Beziehungen zwischen den Völkern herstellt, ist der konkrete Universalismus von Césaire in den Beziehungen, die er zwischen den Partikularitäten herstellt, notwendigerweise horizontal. Hier bekommt die Idee des konkreten Universalismus eine ganz andere Bedeutung als bei Hegel und Marx.

Während sich der konkrete Universalismus bei Hegel und Marx auf jene Begriffe bezog, die reich an mannigfaltigen Bestimmungen sind, aber innerhalb einer einzigen Kosmologie und einer einzigen Episteme (in diesem Fall der westlichen), in der die Bewegung der Dialektik alle Alterität zum Gleichen zermalmt, ist für Césaire das konkrete Universale das, was sich aus mannigfaltigen kosmologischen und epistemologischen Bestimmungen ergibt (im Gegensatz zu einem Uni-versum (uni-verse)).

Der Césairesche konkrete Universalismus ist das Ergebnis eines horizontalen Prozesses des kritischen Dialogs zwischen Völkern, die einander als Gleiche begegnen. Der abstrakte Universalismus ist von Natur aus autoritär und rassistisch, während Césaires konkreter Universalismus hochgradig demokratisch ist.

Césaires philosophische Intuition, die durch eine afro-karibische Geo- und Körperpolitik des Wissens gedacht wird, ist eine Quelle der Inspiration für die Formulierung praktischer Auswege aus den Dilemmata der Ausbeutung und Beherrschung im gegenwärtigen Weltsystem jenseits des eurozentrischen Fundamentalismus und der Dritte-Welt-Fundamentalismen. Inspiriert von den philosophischen Intuitionen Césaires werde ich versuchen, folgende Fragen zu beantworten: Was würde heute ein Césairesches konkret-universalistisches Projekt der Dekolonisation darstellen? Was sind die politischen Implikationen dieses Projekts? Wie können diese philosophischen Intuitionen Césaires in einem Projekt zur radikalen Transformation der kolonialen Machtmatrix dieses „europäischen/euro-nordamerikanischen kapitalistischen/patriarchalen modernen/kolonialen Weltsystems“23 konkretisiert werden?

2.3 Die Transmoderne als utopisches Dekolonisations-Projekt

Ein horizontaler, befreiender Dialog im Gegensatz zu einem vertikalen, westlichen Monolog erfordert die Dekolonisation globaler Machtverhältnisse. Wir können nicht von einem Habermas’schen Konsens24 oder horizontalen Verhältnissen der Gleichheit zwischen Kulturen und Völkern ausgehen, wenn diese auf globaler Ebene in die beiden Pole der kolonialen Differenz aufgespalten sind. Nichtsdestotrotz können wir beginnen, uns „alter-ative“ Welten jenseits des Dilemmas von eurozentrischem Fundamentalismus versus Dritte-Welt-Fundamentalismen vorzustellen.

Ich werde mich hier auf den Begriff der Transmoderne konzentrieren, wie er von dem lateinamerikanischen Philosophen Enrique Dussel entwickelt wurde. Seine besondere Verwendung dieses Begriffs ist ein utopisches Projekt, das die eurozentrische Version der Moderne überwinden soll. Im Gegensatz zum Projekt von Habermas, der es als seine zentrale Aufgabe ansieht, das unvollendete und unvollständige Projekt der Moderne zu vollenden, ist Dussels Transmoderne ein Projekt, das in einem langen Prozess versucht, das unvollendete Projekt der Dekolonisation zu vollenden. Die Transmoderne würde die Konkretisierung des konkreten Universalismus, zu dessen Konstruktion uns Césaires philosophische Intuition einlädt, auf der Ebene eines politischen Projekts darstellen.

Anstelle einer Moderne, die in Europa/Euro-Nordamerika zentriert und dem Rest der Welt als imperialer/kolonialer globaler Entwurf aufgezwungen wird, plädiert Dussel für eine Mannigfaltigkeit kritischer, dekolonisierender Perspektiven gegen und jenseits der eurozentrierten Moderne ausgehend von den verschiedenen epistemischen Orten der kolonisierten Völker der Welt. So wie es kein absolutes Außen dieses Weltsystems gibt, gibt es auch kein absolutes Innen. Alternative Epistemologien können das bieten, was der karibische Kulturkritiker Édouard Glissant als eine „Diversalität“ von Antworten auf die Probleme der gegenwärtig existierenden Moderne vorschlägt.25

Die Philosophie der Befreiung kann nur von den kritischen Denkern einer jeden Kultur im Dialog mit anderen Kulturen kommen. Frauenbefreiung, Demokratie, Bürgerrechte und jene Formen ökonomischer Organisation, die Alternativen zum gegenwärtigen System darstellen, können nur aus den kreativen Antworten lokaler ethisch-epistemischer Projekte hervorgehen. Wie eine Reihe von Dritte-Welt-Frauen betont haben, können westliche Frauen ihr Verständnis von Befreiung nicht den Frauen aus der islamischen oder indigenen Welt aufzwingen.26 Genauso wenig können westliche Männer ihr Verständnis von Demokratie außereuropäischen Völkern aufzwingen. Dies ist kein Aufruf, nach fundamentalistischen oder nationalistischen Lösungen für die globale Kolonialität der Macht zu suchen. Es ist ein Aufruf, in der epistemischen Diversalität und Transmoderne eine Strategie oder einen epistemischen Mechanismus für eine dekolonisierte, transmoderne Welt zu suchen, die uns sowohl über den eurozentrischen Erste-Welt- als auch den eurozentrischen Dritte-Welt-Fundamentalismus hinausführt.

In den letzten mehr als 500 Jahren des „europäischen/euro-nordamerikanischen kapitalistischen/patriarchalischen modernen/kolonialen Weltsystems“ haben wir einen Weg beschritten von „konvertiere zum Christentum oder ich töte dich“ im 16. Jahrhundert über „zivilisiere dich oder ich töte dich“ im 18. und 19. Jahrhundert zu „entwickle dich oder ich töte dich“ im 20. Jahrhundert und in jüngster Zeit zu „demokratisiere dich oder ich töte dich“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Wir haben noch nie erlebt, dass indigene, islamische oder afrikanische Formen der Demokratie von Seiten einer systematischen und konsequenten westlichen Politik respektiert oder anerkannt wurden. Formen der demokratischen Alterität werden von vornherein abgelehnt. Die westliche liberale Form ist die einzige, die als legitim angesehen und akzeptiert wird, sofern sie nicht gegen die hegemonialen westlichen Interessen verstößt. Wenn die außereuropäischen Bevölkerungen die Bedingungen der liberalen Demokratie nicht akzeptieren, wird sie ihnen im Namen des Fortschritts und der Zivilisation mit Gewalt aufgezwungen. Die Demokratie muss in einer transmodernen Form neu konzeptualisiert werden, um sich von ihrer westlichen, liberalen Form, das heißt von der rassialisierten und kapitalistischen Form der westlichen Demokratie zu dekolonisieren.

Indem er Emmanuel Levinas’ Begriff der Exteriorität radikalisiert, sieht Dussel das epistemische Potenzial jener relativ externen Räume, die nicht vollständig von der europäischen Moderne kolonisiert wurden. Diese äußeren Räume sind weder rein noch absolut, sondern sie wurden von der Modernität/​Kolonialität des Weltsystems hervorgebracht und beeinflusst. Aus der Geo- und Körperpolitik des Wissens dieser Exteriorität oder relativen Marginalität erwächst das dekoloniale Denken als Kritik der Moderne, hin zu einer transmodernen, pluriversalen, dekolonisierten Welt mannigfaltiger und diverser ethisch-politischer Projekte, in denen es eine wahrhaft gleichberechtigte und horizontale Kommunikation und einen Dialog zwischen den Völkern der Welt geben kann, der über die für das eurozentrische Weltsystem charakteristischen Logiken und Praktiken der Beherrschung und Ausbeutung hinausgeht. Um dieses utopische Projekt zu verwirklichen, ist es jedoch von grundlegender Bedeutung, das System der Beherrschung und Ausbeutung der kolonialen Machtmatrix innerhalb des gegenwärtigen „europäischen/euro-nordamerikanischen kapitalistischen/patriarchalischen modernen/kolonialen Weltsystems“ zu transformieren.27

2.4 Post-Moderne versus Trans-Moderne?

Nichts von dem, was ich bis hierher gesagt habe, hat etwas mit der postmodernistischen Perspektive zu tun. Die transmoderne Position ist nicht das Äquivalent zur postmodernistischen Kritik. Die Postmoderne ist eine eurozentrische Kritik des Eurozentrismus und reproduziert infolgedessen alle Probleme der Moderne/Kolonialität. Wir werden das Beispiel des Postmodernismus von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe nehmen und diese Perspektive mit der des Zapatismus kontrastieren.28

Für Laclau und Mouffe konstituieren sich die Prozesse der Hegemoniebildung, wenn ein partikulares Subjekt zum leeren Signifikanten wird, durch den alle Partikularen identifiziert und mit Bedeutung versehen werden, indem sie untereinander Äquivalenzketten bilden und gleichzeitig Differenzketten gegen einen gemeinsamen Feind schaffen. Dieser gegenhegemoniale Machtblock wird immer von einem Partikularen hegemonisiert, das zum Repräsentanten aller Formen der Unterdrückung gegen einen gemeinsamen Feind wird, das aber nicht jede Partikularität in sich selbst aufnimmt, sondern sie in das abstrakte Universale des leeren Signifikanten auflöst, der das partikulare Subjekt repräsentiert, das sich in Äquivalenzketten unter den Unterdrückten artikuliert. Daher ist der Ruf „Viva Perón“ ein Beispiel für einen hegemonialen Prozess.29 Dieser Ausruf „Viva Perón“, mit dem sich alle Unterdrückten miteinander identifizieren, löst alle partikularen Forderungen in ein abstraktes Universales auf, in diesem Fall die Privilegierung der peronistischen Bewegung durch ihren Signifikanten „Perón“, der den Block der Volksmacht gegen den gemeinsamen Feind hegemonisiert.

Das Problem mit der Position von Laclau und Mouffe ist, dass sie sich keine anderen Formen des Universalismus vorstellen können, die über den abstrakten, eurozentrischen Universalismus hinausgehen, in dem ein Partikulares sich als repräsentativ für alle Partikularitäten darstellt, ohne sie in ihrer Fülle zu berücksichtigen, wodurch sich ihre Partikularität auflöst und verhindert wird, dass das neue Universale durch die Aushandlung zwischen den Partikularen entsteht. Natürlich gibt es für sie eine Grenze für die Berücksichtigung der Differenz: die epistemologische Alterität. Die epistemische Alterität der außereuropäischen Völker wird in ihrer Arbeit nicht berücksichtigt. Sie erkennen nur die Unterschiede innerhalb des Bedeutungshorizonts der westlichen Kosmologie und Epistemologie an. Für Laclau und Mouffe gibt es kein Außen – nicht einmal ein relatives Außen – des westlichen Denkens.

Kontrastieren wir diese Form des Universalismus mit derjenigen, die von den Zapatisten und La otra campaña (Die Andere Kampagne) vorgeschlagen wird: Es ist wichtig klarzustellen, dass ich hier nicht das Scheitern oder den Erfolg einer politischen Vision vorwegnehme, da im politischen Kampf nichts garantiert ist. Sie kann gewinnen oder verlieren, aber was ich hier hervorheben möchte, ist ein anderes Verständnis von Politik.

Die Zapatisten kommen nicht mit einem vorgefertigten Programm zu den Menschen, wie es bei den meisten, wenn nicht gar allen politischen Parteien von rechts bis links der Fall ist, sondern sie gehen von der Einstellung der Tojolabal-Indigenen aus, „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ (andar preguntando). Dieses „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ schlägt eine andere Art und Weise vor, Politik zu machen, ganz anders als das „zu gehen und dabei zu predigen“ (andar predicando) der jüdisch-christlichen, westlichen Kosmologie, die gleichermaßen von Marxisten, Konservativen und Liberalen reproduziert wird. Das „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ ist mit dem tojolabischen Verständnis von Demokratie als „zu befehlen und dabei zu gehorchen“ (mandar obedeciendo) verbunden, in dem „diejenigen, die befehlen, gehorchen, und diejenigen, die gehorchen, befehlen“ (el que manda obedece y el que obedece manda), was sich sehr von der westlichen Demokratie unterscheidet, in der „diejenigen, die befehlen, nicht gehorchen, und diejenigen, die gehorchen, nicht befehlen“ (el que manda no obedece y el que obedece no manda).

Ausgehend von dieser „anderen“ Kosmologie beginnen die Zapatisten mit ihrem „Tojolabal-Marxismus“ eine „andere Kampagne“, die vom „Nachhutdenken“ (rearguardism) ausgeht, das sich „fragend und zuhörend“ (preguntando y escuchando) vorwärts bewegt, anstelle eines „Vorhutdenkens“ (vanguardism), das „predigt und überzeugt“ (predicando y convenciendo).30 Die Idee oder Hoffnung der La otra campaña (Die Andere Kampagne) war, dass es nach einem langen kritischen transmodernen Dialog mit dem gesamten mexikanischen Volk möglich sein wird, ein Programm für den Kampf zu erstellen, ein universales Konkretes (im Sinne Césaires), das die partikularen Forderungen aller Subjekte und Epistemen aller unterdrückten Mexikaner in sich trägt.

Die Zapatisten gehen nicht von einem abstrakten Universalen aus (Sozialismus, Kommunismus, Demokratie, die Nation, als fließende oder leere Signifikanten), um dann allen Mexikanern die Richtigkeit dieser Ansicht zu predigen und sie davon zu überzeugen. Vielmehr gehen sie von der Idee des „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ aus, in der das Kampfprogramm ein konkretes Universales ist, das als Ergebnis, niemals als Ausgangspunkt, eines kritischen transmodernen Dialogs hervorgebracht wird, der die epistemische Diversalität und die partikularen Forderungen aller unterdrückten Menschen in Mexiko in sich aufnimmt.

Man beachte, dass es sich um ein anderes Universales handelt, oder wie Walter Mignolo31 sagen würde, ein Pluriversales, das sich sehr von jenen abstrakten Universalen des „leeren Signifikanten“ unterscheidet, der die hegemonialen Prozesse von Laclau und Mouffe, Gramscis „Subalterne“ oder Hardt und Negris „Multitude“ charakterisiert. Die Dekolonisation des eurozentrischen, westlichen Verständnisses von Universalität ist eine zentrale Aufgabe, um das zapatistische Motto zu ermöglichen, „eine Welt, in die andere Welten passen“ (un mundo donde quepan otros mundos), zu gestalten.

2.5 Vorhutpartei versus Nachhutbewegung

Diese Diskussion hat grundlegende Auswirkungen auf die gegenwärtigen Debatten in der Linken. Die leninistische Partei geht von einem messianisch-christlichen Verständnis der Kosmologie aus. Wenn Lenin sagt, dass es „ohne revolutionäre Theorie […] keine revolutionäre Bewegung“32 gibt, dann nimmt er sich Karl Kautsky zum Vorbild. Lenin zitiert Kautsky, um zu sagen, dass die Arbeiter nicht in der Lage waren, Klassenbewusstsein und revolutionäre Theorie zu entwickeln, weil sie nicht die Fähigkeit besaßen, spontan ihre eigene Theorie oder ihr Klassenbewusstsein zu entwickeln. Folglich können diese ihnen nur von außen übermittelt werden, das heißt, indem man sie ihnen predigt. Und wer ist es, der diese Theorie aufstellt und sie predigt? Für Lenin, der Kautsky folgt, können nur bürgerliche Intellektuelle, die sich kritisch mit ihrer eigenen Klassenposition auseinandersetzen, das Bewusstsein und die Theorie hervorbringen, die das Proletariat braucht, um sich zu emanzipieren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Vorhutpartei.

Dies ist eine weitere alte Debatte, die unter dekolonialen Gesichtspunkten neu überdacht werden muss. Bei Lenin sehen wir via Kautsky, wie die alte koloniale Episteme reproduziert wird, in dem die Theorie von weißen, bürgerlichen, patriarchalischen, westlichen Eliten hervorgebracht wird und die Massen passive Wesen sind, Objekte und nicht Subjekte der Theorie. Hinter einem vermeintlichen Säkularismus reproduziert diese Perspektive den jüdisch-christlichen Messianismus, der in einem säkularen, linken marxistischen Diskurs verkörpert wird. Der Unterschied zwischen Lenin und Kautsky liegt in der Art des Messianismus. Lenin reproduziert in einer sehr groben Weise den christlichen Messianismus, während Kautsky den jüdischen Messianismus reproduziert.

Im jüdischen Messianismus ist, da der Messias nie gekommen ist, die Botschaft wichtiger als der Bote. Im christlichen Messianismus hingegen ist der Bote wichtiger als die Botschaft, da man glaubt, dass der Messias nicht nur gekommen, sondern auch auferstanden ist und noch lebt. Im jüdischen Messianismus verkünden die Propheten die Ankunft des Messias und das Ende der irdischen Reiche. Im christlichen Messianismus ist der Messias da, und die Aufgabe besteht nicht so sehr darin, seine Worte in Frage zu stellen, sondern vielmehr darin, sich der Wahrheit (der Heiligen Botschaft) des Messias bedingungslos hinzugeben. Von diesem leninistisch-christlichen Messianismus kommen wir zu Stalin, einem zum Bolschewismus konvertierten christlichen Seminaristen. Stalin ist das Resultat von Lenin.

Was geschieht, wenn die Politik die jüdisch-christliche Kosmologie zugunsten anderer Kosmologien aufgibt? Ohne die Möglichkeit anderer Messianismen zu leugnen, erscheint die dekoloniale Wende bei den Zapatisten in einer „anderen“ Form des Machens von Politik, die, ausgehend von indigenen Kosmologien aus Südmexiko, alternative Formen der politischen Praxis mit einbringt. Die Zapatisten gehen vom „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ aus und schlagen von dort aus eine „Nachhutbewegung“ vor, die dazu beiträgt, eine breite Bewegung auf der Grundlage der „Verdammten dieser Erde“ ganz Mexikos zusammenzubringen. Das „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ führt zu dem, was die Zapatisten eine „Nachhutbewegung“ nennen, ganz im Gegensatz zum „zu gehen und dabei zu predigen“ des Leninismus, aus dem die „Vorhutpartei“ hervorgeht.

Die Vorhutpartei geht von einem von vornherein festgelegten, apriorischen Programm aus, das sich durch seine Charakterisierung als „wissenschaftlich“ selbst als „wahr“ definiert. Aus dieser Prämisse folgt eine missionarische Politik des Predigens, um die Massen von der Wahrheit des Programms der Vorhutpartei zu überzeugen und sie zu rekrutieren. Ganz anders ist die post-messianische Politik der Zapatisten, die stattdessen vom „Fragen zu stellen und zuzuhören“ ausgeht und in der die „Nachhut“-Bewegung zum Vehikel eines kritischen, transmodernen Dialogs wird, der epistemisch diversal und folglich dekolonial ist.

2.6 Fazit

Das Ziel dieses Artikels ist es, die Grenzen des westlich-männlichen Begriffs des „Uni-versalen“ aufzuzeigen und einen anderen Begriff des „Universalen“ vorzustellen, der aus einer anderen Geo- und Körperpolitik des Wissens hervorgeht. Während die westlich-männliche philosophische Tradition eine „uni-versale“ Auffassung heranzieht, die imperialistisch und autoritär ist, gibt es kritische Auffassungen, die „pluri-versal“ oder „multi-versal“ sind, die vom globalen Süden aus entwickelt wurden und eine wahrhaft demokratische, dekoloniale Alternative zu ersterer darstellen. Ich habe versucht zu argumentieren, dass die westlich-männliche philosophische Tradition einen Begriff der „Universalität“ gebraucht, der seinem Wesen nach epistemisch sexistisch und rassistisch ist. Ich habe zudem versucht zu zeigen, wie Césaire, Dussel und die Zapatisten Beispiele für eine andere Art sind, über das „Universale“ nachzudenken, die offen sind für epistemische Diversität und inter-epistemische Dialoge.

Der Aufruf zu epistemischer Diversität ist hier kein „epistemischer liberaler Multikulturalismus“, in dem jede subalternisierte epistemische Identität vertreten ist und das epistemische rassistische/sexistische Privileg westlicher Männer unangetastet bleibt. Im Gegenteil, dies ist ein Aufruf zur Überwindung des Provinzialismus der westlich-männlichen Epistemologie und der Unsichtbarkeit, die sie für die sozial-historische Erfahrung von Subjekten/Untertanen erzeugt, die geschlechtlicher, sexueller und rassistischer Unterdrückung ausgesetzt waren. Es geht hier darum, ein umfassenderes und rigoroseres kritisches Denken jenseits des epistemischen Rassismus/Sexismus zu entwickeln. Um jedoch über ein rigoroseres Konzept von Menschenwürde, Demokratie, Frauenbefreiung usw. zu verfügen, müssen wir die hegemoniale Versuchung überwinden, diese Begriffe auf eine westzentrische, provinzielle Weise zu definieren. Letzteres ist die Epistemologie, die zu imperialistischem, patriarchalischem und kolonialem Paternalismus führt, bei dem ein einziger (der westliche Mann) definiert, was für den Rest (Frauen, Dritte-Welt-Völker, Schwule/Lesben usw.) gut ist.

Die Überwindung dieses Schemas würde bedeuten, das kritische Denken ernst zu nehmen, das von anderen Genealogien des Denkens hervorgebracht wurde, die historisch subalternisiert und als dem Westen unterlegen betrachtet wurden. Dies ist weder ein Relativismus im Sinne von „alles ist möglich“ noch ein epistemischer Populismus, bei dem alles, was von einem „subalternen“ Subjekt/Untertan gesagt wird, bereits mit „kritischem Denken“ gleichzusetzen ist. Wenn ich nicht zu einer „nicht-westlichen“ Denktradition gehöre oder nichts über sie weiß, brauche ich ein Mindestmaß an Rationalität, um zu entscheiden, mit wem ich kritische inter-epistemische Dialoge führen will. Das Kriterium ist für mich politisch. Um Dialoge und Koalitionen aufzubauen, müssen wir nach Bündnissen und inter-epistemischen Gesprächen mit jenen Subjekten/Untertanen suchen, die in ihren epistemisch-ethisch-politischen Projekten eine Kombination von zwei oder mehr der folgenden Arten „negativer Universalität“ vereinen: antipatriarchalisch, antikapitalistisch, antikolonial und antiimperialistisch. Diese „negative Universalität“ führt in der muslimischen Welt zu Gesprächen mit islamischen Feministinnen und nicht mit al-Qaida, in der Aymara-Welt mit Evo Morales und nicht mit Victor Hugo Cárdenas, in der afroamerikanischen Welt mit Angela Davis und nicht mit Condoleeza Rice oder in der westlichen Welt mit Boaventura de Sousa Santos und nicht mit Nicolas Sarkozy.

Da nicht jedes/r „subalternisierte“ Subjekt/Untertan oder jeder Denker aus einer „inferiorisierten“ Epistemologie bereits ein kritischer Denker ist, sollte „epistemischer Populismus“ abgelehnt werden. Der Erfolg des Systems besteht gerade darin, diejenigen, die sozial unten sind, dazu zu bringen, epistemisch zu denken wie diejenigen, die sozial oben sind. Wir können also nicht den sozialen Standort als das einzige Kriterium verwenden. Der epistemologische Ort ist hier entscheidend. Ich plädiere dafür, das kritische Denken der „subalternisierten“ Subjekte/​Untertanen von unten als Ausgangspunkt für eine radikale Kritik an den hegemonialen Macht- und Wissensstrukturen ernst zu nehmen. Der Westen hat kein Monopol auf kritisches Denken. Die „verwestlichte Linke“ verfällt in eine Kolonialität des Wissens von links, die ebenso epistemisch rassistisch und sexistisch ist wie die verwestlichten rechten Diskurse.

Es gibt kritische Denker aus anderen Denktraditionen, die ernst genommen werden müssen, nicht wegen eines „liberalen Multikulturalismus“ oder einer partikularistischen „Identitätspo­li­tik“, sondern wegen ihrer wichtigen Beiträge zu einem besseren Verständnis der Macht- und Wissensstrukturen des Systems, in dem wir seit mehr als 500 Jahren leben. Sie zu ignorieren oder nicht ernst zu nehmen, ist ein Verlust für die Kämpfe um eine menschlichere Zukunft. Was wir vermeiden müssen, ist die Art von „positiver Universalität“ in Bezug auf Lösungen, bei der man für alle anderen definiert, was „die Lösung“ ist (Sozialismus, Kommunismus, radikale Demokratie usw.). Wir brauchen eine „negative Universalität“, um Freunde und Feinde zu identifizieren, aber wir sollten keine „positive Universalität“ in Bezug auf Lösungen haben.

Es wird so viele Lösungen geben, wie es ethisch-epistemisch-politische Projekte in der Welt gibt. Wie die Probleme des Patriarchats, des Kapitalismus, des Imperialismus und der Kolonialität zu lösen sind, sollte offen sein für die verschiedenen lokalen imperialen/kolonialen Geschichten, die verschiedenen epistemischen Perspektiven und die verschiedenen Kontexte, mit denen die Widerstandsbewegungen konfrontiert sind. Wichtig ist, dass wir alle für eine egalitärere, demokratische, transmoderne Welt jenseits von Kapitalismus, Patriarchat, Imperialismus und Kolonialismus kämpfen. „Positive Universalität“ würde bedeuten, den in diesem Artikel diskutierten problematischen westzentrischen Begriff der „Universalität“ erneut von links zu reproduzieren. Das „pluri“ im Gegensatz zum „uni“ bedeutet nicht, alles zu unterstützen, was ein subalternes/r Subjekt/Untertan von unten sagt, sondern ist ein Aufruf, kritisches dekoloniales Wissen hervorzubringen, das rigoros, umfassend, weltumspannend und nicht-provinziell ist.

 

 Literatur

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1Walter Mignolo, The Idea of Latin America, Malden/Blackwell, Oxford/Mass., 2005.

2Ebenda.

3Santiago Castro-Gómez, La poscolonialidad explicada a los niños, Editorial Universidad del Cauca, Popayán, 2005.

4Enrique Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen: ein Projekt der Transmoderne, Patmos, Düsseldorf, 1993; spanisches Original: Enrique Dussel, 1492: El encubrimiento del Otro. Hacia el origen del „mito de la Modernidad“, Facultad de Humanidades y Ciencias de la Educación, La Paz, 1992.

5Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Meiner Verlag, Hamburg, 1998.

6Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Reclam, Stuttgart, 1983.

7Emmanuel Eze, „The Color of Reason. The Idea of ‚Race‛ in Kant’s Anthropology“, in: Emmanuel Eze (Hrsg.), Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader, Oxford, 1997, S. 103-140.

8Ebenda.

9Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam, Ditzingen, 1989.

10Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1986.

11Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Meiner, Hamburg, 1988.

12Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam, Ditzingen, 1989.

13Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Meiner, Hamburg, 1988.

14Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1986. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam, Ditzingen, 1989.

15Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam, Ditzingen, 1989.

16Karl Marx, „Grundrisse der Politik der politischen Ökonomie“, in: Marx-Engels-Werkausgabe, Dietz, 42, Berlin, 1983, S. 19-875.

17Ebenda.

18Anm. d. Übers.: „In letzter Instanz“ ist eine von Engels geprägte Wendung. So schreibt Engels in einem Brief an W. Borgius am 25. Januar 1894: „Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.“ (Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, 39, Dietz, Berlin, 1968; Kursivierung durch den Übers.)

19Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

20Nelson Maldonado-Torres, „Césaire’s Gift and the Decolonial Turn“, in: Radical Philosophy Review, 9, 2006, S. 111-137.

21Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Übers. Monika Kind, Klaus Wagenbach, Berlin, 1968; französisches Original: Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, Réclame, Paris, 1950.

22Aimé Césaire, Lettre à Maurice Thorez, Présence Africaine, Paris, 1956.

23Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.

24Jürgen Habermas, Die Moderne, ein unvollendetes Projekt, Reclam, Leipzig, 1994.

25Édouard Glissant, Poetics of Relation, Übers. Betsy Wing, University of Michigan Press, Ann Arbor, 1997.

26Chandra T. Mohanty, Feminism Without Borders: Decolonizing Theory, Practicing Solidarity, Duke University Press, Durham, 2003. Asma Lamrabet, Women in the Qur’an: An Emancipatory Reading, Kube Publishing Ltd, Markfield, 2016.

27Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.

28Ernesto Laclau & Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Passagen Verlag, Wien, 2012; englisches Original: Ernesto Laclau & Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, Verso, London, 1985.

29Ernesto Laclau, Die populistische Vernunft, Passagen Verlag, Wien, 2022; englisches Original: Ernesto Laclau, On Populist Reason, Verso, London, 2005.

30EZLN, Crónicas intergalácticas: primer encuentro intercontinental por la humanidad y contra el neoliberalismo, Mexico, Chiapas, 1996.

31Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

32Wladimir Iljitsch Lenin, „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung (1902)“, in: Werke, 5, Dietz, Berlin, 2009, S. 355-549.

3 Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität

3 Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 61

Können wir eine radikale antisystemische Politik jenseits von Identitätspolitik entwickeln? Ist es möglich, einen kritischen Kosmopolitismus jenseits von Nationalismus und Kolonialismus zu artikulieren? Können wir Wissen jenseits von Dritte-Welt- und eurozentrischen Fundamentalismen produzieren? Können wir die traditionelle Dichotomie zwischen politischer Ökonomie und kulturellen Studien überwinden? Können wir ökonomischen Reduktionismus und Kulturalismus hinter uns lassen? Wie können wir die eurozentrische Moderne überwinden, ohne das Beste der Moderne zu verwerfen, wie es viele Dritte-Welt-Fundamentalisten tun?

In diesem Artikel lege ich dar, dass eine epistemische Perspektive von der subalternen Seite der kolonialen Differenz aus viel zu dieser Debatte beizutragen hat. Sie kann zu einer kritischen Perspektive jenseits der umrissenen Dichotomien und zu einer Neudefinition des Kapitalismus als Weltsystem beitragen.

Im Oktober 1998 fand an der Duke University eine Konferenz/​ein Dialog zwischen der South Asian Subaltern Studies Group (Gruppe für südasiatische subalterne Studien) und der Latin American Subaltern Studies Group (Gruppe für lateinamerikanische subalterne Studien) statt. Der auf dieser Konferenz begonnene Dialog führte schließlich zur Veröffentlichung mehrerer Ausgaben der Zeitschrift NEPANTLA. Diese Konferenz war jedoch das letzte Treffen der Latin American Subaltern Studies Group, bevor sie sich aufspaltete. Von den vielen Gründen und Debatten, die zu dieser Spaltung führten, möchte ich zwei hervorheben.

Die Mitglieder der Latin American Subaltern Studies Group waren in erster Linie Gelehrte der Lateinamerikanistik in den USA. Trotz ihres Versuchs, ein radikales und alternatives Wissen zu schaffen, reproduzierten sie das epistemische Schema der Area Studies (Regionalstudien) in den Vereinigten Staaten. Mit wenigen Ausnahmen produzierten sie eher Studien über die Subalternität als Studien mit und aus einer subalternen Perspektive. Wie die imperiale Epistemologie der Area Studies war auch die Theorie weiterhin im Norden angesiedelt, während die zu untersuchenden Subjekte/Untertanen im Süden angesiedelt waren. Diese koloniale Epistemologie war ausschlaggebend für meine Unzufriedenheit mit dem Projekt. Als Latino in den Vereinigten Staaten war ich mit den epistemischen Konsequenzen des von dieser lateinamerikanistischen Gruppe produzierten Wissens unzufrieden. Sie unterschätzten in ihrer Arbeit ethnische/rassialistische Perspektiven, die aus der Region kommen, während sie vor allem westliche Denker privilegierten.

Dies hängt mit meinem zweiten Punkt zusammen: Sie ließen den so genannten „vier Pferden der Apokalypse“ (four horses of the apocalypse)1, das heißt Foucault, Derrida, Gramsci und Guha, das epistemische Privileg zuteil werden. Von den vier wichtigsten Denkern, die sie privilegierten, sind drei eurozentrische Denker, wobei zwei von letzteren (Derrida und Foucault) zum poststrukturalistischen/postmodernen westlichen Kanon gehören. Nur einer, Rinajit Guha, ist ein Denker aus dem Süden. Indem sie westliche Denker privilegierten und somit zu ihrem zentralen Theorieapparat erhoben, haben sie ihr Ziel verraten, subalterne Studien zu entwickeln.

Zu den vielen Gründen für die Spaltung der South Asian Subaltern Studies Group gehört der Konflikt zwischen denjenigen, die Subalternität verstehen als postmoderne Kritik (die eine eurozentrische Kritik des Eurozentrismus darstellt), und denjenigen, die Subalternität verstehen als dekoloniale Kritik (die eine Kritik des Eurozentrismus von subalternisiertem und zum Schweigen gebrachtem Wissen aus darstellt).2

Für diejenigen von uns, die sich auf die Seite der dekolonialen Kritik stellten, machte der Dialog mit der Latin American Subaltern Studies Group die Notwendigkeit deutlich, den westlichen Kanon und die westliche Epistemologie epistemologisch zu transzendieren, das heißt zu dekolonisieren. Das Hauptprojekt der South Asian Subaltern Studies Group ist eine Kritik an der westlich-europäischen kolonialen Geschichtsschreibung über Indien und an der indisch-nationalistischen eurozentrischen Geschichtsschreibung von Indien. Durch die Verwendung einer westlichen Epistemologie und die Privilegierung von Gramsci und Foucault wird die Radikalität ihrer Kritik am Eurozentrismus jedoch eingeschränkt und begrenzt. Obwohl sie unterschiedliche epistemische Projekte vertraten, überschnitt sich das Privileg der südasiatischen subalternen Schule mit dem westlichen epistemischen Kanon mit dem Teil der Latin American Subaltern Studies Group, der sich auf die Seite der Postmoderne stellte.

Mit all ihren Grenzen stellt die South Asian Subaltern Studies Group jedoch einen wichtigen Beitrag zur Kritik des Eurozentrismus dar. Sie ist Teil einer intellektuellen Bewegung, die als postkoloniale Kritik (eine Kritik der Moderne/Modernität aus dem globalen Süden) bekannt ist, im Gegensatz zur postmodernen Kritik der Latin American Subaltern Studies Group (eine Kritik der Moderne/Modernität aus dem globalen Norden).3 Diese Debatten machten uns (denjenigen, die sich auf die Seite der oben beschriebenen dekolonialen Kritik stellten) die Notwendigkeit deutlich, nicht nur die Subaltern Studies (Subalterne Studien), sondern auch die Postcolonial Studies (Postkoloniale Studien) zu dekolonisieren.4

Dabei handelt es sich nicht um eine essentialistische, fundamentalistische, antieuropäische Kritik. Es ist eine Perspektive, die sowohl eurozentrischen als auch Dritte-Welt-Fundamentalismen, Kolonialismus und Nationalismus gegenüber kritisch ist. Grenzdenken (border thinking), eine der epistemischen Perspektiven, die in diesem Artikel erörtert werden, ist eben gerade eine kritische Antwort auf sowohl hegemoniale als auch marginale Fundamentalismen. Was alle Fundamentalismen (einschließlich des eurozentrischen) gemeinsam haben, ist die Prämisse, dass es nur eine einzige epistemische Tradition gibt, von der aus Wahrheit und Universalität zu erreichen ist.

Indes sind hier meine Hauptpunkte die folgenden drei:

  1. dass eine dekoloniale epistemische Perspektive einen breiteren Kanon des Denkens erfordert als nur den westlichen Kanon (einschließlich des linken westlichen Kanons);
  2. dass eine wahrhaft universale dekoloniale Perspektive nicht auf einem abstrakten Universalen basieren kann (einem Partikularen, das sich selbst zum universalen globalen Entwurf erhebt), sondern das Ergebnis des kritischen Dialogs zwischen verschiedenen kritischen epistemischen/ethischen/politischen Projekten hin zu einer pluriversalen (pluriversal) im Gegensatz zu einer universalen Welt sein muss;
  3. dass die Dekolonisierung des Wissens erfordern würde, die epistemischen Perspektiven/Kosmologien/Einsichten kritischer Denker aus dem globalen Süden, die von und mit subalternisierten rassialistischen/ethnischen/sexuellen Orten und Körpern denken, ernst zu nehmen. Postmodernismus und Poststrukturalismus sind als epistemologische Projekte im westlichen Kanon gefangen, der in seinen Denk- und Praxisbereichen eine besondere Form der Kolonialität von Macht/Wissen reproduziert.

Was ich über die Latin American Subaltern Studies Group gesagt habe, gilt jedoch auch für die Paradigmen der politischen Ökonomie. In diesem Artikel argumentiere ich dafür, dass eine epistemische Perspektive von rassialistischen/ethnischen subalternen Orten viel zu einer radikalen dekolonialen kritischen Theorie beitragen kann, die über die Art und Weise hinausgeht, wie traditionelle Paradigmen der politischen Ökonomie den Kapitalismus als ein globales oder Weltsystem konzeptualisieren. Die Idee dabei ist, sowohl politisch-ökonomische Paradigmen als auch die Weltsystemanalyse zu dekolonisieren und eine alternative dekoloniale Konzeptualisierung des Weltsystems vorzuschlagen.

Der erste Teil 3.1 ist eine epistemische Diskussion über die Implikationen der epistemologischen Kritik feministischer und subalternisierter rassialistischer/ethnischer Intellektueller für die westliche Epistemologie.

Der zweite Teil 3.2 befasst sich mit den Implikationen dieser Kritiken im Hinblick auf die Art und Weise, wie wir das globale System oder Weltsystem konzeptualisieren.

Der dritte Teil 3.3 ist eine Diskussion über die heutige globale Kolonialität.

Der vierte Teil 3.4 ist eine Kritik sowohl an der Weltsystemanalyse als auch an den postkolonialen/kulturellen Studien, unter der Verwendung der Kolonialität der Macht als Antwort auf das Dilemma der Wahl zwischen Kultur und Ökonomie.

Schließlich ist der fünfte, sechste, siebte und letzte Teil 3.5-3.8 eine Erörterung von dekolonialem Denken, Transmodernität und Sozialisierung von Macht (socialization of power) als dekoloniale Alternativen zum gegenwärtigen Weltsystem.

3.1 Epistemologische Kritik

Der erste Punkt, den es zu diskutieren gilt, ist der Beitrag rassialistischer/ethnischer und feministischer subalterner Perspektiven zu epistemologischen Fragen. Die hegemonialen eurozentrischen Paradigmen, die die westliche Philosophie und Wissenschaft im „modernen/kolonialen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystem“5 in den letzten 500 Jahren geprägt haben, gehen von einem universalistischen, neutralen, objektiven Gesichtspunkt aus.

Chicana und schwarze feministische Wissenschaftlerinnen6 sowie Dritte-Welt-Gelehrte innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten haben uns daran erinnert,7 dass wir immer von einem bestimmten Ort in den Machtstrukturen aus sprechen. Niemand entkommt den klassistischen, sexuellen, geschlechtlichen, spirituellen, sprachlichen, geografischen und rassialistischen Hierarchien des „modernen/kolonialen kapitalistischen/​patriarchalischen Weltsystems“. Wie die feministische Wissenschaftlerin Donna Haraway8 feststellt, ist unser Wissen immer situiert. Schwarze feministische Wissenschaftlerinnen nannten diese Perspektive „afrozentrische Epistemologie“9 (was nicht gleichbedeutend ist mit der afrozentrischen Perspektive), während der lateinamerikanische Befreiungsphilosoph Enrique Dussel sie „Geopolitik des Wissens“10 nannte. Und ich werde in Anlehnung an Fanon11 und Anzaldúa12 den Begriff „Körperpolitik des Wissens“ verwenden.

Dies ist nicht nur eine Frage der sozialen Werte in der Wissensproduktion oder des Umstands, dass unser Wissen immer partiell ist. Hier geht es vor allem um den Ort der Äußerung (locus of enunciation), das heißt um den geo- und körperpolitischen Ort des Subjekts, das spricht. In der westlichen Philosophie und Wissenschaft ist das Subjekt, das spricht, immer versteckt, verborgen, von der Analyse ausgenommen. Die „Ego-Politik des Wissens“ der westlichen Philosophie hat immer den Mythos eines nicht-situierten „Egos“ privilegiert. Der ethnische/rassialistische/geschlechtliche/sexuelle epistemische Ort und das Subjekt, das spricht, sind immer entkoppelt. Durch die Entkopplung des ethnischen/rassialistischen/geschlechtlichen/sexuellen epistemischen Orts vom Subjekt, das spricht, sind westliche Philosophie und Wissenschaften in der Lage, einen Mythos über ein wahrhaft universales Wissen (Truthful universal knowledge) zu schaffen, der verschleiert, das heißt verbirgt, wer spricht, wie auch den geo- und körperpolitischen epistemischen Ort in den Strukturen der kolonialen Macht/des kolonialen Wissens, aus denen das Subjekt spricht.

Dabei ist es wichtig, den „epistemischen Ort“ von dem „sozialen Ort“ zu unterscheiden. Die Tatsache, dass jemand auf der unterdrückten Seite der Machtverhältnisse sozial verortet ist, bedeutet nicht automatisch, dass er/sie von einem subalternen epistemischen Ort aus epistemisch denkt. Gerade der Erfolg des modernen/kolonialen Weltsystems besteht darin, Subjekte/​Untertanen, die auf der unterdrückten Seite der kolonialen Differenz sozial verortet sind, dazu zu bringen, epistemisch so zu denken wie die auf den herrschenden Positionen. Subalterne epistemische Perspektiven sind Wissen, das von unten kommt und eine kritische Perspektive des hegemonialen Wissens in den beteiligten Machtverhältnissen erzeugt. Ich fordere keinen epistemischen Populismus, bei dem von unten produziertes Wissen automatisch ein epistemisches subalternes Wissen ist. Ich behaupte hingegen, dass alles Wissen epistemisch auf der herrschenden oder subalternen Seite der Machtverhältnisse verortet ist und dass dies mit der Geo- und Körperpolitik des Wissens zusammenhängt. Die entkörperlichte und unverortete Neutralität und Objektivität der Ego-Politik des Wissens ist ein westlicher Mythos.

René Descartes, der Begründer der modernen westlichen Philosophie, leitet eine neue Phase in der Geschichte des westlichen Denkens ein. Er ersetzt Gott als Grundlage des Wissens in der Theo-Politik des Wissens des europäischen Mittelalters durch den (westlichen) Mann als Grundlage des Wissens in der europäischen Moderne. Alle Attribute Gottes werden nun auf den (westlichen) Mann übertragen. Die universale Wahrheit jenseits von Zeit und Raum privilegiert den Zugang zu den Gesetzen des Universums. Und die Fähigkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien zu produzieren, wird nun in den Geist des westlichen Mannes verlegt. Das cartesianische cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) ist die Grundlage der modernen westlichen Wissenschaften.

Indem er einen Dualismus zwischen Geist und Körper und zwischen Geist und Natur herstellte, vermochte Descartes, ein nicht-situiertes, universales, dem Blick mit dem Auge Gottes entspringendes Wissen zu beanspruchen. Dies ist, was der kolumbianische Philosoph Santiago Castro-Gómez die „Nullpunkt“-Perspektive der eurozentrischen Philosophien nennt.13 Der „Nullpunkt“ ist der Gesichtspunkt, der sich selbst versteckt und verschleiert, als sei er jenseits eines bestimmten Gesichtspunktes, das heißt der Gesichtspunkt, der sich selbst als ohne einen Gesichtspunkt darstellt. Es ist dieser „Blick mit dem Auge Gottes“ (god-eye view), der seine örtliche (local) und bestimmte (particular) Perspektive stets unter einem abstrakten Universalismus verbirgt.

Die westliche Philosophie privilegiert die „Ego-Politik des Wissens“ gegenüber der „Geopolitik des Wissens“ und der „Körper-Politik des Wissens“. Historisch gesehen hat dies dem westlichen Mann (der geschlechtsspezifische Begriff wird hier absichtlich verwendet) erlaubt, sein Wissen als das einzige darzustellen, das vermag, ein universales Bewusstsein zu erreichen und nicht-westliches Wissen als partikularistisch und somit unfähig, Universalität zu erreichen, abzutun.

Diese epistemische Strategie war für die westlichen globalen Entwürfe von entscheidender Bedeutung. Indem sie den Ort des Subjekts der Äußerung verbarg, konnte die europäische/euroamerikanische koloniale Expansion und Herrschaft eine Hierarchie zwischen superiorem und inferiorem Wissen und damit von superioren und inferioren Menschen auf der ganzen Welt ausbilden.

Von der Charakterisierung von „Völkern ohne Schrift“ im 16. Jahrhundert gingen wir über zur Charakterisierung von „Völkern ohne Geschichte“ im 18. und 19. und „Völkern ohne Entwicklung“ im 20. Jahrhundert, und in jüngster Zeit bis hin zu der von „Völkern ohne Demokratie“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Von den „Rechten der Völker“ im 16. Jahrhundert (Debatte zwischen Sepúlveda und Las Casas an der Universität von Salamanca in der Mitte des 16. Jahrhunderts) gingen wir über zu den „Rechten des Menschen“ (Philosophen der Aufklärung) bis hin zu den „Menschenrechten“ zum Ende des 20. Jahrhunderts. Sie alle sind Teil globaler Entwürfe, die auf die gleichzeitige Produktion und Reproduktion einer internationalen Arbeitsteilung von Zentrum/Peripherie abzielen, die sich mit der globalen rassialistischen/ethnischen Hierarchie zwischen Europäern/Nichteuropäern überschneidet.

Wie Enrique Dussel14 uns jedoch in Erinnerung gerufen hat, gingen dem cartesianischen cogito ergo sum 150 Jahre (seit den Anfängen der europäischen kolonialen Expansion im Jahr 1492) des europäischen ego conquiro (Ich erobere, also bin ich) voraus. Die sozialen, ökonomischen, politischen und historischen Bedingungen der Möglichkeit für ein Subjekt, sich den Hochmut anzumaßen, gottgleich zu werden und sich selbst zur Grundlage allen wahrhaften Wissens zu machen, war das imperiale Sein/Wesen (Imperial Being), das heißt die Subjektivität derjenigen, die im Zentrum der Welt stehen, weil sie sie bereits erobert haben. Was sind die dekolonialen Implikationen dieser epistemologischen Kritik für unsere Wissensproduktion und für unser Konzept des Weltsystems?

3.2 Kolonialität der Macht als Machtmatrix der modernen/kolonialen Welt

Globalisierungsstudien, Paradigmen der politischen Ökonomie und Weltsystemanalysen haben mit wenigen Ausnahmen nicht die epistemologischen und theoretischen Implikationen der epistemischen Kritik abgeleitet, die von subalternen Orten in der kolonialen Kluft ausgeht und in der akademischen Welt durch Ethnologie und Frauenforschung zum Ausdruck kommt. Sie produzieren nach wie vor Wissen aus dem „Nullpunkt“-Blick mit dem Auge Gottes des westlichen Mannes. Dies hat zu erheblichen Problemen in der Art und Weise geführt, wie wir den globalen Kapitalismus und das „Weltsystem“ konzeptualisieren. Diese Konzepte bedürfen einer Dekolonisierung, und dies kann nur mit einer dekolonialen Epistemologie erreicht werden, die eine dekoloniale Geo- und Körperpolitik des Wissens als Ausgangspunkt für eine radikale Kritik unmissverständlich voraussetzt. Die folgenden Beispiele können diesen Punkt verdeutlichen.

Wenn wir die europäische koloniale Expansion von einem eurozentrischen Gesichtspunkt aus analysieren, ergibt sich ein Bild, in dem die Ursprünge des so genannten kapitalistischen Weltsystems in erster Linie vom interimperialen Wettbewerb zwischen den europäischen Imperien hervorgebracht wurden. Das Hauptmotiv für diese Expansion bestand darin, kürzere Wege nach Osten ausfindig zu machen, was zufällig zur sogenannten Entdeckung und schließlich zur spanischen und portugiesischen Kolonialisierung der Amerikas führte. Unter diesem Gesichtspunkt wäre das kapitalistische Weltsystem in erster Linie ein ökonomisches System, das das Verhalten der wichtigsten gesellschaftlichen Akteure durch die ökonomische Logik der Profitmacherei bestimmt, wie sie sich in der Gewinnung von Mehrwert und der unaufhörlichen Kapitalakkumulation im Weltmaßstab manifestiert. Darüber hinaus privilegiert das in dieser Perspektive implizierte Konzept des Kapitalismus die ökonomischen Verhältnisse gegenüber anderen sozialen Verhältnissen. Dementsprechend bringt die Transformation der Produktionsverhältnisse eine neue, für den Kapitalismus typische Klassenstruktur hervor, die sich von anderen sozialen Systemen und anderen Formen der Herrschaft unterscheidet. Die Klassenanalyse und der ökonomische strukturelle Wandel werden gegenüber anderen Machtverhältnissen privilegiert.

Ohne die Bedeutung der endlosen Kapitalakkumulation im Weltmaßstab und die Existenz einer bestimmten Klassenstruktur im globalen Kapitalismus zu leugnen, stelle ich die folgende epistemische Frage: Wie würde das Weltsystem aussehen, wenn wir den Ort der Äußerung vom europäischen Mann zu einer indigenen Frau in den Amerikas verlegen würden; zu, sagen wir, Rigoberta Menchú in Guatemala oder Domitila Barrios de Chungara in Bolivien? Ich gebe nicht vor, für diese indigenen Frauen zu sprechen oder ihre Perspektive zu vertreten. Was ich versuche, ist, den Ort zu verlagern, von dem aus diese Paradigmen gedacht werden.

Die erste Konsequenz der Verlagerung unserer Geopolitik des Wissens besteht darin, dass das, wozu es in den Amerikas im späten 15. Jahrhundert kam, nicht nur ein ökonomisches System von Kapital und Arbeit zur Warenproduktion war, die für einen Profit auf dem Weltmarkt verkauft werden sollten. Dies war ein entscheidender Teil, aber nicht das einzige Element des verflochtenen „Pakets“. Was in den Amerikas ankam, war eine breitere und umfassendere verflochtene Machtstruktur, der eine ökonomisch-reduktionistische Perspektive des Weltsystems keine Erklärung zu bieten vermag. Vom strukturellen Ort einer indigenen Frau in den Amerikas aus betrachtet war das, was ankam, ein komplexeres Weltsystem als das, was die Paradigmen der politischen Ökonomie und die Weltsystemanalyse darstellen. Ein europäischer/kapitalistischer/militärischer/christlicher/​patriarchalischer/weißer/heterosexueller Mann kam in den Amerikas an und errichtete zugleich in Raum und Zeit mehrere miteinander verflochtene globale Hierarchien, die ich der Klarheit halber im Folgenden aufzählen werde, als ob sie voneinander getrennt wären:

  1. eine bestimmte globale Klassenbildung, in der eine Vielfalt von Arbeitsformen (Sklaverei, Halb-Leibeigenschaft (semi-serfdom), Lohnarbeit, einfache Warenproduktion usw.) nebeneinander bestehen und vom Kapital als Quelle der Mehrwertproduktion durch den profitbringenden Warenverkauf auf dem Weltmarkt organisiert werden;
  2. eine internationale Arbeitsteilung von Zentrum und Peripherie, bei der das Kapital die Arbeit in der Peripherie um erzwungene und autoritäre Formen herum organisierte;15
  3. ein zwischenstaatliches System politisch-militärischer Organisationen, das von europäischen Männern kontrolliert wird und in Kolonialverwaltungen institutionalisiert ist;16
  4. eine globale rassialistische/ethnische Hierarchie, die Europäer gegenüber Nichteuropäern privilegiert;17
  5. eine globale Geschlechterhierarchie, die Männer gegenüber Frauen und das europäische jüdisch-christliche Patriarchat gegenüber anderen Formen von Geschlechterbeziehungen privilegiert;18
  6. eine sexuelle Hierarchie, die Heterosexuelle gegenüber Homosexuellen und Lesben privilegiert (es ist wichtig, daran zu erinnern, dass die meisten indigenen Völker in den Amerikas Sexualität unter Männern nicht als pathologisches Verhalten ansahen und keine homophobe Ideologie hatten);
  7. eine durch die Globalisierung der christlichen (katholischen und später protestantischen) Kirche institutionalisierte spirituelle Hierarchie, die Christen gegenüber nicht-christlichen/nicht-westlichen Spiritualitäten privilegiert;
  8. eine epistemische Hierarchie, die westliches Wissen und die westliche Kosmologie gegenüber nicht-westlichem Wissen und nicht-westlichen Kosmologien privilegiert und die im globalen Universitätssystem institutionalisiert ist;19
  9. eine sprachliche Hierarchie zwischen europäischen und nichteuropäischen Sprachen, die die Kommunikation und die Wissens-/Theorieproduktion in den ersteren privilegiert und die letzteren als bloße Produzenten von Volkstum oder Kultur, nicht aber von Wissen/Theorie subalternisiert;20
  10. eine in Museen, Kunstgalerien und globalen Kunstmärkten institutionalisierte ästhetische Hierarchie von hoher Kunst versus naiver oder primitiver Kunst, in der der Westen als Produzent superiorer hoher Kunst und der Nicht-Westen als Produzent inferiorer Ausdrucksformen der Kunst angesehen wird;
  11. eine pädagogische Hierarchie, in der die cartesianischen westlichen Formen der Pädagogik gegenüber nicht-westlichen Konzepten und Praktiken der Pädagogik als superior angesehen werden;
  12. eine Medien-/Informationshierarchie, in der der Westen die Kontrolle über die Mittel der globalen Medienproduktion und Informationstechnologie hat, während der Nicht-Westen nicht über die Mittel verfügt, seine Standpunkte in die globalen Mediennetzwerke einzubringen;
  13. eine Altershierarchie, in der die westliche Auffassung vom produktiven Leben (Alter zwischen 15 und 65 Jahren), die die Menschen über 65 Jahren entbehrlich macht, gegenüber nicht-westlichen Formen der Alters-klassifizierung als superior angesehen wird, bei denen gilt: je älter die Person, desto mehr Autorität und Respekt erhält sie von der Gemeinschaft;
  14. eine ökologische Hierarchie, in der die westlichen Auffassungen von der „Natur“ (als Objekt, das ein Mittel zum Zweck ist) mit ihrer Zerstörung von (menschlichem und nicht-menschlichem) Leben gegenüber nicht-westlichen Auffassungen von der „Ökologie“ wie Pachamama, Tauhīd oder Tao (Ökologie oder Kosmos als Subjekt, das in sich selbst einem Zweck verschrieben ist), die in ihrer Rationalität die Reproduktion des Lebens berücksichtigen, privilegiert und als superior angesehen werden;
  15. eine räumliche Hierarchie, die das Städtische gegenüber dem Ländlichen privilegiert, mit der daraus folgenden Zerstörung von ländlichen Gemeinschaften, Bauern und landwirtschaftlicher Produktion im Weltmaßstab.

Es ist kein Zufall, dass die Konzeptualisierung des Weltsystems aus dekolonialen Perspektiven des Südens seine traditionellen Konzeptualisierungen, die von Denkern aus dem Norden stammen, in Frage stellt. Dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano21 folgend könnten wir das gegenwärtige Weltsystem als eine historisch-strukturelle heterogene Totalität mit einer spezifischen Machtmatrix konzeptualisieren, die er als „koloniale Machtmatrix“ (patrón de poder colonial) bezeichnet. Diese Matrix wirkt sich auf alle Dimensionen der sozialen Existenz wie Sexualität, Autorität, Subjektivität und Arbeit aus.22 Das sechzehnte Jahrhundert ist der Beginn einer neuen globalen kolonialen Machtmatrix, die im späten neunzehnten Jahrhundert den gesamten Planeten überziehen sollte.

Einen Schritt weiter als Quijano gehend konzeptualisiere ich die Kolonialität der Macht als eine Verflechtung oder, um das Konzept der amerikanischen Dritte-Welt-Feministinnen zu verwenden, als Intersektionalität23 mannigfaltiger und heterogener globaler Hierarchien („Heterarchien“) sexueller, politischer, epistemischer, ökonomischer, spiritueller, sprachlicher und rassialistischer Formen der Unterdrückung und Ausbeutung, wobei die rassialistische/ethnische Hierarchie der europäischen/nichteuropäischen Kluft alle anderen globalen Machtstrukturen transversal rekonfiguriert. Das Neue an der „Kolonialität der Macht“-Perspektive ist, wie die Idee von Rasse und Rassismus zum Organisationsprinzip wird, das alle mannigfaltigen Hierarchien des Weltsystems strukturiert.24

Zum Beispiel werden die verschiedenen Formen der Arbeit, die sich in der kapitalistischen Akkumulation im Weltmaßstab artikulieren, entsprechend dieser rassialistischen Hierarchie zugewiesen; Zwangsarbeit (oder Billigarbeit) wird von nichteuropäischen Menschen in der Peripherie und „freie Lohnarbeit“ im Zentrum verrichtet. Die globale Geschlechterhierarchie wird auch von der Rasse beeinflusst: Im Gegensatz zu vor-europäischen Patriarchaten, in denen alle Frauen allen Männern gegenüber inferior waren, haben in der neuen kolonialen Machtmatrix einige Frauen (europäischer Herkunft) einen höheren Status und besseren Zugang zu Ressourcen als einige Männer (nichteuropäischer Herkunft).

Die Idee der Rasse organisiert die Weltbevölkerung in einer hierarchischen Ordnung von superioren und inferioren Menschen, die zu einem Organisationsprinzip der internationalen Arbeitsteilung und des globalen patriarchalischen Systems wird. Im Gegensatz zur eurozentrischen Perspektive sind Rasse, Geschlecht, Sexualität, Spiritualität und Epistemologie keine additiven Elemente zu den ökonomischen und politischen Strukturen des kapitalistischen Weltsystems, sondern ein integraler, verflochtener und konstitutiver Teil des umfassenden verflochtenen „Pakets“, das als europäisches modernes/koloniales kapitalistisches/patriarchalisches Weltsystem bezeichnet wird.25

Das europäische jüdisch-christliche Patriarchat und die europäischen Vorstellungen von Sexualität, Epistemologie und Spiritualität wurden globalisiert und durch die koloniale Expansion als hegemoniale Kriterien in den Rest der Welt exportiert, um die Bevölkerung des Rests der Welt in einer Hierarchie zwischen superioren und inferioren Rassen zu rassialisieren, zu klassifizieren und zu pathologisieren.

Diese Konzeptualisierung hat enorme Auswirkungen, die ich hier nur kurz anführen kann:

  1. Die alte eurozentrische Vorstellung, dass sich Gesellschaften auf der Ebene des Nationalstaates im Sinne einer linearen Entwicklung der Produktionsweisen von vorkapitalistischen hin zu kapitalistischen entwickeln, wird überwunden. Wir sind alle in ein kapitalistisches Weltsystem eingebunden, das unterschiedliche Formen der Arbeit gemäß der rassialistischen Klassifizierung der Weltbevölkerung artikuliert.26
  2. Das alte marxistische Paradigma von Basis und Überbau wird durch eine historisch-heterogene Struktur ersetzt,27 oder durch eine „Heterarchie“,28 das heißt durch eine verflochtene Artikulation mannigfaltiger Hierarchien, in der Subjektivität und das gesellschaftliche Bewusstsein nicht abgeleitet, sondern konstitutiv für die Strukturen des Weltsystems sind.29 In dieser Konzeptualisierung sind Rasse und Rassismus nicht Bestandteil des Überbaus oder Werkzeug im Dienst einer übergreifenden Logik der kapitalistischen Akkumulation; sie sind konstitutiv für die kapitalistische Akkumulation im Weltmaßstab. Die „koloniale Machtmatrix“ ist ein Organisationsprinzip, das Ausbeutung und Unterdrückung in mannigfaltigen Bereichen des sozialen Lebens beinhaltet, von ökonomischen, sexuellen oder geschlechtlichen Verhältnissen bis hin zu politischen Organisationen, Wissensstrukturen, staatlichen Institutionen und Haushalten.30
  3. Die alte Trennung zwischen Kultur und politischer Ökonomie, wie sie in postkolonialen Studien und Herangehensweisen der politischen Ökonomie zum Ausdruck kommt, wird überwunden.31 Postkoloniale Studien konzeptualisieren das kapitalistische Weltsystem als primär durch die Kultur konstituiert, während die politische Ökonomie die primäre Bestimmung auf die ökonomischen Verhältnisse legt. Im „Kolonialität der Macht“-Ansatz ist die Frage danach, was zuerst kommt – „Kultur oder Ökonomie“ – ein falsches Dilemma, ein Henne-Ei-Dilemma, das die Komplexität des kapitalistischen Weltsystems verschleiert.32
  4. Kolonialität ist nicht gleichbedeutend mit Kolonialismus. Sie ist von der Moderne/Modernität weder abgeleitet noch geht sie ihr voraus. Kolonialität und Modernität sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. So wie die europäische industrielle Revolution auf den Schultern von Zwangsarbeitern in der Peripherie vollzogen wurde, haben sich die neuen Identitäten, Rechte, Gesetze und Institutionen der Moderne wie Nationalstaaten, Staatsbürgerschaft (citizenship) und Demokratie in einem Prozess der kolonialen Interaktion mit und der Unterdrückung/Ausbeutung von nicht-westlichen Völkern herausgebildet.
  5. Das gegenwärtige Weltsystem als „kapitalistisch“ zu bezeichnen, ist, gelinde gesagt, irreführend. Angesichts des hegemonialen eurozentrischen „Commonsense“ denken die Menschen, sobald wir das Wort „Kapitalismus“ verwenden, sofort, dass wir über die „Ökonomie“ sprechen. Der „Kapitalismus“ ist jedoch nur eine der mannigfaltigen verflochtenen Konstellationen der kolonialen Machtmatrix dessen, was ich, auf die Gefahr hin, albern zu klingen, als „kapitalistisches/patriarchalisches west-/christozentrisches modernes/koloniales Weltsystem“ bezeichnet habe. Der Kapitalismus ist eine wichtige Machtkonstellation, aber nicht die einzige. Angesichts seiner Verflechtung mit anderen Machtverhältnissen würde die Zerstörung der kapitalistischen Aspekte des Weltsystems nicht ausreichen, um das gegenwärtige Weltsystem zu zerstören. Um dieses Weltsystem zu transformieren, ist es entscheidend, die „koloniale Machtmatrix“ genannte historisch-strukturelle heterogene Totalität des „Weltsystems“ mit ihren mannigfaltigen Formen von Machthierarchien zu zerstören. Oben habe ich insgesamt fünfzehn globale Machthierarchien kurz dargestellt, aber ich bin mir sicher, dass es noch mehr gibt, die meiner Konzeptualisierung entgangen sind.
  6. Um dieses System zu überwinden, kann der Kampf daher nicht nur antikapitalistisch, sondern muss eine antisystemische dekoloniale Befreiung sein. Antisystemische Dekolonisierung und Befreiung können nicht nur auf eine Dimension des sozialen Lebens wie das ökonomische System (Kapitalismus) reduziert werden, wie es bei der marxistischen Linken des 20. Jahrhunderts der Fall war. Sie erfordert eine umfassendere Transformation der sexuellen, geschlechtlichen, spirituellen, epistemischen, ökonomischen, politischen, sprachlichen, ästhetischen, pädagogischen und rassialistischen Hierarchien des „modernen/kolonialen west-/christozentrischen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystems“. Die „Kolonialität der Macht“-Perspektive fordert uns heraus, über sozialen Wandel und soziale Transformation auf eine nicht-reduktionistische Weise nachzudenken.
  7. Die komplexe Vielzahl von Machthierarchien auf globaler Ebene im gegenwärtigen Weltsystem, in dem wir leben, bildet nicht nur ein soziales oder ökonomisches System, sondern eine Zivilisation, die die Welt erobert hat und versucht, den restlichen Völkern der Welt ihre Weisen des Denkens, Handelns und Lebens kolonial aufzuzwingen. Antisystemische dekoloniale Kämpfe gegen die fünfzehn Machthierarchien des Weltsystems sind gleichzeitig ein zivilisatorischer Kampf für einen neuen Humanismus33 und eine neue Zivilisation (indigene Konzeptionen der Transformation in verschiedenen Teilen der Welt).

3.3 Vom Globalen Kolonialismus zur Globalen Kolonialität

Wir können über die Dekolonisierung nicht im Sinne einer Eroberung der Macht in den rechtlich-politischen Grenzen eines Staates denken, das heißt durch die Erlangung der Kontrolle über einen einzelnen Nationalstaat.34 Die alten nationalen Befreiungs- und sozialistischen Strategien der Machtübernahme auf nationalstaatlicher Ebene reichen nicht aus, denn die globale Kolonialität lässt sich nicht auf das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein einer Kolonialverwaltung35 oder auf die politischen/ökonomischen Machtstrukturen reduzieren. Einer der mächtigsten Mythen des zwanzigsten Jahrhunderts war die Vorstellung, dass die Abschaffung der Kolonialverwaltungen einer Dekolonisierung der Welt gleichkommt. Dies führte zu dem Mythos einer „postkolonialen“ Welt.

Die heterogenen und mannigfaltigen globalen Strukturen, die über einen Zeitraum von 450 Jahren geschaffen wurden, sind mit der rechtlich-politischen Dekolonisation der Peripherie in den letzten 50 Jahren nicht verschwunden. Wir leben weiterhin unter derselben „kolonialen Machtmatrix“. Mit der rechtlich-politischen Dekolonisation sind wir von einer Periode des „globalen Kolonialismus“ zur gegenwärtigen Periode der „globalen Kolonialität“ übergegangen. Obwohl die „Kolonialverwaltungen“ fast vollständig abgeschafft wurden und der größte Teil der Peripherie politisch in unabhängigen Staaten organisiert ist, leben nichteuropäische Völker immer noch unter grober europäischer/euroamerikanischer Ausbeutung und Unterdrückung. Die alten kolonialen Hierarchien zwischen Europäern und Nichteuropäern bleiben bestehen und sind mit der „internationalen Arbeitsteilung“ und der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab verflochten.36

Hierin liegt die Bedeutung der Unterscheidung zwischen „Kolonialismus“ und „Kolonialität“. Kolonialität ermöglicht es uns, die Kontinuität kolonialer Formen der Unterdrückung nach dem Ende der Kolonialverwaltungen zu verstehen, die durch koloniale Kulturen und Strukturen im modernen/kolonialen kapitalistischen Weltsystem hervorgebracht wurden. „Kolonialität der Macht“ bezieht sich auf einen bedeutenden Strukturierungsprozess im modernen/kolonialen Weltsystem, der periphere Orte in der internationalen Arbeitsteilung mit der globalen rassialistischen/ethnischen Hierarchie und der Eingliederung von Migranten aus der Dritten Welt in die rassialistische/ethnische Hierarchie der metropolitanen globalen Städte verbindet.

Periphere Nationalstaaten und nichteuropäische Völker leben heute unter dem Regime der „globalen Kolonialität“, das von den USA mittels des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank (WB), des Pentagons und der NATO aufgezwungen wird. Periphere Zonen befinden sich weiterhin in einer kolonialen Situation, auch wenn sie nicht mehr unter einer Kolonialverwaltung stehen.

„Kolonial“ bezieht sich nicht nur auf den „klassischen Kolonialismus“ oder den „internen Kolonialismus“ und kann auch nicht auf das Vorhandensein einer „Kolonialverwaltung“ reduziert werden. Quijano unterscheidet zwischen Kolonialismus und Kolonialität. Ich verwende das Wort „Kolonialismus“, um auf „koloniale Situationen“ Bezug zu nehmen, die durch das Vorhandensein einer Kolonialverwaltung erzwungen wurden, wie zum Beispiel in der Periode des klassischen Kolonialismus. Und ich verwende in Anlehnung an Quijano37 „Kolonialität“, um von „kolonialen Situationen“ in der gegenwärtigen Periode zu sprechen, in der Kolonialverwaltungen im kapitalistischen Weltsystem nahezu abgeschafft wurden. Mit „kolonialen Situationen“ meine ich die kulturelle, politische, sexuelle und ökonomische Unterdrückung/Ausbeutung untergeordneter rassialisierter/​ethnischer Gruppen durch beherrschende rassialistische/ethnische Gruppen mit oder ohne Vorhandensein von Kolonialverwaltungen.

Fünfhundert Jahre europäischer kolonialer Expansion und Herrschaft haben eine internationale Arbeitsteilung zwischen Europäern und Nichteuropäern geschaffen, die in der gegenwärtigen so genannten „postkolonialen“ Phase des kapitalistischen Weltsystems reproduziert wird.38 Heute überschneiden sich die zentralen Gebiete der kapitalistischen Weltökonomie mit überwiegend weißen/europäischen/euroamerikanischen Gesellschaften wie Westeuropa, Kanada, Australien und den USA, während sich die peripheren Zonen mit zuvor kolonialisierten nichteuropäischen Völkern überschneiden. Japan ist die einzige Ausnahme, die die Regel bestätigt. Japan wurde nie von Europäern kolonialisiert oder beherrscht und spielte, ähnlich wie der Westen, eine aktive Rolle beim Aufbau seines eigenen kolonialen Imperiums. China wurde zwar nie vollständig kolonialisiert, aber durch koloniale Umschlagplätze wie Hongkong und Macao und durch direkte militärische Interventionen auf peripheren Status herabgesetzt (peripheralized).

Die Mythologie der „Dekolonisation der Welt“ verschleiert die Kontinuitäten zwischen der kolonialen Vergangenheit und den aktuellen globalen kolonialen/rassialistischen Hierarchien und trägt heute zur Unsichtbarkeit der „Kolonialität“ bei. In den letzten fünfzig Jahren haben periphere Staaten, die heute formal unabhängig sind, in Anlehnung an die herrschenden eurozentrischen liberalen Diskurse39 Ideologien der „nationalen Identität“, „nationalen Entwicklung“ und „nationalen Souveränität“ hervorgebracht, die eine Illusion von „Unabhängigkeit“, „Entwicklung“ und „Fortschritt“ erzeugten. Ihre ökonomischen und politischen Systeme waren jedoch durch ihre untergeordnete Stellung in einem kapitalistischen Weltsystem geprägt, das um eine hierarchische internationale Arbeitsteilung herum organisiert war.40 Die mannigfaltigen und heterogenen Prozesse des Weltsystems bilden zusammen mit der Vorherrschaft eurozentrischer Kulturen41 eine „globale Kolonialität“ zwischen europäischen/euroamerikanischen und nichteuropäischen Völkern.

Die „Kolonialität“ ist also mit der internationalen Arbeitsteilung verflochten, aber nicht auf sie reduzierbar. Die globale rassialistische/ethnische Hierarchie zwischen Europäern und Nichteuropäern ist ein integraler Bestandteil der Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung des kapitalistischen Weltsystems.42

In diesen Zeiten der „Post-Unabhängigkeit“ ist die „koloniale“ Achse zwischen Europäern/Euroamerikanern und Nichteuropäern nicht nur in Verhältnisse der Ausbeutung (zwischen Kapital und Arbeit) und der Herrschaft (zwischen metropolitanen und peripheren Staaten) eingeschrieben, sondern auch in die Produktion von Subjektivitäten und Wissen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Teil des eurozentrischen Mythos darin besteht, dass wir in einer so genannten „post“-kolonialen Ära leben und dass die Welt und insbesondere die metropolitanen Zentren keiner Dekolonisation bedürfen. In dieser konventionellen Definition wird Kolonialität auf die Anwesenheit von Kolonialverwaltungen reduziert. Wie jedoch die Arbeiten des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano43 mit seiner „Kolonialität der Macht“-Perspektive gezeigt haben, leben wir immer noch in einer kolonialen Welt und müssen mit den engen Weisen des Denkens über koloniale Verhältnisse brechen, um den unvollendeten und unvollständigen Traum des zwanzigsten Jahrhunderts von der Dekolonisation zu verwirklichen. Dies zwingt uns dazu, neue dekoloniale utopische Alternativen jenseits eurozentrischer und „Thirdworldist“-Fundamentalismen (dritteweltistischen Fundamentalismen) zu untersuchen.

3.4 Postkolonialität und Weltsysteme: Ein Aufruf zum Dialog

Das Neudenken der modernen/kolonialen Welt von der kolonialen Differenz aus verändert wichtige Annahmen unserer Paradigmen. Hier möchte ich mich auf die Auswirkungen der „Kolonialität der Macht“-Perspektive auf das Weltsystem und die postkolonialen Paradigmen konzentrieren.

Die meisten Weltsystemanalysen konzentrieren sich darauf, wie die internationale Arbeitsteilung und die geopolitischen militärischen Kämpfe für kapitalistische Akkumulationsprozesse im Weltmaßstab konstitutiv sind. Obwohl ich diesen Ansatz als Ausgangspunkt verwende, zwingt uns das Denken von der kolonialen Differenz aus dazu, ideologische/symbolische Strategien sowie die koloniale/rassistische Kultur der modernen/kolonialen Welt ernster zu nehmen.

Die Weltsystemanalyse hat unlängst das Konzept der Geokultur entwickelt, um auf globale Ideologien Bezug zu nehmen. Die Verwendung des Begriffs „Geokultur“ im Rahmen des Weltsystemansatzes ist jedoch in das marxistische Paradigma von Basis und Überbau eingebettet. Im Gegensatz zu dieser Konzeptualisierung betrachte ich globale ideologische/symbolische Strategien und koloniale/rassistische Kultur zusammen mit kapitalistischen Akkumulationsprozessen und dem innerstaatlichen System als konstitutiv für die Zentrum-Peripherie-Verhältnisse im Weltmaßstab. Diese unterschiedlichen Strukturen und Prozesse bilden eine Heterarchie44 heterogener, komplexer und verflochtener Hierarchien, die im Basis/Überbau-Paradigma nicht berücksichtigt werden können.

Die Postkolonialität teilt mit dem Weltsystemansatz die Kritik an der Entwicklungsideologie, an eurozentrischen Wissensformen, an der Ungleichheit der Geschlechter, an rassialistischen Hierarchien und an den kulturellen/ideologischen Prozessen, die die Unterordnung der Peripherie im kapitalistischen Weltsystem fördern. Die kritischen Einsichten beider Ansätze betonen jedoch unterschiedliche Determinanten. Während die postkoloniale Kritik die koloniale Kultur hervorhebt, betont der Weltsystemansatz die endlose Akkumulation von Kapital im Weltmaßstab. Während die postkoloniale Kritik das Handeln betont, hebt der Weltsystemansatz die Strukturen hervor. Einige Vertreter der postkolonialen Theorie wie Gayatri Spivak45 erkennen die Bedeutung der internationalen Arbeitsteilung als konstitutiv für das kapitalistische System an, während einige Vertreter des Weltsystemansatzes wie Immanuel Wallerstein die Bedeutung kultureller Prozesse wie Rassismus und Sexismus als Bestandteil des historischen Kapitalismus anerkennen.

Im Allgemeinen sind sich die beiden Lager jedoch nach wie vor uneins über die dichotomen Gegensätze Kultur versus Ökonomie und Handeln versus Struktur. Dies ist zum Teil ein Erbe der „zwei Kulturen“ des westlichen Wissens, die die Sozial- und Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften trennen, auf der Grundlage des cartesianischen Dualismus von Geist und Materie.

Bis auf wenige Ausnahmen kommen die meisten postkolonialen Theoretiker aus den Geisteswissenschaften wie Literaturwissenschaft, Rhetorik und Kulturwissenschaften. Nur wenige Wissenschaftler auf dem Gebiet der Postkolonialität kommen aus den Sozialwissenschaften, insbesondere nur wenige aus der Anthropologie. Auf der anderen Seite kommen die Weltsystemforscher hauptsächlich aus sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie Soziologie, Anthropologie, Politikwissenschaften und Ökonomie. Nur sehr wenige von ihnen kommen aus den Geisteswissenschaften, mit Ausnahme der Historiker, die dem Weltsystemansatz eher zugeneigt sind, und nur sehr wenige aus der Literaturwissenschaft. Ich habe die Disziplinen hervorgehoben, die in beiden Ansätzen vorherrschen, weil ich denke, dass diese disziplinären Grenzen für einige der theoretischen Unterschiede zwischen beiden Ansätzen konstitutiv sind.

Die postkoloniale Kritik charakterisiert das kapitalistische System als ein kulturelles System. Sie geht davon aus, dass die Kultur das konstitutive Element ist, das die ökonomischen und politischen Verhältnisse im globalen Kapitalismus bestimmt.46 Andererseits betonen die meisten Weltsystemforscher, dass die ökonomischen Verhältnisse im Weltmaßstab für das kapitalistische Weltsystem konstitutiv sind. Kulturelle und politische Verhältnisse werden als Instrument oder Epiphänomen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses begriffen. Tatsache ist, dass die Weltsystemtheoretiker Schwierigkeiten haben, Kultur zu theoretisieren, während die postkolonialen Theoretiker Schwierigkeiten haben, politisch-ökonomische Prozesse zu konzeptualisieren.

Das Paradoxe ist, dass viele Weltsystemtheoretiker die Bedeutung der Kultur anerkennen, aber nicht wissen, was sie damit anfangen sollen oder wie sie sie auf nicht-reduktive Weise artikulieren sollen; während viele postkoloniale Theoretiker die Bedeutung der politischen Ökonomie anerkennen, aber nicht wissen, wie sie sie in die kulturelle Analyse integrieren sollen, ohne eine „kulturalistische“ Form des Reduktionismus zu reproduzieren. So schwanken beide Literaturen zwischen der Gefahr des ökonomischen Reduktionismus und der Gefahr des Kulturalismus. Postkoloniale Studien und Weltsystemanalyse bedürfen einer dekolonialen Intervention.

Ich behaupte, dass die Dichotomie Kultur versus Ökonomie ein „Henne-Ei“-Dilemma ist, das heißt ein falsches Dilemma, das auf das zurückzuführen ist, was Immanuel Wallerstein das Erbe des Liberalismus des 19. Jahrhunderts genannt hat.47 Dieses Erbe impliziert die Aufspaltung des Ökonomischen, Politischen, Kulturellen und Sozialen als autonome Bereiche. Wallerstein zufolge sind die Konstruktion dieser „autonomen“ Bereiche und ihre Materialisierung in getrennten Wissensbereichen wie Politikwissenschaft, Soziologie, Anthropologie und Ökonomie in den Sozialwissenschaften sowie den verschiedenen Disziplinen in den Geisteswissenschaften ein schädliches Ergebnis des Liberalismus als Geokultur des modernen Weltsystems. In einer kritischen Würdigung der Weltsystemanalyse stellt Wallerstein fest:

Die Weltsystemanalyse will eine Kritik der Sozialwissenschaft des 19. Jahrhunderts sein. Es war ihr bisher noch nicht möglich, einen Weg zu finden, das dauerhafteste (und irreführendste) Vermächtnis der Sozialwissenschaft des 19. Jahrhunderts zu überwinden – die Unterteilung der Gesellschaftsanalyse in drei Bereiche, drei Lehren, drei „Ebenen“: die ökonomische, die politische und die sozio-kulturelle. Diese Dreifaltigkeit versperrt den Weg wie ein Granitblock, der unsere intellektuelle Weiterentwicklung blockiert. Viele empfinden diese Situation als unbefriedigend, aber meiner Meinung nach hat bis jetzt noch niemand einen Weg gefunden, auf diese Sprache und ihre Implikationen, von denen einige stimmen, die meisten aber wahrscheinlich nicht, zu verzichten.48

[…] wir alle fallen bei fast allem, was wir schreiben, in die Sprache der drei Bereiche zurück. Es ist Zeit, dass wir diese Frage ernsthaft in Angriff nehmen. […] wir [folgen] falschen Modellen und unterhöhlen unsere eigene Argumentation, indem wir fortfahren, eine solche Sprache zu gebrauchen. Wir müssen unbedingt damit beginnen, alternative theoretische Modelle auszuarbeiten.49

Wir müssen noch eine neue dekoloniale Sprache entwickeln, um die komplexen Prozesse des modernen/kolonialen Weltsystems zu erklären, ohne uns auf die alte liberale Sprache der drei Bereiche zu verlassen. Die Tatsache, dass Weltsystemtheoretiker das moderne Weltsystem als eine Weltwirtschaft charakterisieren, verleitet viele Menschen zu der Annahme, dass es bei der Weltsystemanalyse um die Analyse der so genannten „ökonomischen Logik“ des Systems geht. Dies ist indes genau die Art von Interpretation, die Wallerstein in seiner Kritik an den drei autonomen Bereichen zu vermeiden versucht.

Wie Wallerstein jedoch selbst einräumt, ist die in der Weltsystemanalyse verwendete Sprache immer noch in der alten Sprache der Sozialwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts gefangen, und es ist eine große Herausforderung, sich von dieser Sprache zu lösen. Was, wenn der Kapitalismus eine Weltwirtschaft ist, und zwar nicht im begrenzten Sinne eines ökonomischen Systems, sondern im Sinne von Wallersteins historischem System, das definiert ist als „integriertes Netzwerk von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Prozessen […], deren Summe das System zusammenhält“50? Wir müssen neue Konzepte und eine neue dekoloniale Sprache finden, um die komplexe Verflechtung von Geschlechter-, rassialistischen, sexuellen und Klassenhierarchien innerhalb der globalen geopolitischen, geokulturellen und geoökonomischen Prozesse des modernen/kolonialen Weltsystems zu erklären, in dem die unaufhörliche Kapitalakkumulation von diesen Hierarchien beeinflusst, in sie integriert, für sie konstitutiv ist und durch sie konstituiert wird. Um eine neue dekoloniale Sprache für diese Komplexität zu finden, müssen wir über unsere Paradigmen, Ansätze, Disziplinen und Bereiche hinausgehen. Ich schlage vor, dass wir den metatheoretischen Begriff der „Heterarchien“ untersuchen, der von dem griechischen Sozialtheoretiker, Soziologen und Philosophen Kyriakos Kontopoulos51 entwickelt wurde, ebenso wie den Begriff der „Kolonialität der Macht“, der von Aníbal Quijano52 entwickelt wurde.

Heterarchisches Denken53 ist ein Versuch, soziale Strukturen mit einer neuen Sprache zu konzeptualisieren, die mit dem liberalen Paradigma der Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts bricht. Die alte Sprache sozialer Strukturen ist eine Sprache geschlossener Systeme, das heißt einer einzigen, übergreifenden Logik, die eine einzige Hierarchie bestimmt. Ein historisches System als „geschachtelte Hierarchie“ (nested hierarchy) zu definieren, wie Wallerstein im Bericht der Gulbenkian-Kommission „Open the Social Sciences“ vorschlug, untergräbt den Weltsystemansatz, indem weiterhin ein metatheoretisches Modell verwendet wird, das geschlossenen Systemen entspricht, also genau das Gegenteil von dem, was der Weltsystemansatz zu tun versucht.

Im Gegensatz dazu bewegen uns Heterarchien über geschlossene Hierarchien hinaus in eine Sprache der Komplexität, der offenen Systeme, der Verflechtung mannigfaltiger und heterogener Hierarchien, der Strukturebenen und der strukturierenden Logiken. Der Begriff „Logik“ wird hier neu definiert und bezieht sich auf die heterogene Verflechtung der Strategien mannigfaltiger Akteure. Die Idee besteht darin, dass es weder autonome Logiken noch eine einzige Logik gibt, sondern mannigfaltige, heterogene, verflochtene und komplexe Prozesse innerhalb einer einzigen historischen Realität. Der Begriff der Verflechtung (entanglement) ist hier von entscheidender Bedeutung und kommt Wallersteins Begriff der historischen Systeme nahe, die als „integriertes Netzwerk von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Prozessen“54 verstanden werden. In dem Moment, in dem mannigfaltige hierarchische Verhältnisse als verflochten (nach Kontopoulos) oder integriert (nach Wallerstein) betrachtet werden, bleiben keine autonomen Logiken oder Bereiche übrig. Der Begriff einer einzigen Logik birgt die Gefahr des Reduktionismus, der der Idee komplexer Systeme zuwiderläuft, während der Begriff mannigfaltiger Logiken die Gefahr des Dualismus birgt.

Die Lösung für diese ontologischen Fragen (das reduktionistische/autonomistische Dilemma) im heterarchischen Denken besteht darin, über den dichotomen Gegensatz Monismus/Dualismus hinauszugehen und von einem emergentistischen Materialismus zu sprechen, der mannigfaltige, verflochtene Prozesse auf verschiedenen strukturellen Ebenen innerhalb einer einzigen historischen materiellen Realität impliziert (die das Symbolische/Ideologische als Teil dieser materiellen Realität einschließt). In Heterarchien wird der Begriff der „Logik“ nur zu analytischen Zwecken verwendet, um bestimmte Unterscheidungen zu treffen oder bestimmte Prozesse zu abstrahieren, die, sobald sie in einen konkreten historischen Prozess integriert oder verflochten sind, eine andere strukturelle Wirkung und Bedeutung erhalten. Heterarchisches Denken bietet eine Sprache für das, was Immanuel Wallerstein eine neue Weise des Denkens nennt, die mit den liberalen Sozialwissenschaften des neunzehnten Jahrhunderts bricht und sich auf komplexe, historische Systeme ausrichten kann.

Der Begriff der „Kolonialität der Macht“ ist ebenfalls hilfreich, um das Dilemma Kultur versus Ökonomie zu dekolonisieren. Quijanos Arbeit bietet im Hinblick auf dieses Dilemma eine neue Weise des Denkens, die die Grenzen sowohl der postkolonialen als auch der Weltsystemanalyse überwindet. In Lateinamerika privilegierten die meisten Vertreter der Dependenztheorie die ökonomischen Verhältnisse in den sozialen Prozessen auf Kosten der kulturellen und ideologischen Bestimmungen. Die Kultur wurde von der Schule der Dependenztheorie als instrumentell für die kapitalistischen Akkumulationsprozesse wahrgenommen. In vielerlei Hinsicht reproduzierten die Dependenztheoretiker und die Weltsystemanalytiker einen Teil des ökonomischen Reduktionismus der orthodoxen marxistischen Ansätze. Dies führte zu zwei Problemen: erstens zu einer Unterschätzung der kolonialen/rassialistischen Hierarchien und zweitens zu einer analytischen Verarmung, die der Komplexität globaler heterarchischer politisch-ökonomischer Prozesse nicht gerecht werden konnte.

Dependenz-Vorstellungen müssen als Teil der longue durée (lange Dauer) der Moderne-/Modernitätsvorstellungen in Lateinamerika verstanden werden. Die autonome nationale Entwicklung ist ein zentrales ideologisches Thema des modernen Weltsystems seit dem späten achtzehnten Jahrhundert. Die Dependenztheoretiker reproduzierten die Illusion, dass rationale Organisation und Entwicklung durch die Kontrolle des Nationalstaates erreicht werden können. Dies stand im Widerspruch zu der Auffassung, dass Entwicklung und Unterentwicklung das Ergebnis struktureller Verhältnisse innerhalb des kapitalistischen Weltsystems sind. Obwohl die Dependenztheoretiker den Kapitalismus als ein globales System jenseits des Nationalstaates definierten, glaubten sie immer noch, dass es möglich sei, sich vom Weltsystem auf der Ebene des Nationalstaates zu lösen oder mit ihm zu brechen.55 Dies bedeutete, dass ein sozialistischer revolutionärer Prozess auf nationaler Ebene das Land vom globalen System isolieren könnte.

Wie wir heute wissen, ist es jedoch unmöglich, ein System, das im Weltmaßstab operiert, zu verändern, indem man die Kontrolle/Verwaltung des Nationalstaates privilegiert.56 Keine „rationale“ Kontrolle des Nationalstaates würde die Position eines Landes in der internationalen Arbeitsteilung verändern. „Rationale“ Planung und Kontrolle des Nationalstaates tragen zu der entwicklungsideologischen Illusion bei, die Ungleichheiten des kapitalistischen Weltsystems von einer nationalstaatlichen Ebene aus zu beseitigen.

Im gegenwärtigen Weltsystem kann ein peripherer Nationalstaat Transformationen in seiner Form der Eingliederung in die kapitalistische Weltwirtschaft erfahren; eine Minderheit von ihnen könnte sogar in eine halb-periphere Position übergehen. Mit dem gesamten System zu brechen oder es von der Ebene der Nationalstaaten aus zu verändern, liegt jedoch völlig außerhalb ihrer Möglichkeiten.57 Daher kann ein globales Problem keine nationale Lösung haben.

Damit soll nicht die Bedeutung politischer Interventionen auf nationalstaatlicher Ebene bestritten werden. Es geht hier darum, den Nationalstaat nicht zu einer selbstständigen Entität zu erheben und die Grenzen politischer Interventionen auf dieser Ebene für die langfristige Transformation eines Systems zu verstehen, das im Weltmaßstab funktioniert. Der Nationalstaat ist zwar nach wie vor eine wichtige Institution des historischen Kapitalismus, aber er ist ein begrenzter, wenn auch wichtiger Ort für radikale politische und soziale Transformationen.

Kollektives Handeln in der Peripherie erfordert eine globale Reichweite, um eine wirksame politische Intervention im kapitalistischen Weltsystem durchzuführen. Soziale Kämpfe unterhalb und oberhalb des Nationalstaates sind strategische Räume der politischen Intervention, die häufig ignoriert werden, wenn der Fokus der Bewegungen auf der Privilegierung des Nationalstaats liegt. Die lokalen und globalen Verbindungen der sozialen Bewegungen sind entscheidend für wirksame politische Interventionen.

Die Dependenztheoretiker übersahen dies zum Teil aufgrund ihrer Tendenz zur Privilegierung des Nationalstaats als Analyseeinheit wie auch aufgrund des ökonomisch-reduktionistischen Schwerpunkts ihrer Ansätze. Dies hatte schreckliche politische Folgen für die lateinamerikanische Linke und die Glaubwürdigkeit des politischen Projekts der Dependenztheoretiker.

Für die meisten Dependenztheoretiker und Weltsystemanalytiker war die „Ökonomie“ die privilegierte Sphäre der Gesellschaftsanalyse. Kategorien wie „Geschlecht“ und „Rasse“ wurden häufig ignoriert, und wenn sie verwendet wurden, wurden sie entweder auf klassistischen oder ökonomische Interessen reduziert (dafür instrumentalisiert).

Quijano58 ist eine der wenigen Ausnahmen von dieser Kritik. „Kolonialität der Macht“ ist ein Konzept, das versucht, die mannigfaltigen Verhältnisse, in denen kulturelle, politische und ökonomische Prozesse mit dem Kapitalismus als „historischem System“ verflochten sind, als Teil eines heterogenen strukturellen Prozesses zu integrieren. Quijano verwendet den Begriff der „strukturellen Heterogenität“, der dem oben diskutierten Begriff der „Heterarchie“ sehr nahe kommt. Ähnlich wie die Weltsystemanalyse konzeptualisiert der Begriff der „Kolonialität“ den Prozess der Kolonialisierung der Amerikas und die Konstitution einer kapitalistischen Weltwirtschaft als Teil desselben verflochtenen Prozesses. Im Unterschied zum Weltsystemansatz impliziert Quijanos „strukturelle Heterogenität“ jedoch die Herausbildung einer globalen rassialistischen/ethnischen Hierarchie, die sowohl zeitlich als auch örtlich mit der Herausbildung einer internationalen Arbeitsteilung mit Zentrum-Peripherie-Verhältnissen im Weltmaßstab einherging.

Seit der Entstehung des kapitalistischen Weltsystems war die unaufhörliche Kapitalakkumulation mit rassistischen, homophoben und sexistischen globalen Ideologien verflochten. Die europäische koloniale Expansion wurde von europäischen heterosexuellen Männern angeführt. Überall, wo sie hinkamen, exportierten sie ihre kulturellen Vorurteile und bildeten heterarchische Strukturen sexueller, geschlechtlicher, klassistischer und rassialistischer Ungleichheit aus. Im „historischen Kapitalismus“, der als „heterarchisches System“ oder als „heterogene Struktur“ verstanden wird, war der Prozess der Einbindung der Peripherie in die unaufhörliche Kapitalakkumulation also durch homophobe, sexistische und rassistische Hierarchien und Diskurse konstituiert und mit ihnen verflochten.

Im Gegensatz zur Weltsystemanalyse betont Quijano mit seinem Begriff der „Kolonialität der Macht“, dass es keine übergreifende Logik der kapitalistischen Akkumulation gibt, die ethnische/rassialistische Spaltungen instrumentalisieren kann und die der Herausbildung einer globalen kolonialen eurozentrischen Kultur vorausgeht. Der „instrumentalistische“ Ansatz der meisten Weltsystemanalysen ist reduktiv und noch immer in der alten Sprache der Sozialwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts gefangen. Für Quijano ist der Rassismus konstitutiv und mit der internationalen Arbeitsteilung und der kapitalistischen Akkumulation im Weltmaßstab verflochten.

Der Begriff der „strukturellen Heterogenität“ impliziert, dass mannigfaltige Formen der Arbeit innerhalb eines einzigen historischen Prozesses nebeneinander bestehen. Im Gegensatz zu orthodoxen marxistischen Ansätzen gibt es keine lineare Abfolge von Produktionsweisen (Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus usw.). Aus der lateinamerikanischen peripheren Perspektive haben sich diese Formen der Arbeit im Rahmen eines allgemeinen Trends gleichzeitig und örtlich-verflochten artikuliert, und zwar zwischen „freien“ Formen der Arbeit, die dem Zentrum beziehungsweise der Bevölkerung europäischen Ursprungs zugewiesen wurden, und „erzwungenen“ Formen der Arbeit, die der Peripherie beziehungsweise der nichteuropäischen Bevölkerung zugewiesen wurden. Die kapitalistische Akkumulation im Weltmaßstab bedient sich des gleichzeitigen Einsatzes verschiedener Formen von Arbeit, die gemäß der rassistischen eurozentrischen Rationalität der „Kolonialität der Macht“ aufgeteilt, organisiert und zugewiesen werden.

Außerdem gibt es für Quijano keine lineare Teleologie zwischen den verschiedenen Formen der kapitalistischen Akkumulation (ursprünglich, absolut und relativ, in dieser Reihenfolge gemäß der marxistischen eurozentrischen Analyse). Für Quijano koexistieren die mannigfaltigen Formen der Akkumulation auch gleichzeitig, sind sie von gleicher zeitlicher Dauer. Langfristig überwiegen in der nichteuropäischen Peripherie die „gewaltsamen“ (im eurozentrischen Marxismus als „ursprüngliche“ Akkumulation bezeichneten) und „absoluten“ Formen der Akkumulation, während in den „freien“ Arbeitszonen des europäischen Zentrums die „relativen“ Formen der Akkumulation überwiegen.

Das zweite Problem mit der Unterschätzung kultureller und ideologischer Dynamiken der Dependenztheoretiker ist, dass sie ihren eigenen politisch-ökonomischen Ansatz verarmt haben. Ideologische/symbolische Strategien sowie eurozentrische Wis­sensformen sind konstitutiv für die politische Ökonomie im kapitalistischen Weltsystem. Globale symbolische/ideologische Strategien sind ein wichtiger strukturierender Prozess der Zentrum-Peripherie-Verhältnisse im kapitalistischen Weltsystem.

Zum Beispiel entwickeln die Staaten des Zentrums ideologische/symbolische Strategien, indem sie „okzidentalistische“ Wissensformen fördern, die den „Westen über den Rest“ erheben. Dies zeigt sich deutlich in entwicklungsideologischen Diskursen, die in den letzten fünfzig Jahren zu einer so genannten „wissenschaftlichen“ Form des Wissens wurden. Dieses Wissen privilegierte den „Westen“ als Modell für Entwicklung. Der entwicklungsideologische Diskurs bietet ein koloniales Rezept dafür, wie der „Westen“ zu werden.

Obwohl die Dependenztheoretiker gegen diese universalistischen/okzidentalistischen Wissensformen kämpften, sahen sie dieses Wissen als „Überbau“ oder als Epiphänomen einer „ökonomischen Basis“ an. Die Dependenztheoretiker haben dieses Wissen nie als konstitutiv für die politische Ökonomie Lateinamerikas wahrgenommen. Die Herausbildung von peripheren Zonen wie Afrika und Lateinamerika als „Problemregionen“ oder jene mit „rückständiger Entwicklung“ verschleierte die europäische und euroamerikanische Verantwortung für die Ausbeutung dieser Kontinente. Die Herausbildung von „pathologischen“ Regionen in der Peripherie im Gegensatz zu den so genannten „normalen“ Entwicklungsmustern des „Westens“ rechtfertigte eine noch intensivere politische und ökonomische Intervention der imperialen Mächte. Durch die Behandlung des „Anderen“ als „unterentwickelt“ und „rückständig“ wurde die metropolitane Ausbeutung und Unterdrückung im Namen der „zivilisatorischen Mission“ gerechtfertigt.

Die zugeschriebene Überlegenheit des europäischen Wissens in vielen Lebensbereichen war ein wichtiger Aspekt der Kolonialität der Macht im modernen/kolonialen Weltsystem. Subalternes Wissen wurde ausgeschlossen, ausgelassen, verschwiegen und/oder ignoriert. Dies ist kein Aufruf zu einer fundamentalistischen oder essentialistischen Rettungsmission um der Authentizität willen. Es geht hier darum, die koloniale Differenz59 in den Mittelpunkt des Prozesses der Wissensproduktion zu stellen. Subalternes Wissen ist jenes Wissen an der Schnittstelle zwischen dem Traditionellen und dem Modernen. Es handelt sich um hybride, transkulturelle Wissensformen, nicht nur im traditionellen Sinne des Synkretismus oder der „Mestizaje“, sondern im Sinne von Aimé Césaire als „wunderbare Waffen“ (Les armes miraculeuses)60 oder, wie ich es genannt habe, als „subversive Komplizenschaft“61 gegen das System. Es handelt sich um Formen des Widerstands, die dominante Wissensformen aus der Sicht der nicht-eurozentrischen Rationalität subalterner Subjektivitäten, die aus Grenz-Epistemologien heraus denken, aufheben und umgestalten. Sie bilden das, was Walter Mignolo62 eine Kritik der Moderne/Modernität aus den geopolitischen Erfahrungen und Erinnerungen der Kolonialität heraus nennt. Mignolo63 zufolge ist dies ein neuer Ort, der als neue kritische Dimension der Modernität/Kolonialität und gleichzeitig als ein Ort, von dem aus neue Utopien entwickelt werden können, weitere Untersuchungen verdient.

Dies hat wichtige Implikationen für die Wissensproduktion. Werden wir ein neues Wissen produzieren, das den universalistischen, eurozentrischen Blick mit dem Auge Gottes wiederholt oder reproduziert? Zu sagen, dass die Analyseeinheit das Weltsystem und nicht der Nationalstaat ist, ist nicht gleichbedeutend mit einem neutralen Blick auf die Welt mit dem Auge Gottes. Ich glaube, dass die Weltsystemanalyse ihre Epistemologie dekolonisieren muss, indem sie die subalterne Seite der kolonialen Differenz ernst nimmt: die Seite der Peripherie, der Arbeiter, Frauen, Schwulen/Lesben, rassialisierten/kolonialen Subjekte/Untertanen und antisystemischen Bewegungen im Prozess der Wissensproduktion. Das bedeutet, dass das Weltsystem zwar die Welt als Analyseeinheit nimmt, aber von einer bestimmten Perspektive in der Welt aus denkt.

Die Weltsystemanalyse hat noch immer keinen Weg gefunden, subalternes Wissen in die Prozesse der Wissensproduktion einzubeziehen. Ohne dies kann es keine Dekolonisierung des Wissens und keine Utopistik64 jenseits des Eurozentrismus geben. Die Komplizenschaft der Sozialwissenschaften mit der Kolonialität der Macht in der Wissensproduktion und den imperialen globalen Entwürfen erfordert neue institutionelle und nicht-institutionelle Orte, von denen aus die Subalternen sprechen und gehört werden können.

3.5 Dekoloniales Denken

Bislang hat die Geschichte der westlichen Zivilisation, die sich in dem von mir so bezeichneten „modernen/kolonialen kapitalistischen/patriarchalischen west-/christozentrischen Welt­system“ artikuliert, die Kultur, das Wissen und die Epistemologie, die vom Westen hervorgebracht wurden, privilegiert und den Rest inferiorisiert. Keine Kultur der Welt blieb unberührt von der europäischen Moderne/Modernität. Es gibt kein absolutes Außen dieses Systems. Der Monologismus und der monothematische globale Entwurf des Westens verhält sich gegenüber anderen Kulturen und Völkern aus einer Position der Superiorität und ist taub gegenüber den Kosmologien und Epistemologien der nicht-westlichen Welt.

Die Auferlegung des Christentums zur Bekehrung der so genannten Wilden und Barbaren im 16. Jahrhundert, gefolgt von der Auferlegung der „Bürde des weißen Mannes“ und der „zivilisatorischen Mission“ im 18. und 19. Jahrhundert, die Auferlegung des „entwicklungsideologischen Projekts“ im 20. Jahrhundert und in jüngster Zeit des imperialen Projekts der militärischen Interventionen im Rahmen der Rhetorik von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ im 21. Jahrhundert wurden allesamt durch Militarismus und Gewalttätigkeit im Rahmen der Rhetorik der Moderne aufgezwungen, die darin besteht, den Anderen vor seiner eigenen Barbarei zu bewahren.

Zwei Antworten auf das eurozentrische koloniale Aufzwingen sind die Dritte-Welt-Nationalismen und -Fundamentalismen.

Der Nationalismus bietet eurozentrische Lösungen für ein eurozentrisches globales Problem. Er reproduziert eine interne Kolonialität der Macht innerhalb jedes Nationalstaates und erhebt den Nationalstaat als privilegierten Ort des sozialen Wandels zu einer selbstständigen Entität.65 Kämpfe oberhalb und unterhalb des Nationalstaates werden in nationalistischen politischen Strategien nicht berücksichtigt. Darüber hinaus bekräftigen nationalistische Antworten auf den globalen Kapitalismus den Nationalstaat als die politische institutionelle Form schlechthin des modernen/kolonialen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystems. In diesem Sinne ist der Nationalismus ein Komplize von eurozentrischem Denken und politischen Strukturen.

Andererseits reagieren Dritte-Welt-Fundamentalismen unterschiedlicher Art mit der Rhetorik eines essentialistischen „reinen Außenraums“ oder einer „absoluten Exteriorität“ auf die Moderne/Modernität. Sie sind „antimoderne moderne“ Kräfte, die die dichotomen Gegensätze des eurozentrischen Denkens reproduzieren. Wenn das eurozentrische Denken behauptet, „Demokratie“ sei ein natürliches Attribut des Westens, so akzeptieren die Dritte-Welt-Fundamentalismen diese eurozentrische Prämisse und behaupten, Demokratie habe nichts mit dem Nicht-Westen zu tun. Demzufolge sei sie ein inhärent-europäisches Attribut, das vom Westen aufgezwungen wurde. Beide bestreiten die Tatsache, dass sich viele der Elemente, die wir heute als Teil der Moderne/Modernität bezeichnen, wie etwa die Demokratie, in einem globalen Verhältnis zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen ausgebildet haben. Die Europäer haben einen großen Teil ihres utopischen Denkens von den nicht-westlichen historischen Systemen übernommen, auf die sie in den Kolonien gestoßen sind und die sie sich als Teil der eurozentrischen Moderne/Modernität angeeignet haben. Die Dritte-Welt-Fundamentalismen antworten auf die Auferlegung der eurozentrischen Moderne/Modernität als globaler/imperialer Entwurf mit einer antimodernen Moderne/Modernität, die ebenso eurozentrisch, hierarchisch, autoritär und antidemokratisch ist wie erstere.

Eine von vielen plausiblen Lösungen für das Dilemma Eurozentrismus versus Fundamentalismus ist das, was Walter Mignolo in Anlehnung an Chicano(a)-Denker wie Gloria Anzaldúa66 und Jose David Saldívar67 „kritisches Grenzdenken“ (critical border thinking) nennt.68 Kritisches Grenzdenken ist die epistemische Antwort der Subalternen auf das eurozentrische Projekt der Moderne/Modernität. Anstatt die Moderne/Modernität abzulehnen, um sich in einen fundamentalistischen Absolutismus zurückzuziehen, subsumieren/redefinieren die Grenz-Epistemologien die emanzipatorische Rhetorik der Moderne/Modernität aus den Kosmologien und Epistemologien der Subalternen, die auf der unterdrückten und ausgebeuteten Seite der kolonialen Differenz verortet sind, hin zu einem dekolonialen Befreiungskampf für eine Welt jenseits der eurozentrischen Moderne/​Modernität. Was das Grenzdenken hervorbringt, ist eine Redefinition/Subsumtion von Bürgerschaft (citizenship), Demokratie, Menschenrechten, Menschsein und ökonomischen Verhältnissen jenseits der engen Definitionen, die die europäische Moderne/Modernität aufgezwungen hat. Grenzdenken ist kein antimoderner Fundamentalismus. Es ist eine dekoloniale transmoderne Antwort der Subalternen auf die eurozentrische Moderne/​Modernität.

Das Grenzdenken ist allerdings nur ein Ausdruck der epistemischen Dekolonisierung, in diesem Fall in Anlehnung an die koloniale Erfahrung der Chicanos im Inneren des US-Imperiums.

Es gibt andere dekoloniale Begriffe wie diasporisches Denken, autonomes Denken, Denken von den Rändern, Denken von Pachamama usw., die von anderen kolonialen Erfahrungen aus artikuliert werden.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Kampf der Zapatisten in Mexiko. Die Zapatisten sind keine antimodernen Fundamentalisten. Sie lehnen die Demokratie nicht ab und ziehen sich nicht in eine Form von indigenem Fundamentalismus zurück. Im Gegenteil, die Zapatisten akzeptieren den Begriff der Demokratie, redefinieren ihn aber aus einer lokalen indigenen Praxis und Kosmologie heraus, indem sie ihn als „zu befehlen und dabei zu gehorchen“ (mandar obedeciendo) oder „wir sind Gleiche, weil wir verschieden sind“ (somos iguales porque somos diferentes) konzeptualisieren. Was wie ein paradoxer Slogan erscheint, ist in Wirklichkeit eine kritische dekoloniale Redefinition der Demokratie von den Praktiken, Kosmologien und Epistemologien der Subalternen aus. Dies führt zu der Frage, wie der von der eurozentrischen Moderne/Modernität errichtete imperiale Monolog transzendiert werden kann.

3.6 Transmoderne als ein utopisches dekoloniales Projekt

Ein interkultureller Nord-Süd-Dialog kann ohne eine Dekolonisation der Machtverhältnisse in der modernen Welt nicht verwirklicht werden. Ein horizontaler Dialog im Gegensatz zum vertikalen Monolog des Westens erfordert eine Transformation in den globalen Machtstrukturen.

Wir können nicht von einem Habermas’schen Konsens oder einem gleichberechtigten horizontalen Verhältnis zwischen Kulturen und Völkern ausgehen, die global in die beiden Pole der kolonialen Differenz aufgeteilt sind. Wir könnten jedoch beginnen, uns alternative Welten jenseits von Eurozentrismus und Fundamentalismus vorzustellen.

Die Transmoderne ist das utopische Projekt des lateinamerikanischen Befreiungsphilosophen Enrique Dussel, um die eurozentrische Version der Moderne/Modernität zu transzendieren.69

Im Gegensatz zu Habermas’ Projekt, das darin besteht, das unabgeschlossene und unvollständige Projekt der Moderne zu vollenden, ist Dussels Transmoderne das Projekt, das unabgeschlossene und unvollständige Projekt der Dekolonisation des 20. Jahrhunderts zu vollenden. Anstelle einer einzigen in Europa zentrierten Moderne, die dem Rest der Welt als globaler Entwurf aufgezwungen wird, plädiert Dussel für eine Mannigfaltigkeit dekolonialer kritischer Antworten auf die eurozentrische Moderne von den subalternen Kulturen und dem epistemischen Ort der kolonialisierten Menschen auf der ganzen Welt aus. Dussels Transmoderne wäre gleichbedeutend mit „Diversalität als ein universales Projekt“, die ein Ergebnis des „kritischen Grenzdenkens“, des „kritischen diasporischen Denkens“ oder des „kritischen Denkens von den Rändern“ als epistemische Intervention von den verschiedenen subalternen Orten aus ist.

Subalterne Epistemologien könnten in Anlehnung an Walter Mignolos70 Redefinition des Konzepts des karibischen Denkers Edouard Glissant eine „Diversalität“ von Antworten auf die Probleme der Moderne/Modernität liefern, die zu „Transmoderne/Transmodernität“ führt.

Befreiungsphilosophie kann für Dussel nur von den kritischen Denkern einer jeden Kultur im Dialog mit anderen Kulturen kommen. Dies bedeutet unter anderem, dass die diversen Formen von Demokratie, Bürgerrechten oder Frauenbefreiung nur aus den kreativen Antworten lokaler subalterner Epistemologien hervorgehen können. Zum Beispiel können westliche Frauen ihre Vorstellung von Befreiung nicht islamischen Frauen aufzwingen. Westliche Männer können ihre Vorstellung von Demokratie nicht nicht-westlichen Völkern aufzwingen. Dies ist kein Aufruf zu einer fundamentalistischen oder nationalistischen Lösung für das Fortbestehen der Kolonialität oder für einen isolierten provinziellen Partikularismus. Es ist ein Aufruf zu kritischem dekolonialem Denken als Strategie oder Mechanismus für eine „dekolonisierte transmoderne Welt“ als pluriversales Projekt, das uns über Eurozentrismus und Fundamentalismus hinausführt.

In den letzten mehr als 500 Jahren des „kapitalistischen/​patriarchalischen west-/christozentrischen modernen/kolonialen Weltsystems“ sind wir vom „christianisiere dich oder ich erschieße dich“ des 16. Jahrhunderts über das „zivilisiere dich oder ich erschieße dich“ des 19. Jahrhunderts, „entwickle dich oder ich erschieße dich“ des 20. Jahrhunderts und „neoliberalisiere dich oder ich erschieße dich“ des späten 20. Jahrhunderts bis hin zum „demokratisiere oder ich erschieße dich“ des frühen 21. Jahrhunderts übergegangen. Kein Respekt und keine Anerkennung für indigene, afrikanische, islamische oder andere nichteuropäische Formen der Demokratie!

Die liberale Form der Demokratie ist die einzige, die akzeptiert und legitimiert wird. Formen der demokratischen Alterität werden abgelehnt. Wenn die nichteuropäische Bevölkerung die euroamerikanischen Bestimmungen der liberalen Demokratie nicht akzeptiert, wird sie im Namen von Zivilisation und Fortschritt mit Gewalt aufgezwungen. Die Demokratie muss in einer transmodernen Form rekonzeptualisiert werden, um von der liberalen Demokratie, das heißt der westlichen, rassialisierten und kapitalistisch-zentrischen Form der Demokratie, dekolonisiert zu werden.

Indem er den Levinas’schen Begriff der Exteriorität radikalisiert, sieht Dussel ein radikales Potenzial in jenen relativ exterioren Orten, die nicht vollständig von der europäischen Moderne/​Modernität kolonialisiert wurden. Diese exterioren Orte sind nicht rein oder absolut. Sie wurden von der europäischen Moderne/Modernität beeinflusst und hervorgebracht, aber nie vollständig subsumiert oder instrumentalisiert.

Aus der Geopolitik des Wissens dieser relativen Exteriorität oder Ränder geht das „kritische dekoloniale Denken“ als Kritik der Moderne/Modernität hervor – hin zu einer pluriversalen transmodernen Welt mannigfaltiger und diverser ethisch-politischer Projekte, in der ein echter horizontaler Dialog und eine echte Kommunikation zwischen allen Völkern der Welt verwirklicht werden könnte. Um dieses utopische Projekt zu verwirklichen, ist es jedoch von grundlegender Bedeutung, die Systeme der Unterdrückung und Ausbeutung der gegenwärtigen kolonialen Machtmatrix des „modernen/kolonialen kapitalistischen/patriarchalischen west-/christozentrischen Weltsystems“ zu transformieren.

3.7 Antisystemische Kämpfe heute

Sowohl der schädliche Einfluss der Kolonialität in all ihren Ausdrucksformen auf verschiedenen Ebenen (global, national, lokal) als auch ihr eurozentrisches Wissen hat sich in antisystemischen Bewegungen und utopischem Denken auf der ganzen Welt niedergeschlagen. Daher besteht die erste Aufgabe eines erneuerten linken Projekts darin, sich mit den eurozentrischen Kolonialitäten nicht nur der Rechten, sondern auch der Linken auseinanderzusetzen. So haben beispielsweise viele linke Projekte die rassialistischen/ethnischen Hierarchien unterschätzt und die weiße/eurozentrische Herrschaft über nichteuropäische Völker innerhalb ihrer Organisationen und im Falle der Übernahme der Kontrolle über staatliche Strukturen reproduziert. Die internationale „Linke“ hat die rassialistischen/ethnischen Hierarchien, die während der europäischen kolonialen Expansion aufgebaut wurden und in der weltweiten „Kolonialität der Macht“ immer noch vorhanden sind, nie radikal problematisiert. Kein linksradikales Projekt kann heute erfolgreich sein, ohne diese kolonialen/​rassialistischen Hierarchien niederzureißen. Die Unterschätzung des Problems der Kolonialität hat wesentlich zur allgemeinen Desillusionierung gegenüber „linken“ Projekten beigetragen. Die (liberale oder linksradikale) Demokratie kann nicht vollständig verwirklicht werden, wenn die koloniale/​rassistische Dynamik einen großen Teil oder in einigen Fällen die Mehrheit der Bevölkerung als Bürger zweiter Klasse weiterhin herabsetzt.

Die hier dargelegte Perspektive ist keine Verteidigung der „Identitätspolitik“. Subalterne Identitäten könnten als epistemischer Ausgangspunkt für eine radikale Kritik an eurozentrischen Paradigmen und Weisen des Denkens dienen. Allerdings ist „Identitätspolitik“ nicht gleichzusetzen mit epistemologischer Alterität. Die Reichweite der „Identitätspolitik“ ist begrenzt und kann keine radikale Transformation des Systems und seiner kolonialen Machtmatrix bewirken. Da alle modernen Identitäten eine Konstruktion der Kolonialität der Macht in der modernen/​kolonialen Welt sind, ist ihre Verteidigung nicht so subversiv, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. „Schwarze“, „indianische“, „afrikanische“ oder nationale Identitäten wie „kolumbianische“, „kenianische“ oder „französische“ sind koloniale Konstruktionen. Je nachdem, was in bestimmten Kontexten auf dem Spiel steht, kann die Verteidigung dieser Identitäten progressiven Zwecken dienen. In den Kämpfen gegen eine imperialistische Invasion oder in antirassistischen Kämpfen gegen die weiße Suprematie können diese Identitäten beispielsweise dazu dienen, die unterdrückten Menschen gegen einen gemeinsamen Feind zu vereinen.

Aber Identitätspolitik befasst sich nur mit den Zielen einer einzelnen Gruppe und fordert Gleichheit innerhalb des Systems, anstatt einen radikalen antisystemischen Kampf gegen die systemische und planetarische westzentrische Zivilisation zu entwickeln. Das System der Ausbeutung ist ein entscheidender Interventionsbereich, der breitere Bündnisse nicht nur entlang von Rassen- und Geschlechtergrenzen, sondern auch entlang von Klassengrenzen und unter einer Diversität von unterdrückten Gruppen erfordert, mit dem Ziel der Radikalisierung des Begriffes der sozialen Gleichheit. Doch anstelle des begrenzten, abstrakten und formalen Gleichheitsbegriffs der eurozentrischen Moderne/Modernität geht es hier darum, den Begriff der Gleichheit auf jedes Unterdrückungsverhältnis, handle es sich um Rasse, Klasse, Sexualität oder Geschlecht, auszuweiten.

Das neue Sinn-Pluriversum (pluriverse of meaning) oder die neue Vorstellung von Befreiung bedarf trotz der Diversität der Kulturen und Formen der Unterdrückung einer gemeinsamen Sprache. Diese gemeinsame Sprache könnte durch die Radikalisierung der aus dem alten modernen/kolonialen Machtdiskurs (pattern of power) stammenden auf Befreiung abzielenden Begriffe (liberatory notions) wie Freiheit (freedom) (Presse-, Religions- oder Redefreiheit), individuelle Freiheiten (liberties) oder soziale Gleichheit bereitgestellt und mit der radikalen Demokratisierung der politischen, epistemischen, geschlechtlichen, sexuellen, spirituellen und ökonomischen Machthierarchien auf globaler Ebene verbunden werden.

Quijanos71 Vorschlag einer „Sozialisierung der Macht“ im Gegensatz zu einer „staatlichen Nationalisierung der Produktion“ ist hier entscheidend. Anstelle von „staatssozialistischen“ oder „staatskapitalistischen“ Projekten, die um die Verwaltung des Staates und um hierarchische Machtstrukturen herum zentriert sind, privilegiert die Strategie der „Sozialisierung der Macht“ in allen Bereichen des sozialen Daseins globale und lokale Kämpfe für kollektive Formen der öffentlichen Autorität.

Gemeinden, Unternehmen, Schulen, Krankenhäuser und alle Institutionen, die derzeit das soziale Leben regeln, würden von den Menschen selbst verwaltet werden, mit dem Ziel, soziale Gleichheit und Demokratie auf alle Bereiche des sozialen Daseins auszudehnen. Dies ist ein Prozess der Ermächtigung und radikalen Demokratisierung von unten, der die Bildung globaler öffentlicher Institutionen zur Demokratisierung und Sozialisierung von Produktion, Reichtum und Ressourcen im Weltmaßstab nicht ausschließt.

Die Sozialisierung der Macht würde auch die Bildung globaler Institutionen jenseits nationaler oder staatlicher Grenzen implizieren, um soziale Gleichheit und Gerechtigkeit in der Produktion, Reproduktion und Verteilung der weltweiten Ressourcen zu gewährleisten. Dies würde eine Form selbstverwalteter demokratischer globaler Organisationen implizieren, die als kollektive globale Autorität arbeiten würden, um soziale Gerechtigkeit und soziale Gleichheit im Weltmaßstab zu garantieren. Die Sozialisierung der Macht auf lokaler und globaler Ebene würde die Bildung einer öffentlichen Autorität implizieren, die sich außerhalb staatlicher Strukturen befindet und gegen diese gerichtet ist.

Ausgehend von den alten indigenen Gemeinschaften in den Anden und den neuen städtischen marginalen Gemeinschaften, in denen Gegenseitigkeit und Solidarität die wichtigsten Formen der sozialen Interaktion sind, sieht Quijano das utopische Potenzial einer sozialen privaten Alternative zum Privateigentum und einer alternativen nicht-staatlichen Öffentlichkeit, die über die kapitalistischen/sozialistischen eurozentrischen Begriffe des Privaten und Öffentlichen hinausgeht. Diese nicht-staatliche Öffentlichkeit (im Gegensatz zur Entsprechung des Staates und des Öffentlichen in der liberalen und sozialistischen Ideologie) steht nach Quijano nicht im Widerspruch zu einem sozialen Privaten (im Gegensatz zu einem unternehmerischen, kapitalistischen Privateigentum). Das soziale Private und seine institutionelle nicht-staatliche öffentliche Autorität stehen nicht im Widerspruch zu persönlichen/individuellen Freiheiten und kollektiver Entwicklung. Eines der Probleme des liberalen und sozialistischen Diskurses ist, dass der Staat immer die Institution der öffentlichen Autorität ist, was im Widerspruch zur Entwicklung eines alternativen „privaten“ und „individuellen“ Wachstums steht.

Entwicklungsideologische Projekte, die sich auf politische Veränderungen auf der Ebene des Nationalstaates konzentrieren, sind in der heutigen Weltwirtschaft obsolet und führen zu entwicklungsideologischen Illusionen. Ein System der Unterdrückung und Ausbeutung, das im Weltmaßstab funktioniert, wie das kapitalistische Weltsystem, kann keine „nationale Lösung“ haben. Ein globales Problem kann nicht auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden. Es erfordert globale dekoloniale Lösungen. So erfordert die Dekolonisation der politischen Ökonomie des modernen/kolonialen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystems die Abschaffung des kontinuierlichen Transfers von Reichtum vom Süden in den Norden und die Institutionalisierung der globalen Umverteilung und des Transfers von Reichtum vom Norden in den Süden.

Nach Jahrhunderten der „Akkumulation durch Enteignung“72 verfügt der Norden über eine Konzentration von Reichtum und Ressourcen, die für den Süden unerreichbar sind. Globale Mechanismen zur Umverteilung von Reichtum von Nord nach Süd könnten durch direkte Intervention internationaler Organisationen und/oder durch Besteuerung globaler Kapitalströme umgesetzt werden. Dies würde jedoch einen globalen dekolonialen Machtkampf im Weltmaßstab voraussetzen, der zu einer Transformation der globalen kolonialen Machtmatrix und folglich zu einer Transformation des „modernen/kolonialen west-/christozentrischen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystems“ führen würde.

Der Norden weigert sich, die Konzentration und Anhäufung von Reichtum zu teilen, der von nicht-europäischen Arbeitskräften aus dem Süden produziert wird, nachdem letzterer jahrhundertelang von ersterem ausgebeutet und unterdrückt worden ist. Auch heute noch stellen die neoliberalen Politikstrategien eine Fortsetzung der „Akkumulation durch Enteignung“73 dar, die durch die europäische koloniale Expansion mit der Eroberung der Amerikas im 16. Jahrhundert eingeleitet wurde.

Viele periphere Länder wurden in den letzten 20 Jahren des weltweiten Neoliberalismus unter der Aufsicht und direkten Intervention des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ihres nationalen Reichtums und ihrer Ressourcen beraubt. Diese Politik hat zum Bankrott vieler Länder in der Peripherie und zum Transfer von Reichtum aus dem Süden an transnationale Konzerne und Finanzinstitute im Norden geführt. Der Handlungsspielraum der peripheren Regionen ist angesichts der durch das globale zwischenstaatliche System auferlegten Einschränkungen der Souveränität der peripheren Nationalstaaten sehr begrenzt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lösung globaler Ungleichheiten die Notwendigkeit erfordert, sich antisystemische, globale, dekoloniale, utopische Alternativen jenseits kolonialistischer und nationalistischer, eurozentrischer, fundamentalistischer und Dritte-Welt-fundamentalistischer dichotomer Weisen des Denkens vorzustellen.

3.8 Auf dem Weg zu einem Projekt der „radikalen universalen dekolonialen antisystemischen Diversalität“

Die Notwendigkeit einer gemeinsamen kritischen Sprache der Dekolonisierung erfordert eine Form der Universalität, die nicht mehr ein monologischer, monothematischer imperialer globaler/universaler Entwurf ist, der von der Rechten oder der Linken dem Rest der Welt im Namen des Fortschritts oder der Zivilisation durch Überredung oder Gewalt aufgezwungen wird. Diese neue Form der Universalität nenne ich eine „radikale universale dekoloniale antisystemische Diversalität“ als Projekt der Befreiung. Im Gegensatz zu den abstrakten Universalien eurozentrischer Epistemologien, die das Partikulare unter das Gleiche subsumieren/verschneiden, ist eine „radikale universale dekoloniale antisystemische Diversalität“ eine konkrete Universalie, die eine dekoloniale Uni-versalität bildet, indem sie die mannigfaltigen lokalen Besonderheiten in den Kämpfen gegen Patriarchat, Kapitalismus, Kolonialität und eurozentrische Moderne/Modernität aus einer Diversität von dekolonialen epistemischen/ethischen historischen Projekten heraus respektiert.

Dies stellt eine Verschmelzung von Dussels „Transmoderne/​Transmodernität“ und Quijanos „Sozialisierung der Macht“ dar. Dussels Transmoderne/Transmodernität führt uns zu dem, was Walter Mignolo74 als „Diversalität als universales Projekt“ bezeichnet hat, um die eurozentrische Moderne/​Modernität zu dekolonisieren, während Quijanos Sozialisierung der Macht zu einer neuen Form einer radikalen antisystemischen universalen Vision aufruft, die marxistische/sozialistische Perspektiven von ihren eurozentrischen Grenzen dekolonisiert.

Die gemeinsame Sprache sollte antikapitalistisch, antipatriarchalisch, antiimperialistisch und gegen die Kolonialität der Macht gerichtet sein, auf dem Weg zu einer Welt, in der die Macht sozialisiert ist, aber offen für eine Diversalität institutioneller Formen der Sozialisierung der Macht, entsprechend der verschiedenen dekolonialen epistemischen/ethischen Antworten subalterner Gruppen an verschiedenen Orten des Weltsystems. Quijanos Aufruf zu einer Sozialisierung der Macht könnte zu einer weiteren abstrakten Universalie werden, die zu einem globalen Entwurf führt, wenn sie nicht von einer transmodernen Perspektive aus redefiniert und rekonfiguriert wird.

Die Formen der antisystemischen Kämpfe und der Sozialisierung der Macht, die in der islamischen Welt auftauchen, unterscheiden sich deutlich von denen, die von den indigenen Völkern in den Amerikas oder den Bantu-Völkern in Afrika ausgehen. Sie alle teilen das dekoloniale antikapitalistische, antipatriarchalische, antikoloniale und antiimperialistische Projekt, während sie diverse institutionelle Formen und Konzepte für das Projekt der Sozialisierung der Macht entsprechend ihrer diversen, mannigfaltigen Epistemologien aufweisen.

Eine Reproduktion der eurozentrischen, sozialistischen, globalen Entwürfe der Linken des 20. Jahrhunderts, die von einem unilateralen eurozentrischen epistemischen linken Zentrum ausgingen, würde nur die Fehler wiederholen, die zum globalen linken Desaster des 20. Jahrhunderts geführt haben.

Dies ist ein Aufruf zu einer Universalie, die eine Pluriversalie ist,75 zu einer konkreten Universalie, die alle epistemischen Besonderheiten in Richtung einer „transmodernen dekolonialen Sozialisierung der Macht“ einschließt. Wie die Zapatisten sagen: „Kämpfen für eine Welt, in der andere Welten möglich sind“ (luchar por un mundo donde otros mundos sean posibles).

 

 Literatur

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1Florencia Mallon, „The Promise and Dilemma of Subaltern Studies: Perspectives from Latin American History“, in: American Historical Review, 99, 1994, S. 1491-1515. Ileana Rodríguez, „Reading Subalterns Across Texts, Disciplines, and Theories: From Representation to Recognition“, in: The Latin American Subalterns Studies Reader, Duke University Press, Durham/London, 2001.

2Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000, S. 183-186, 213-214.

3Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000, S. 183-186, 213-214.

4Ramón Grosfoguel, „From Postcolonial Studies to Decolonial Studies: Decolonizing Postcolonial Studies: A Preface“, in: Review (Fernand Braudel Center), 29, New York, 2006, S. 141-142. Ramón Grosfoguel, „World-System Analysis in the Context of Transmodernity, Border Thinking and Global Coloniality“, in: Review (Fernand Braudel Center), 29, New York, 2006, S. 168-187.

5Ramón Grosfoguel, „The Implications of Subaltern Epistemologies for Global Capitalism: Transmodernity, Border Thinking and Global Coloniality“, in: Critical Globalization Studies, Routledge, London, 2005. Ramón Grosfoguel, „World-System Analysis in the Context of Transmodernity, Border Thinking and Global Coloniality“, in: Review (Fernand Braudel Center), 29, New York, 2006, S. 168-187.

6Cherrie Moraga & Gloria Anzaldúa, This Bridge Called my Back: Writing by Radical Women of Color, Kitchen Table/Women of Color, New York, 1983. Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness and the Politics of Empire, Routledge, London, 1991.

7Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Argument, Hamburg, 1989; spanisches Original: Enrique Dussel, Filosofía de Liberación, Edicol, México, 1977.

8Donna Haraway, „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies, 14, 1988, S. 575-599.

9Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness and the Politics of Empire, Routledge, London, 1991.

10Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Argument, Hamburg, 1989; spanisches Original: Enrique Dussel, Filosofía de Liberación, Edicol, México, 1977.

11Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980; französisches Original: Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Les Éditions du Seuil, Paris, 1952.

12Gloria Anzaldúa, Borderlands/La Frontera: The New Mestiza, Aunt Lute Books, San Francisco, 2012.

13Santiago Castro-Gómez, Zero-Point Hubris. Science, Race, and Enlightenment in Eighteenth-Century Latin America, Rowman & Littlefield, Lanham/Boulder/New York/London, 2021.

14Enrique Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen: ein Projekt der Transmoderne, Patmos, Düsseldorf, 1993; spanisches Original: Enrique Dussel, 1492: El encubrimiento del Otro. Hacia el origen del „mito de la Modernidad“, Facultad de Humanidades y Ciencias de la Educación, La Paz, 1992.

15Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, Übers. Angelika Schweikhart, Syndikat/Promedia, Frankfurt am Main/Wien, 1986; englisches Original: Immanuel Wallerstein, The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, Academic Press, New York/London, 1974.

16Immanuel Wallerstein, The Capitalist World-Economy, Cambridge University Press and Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, Cambridge/​Paris, 1979.

17Aníbal Quijano, „Raza, Etnia y Nación en Mariátegui: cuestiones abiertas“, in: Roland Forgues (Hrsg.), José Carlos Mariátegui y Europa: el otro aspecto del descubrimiento, Editorial Amauta, Lima, 1993, S. 167-188. Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Übers. Alke Jenss & Stefan Pimmer, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2016; spanisches Original: Aníbal Quijano, „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, CLACSO, Buenos Aires, 2000.

18Gayatri Spivak, In Other Worlds: Essays in Cultural Politics, Routledge, New York, 2006. Cythia Enloe, Banana, Beaches and Bases: Making Sense of International Politics, University of California Press, Berkeley, 1990.

19Walter Mignolo, The Darker Side of the Renaissance: Literacy, Territoriality and Colonization, The University of Michigan Press, Ann Arbor, 1995. Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000. Aníbal Quijano, „Colonialidad y Modernidad/Racionalidad“, in: Perú Indígena, 13, Lima, 1991, S. 11-20.

20Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

21Aníbal Quijano, „Colonialidad y Modernidad/Racionalidad“, in: Perú Indígena, 13, Lima, 1991, S. 11-20. Aníbal Quijano, „La colonialidad del poder y la experiencia cultural latinoamericana“, in: Roberto Briceño-León & Heinz R. Sonntag (Hrsg.), Pueblo, época y desarrollo: la sociología de América Latina, Nueva Sociedad, Caracas, 1998, S. 139-155. Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Übers. Alke Jenss & Stefan Pimmer, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2016; spanisches Original: Aníbal Quijano, „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, CLACSO, Buenos Aires, 2000.

22Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Übers. Alke Jenss & Stefan Pimmer, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2016; spanisches Original: Aníbal Quijano, „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, CLACSO, Buenos Aires, 2000.

23Kimberlé Crenshaw, „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics“, in: Feminism in the Law: Theory, Practice, and Criticism, University of Chicago Legal Forum, Chicago, 1989, S. 139-167. Rosa Linda Fregoso, MeXicana Encounters: The Making of Social Identities in the Borderlands, University of California Press, Berkeley, 2003.

24Aníbal Quijano, „Raza, Etnia y Nación en Mariátegui: cuestiones abiertas“, in: Roland Forgues (Hrsg.), José Carlos Mariátegui y Europa: el otro aspecto del descubrimiento, Editorial Amauta, Lima, 1993, S. 167-188.

25Ramón Grosfoguel, „Colonial Difference, Geopolitics of Knowledge and Global Coloniality in the Modern/Colonial Capitalist World-System“, in: Review (Fernand Braudel Center), 25, New York, 2002, S. 203-224.

26Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Übers. Alke Jenss & Stefan Pimmer, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2016; spanisches Original: Aníbal Quijano, „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, CLACSO, Buenos Aires, 2000. Ramón Grosfoguel, „Colonial Difference, Geopolitics of Knowledge and Global Coloniality in the Modern/Colonial Capitalist World-System“, in: Review (Fernand Braudel Center), 25, New York, 2002, S. 203-224.

27Aníbal Quijano, „Raza, Etnia y Nación en Mariátegui: cuestiones abiertas“, in: Roland Forgues (Hrsg.), José Carlos Mariátegui y Europa: el otro aspecto del descubrimiento, Editorial Amauta, Lima, 1993, S. 167-188.

28Kyriakos Kontopoulos, The Logic of Social Structures, Cambridge University Press, Cambridge, 1993.

29Ramón Grosfoguel, „Colonial Difference, Geopolitics of Knowledge and Global Coloniality in the Modern/Colonial Capitalist World-System“, in: Review (Fernand Braudel Center), 25, New York, 2002, S. 203-224.

30Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Übers. Alke Jenss & Stefan Pimmer, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2016; spanisches Original: Aníbal Quijano, „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, CLACSO, Buenos Aires, 2000.

31Ramón Grosfoguel, „Colonial Difference, Geopolitics of Knowledge and Global Coloniality in the Modern/Colonial Capitalist World-System“, in: Review (Fernand Braudel Center), 25, New York, 2002, S. 203-224.

32Ebenda.

33Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980; französisches Original: Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Les Éditions du Seuil, Paris, 1952.

34Ramón Grosfoguel, „From Cepalismo to Neoliberalism: A World-System Approach to Conceptual Shifts in Latin America”, in: Review (Fernand Braudel Center), 19, New York, 1996, S. 131-154.

35Ramón Grosfoguel, „Colonial Difference, Geopolitics of Knowledge and Global Coloniality in the Modern/Colonial Capitalist World-System“, in: Review (Fernand Braudel Center), 25, New York, 2002, S. 203-224.

36Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Übers. Alke Jenss & Stefan Pimmer, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2016; spanisches Original: Aníbal Quijano, „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, CLACSO, Buenos Aires, 2000. Ramón Grosfoguel, „Colonial Difference, Geopolitics of Knowledge and Global Coloniality in the Modern/Colonial Capitalist World-System“, in: Review (Fernand Braudel Center), 25, New York, 2002, S. 203-224.

37Aníbal Quijano, „Colonialidad y Modernidad/Racionalidad“, in: Perú Indígena, 13, Lima, 1991, S. 11-20. Aníbal Quijano, „Raza, Etnia y Nación en Mariátegui: cuestiones abiertas“, in: Roland Forgues (Hrsg.), José Carlos Mariátegui y Europa: el otro aspecto del descubrimiento, Editorial Amauta, Lima, 1993, S. 167-188. Aníbal Quijano, „La colonialidad del poder y la experiencia cultural latinoamericana“, in: Roberto Briceño-León & Heinz R. Sonntag (Hrsg.), Pueblo, época y desarrollo: la sociología de América Latina, Nueva Sociedad, Caracas, 1998, S. 139-155.

38Immanuel Wallerstein, The Capitalist World-Economy, Cambridge University Press and Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, Cambridge/​Paris, 1979. Immanuel Wallerstein, After Liberalism, The New Press, New York, 1995.

39Immanuel Wallerstein, Die Sozialwissenschaft „kaputtdenken“. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, Übers. Nicole Jeschke & Britta Krüger, Beltz Athenäum, Weinheim, 1995; englisches Original: Immanuel Wallerstein, Unthinking Social Science: The Limits of Nineteenth Century Paradigms, Polity, Cambridge, 1991.

40Immanuel Wallerstein, The Capitalist World-Economy, Cambridge University Press and Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, Cambridge/​Paris, 1979. Immanuel Wallerstein, The Politics of the World-Economy, Cambridge University Press & Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, Cambridge & Paris, 1984. Immanuel Wallerstein, After Liberalism, The New Press, New York, 1995.

41Immanuel Wallerstein, Geopolitics and Geoculture, Cambridge University Press & Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, Cambridge & Paris, 1991. Immanuel Wallerstein, After Liberalism, The New Press, New York, 1995. Aníbal Quijano, „La colonialidad del poder y la experiencia cultural latinoamericana“, in: Roberto Briceño-León & Heinz R. Sonntag (Hrsg.), Pueblo, época y desarrollo: la sociología de América Latina, Nueva Sociedad, Caracas, 1998, S. 139-155. Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000. Edgardo Lander, „Eurocentrism and Colonialism in Latin American Social Thought“, in: Nepantla: Views from South, 1, Duke University Press, Durham, 2000, S. 519-532. Orientalismus, Übers. Hans Günter Holl, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2009; englisches Original: Edward Said, Orientalism, Pantheon Books, New York, 1978.

42Immanuel Wallerstein, The Politics of the World-Economy, Cambridge University Press & Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, Cambridge & Paris, 1984. Aníbal Quijano, „Raza, Etnia y Nación en Mariátegui: cuestiones abiertas“, in: Roland Forgues (Hrsg.), José Carlos Mariátegui y Europa: el otro aspecto del descubrimiento, Editorial Amauta, Lima, 1993, S. 167-188. Walter Mignolo, The Darker Side of the Renaissance: Literacy, Territoriality and Colonization, The University of Michigan Press, Ann Arbor, 1995.

43Aníbal Quijano, „Raza, Etnia y Nación en Mariátegui: cuestiones abiertas“, in: Roland Forgues (Hrsg.), José Carlos Mariátegui y Europa: el otro aspecto del descubrimiento, Editorial Amauta, Lima, 1993, S. 167-188. Aníbal Quijano, „La colonialidad del poder y la experiencia cultural latinoamericana“, in: Roberto Briceño-León & Heinz R. Sonntag (Hrsg.), Pueblo, época y desarrollo: la sociología de América Latina, Nueva Sociedad, Caracas, 1998, S. 139-155. Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Übers. Alke Jenss & Stefan Pimmer, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2016; spanisches Original: Aníbal Quijano, „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, CLACSO, Buenos Aires, 2000.

44Kyriakos Kontopoulos, The Logic of Social Structures, Cambridge University Press, Cambridge, 1993.

45Gayatri Spivak, In Other Worlds: Essays in Cultural Politics, Routledge, New York, 2006.

46Edward Said, Orientalismus, Übers. Hans Günter Holl, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2009; englisches Original: Edward Said, Orientalism, Pantheon Books, New York, 1978.

47Immanuel Wallerstein, Die Sozialwissenschaft „kaputtdenken“. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, Übers. Nicole Jeschke & Britta Krüger, Beltz Athenäum, Weinheim, 1995; englisches Original: Immanuel Wallerstein, Unthinking Social Science: The Limits of Nineteenth Century Paradigms, Polity, Cambridge, 1991, S. 8-9.

48Ebenda, S. 8-9.

49Ebenda, S. 321-322.

50Ebenda, S. 273.

51Kyriakos Kontopoulos, The Logic of Social Structures, Cambridge University Press, Cambridge, 1993.

52Aníbal Quijano, „Colonialidad y Modernidad/Racionalidad“, in: Perú Indígena, 13, Lima, 1991, S. 11-20. Aníbal Quijano, „Raza, Etnia y Nación en Mariátegui: cuestiones abiertas“, in: Roland Forgues (Hrsg.), José Carlos Mariátegui y Europa: el otro aspecto del descubrimiento, Editorial Amauta, Lima, 1993, S. 167-188. Aníbal Quijano, „La colonialidad del poder y la experiencia cultural latinoamericana“, in: Roberto Briceño-León & Heinz R. Sonntag (Hrsg.), Pueblo, época y desarrollo: la sociología de América Latina, Nueva Sociedad, Caracas, 1998, S. 139-155.

53Kyriakos Kontopoulos, The Logic of Social Structures, Cambridge University Press, Cambridge, 1993.

54Immanuel Wallerstein, Die Sozialwissenschaft „kaputtdenken“. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, Übers. Nicole Jeschke & Britta Krüger, Beltz Athenäum, Weinheim, 1995; englisches Original: Immanuel Wallerstein, Unthinking Social Science: The Limits of Nineteenth Century Paradigms, Polity, Cambridge, 1991, S. 273.

55André Gunder Frank, Latein America. Unterentwicklung oder Revolution, Sozialistisches Büro, Offenbach, 1969; englisches Original: André Gunder Frank, Latin America: Underdevelopment or Revolution. Essays on the Development of Underdevelopment and the Immediate Enemy, Monthly Review Press, New York, 1969. André Gunder Frank et al., Economia politica del subdesarrollo en America Latina, Ediciones Signos, Buenos Aires, 1970.

56Immanuel Wallerstein, „The Collapse of Liberalism“, in: Ralph Miliband & Leo Panitch, The Socialist Register 1991, The Merlin Press, London, 1992, S. 96-110.

57Immanuel Wallerstein, „The Concept of National Development, 1917-1989: Elegy and Requiem“, in: American Behavioral Scientist, 35, 1992, S. 517-529. Immanuel Wallerstein, „The Collapse of Liberalism“, in: Ralph Miliband & Leo Panitch, The Socialist Register 1991, The Merlin Press, London, 1992, S. 96-110.

58Aníbal Quijano, „Raza, Etnia y Nación en Mariátegui: cuestiones abiertas“, in: Roland Forgues (Hrsg.), José Carlos Mariátegui y Europa: el otro aspecto del descubrimiento, Editorial Amauta, Lima, 1993, S. 167-188.

59Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

60Aimé Césaire, An Afrika. Gedichte, Hanser, München, 1968; französisches Original: Aimé Césaire, Les armes miraculeuses, Gallimard, Paris, 1946.

61Ramón Grosfoguel, „From Cepalismo to Neoliberalism: A World-System Approach to Conceptual Shifts in Latin America”, in: Review (Fernand Braudel Center), 19, New York, 1996, S. 131-154.

62Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

63Ebenda.

64Immanuel Wallerstein, Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts, Promedia, Wien, 2002; englisches Original: Immanuel Wallerstein, Utopistics: Or, Historical Choices of the Twenty-first Century, New Press, New York, 1998.

65Ramón Grosfoguel, „From Cepalismo to Neoliberalism: A World-System Approach to Conceptual Shifts in Latin America”, in: Review (Fernand Braudel Center), 19, New York, 1996, S. 131-154.

66Gloria Anzaldúa, Borderlands/La Frontera: The New Mestiza, Aunt Lute Books, San Francisco, 2012.

67José David Saldívar, Border Matters, University of California Press, Berkeley, 1997.

68Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

69Enrique Dussel, Hacia una Filosofía Política Crítica, Desclée de Brouwer, Bilbao, 2001.

70Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

71Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Übers. Alke Jenss & Stefan Pimmer, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2016; spanisches Original: Aníbal Quijano, „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, CLACSO, Buenos Aires, 2000.

72David Harvey, Der neue Imperialismus, Übers. Britta Dutke, VSA-Verlag, Hamburg, 2005; englisches Original: David Harvey, The new imperialism, Oxford University Press, Oxford, 2003.

73Ebenda.

74Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

75Ebenda.

4 Was ist Rassismus?

4 Was ist Rassismus? Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 22

 

 Zone des Seins und Zone des Nicht-Seins in den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos

 4.1 Einführung

Seit Jean-Paul Sartre hat es keinen europäischen Denker mehr mit einem politischen und sozialen Engagement für den globalen Süden gegeben wie Boaventura de Sousa Santos. De Sousa Santos übertrifft Sartre jedoch insofern, als letzterer nie von den Epistemologien des Südens beeinflusst war oder diese ernst nahm. Sartre war sein Leben lang Existentialist, ohne seine eurozentrischen Vorurteile zu überdenken oder sich vom Denken des Südens beeinflussen zu lassen.

Im Gegensatz dazu hat Boaventura de Sousa Santos das gemeinsame und den globalen Süden miteinbeziehende Denken zur Priorität für die Wissensproduktion in den Sozialwissenschaften gemacht. De Sousa Santos teilt den Grundsatz, dass „das Verständnis der Welt […] bei Weitem über das westliche Verständnis der Welt hinaus[geht]“.1

Seine Soziologie ist ein Bruch mit dem eurozentrischen Universalismus, indem sie die Schaffung einer Epistemologie des Südens durch eine Wissensökologie fordert, die alles von sozialwissenschaftlichem Wissen bis hin zu anderen Epistemologien und Wissensformen, die vom Süden aus hervorgebracht werden, umfasst. Die Wissensökologie ist ein grundlegendes epistemisches Prinzip in den Werken von de Sousa Santos, das den dialogischen Ausgangspunkt darstellt, der ein Entkommen aus dem eurozentrischen monokulturalistischen Monolog ermöglicht.

In diesem Beitrag möchte ich die Bedeutung und die fruchtbare Begegnung der Werke von de Sousa Santos und Fanon hervorheben, um die mit dem Rassismusbegriff verbundenen Komplexitäten zu verstehen.

4.2 Der Fanonsche Rassismusbegriff

Für Fanon ist der Rassismus eine globale Machthierarchie von Superiorität und Inferiorität entlang der Grenze des Menschseins, die über Jahrhunderte durch das „moderne/koloniale kapitalistische/patriarchalische imperialistische/westzentrische“ Weltsystem politisch produziert und reproduziert wurde.2 Menschen, die sich oberhalb der Grenze des Menschseins befinden, werden in ihrem Menschsein als Menschen mit Rechten und Zugang zu Subjektivität und Menschen-/Bürger-/Zivil-/Arbeitsrechten gesellschaftlich anerkannt. Menschen unterhalb der Grenze des Menschseins werden als untermenschlich oder nicht-menschlich betrachtet, das heißt ihr Menschsein wird in Frage gestellt und somit negiert.3 Es gibt viele wichtige Punkte, die bei dieser Definition hervorzuheben sind.

Erstens erlaubt uns die Fanonsche Definition von Rassismus, verschiedene Formen des Rassismus zu begreifen und die Reduktionismen vieler Definitionen zu vermeiden. In Abhängigkeit von der jeweiligen kolonialen Geschichte in verschiedenen Regionen der Welt kann die Machthierarchie von Superiorität/Inferiorität entlang der Grenze des Menschseins mit verschiedenen rassialistischen Kennzeichen geschaffen werden. Rassismus kann durch farbliche, ethnische, sprachliche, kulturelle oder religiöse Identität gekennzeichnet sein. Obwohl der Farbrassismus in vielen Teilen der Welt vorherrschend gewesen ist, ist er nicht die einzige und ausschließliche Form des Rassismus.

Oft missverstehen wir die spezielle Form der Kennzeichnung von Rassismus in einer Region der Welt als die ausschließliche, universale Form der Kennzeichnung von Rassismus auf der ganzen Welt. Dies hat zu einer Fülle von theoretischen und begrifflichen Problemen geführt. Wenn wir die spezielle Form des Rassismus, die sich eine Region oder ein Land der Welt zu Eigen macht, mit der universalen Definition von Rassismus zusammenfallen lassen, verlieren wir die Vielfalt der Rassismen aus den Augen, die in anderen Regionen nicht notwendigerweise auf dieselbe Weise gekennzeichnet sind. So kommen wir zu dem falschen Schluss, dass es in anderen Teilen der Welt keinen Rassismus gibt, wenn die Form der Kennzeichnung des Rassismus in einer bestimmten Region oder einem bestimmten Land nicht mit der Form der Kennzeichnung in einer anderen Region oder einem anderen Land übereinstimmt.

Rassismus entspricht einer Hierarchie der Superiorität/​Inferiorität entlang der Grenze des Menschseins. Diese Hierarchie kann mit verschiedenen Kennzeichen geschaffen/gekennzeichnet werden. Verwestlichte Eliten in der Dritten Welt (Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner) reproduzieren rassistische Praktiken gegenüber sozial „inferiorisierten“ ethnischen/rassischen Gruppen, wobei die Inferiorisierung je nach lokaler/kolonialer Geschichte über religiöse, ethnische, kulturelle oder farbliche Grenzen definiert oder gekennzeichnet werden kann.

In der irischen Kolonialgeschichte schufen die Briten ihre rassialistische Superiorität gegenüber den Iren nicht durch Kennzeichen der Hautfarbe, sondern durch die religiöse Identität. Was auf den ersten Blick wie ein religiöser Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken aussah, war in Wirklichkeit eine rassialistische/koloniale Beherrschung.

Das Gleiche gilt heute für die Islamophobie in Europa und den USA. Die religiöse Identität der Muslime stellt heute eines der hervorstechenden Kennzeichen für Inferiorität unterhalb der Grenze des Menschseins dar. Ich sage „eines der Kennzeichen“, denn in diesen beiden Regionen der Welt ist der Farbrassismus nach wie vor sehr wichtig und auf komplexe Weise mit dem religiösen Rassismus verwoben.

Während jedoch in vielen Regionen der Welt die ethnisch-rassische Hierarchie der Superiorität/Inferiorität durch die Hautfarbe gekennzeichnet wird, wird sie in anderen Regionen durch ethnische und sprachliche Praktiken oder religiöse und kulturelle Identität geschaffen. Die Rassialisierung erfolgt durch die Kennzeichnung von Körpern mit Identitäten, die als Symbole für Superiorität oder Inferiorität gelten. Einige Körper werden als superior und andere als inferior rassialisiert.

Der wesentliche Punkt für Fanon ist, dass diese Subjekte, die sich auf der superioren Seite der Grenze des Menschseins befinden, in der von ihm so genannten „Zone des Seins“ leben, während die Subjekte/Untertanen, die sich auf der inferioren Seite dieser Grenze befinden, in der „Zone des Nicht-Seins“ leben.4 Dabei handelt es sich nicht um geografische Begriffe, sondern um Positionen in rassischen/ethnischen Hierarchien.

4.3 Differenzierte Intersektionalität:
Zone des Seins und Zone des Nicht-Seins

In einer kolonialen/kapitalistischen/imperialen Welt stellt die Rasse die transversale Trennlinie dar, die sich durch Beziehungen der klassistischen, nationalen, sexuellen und geschlechtlichen Unterdrückung auf globaler Ebene hindurchzieht. Dies ist als „Kolonialität“ oder Rasse als Infrastruktur bekannt geworden.5

Die „Intersektionalität“ oder „Verflechtung“ der Machtbeziehungen von Rasse, Klasse, Sexualität und Geschlecht, ein von schwarzen Feministinnen entwickeltes Konzept6, tritt in beiden von Fanon beschriebenen Zonen der Welt auf. Die gelebte Erfahrung der verschiedenen Unterdrückungen und die besondere Art und Weise, wie die Intersektionalität auftritt, unterscheidet sich in der Zone des Seins jedoch von der in der Zone des Nicht-Seins. Dies hängt mit den Unterschieden in der Materialität der vom System eingesetzten Beherrschung zusammen.

In der Zone des Seins erfahren die Subjekte aus Gründen rassialistischer Superiorisierung keine rassialistische Unter­drückung, sondern ein rassialistisches Privileg. Wie später erörtert wird, hat dies grundlegende Auswirkungen darauf, wie sie mit klassistischer, sexueller und geschlechtlicher Unterdrückung umgehen.

In der Zone des Nicht-Seins erfahren die Subjekte aus Gründen rassialistischer Inferiorisierung rassialistische Unterdrückung anstelle von rassialistischem Privileg. Daher ist die Unterdrückung von Klasse, Sexualität und Geschlecht, die es in der Zone des Nicht-Seins gibt, qualitativ anders und verheerender als die Unterdrückungen, die es in der Zone des Seins gibt.

Der Punkt, der hervorgehoben werden sollte, ist, dass es einen qualitativen Unterschied gibt zwischen der Intersektionalität/Verflechtung von Unterdrückungen, die in der Zone des Seins und der Zone des Nicht-Seins im „modernen/kolonialen christo-/westzentrischen patriarchalischen/kapitalistischen“ Weltsystem bestehen.7 Doch während in der Zone des Seins die Unterdrückungen von Klasse, Geschlecht und Sexualität durch das rassialistische Privileg abgeschwächt werden, werden diese Unterdrückungen in der Zone des Nicht-Seins durch die rassialistische Unterdrückung verstärkt.

Für Fanon ist keine dieser beiden Zonen homogen. Beide Zonen sind heterogene Räume.

Innerhalb der Zone des Seins besteht ein ständiger Konflikt zwischen dem, was die Hegelsche Philosophie als Dialektik der Anerkennung zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“ charakterisiert. In der Dialektik zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“ innerhalb der Zone des Seins gibt es Konflikte, die aber keine rassialistischen Konflikte sind, weil das Menschsein des unterdrückten Anderen vom Unterdrücker, dem „Ich“, anerkannt wird. Alle Subjekte, die oberhalb der Grenze des Menschseins leben, auch jene unterdrückten, werden als superiore Wesen verübermenscht (hyper-humanized).

Das „Ich“ in einem patriarchalischen/kapitalistischen/imperialen System sind die westlichen, heterosexuellen, männlichen, metropolitanen, kapitalistischen Eliten und die verwestlichten heterosexuellen männlichen Eliten in der Peripherie der Weltwirtschaft.

Die „Anderen“ sind die westliche Bevölkerung der metropolitanen Zentren oder die verwestlichten Menschen in den Peripherien, deren Menschsein zwar anerkannt wird, die in ihren jeweiligen Regionen und Ländern aufgrund von Klasse, Sexualität oder Geschlecht aber gleichzeitig nicht-rassialistische Unterdrückungen durch das imperiale „Ich“ erfahren.

Die Zone des Seins und die Zone des Nicht-Seins sind keine spezifischen geografischen Orte, sondern sie drücken eine Positionalität in rassialistischen Machtbeziehungen aus, die auf globaler Ebene zwischen Zentren und Peripherien, aber auch auf lokaler und nationaler Ebene gegenüber verschiedenen rassialistisch inferiorisierten Gruppen überall auf der Welt zum Vorschein kommt. Zonen des Seins und Nicht-Seins gibt es auf globaler Ebene zwischen verwestlichten Zentren und nicht-westlichen Peripherien (globale Kolonialität), Zonen des Seins und Nicht-Seins gibt es aber auch innerhalb der Peripherien (interner Kolonialismus).

Den internen Kolonialismus gibt es sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie. Die Zone des Nicht-Seins innerhalb eines (zentralen oder peripheren) Landes wäre die Zone des internen Kolonialismus. In der Zone des Nicht-Seins werden alle Subjekte zu inferioren Wesen entmenschlicht.

Genau hier hilft die dekoloniale kritische Theorie von Boaventura de Sousa Santos8 dabei, den Unterschied in der Materialität der Beherrschung zwischen der Zone des Seins und der Zone des Nicht-Seins klarzustellen.

4.4 Fanonsche Zonen und die abyssale Linie von de Sousa Santos

Für de Sousa Santos9 gibt es in der Moderne eine abyssale Linie zwischen den Menschen oberhalb und den Menschen unterhalb dieser Linie. Wenn wir diese Linie als die Fanonsche Grenze des Menschseins übersetzen und denjenigen, die sich oberhalb der abyssalen Linie befinden, die Zone des Seins und denjenigen, die sich unterhalb dieser Linie befinden, die Zone des Nicht-Seins zuweisen, können wir unser Verständnis der Moderne/Modernität und ihres kolonialen/rassialistischen/patriarchalischen/imperialen/kapitalistischen Weltsystems der Unterdrückungen, in dem wir leben, erweitern.

Für de Sousa Santos besteht die Art und Weise, wie das System in der Zone des Seins (oberhalb der abyssalen Linie) mit Konflikten umgeht, in dem, was er Mechanismen der Regulierung und Emanzipation nennt. Dabei gibt es Kennzeichen für Arbeits-/Bürger-/Frauen-/Menschenrechte, Anstandsbeziehungen, Verhandlungsräume und politische Maßnahmen, die dem unterdrückten „Anderen“ in seinem Konflikt mit dem Unterdrücker, dem „Ich“, innerhalb der Zone des Seins anerkannt und gewährt werden.

Emanzipation bezieht sich auf Konzepte von Freiheit, Autonomie und Gleichheit, die Teil der diskursiven, institutionellen und rechtlichen Ziele der Konfliktbewältigung in der Zone des Seins sind. Die Tendenz geht dahin, dass Konflikte in der Zone des Seins durch gewaltfreie Methoden materiell bewältigt werden. Gewalt ist immer eine Ausnahme und auf sie wird nur in außergewöhnlichen Momenten zurückgegriffen. Damit wird nicht geleugnet, dass es in der Zone des Seins nicht auch gewaltsame Momente gibt. Sie stellen jedoch eher die Ausnahme als die Regel dar.

Im Gegensatz dazu werden, wie de Sousa Santos feststellt,in der Zone des Nicht-Seins unterhalb der abyssalen Linie, in der die Bevölkerungen in dem Sinne entmenschlicht sind, dass sie als unterhalb der Grenze des Menschseins betrachtet werden, die Methoden, die das heterosexuelle/männliche/kapitalistische/imperiale „Ich“ und sein institutionelles System zur Bewältigung und Verwaltung von Konflikten anwenden, durch Gewalt sowie offene und unverhohlene Aneignung/Enteignung bestimmt.

Die Tendenz geht dahin, dass Konflikte in der Zone des Nicht-Seins durch fortwährende Gewalt ausgetragen werden und nur in außergewöhnlichen Momenten auf friedliche Methoden der Regulierung und Emanzipation zurückgegriffen wird. Da das Menschsein der in die Zone des Nicht-Seins klassifizierten Menschen nicht anerkannt wird und sie als Nicht- oder Unter-Menschen behandelt werden, das heißt ohne Rechtsnormen und Anstand, werden Gewaltakte, Verletzungen und Aneignung/Enteignung zugelassen, die in der Zone des Seins inakzeptabel wären.

Für de Sousa Santos sind beide Zonen Teil des Projekts der kolonialen Moderne.

Für Fanon andererseits bricht die Dialektik der gegenseitigen Anerkennung des „Ich“ und des „Anderen“, die es in der Zone des Seins gibt, in der Zone des Nicht-Seins zusammen, da in ihr das Menschsein des Anderen nicht anerkannt wird. Kurzum, die Materialität der Beherrschung ist in der Zone des Seins anders als in der Zone des Nicht-Seins. In der Zone des Seins haben wir Formen der Konfliktbewältigung mit immerwährendem Frieden und außergewöhnlichen Momenten des Krieges, während wir in der Zone des Nicht-Seins einen fortwährenden Krieg mit außergewöhnlichen Momenten des Friedens haben.

4.5 Intersektionalität und Stratifikation in den durch die abyssale Linie gekennzeichneten Zonen

Die Unterdrückungen von Klasse, Geschlecht und Sexualität, wie sie innerhalb der Zone des Seins und innerhalb der Zone des Nicht-Seins erfahren werden, sind nicht dieselben.

Da die Konflikte mit den herrschenden Klassen und den herrschenden Eliten in der Zone des Seins von Natur aus vor dem Hintergrund eines rassialistischen Privilegs erfahren werden, teilt der unterdrückte „andere Seiende“ in den Klassen-, Geschlechter- und Sexualkonflikten die Privilegien der imperialen Rechte, der emanzipatorischen Diskurse der Aufklärung und der Prozesse der Verhandlung oder Konfliktlösung. So werden in der Zone des Seins die mannigfaltigen Unterdrückungen durch das rassialistische Privileg auf abgeschwächte Weise erfahren.

Da die Klassen-, Geschlechter- und Sexualkonflikte durch die rassialistische Unterdrückung in der Zone des Nicht-Seins verstärkt werden, werden die dortigen Konflikte im Gegensatz dazu mit gewaltsamen Methoden und fortwährender Aneignung/Enteignung ausgetragen und bewältigt. Die Unterdrückung aufgrund von Klasse, Sexualität und Geschlecht, die von dem „anderen Nicht-Seienden“ erfahren wird, wird durch die Artikulation dieser Unterdrückung vor dem Hintergrund der rassialistischen Unterdrückung verschärft.

Während zum Beispiel Arbeiter, die einen oder zwei Dollar pro Tag verdienen, wobei sie zehn oder vierzehn Stunden am Tag arbeiten, in der Zone des Nicht-Seins ihr Leben riskieren, wenn sie versuchen, eine Gewerkschaft zu organisieren, genießen Arbeiter in der Zone des Seins Arbeitsrechte, höhere Stundenlöhne und bessere Arbeitsbedingungen. Obwohl eine Arbeiterin in einer Maquiladora in Ciudad Juarez, die zwei Dollar am Tag verdient, formal eine Lohnarbeiterin ist, hat ihre Lebenserfahrung nichts mit der einer Lohnarbeiterin in der Boeing Company in Seattle zu tun, die hundert Dollar in einer Stunde verdient.

Das gleiche Prinzip gilt für die Unterdrückung aufgrund von Geschlecht und Sexualität. Westliche Frauen und westliche Schwule/Lesben haben Zugang zu Ressourcen, Reichtum, Rechten und Macht, der unverhältnismäßig größer ist als der von unterdrückten nicht-westlichen Frauen oder Schwulen/Lesben in der Zone des Nicht-Seins. Tatsächlich haben westliche Frauen, obwohl sie eine demografische Minderheit in der Welt darstellen, trotz der Geschlechterunterdrückung in der Zone des Seins mehr Macht, Ressourcen und Reichtum als die Mehrheit der Männer in der Welt, die nicht-westlicher Herkunft sind und in der Zone des Nicht-Seins des gegenwärtigen Systems leben.

In der Ordnung der westlich-zentrierten imperialen Verhältnisse ist es nicht dasselbe, ein „anderer Mensch“ in der Zone des Seins zu sein, wie ein „anderer Nicht-Mensch“ in der Zone des Nicht-Seins.

Für Fanon und de Sousa Santos ist die Zone des Seins die imperiale Welt, die nicht nur die imperialen Eliten, sondern auch deren unterdrückte westliche Subjekte oder verwestlichte Subjekte (Eliten in der Dritten Welt) mit einschließt, während die Zone des Nicht-Seins die koloniale/neokoloniale Welt mit ihren unterdrückten nicht-westlichen Subjekten darstellt.

Aber auch die Zone des Nicht-Seins ist heterogen und stratifiziert. Das bedeutet, dass in der Zone des Nicht-Seins jenseits der Unterdrückung, die die Subjekte durch die privilegierten Subjekte in der Zone des Seins erfahren, zusätzlich Unterdrückungen bestehen, die innerhalb der Zone des Nicht-Seins zwischen Subjekten ausgeübt werden, die derselben Zone angehören und ebenfalls stratifiziert sind.

Ein nicht-westlicher, heterosexueller Mann aus der Zone des Nicht-Seins ist gegenüber nicht-westlichen heterosexuellen Frauen und/oder Schwulen/Lesben innerhalb der Zone des Nicht-Seins privilegiert. Trotz der Tatsache, dass der nicht-westliche heterosexuelle Mann im Verhältnis zur Zone des Seins ein unterdrücktes Subjekt in der Zone des Nicht-Seins ist, unterdrückt er die Frau und/oder einen Schwulen/eine Lesbe in der Zone des Nicht-Seins. Das Problem ist, dass die nicht-westliche Frau und nicht-westliche Schwule/Lesben in der Zone des Nicht-Seins nicht nur von westlichen Menschen unterdrückt werden, die die Zone des Seins bewohnen, sondern auch von anderen Subjekten, die der Zone des Nicht-Seins angehören.

Dies hängt mit den mannigfaltigen Unterdrückungen zusammen, die schwarze Feministinnen stets betonen. Dies bedeutet eine doppelte, dreifache oder vierfache Unterdrückung für unterdrückte nicht-westliche Subjekte innerhalb der Zone des Nicht-Seins, die in keinem Vergleich zu jenen unterdrückten westlichen Subjekten innerhalb der Zone des Seins mit dem Zugang zu Arbeits-/Bürger-/Menschenrechten, Normen von Anstand und emanzipatorischen Diskursen steht, die von jenen unterdrückten westlichen Subjekten innerhalb der Zone des Seins anerkannt und gelebt werden.

Diese Konzeptualisierung ist von entscheidender Bedeutung, um städtische Gebiete heute zu verstehen. Städte gehören zu den wichtigsten Räume, in denen sich Rassismus und seine Materialität der Beherrschung, Gewalt und Enteignung manifestieren. Obwohl es sich bei der Zone des Seins und der Zone des Nicht-Seins nicht um geografische Orte, sondern um Positionen in globalen rassialistischen/ethnischen Machthierarchien handelt, haben sie räumliche Erscheinungsformen.

Es gibt städtische Räume, die zu den Zonen des Nicht-Seins gehören, in denen sich die Materialität der Beherrschung in Gewalt und Enteignung äußert. In diesen Räumen sind die institutionellen Praktiken rassistisch, weil sie gewaltsam sind und zur Enteignung und zum vorzeitigen Tod der Bevölkerung führen. Die Frage des vorzeitigen Todes kann durch einen plötzlichen und unerwarteten Tod aufgrund von Polizeibrutalität oder durch eine Krankheit ausgelöst werden, die dadurch entsteht, dass man dem Müll der Stadt aufgrund von ungesunden oder vergifteten Lebensmitteln/Wasserbeständen/Gebäuden/Gemeinschaften durch Verschmutzung, Fast Food, hohe Strahlungswerte und so weiter ausgesetzt ist. Sie sind von den Dienstleistungen der Stadt in Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Verkehrswesen ausgeschlossen.

Im Gegensatz dazu gibt es Räume, die zur Zone des Seins gehören und die ökologische „sichere Häfen“ sind, weil die Materialität der Beherrschung durch Methoden der Regulierung und Emanzipation erfolgt. Gemeinschaften in der Zone des Seins erfahren Polizeischutz anstelle von Polizeibrutalität, Schutz vor dem Müll und den giftigen Stoffen der Stadt und Zugang zu allen städtischen Dienstleistungen, einschließlich hochwertiger Bildung, Verkehrswesen und Gesundheitsversorgung.

Kurzum überschneiden sich die Räume in der Stadt, die über „symbolisches Kapital“10 verfügen, und die Räume mit „symbolischem Misskredit“ mit den rassistischen Machtverhältnissen von Zonen des Seins und Zonen des Nicht-Seins. Das symbolische Kapital, das heißt das Kapital von Prestige und Ehre, wird von den Bewohnern der städtischen Räume, die sich in den Zonen des Seins befinden, besessen und von den Bewohnern der städtischen Räume, die sich in der Zone des Nicht-Seins befinden, enteignet.

4.6 Koloniale Epistemologie, Dekolonisierung des Wissens und die Kritik des radikalen Anti-Essentialismus

Welche Bedeutung haben die Zone des Seins und die Zone des Nicht-Seins für die Erörterung der epistemischen Dekolonisierung im Kampf gegen den Eurozentrismus?

Epistemische Dekolonisierung impliziert eine Entkopplung (delinking) vom Eurozentrismus. Die Frage ist jedoch: Entkopplung wovon?

Was wir heute als kritische Theorie oder kritisches Denken kennen, ist eine Gesellschaftstheorie, die aus der sozialen und historischen Erfahrung des „Anderen“, der innerhalb der Zone des Seins unterdrückt wird, hervorgegangen ist. Marxismus, kritische Theorie, Poststrukturalismus, Psychoanalyse und Feminismus sind Modalitäten des kritischen Denkens, die aus der epistemischen Position des „Anderen“ innerhalb der Zone des Seins hervorgegangen sind.

Die rassialistische Inferiorität der Zone des Nicht-Seins tritt nicht nur in Bezug auf Prozesse der Beherrschung und Ausbeutung in ökonomischen, politischen und kulturellen Machtverhältnissen auf, sondern auch in epistemologischen Prozessen.

Epistemischer Rassismus/Sexismus bezieht sich auf eine Hierarchie kolonialer Beherrschung, in der Wissen, das von westlichen männlichen Subjekten (sowohl imperialen als auch unterdrückten) innerhalb der Zone des Seins hervorgebracht wird, a priori gegenüber dem Wissen, das von nicht-westlichen kolonialen Subjekten innerhalb der Zone des Nicht-Seins hervorgebracht wird, als superior angesehen wird. Die Behauptung lautet, dass Wissen, das von Subjekten hervorgebracht wird, die der Zone des Seins angehören, sei es vom rechten Standpunkt des imperialen „Ichs“ oder vom linken Standpunkt des verwestlichten unterdrückten „Anderen“ innerhalb der Zone des Seins aus, für alle Kontexte und Situationen in der Welt automatisch als universal gültig angesehen wird. Dies führt zu einer imperialen/kolonialen Epistemologie sowohl der Rechten als auch der Linken innerhalb der Zone des Seins, die die Theorien aus der Zone des Nicht-Seins nicht ernst nimmt und ihre theoretischen Schemata auferlegt, die von Realitäten ausgehen, die sich von den Situationen der unterdrückten Anderen in der Zone des Nicht-Seins stark unterscheiden.

Die kritische Theorie, die aus den sozialen Konflikten hervorgegangen ist, die die unterdrückten „Anderen“ innerhalb der Zone des Seins mit Zugang zu Prozessen der Regulierung und Emanzipation erfahren, wo rassialistische Beherrschung als Privileg und nicht als Unterdrückung erlebt wird, wird als konzeptuelles Kriterium für das Verständnis der sozialgeschichtlichen Erfahrungen jener Subjekte herangezogen, die fortwährende Gewalt und Aneignung/Enteignung erfahren, die durch rassialistische Konflikte in der Zone des Nicht-Seins hervorgerufen wurden.

Das Problem ist, dass die kritische Theorie, die aus der Zone des Seins hervorgegangen ist, die sozialen Konflikte und kolonialen Besonderheiten der Unterdrückungen, die in der Zone des Nicht-Seins erfahren werden, nicht berücksichtigt. Und wenn sie diese berücksichtigt, dann aus der Perspektive der sozialgeschichtlichen Erfahrung der Unterdrückten in der Zone des Seins. Die Auferlegung dieser kritischen Theorie aus der Zone des Seins auf die Zone des Nicht-Seins schafft eine von der Linken hervorgebrachte Kolonialität des Wissens.

Die kritische Theorie der Linken, die aus der Geo- und Körperpolitik des Wissens über den „Anderen“ in der Zone des Seins hervorgegangen ist, reicht weder aus, um die gelebten Probleme zu begreifen, noch, um zu verstehen, auf welche Weise die Prozesse der Gewalt und der Aneignung/Enteignung von Beherrschung und Ausbeutung in der Zone des Nicht-Seins zu artikulieren sind. Wenn die kolonialen Subjekte, die sich in der Zone des Nicht-Seins aufhalten, unkritisch und ausschließlich eine Gesellschaftstheorie übernehmen, die aus der Erfahrung des „Anderen“, der in der Zone des Seins unterdrückt worden ist, hervorgegangen ist, ohne die kritische Theorie ernst zu nehmen, die aus der sozialen/historischen Erfahrung des „anderen Nicht-Seienden“ in der Zone des Nicht-Seins hervorgegangen ist, sind sie einer mentalen Kolonisation ausgesetzt, die der verwestlichten Linken zuzurechnen ist.

Die kritischen Theorien der verwestlichten Linken in der Zone des Seins sind von wenigen Ausnahmen abgesehen blind für die gelebten Probleme in der Zone des Nicht-Seins und für den qualitativen Unterschied zwischen der erfahrenen Unterdrückung in der Zone des Seins im Gegensatz zu der in der Zone des Nicht-Seins. Der epistemische Rassismus/Sexismus in dieser kritischen Theorie geht so weit, dass der Anspruch erhoben wird, dass diese vom globalen Norden hervorgebrachte Theorie in gleicher Weise universal für den globalen Süden gelten sollte. Aber die Theorien, die von den „Anderen“, die in der Zone des Seins unterdrückt werden, hervorgebracht werden, neigen dazu, gegenüber der sozialen/historischen Erfahrung derjenigen des globalen Südens, die in der Zone des Nicht-Seins leben, blind zu sein. Diese Blindheit führt zur Unsichtbarkeit der in der Zone des Nicht-Seins gelebten Erfahrung von Beherrschung und Ausbeutung, wie zum Beispiel der fortwährenden Gewalt, die von der aus der Zone des Seins hervorgebrachten kritischen Theorie ignoriert oder untertheoretisiert (subtheo­rized) wird.

Eine wichtige Konsequenz aus dieser Erörterung ist daher, dass das Projekt der epistemischen Dekolonisierung eine Entkopplung sowohl von der Theorie der Rechten als auch von der Theorie der Linken impliziert, die aus der sozialen Erfahrung derjenigen in der Zone des Seins hervorgebracht wird, die blind gegenüber der sozialen Erfahrung derjenigen aus der Zone des Nicht-Seins sind. Aber Dekolonisierung muss von einer dekolonialen kritischen Theorie ausgehen, die die von den aus der Zone des Seins stammenden nordzentrischen kritischen Theorien verworfenen und unsichtbar gemachten Erfahrungen sichtbar macht.

Auf der politischen Ebene ist es so, dass kritische Theorien, die aus der Geo- und Körperpolitik des Wissens derjenigen hervorgehen, die in der Zone des Nicht-Seins die Materialität der Beherrschung erfahren, die durch Methoden der Gewalt und Aneignung/Enteignung gekennzeichnet ist, nicht so bekannt sind und als inferior gegenüber den kritischen Theorien angesehen werden, die von der verwestlichten Linken in der Zone des Seins hervorgebracht werden.

Das Problem ist nicht nur eines der epistemischen Kolonisation, sondern auch eines des politischen Missverstehens. Die politische Herausforderung besteht darin, Koalitionen und politische Bündnisse zwischen unterdrückten Subjekten als „Andere“ in der Zone des Seins und unterdrückten Subjekten in der Zone des Nicht-Seins gegen das westliche/kapitalistische/männliche/heterosexuelle/militärische „Ich“ zu bilden. Der Mangel an Kommunikation und der Umstand, dass die Unterdrückten in der Zone des Seins die Situation, die in der Zone des Nicht-Seins erlebt wird, missverstehen, führt zu einer ausweglosen Situation, um politische Bündnisse zu erreichen.

Wie kann eine Politik der Solidarität einen Weg entwickeln, der in beide Richtungen verlaufen kann und nicht ein einseitiges, paternalistisches, koloniales, rassistisches Handeln der verwestlichten Linken gegenüber den rassialistisch unterdrückten Menschen in der Zone des Nicht-Seins nach sich zieht?

Wenn die unterdrückten Menschen in der Zone des Seins eine kritische Theorie hervorbringen, die sie als die einzig gültige und exklusive betrachten, um die Welt zu verstehen, zu kritisieren und zu transformieren, und dabei andere Wege der kritischen Theoriebildung, die aus der Erfahrung der Zone des Nicht-Seins hervorgehen, unsichtbar und inferior machen, dann gibt es keine Bedingungen für die Möglichkeit eines politischen Bündnisses zu gleichen Bedingungen.

Die Zukunft liegt im Aufbau politischer Projekte, die epistemisch pluriversal und nicht universal sind, in denen es Raum für kritische epistemische Diversität gibt. Dazu müssen die Unterdrückten in der Zone des Seins die kritischen Theorien und das Wissen aus der Zone des Nicht-Seins ernst nehmen und daher in der Lage sein, politische Bündnisse gegen das imperiale „Ich“ in der Zone des Seins aufzubauen. Dies impliziert eine Dekolonisierung der Subjektivität des „Anderen“ in der Zone des Seins.

Die Dekolonisierung in der Zone des Seins ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Dekolonisierung in der Zone des Nicht-Seins.

Hier schlägt Boaventura de Sousa Santos ein weiteres Schlüsselkonzept vor: Interkulturelle Übersetzung.11 Interkulturelle Übersetzung ist von grundlegender Bedeutung, um Brücken zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen zu bauen. Ohne Übersetzung ist es nicht möglich, Unterschiede zu verstehen oder zu respektieren. Es ist nicht so, dass es bei Übersetzungsprozessen eine absolute Kommensurabilität gibt. Es gibt viele unübersetzbare Dinge, die inkommensurabel sind. Dies diskreditiert jedoch nicht die Räume der Übersetzung, der Verhandlung und des Respekts, die es ermöglichen, trotz der Unterschiedlichkeit der Situationen und politischen Projekte gemeinsam politisch zu handeln.

Interkulturelle Übersetzung ist aber nicht nur in unserer politischen Arbeit zu gebrauchen, sondern auch in unserer intellektuellen Arbeit. Wie de Sousa Santos12 sagt, ergänzt die Interkulturelle Übersetzung die Soziologie der Abwesenheiten und die Soziologie der Emergenzen, um die Anzahl und Mannigfaltigkeit der verfügbaren Erfahrungen zu bereichern. Letzteres ist von grundlegender Bedeutung, um über Methoden der Verstehbarkeit, Kohärenz und Artikulation zu verfügen.

Die Interkulturelle Übersetzung stellt im Werk von de Sousa Santos einen grundlegenden methodologischen Mechanismus dar, um angesichts der Zunahme möglicher und sichtbarer Erfahrungen, die die Soziologie der Abwesenheiten und die Soziologie der Emergenzen hervorbringen, für Verstehbarkeit und Kohärenz zu sorgen.

Die gleichen dekolonialen Methoden können jedoch nicht auf die gleiche Weise in der Zone des Seins und der Zone des Nicht-Seins angewandt werden, wenn wir vermeiden wollen, in eine andere Form des Kolonialismus seitens der Linken zu verfallen. In der Zone des Nicht-Seins ist die Überhöhung und der Aufbau starker Identitäten und Epistemologien mit starken Metanarrativen für den Prozess der Rekonstruktion und Dekolonisierung notwendig. Der Wiederaufbau starker Identitäten und Epistemologien ist eine Voraussetzung dafür, in der Zone des Nicht-Seins das wieder aufzubauen, was die Kolonialität durch die jahrhundertelange europäische koloniale Expansion zerstört und zur Inferiorität herabgesetzt hat.

Viele Postmodernisten, Poststrukturalisten und Marxisten wenden die Methode des radikalen Anti-Essentialismus in reaktionärer Weise gegen Indigene, Ureinwohner, Aborigines, Afrostämmige, Immigranten des Südens, nicht-westliche Bürger und andere koloniale Subjekte/Untertanen an, die dekoloniale Metanarrative aus der Zone des Nicht-Seins hervorbringen. Was die verwestlichte Linke mit ihrem radikalen Anti-Essentialismus tut – anstatt die Vorschläge, Visionen und Vorstellungen der kolonialen Subjekte/Untertanen zu übersetzen -, ist, sie zu diskreditieren. Die anti-essentialistischen Methoden der verwestlichten Linken machen sich letztlich zu Komplizen des historischen kolonialen Rassismus, der das von kolonialen Subjekten/​Untertanen hervorgebrachte Wissen und ihre Epistemologien inferiorisiert.

Nach Jahrhunderten der Zerstörung von Epistemologien, Wissen und Identitäten durchläuft die Dekolonisierung in der Zone des Nicht-Seins einen notwendigen Prozess der Rekonstruktion ihres eigenen Denkens und ihrer eigenen Identitäten. Die verwestlichte Linke hat Schwierigkeiten, diese Prozesse zu verstehen. Der radikale Anti-Essentialismus der verwestlichten Linken ist inzwischen zu einem Instrument des kolonialen Verschweigens, der epistemologischen Inferiorität und der politischen Unterschätzung der kritischen Stimmen geworden, die kritisches Denken aus der Zone des Nicht-Seins hervorbringen.

Dies ist darauf zurückzuführen, dass in der Zone des Seins das Gegenteil passiert ist – das heißt, dass Epistemologien und Identitäten als überlegen überhöht worden sind. Daher ist der radikale Anti-Essentialismus in der Zone des Seins von entscheidender Bedeutung, um überhöhte Egos, Identitäten und als rassialistisch-superior gedachte Epistemologien zu dekolonisieren.

Aber wenn er auf die Zone des Nicht-Seins angewendet wird, wo Identitäten und Epistemologien seit Jahrhunderten als rassialistisch-inferior angesehen werden, wird der radikale Anti-Essentialismus zu einem kolonialen Werkzeug, um ihre Stimmen zum Schweigen zu bringen und ihre Identität und ihre epistemischen dekolonialen Rekonstruktionen zu behindern.

Das Werk von Boaventura de Sousa Santos ist ein wichtiges Gegenmittel gegen diesen radikalen Anti-Essentialismus. Sein Anti-Essentialismus geht einher mit großem Respekt vor den Kulturen und Epistemologien des Südens, aber auch mit einer gewissen Vorsicht vor ihnen. Dies zeigt sich auch in seiner Forderung nach einer Ökologie von Wissen, Anerkennung mannigfaltiger Zeitlichkeiten, Trans-Skalen und Produktivitäten. Für de Sousa Santos beinhaltet die epistemische Diversität einen Dialog der Wissensbestände, der die Einbeziehung von Gedanken und Erfahrungen nicht-westlicher Kulturen als Ausgangspunkt für die Rückgewinnung der von der westlichen Vernunft verworfenen Erfahrungen ermöglicht. Daher vertritt er einen gemäßigten Anti-Essentialismus.

Radikale Dekonstruktion, De-Essentialisierung und De-Totalisierung sind grundlegende Methoden der Dekolonisierung in der Zone des Seins, die immer dann, wenn sie nicht extrapoliert werden, um das kritische Denken der kolonisierten Subjekte zu diskreditieren, einen wichtigen Schritt für imperiale Subjekte darstellen, um einen dekolonialen Prozess zu beginnen. Da die Identitäten und Epistemologien innerhalb der Zone des Seins historisch gesehen vom Westen als superior überhöht wurden, wird der radikale Anti-Essentialismus zu einer wichtigen dekolonialen Strategie für die Unterdrückten in der Zone des Seins. Aber dies ist nur ein erster Schritt im Prozess der Dekolonisierung der Zone des Seins. Die Dekolonisierung des Westens und der Privilegien der „Weißheit“ ist etwas, das viele andere Dinge mit sich bringt. Die privilegierte Positionalität eines westlichen „weißen“ Subjekts zu dekolonisieren, bedeutet zum Beispiel unter anderem, für folgende Forderungen zu kämpfen:

  1. Verlust von Privilegien (soziale, politische, ökonomische, epistemologische usw.), mit denen die kolonialen Subjekte auf der Suche nach egalitären/gleichen Beziehungen konfrontiert sind.
  2. Transfer von materiellen und symbolischen Ressourcen aus der Zone des Seins in die Zone des Nicht-Seins.
  3. Radikaler Widerstand gegen die imperialen/militärischen Aggressionen und die Polizeigewalt in der Zone des Nicht-Seins.
  4. Radikaler Antirassismus.
  5. Ernstnehmen des kritischen Denkens, das vom und aus dem globalen Süden kommt.

Es gibt viele andere Forderungen, die heute in einer dekolonisierenden Richtung für westliche/„weiße“ Subjekte erhoben werden können. Um dies zu bewältigen, müssen wir jedoch eine Welt mit einer neuen Machtstruktur schaffen, in der der Westen die Beherrschung oder Ausbeutung des Rests der Welt beendet.

Die Frage „Was bedeutet die Dekolonisierung der verwestlichten Subjekte?“ steht jedoch in Wirklichkeit erst am Anfang der Suche nach Antworten. Sie stellt eine Herausforderung dar, und noch immer gibt es keine klare Vorstellung davon. Die dekoloniale Soziologie von Boaventura de Sousa Santos ist ein grundlegender Schritt in diese Richtung.

 

 Literatur

Bourdieu, Pierre, Entwurf einer Theorie der Praxis, Übers. Cordula Pialoux & Bernd Schwibs, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2022; französisches Original: Pierre Bourdieu, Esquisse d’une théorie de la pratique. Précédé de Trois études d’ethnologie kabyle, Librairie Droz, Genf, 1972.

Crenshaw, Kimberlé, „Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color“, in: Stanford Law Review, 43, 1991, S. 1241-1279.

Davis, Angela Y., Rassismus und Sexismus, Schwarze Frauen und Klassenkampf in den USA, Übers. Erika Stöppler, Elefanten Press, Berlin, 1982; englisches Original: Angela Y. Davis, Women, Race and Class, Random House, New York, 1981.

Fanon, Frantz, Schwarze Haut, weiße Masken, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980; französisches Original: Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Les Éditions du Seuil, Paris, 1952.

Grosfoguel, Ramón, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.

 de Sousa Santos, Boaventura, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).


 


1Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).

2Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.

3Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980; französisches Original: Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Les Éditions du Seuil, Paris, 1952.

4Ebenda.

5Ebenda.

6Kimberlé Crenshaw, „Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color“, in: Stanford Law Review, 43, 1991, S. 1241-1279. Angela Y. Davis, Rassismus und Sexismus, Schwarze Frauen und Klassenkampf in den USA, Übers. Erika Stöppler, Elefanten Press, Berlin, 1982; englisches Original: Angela Y. Davis, Women, Race and Class, Random House, New York, 1981.

7Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.

8Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).

9Ebenda.

10Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Übers. Cordula Pialoux & Bernd Schwibs, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2022; französisches Original: Pierre Bourdieu, Esquisse d’une théorie de la pratique. Précédé de Trois études d’ethnologie kabyle, Librairie Droz, Genf, 1972.

11Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).

12Ebenda.

5 Epistemischer Extraktivismus

5 Epistemischer Extraktivismus Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 32

 

 Ein Dialog mit Alberto Acosta, Leanne Betasamosake Simpson und Silvia Rivera Cusicanqui

5.1 Einführung

Extraktivismus bleibt auch in der Gegenwart eine der problematischsten Praktiken, nicht nur in Lateinamerika, sondern überall in der Welt. Im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung ist Extraktivismus derjenige Mechanismus, der die Ausbeutung von Ressourcen und Rohmaterialien in der Peripherie – mit all ihren zerstörerischen Folgen für das Leben der Minenarbeiter, ihrer Gemeinschaften und die Umwelt – mit wissenschaftlichen Projekten wie der Organisation européenne pour la recherche nucléaire (CERN, Europäische Organisation für Kernforschung) in der Schweiz, Computerchips und iPhones verbindet. Extraktivismus hat Folgen nicht nur im Hinblick auf die Verarmung der Minenarbeiter, sondern auch für die Prozesse, die das Leben und die Ökologie des Planeten zerstören.

Im Gefolge des Zusammenbruchs der Aktienmärkte 2008 und des Aufstiegs Chinas mit seinem damit verbundenen Bedarf an Rohmaterialien für eine Form der westzentrischen, öko-destruktiven Industrialisierung, die nordzentrische Technologien repliziert, ist der Preis von Metallen auf noch nie dagewesene Höhen gestiegen. Dies führte zur Spekulation seitens der extraktiven Industrien auf den Aktienmärkten weltweit mit zerstörerischen ökologischen Folgen für den Planeten. Und neben der ökologischen Zerstörung schloss dies auch die Gewalt ein, die zur Vertreibung der Menschen von ihren Territorien eingesetzt wurde, von denen die meisten Subjekte/Untertanen waren, die innerhalb der „Zonen des Nicht-Seins“ im Weltsystem rassialisiert wurden.1

Die Opfer dieser Prozesse auf der ganzen Welt sind die Menschen, die als nicht-westlich klassifiziert werden, was im Falle Lateinamerikas vor allem indigene und afro-stämmige Bevölkerungen betrifft. Die Gewalt, die von bewaffneten Akteuren, staatlichen wie privaten, eingesetzt wird, ist dazu bestimmt, Territorien einer ethnischen Säuberung zu unterziehen, damit Bergbauunternehmen das Land und seine Ressourcen übernehmen können, insbesondere wenn die betroffenen Gemeinschaften sich weigern, sich kaufen zu lassen, und Widerstand gegen die extraktivistische Zerstörung organisieren.

Extraktivismus ist nicht neu: er hat eine lange Geschichte, die mit der europäischen kolonialen Expansion 1492 begonnen hat. So bemerkt der ecuadorianische Autor Alberto Acosta:

Extraktivismus ist eine Weise der Akkumulation, die sich bereits vor fünfhundert Jahren in großem Maßstab durchzusetzen begann. Die Weltwirtschaft – das kapitalistische System – wurde mit der Eroberung und Kolonisation der Amerikas, Afrikas und Asiens zu strukturieren begonnen. Diese extraktivistische Weise der Akkumulation ist seither durch die Anforderungen der metropolitanen Zentren des aufstrebenden Kapitalismus bestimmt worden. Manche Regionen spezialisierten sich auf die Extraktion und Produktion von Rohmaterialien – Grundstoffen -, während andere die Rolle übernahmen, verarbeitete Güter zu produzieren. Die ersteren exportieren Natur, die letzteren importieren sie.2

Als Europa bis ins neunzehnte Jahrhundert ein führender Markt für Produkte aus Asien war, floss das Gold und Silber, das die Europäer mittels der extraktiven Industrien in den Amerikas gewonnen hatten, zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert nach China und Indien ab. Dieses globale kapitalistische System, das mit der europäischen kolonialen Expansion 1492 begann, wurde von Anfang an auf der Grundlage der internationalen Arbeitsteilung in metropolitane Zentren und periphere Länder errichtet, wobei die einen Rohmaterialien exportierten und die anderen verarbeitete Güter.

Ohne die Eroberung von Afrika, Asien und Amerika hätte es keinen Weltkapitalismus gegeben. Es handelt sich also um ein System, das seit Anbeginn sowohl kapitalistisch als auch kolonialistisch war. Ohne Kolonialismus und Kolonialherrschaft würde es keinen globalen kapitalistischen Markt geben. Kolonialismus ist fundamental für Kapitalismus: der eine ist dem anderen inhärent. Folglich leben wir nicht in einem rein kapitalistischen System, sondern in einem historischen Kapitalismus, der seinem Wesen nach kolonial und daher rassistisch ist. Dieser Punkt ist im Text von Alberto Acosta implizit enthalten. Wir werden mit seiner Definition des Extraktivismus fortfahren:

Im Bemühen, zu einer verständlichen Definition zu gelangen, werden wir den Begriff des Extraktivismus verwenden, um solche Aktivitäten zu bezeichnen, die große Mengen von natürlichen Ressourcen entnehmen, die nicht verarbeitet werden (oder nur in einem stark begrenzten Maße verarbeitet werden), besonders für den Export. Extraktivismus ist nicht auf Mineralien oder Öl beschränkt. Extraktivismus tritt auch in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und sogar Fischerei auf. In der Praxis ist Extraktivismus ein Mechanismus der kolonialen und neokolonialen Ausplünderung und Aneignung gewesen. Dieser Extraktivismus, der im Laufe der Zeit in verschiedenen Verkleidungen aufgetreten ist, wurde in der Ausbeutung der Rohmaterialien geschmiedet, die für die industrielle Entwicklung und den Wohlstand des globalen Nordens von wesentlicher Bedeutung waren. Und dies wurde betrieben ohne Rücksicht auf die Nachhaltigkeit der extraktivistischen Projekte oder gar die Erschöpfung der Ressourcen. Dies wird noch durch den Umstand verschlimmert, dass das Meiste, was von den extraktiven Industrien produziert wird, nicht für den Konsum auf dem heimischen Markt bestimmt ist, sondern vor allem für den Export.3

Hier sehen wir, dass Extraktivismus die Entnahme von natürlichen Ressourcen, die für den Export nicht verarbeitet (oder nur minimal verarbeitet) werden, bedeutet und auf sehr viel mehr hinausläuft als bloße Extraktion von Mineralien oder Erdöl. Extraktivismus betrifft auch Agrikultur, Fischerei und Forstwirtschaft. Extraktivismus ist das Plündern und Ausrauben, das von der Kolonialzeit bis zum neoliberalen Neokolonialismus der Gegenwart beobachtet werden konnte. Er beinhaltet das Ausplündern, Enteignen, Rauben und Aneignen der Ressourcen des globalen Südens (den Süden des Nordens und den Süden innerhalb des Nordens) zugunsten bestimmter demographischer Minderheiten dieses Planeten, die den globalen Norden bilden (den Norden des Südens und den Norden innerhalb des Südens) und als rassialistisch-superior gelten sowie die kapitalistischen Eliten innerhalb des Weltsystems einschließen.4 Überdies ist der Extraktivismus von zentraler Bedeutung für die Zerstörung aller Formen des Lebens.

Extraktivismus folgt ganz genau dem westzentrischen Konzept der „Natur“. Das Problem mit diesem Konzept der „Natur“ liegt darin, dass es ein koloniales Konzept bleibt, da es ein Wort ist, das dem zivilisatorischen Projekt der Moderne eingeschrieben ist. In anderen Kosmogonien kommt beispielsweise das Wort „Natur“ nicht vor und existiert im Grunde nicht, da die sogenannte „Natur“ nicht ein Objekt ist, sondern ein Subjekt und Teil des Lebens in allen seinen (menschlichen und nicht-menschlichen) Formen. Der Begriff der Natur ist also seinem Wesen nach eurozentrisch, westzentrisch und anthropozentrisch. Es ist ein höchst problematisches Konzept, da es eine Spaltung zwischen Subjekt (Mensch) und Objekt (Natur) impliziert, in der das (menschliche) Subjekt Leben hat und der ganze Rest „Natur“ ist und als aus leblosen Objekten bestehend erachtet wird. Folglich sind ihre Formen des Lebens gegenüber menschlichem Leben inferior und der westlichen instrumentellen Rationalität von Zwecken und Mitteln eingeschrieben, in der „Natur“ zu einem Mittel für einen Zweck wird.

Kurzum, innerhalb der dualistischen, westzentrischen, cartesianischen Weltsicht wird der Mensch als außerhalb der Natur stehend erachtet; und Natur wird als Mittel zur Erlangung eines Zwecks betrachtet. Wenn dieses Prinzip auf die technologische Produktion angewandt wird, wie es während der vergangenen fünf Jahrhunderte der Moderne der Fall war, dann liefert es auch die Rechtfertigung für die Zerstörung des Lebens, da jede Technologie, die auf der Grundlage dieses Begriffs der „Natur“ entwickelt und in dieser dualistischen, westzentrischen Weise verstanden wird, ein Prinzip für die Zerstörung des Lebens in sich trägt, denn die Reproduktion des Lebens wird dabei nicht berücksichtigt. Es ist daher ein problematischer Begriff, der auf der Herrschaft durch die Kolonialität der Macht, des Wissens und des Seins beruht.

Im Gegensatz dazu bieten die nicht-westlichen Weltsichten in den Epistemologien des Südens,5 die sich nicht diesem dualistischen Weltbild verschreiben, sondern stattdessen einen holistischen Begriff der Diversität innerhalb der Einheit (oneness) einbegreifen (beispielsweise Pachamama der indigenen Andenvölker, tauhīd im Islam, Ubuntu in Afrika), eine ganz andere Perspektive. In dieser holistischen Sicht existiert „Natur“ nicht, sondern nur der „Kosmos“, innerhalb dessen wir alle als voneinander abhängige, koexistierende Formen des Lebens existieren. Dies führt zu der Einsicht, dass menschliches Leben nicht unabhängig vom ökologischen System existiert, sondern von anderen Formen des Lebens abhängt. Menschliches Leben wird so als Teil der Ökologie des Planeten erachtet; und wenn wir unser Ökosystem oder andere Formen des Lebens in unserer Umgebung zerstören, zerstören wir daher uns selbst. Mithin sind die Ökologie und ihre vielfältigen Formen des Lebens und der Existenz nicht ein Mittel zur Erlangung eines gesonderten Zwecks, sondern ein Zweck an sich. Jede Technologie, die auf der Basis dieses Prinzips entwickelt wird, beinhaltet das Prinzip für die Produktion des Lebens.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, wie ein solch einfaches kosmologisches Prinzip enorme Folgen für die Produktion/Reproduktion des (menschlichen und nicht-menschlichen) Lebens, für den Kosmos und die Ökologie des Planeten haben kann. Die Moderne/Modernität ist ein zivilisatorisches Projekt und stellt, wie indigene kritische Denker auf dem Planeten glauben, eine Zivilisation des Todes dar, da es mehr Formen des (menschlichen und nicht-menschlichen) Lebens zerstört hat als jede andere Zivilisation in der Geschichte der Menschheit.

Die Moderne/Modernität ist eine „ökozidale“ (ecologicidal) Zivilisation, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass wir gegenwärtig nicht wissen, ob die menschliche Gattung oder andere Gattungen die westliche Zivilisation überleben werden. Die Dekolonisierung der westzentrischen Sicht des Kosmos und der Übergang zu holistischen Perspektiven ist von wesentlicher Bedeutung für die Zukunft des Lebens auf dem Planeten. Extraktivismus ist eine der Industrien, die Leben zerstört und das zerstörerische Prinzip der westlichen Zivilisation in sich trägt.

Wenn wir betrachten, was an den Orten der extraktivistischen Industrien geschieht, nämlich in Gebieten in der Peripherie, die in planetarischen Begriffen als „Zonen des Nicht-Seins“ gelten, weil sie dieser Auffassung nach von rassialistisch-inferioren Subjekten/Untertanen bewohnt werden, die die Verdammten dieser Erde sind,6 so schließt die Materialität der Herrschaft Enteignung und Gewalt ein.7 An Orten, in denen Kupfer, wie in Chile, oder Gold, wie in Kolumbien, abgebaut wird, zerstören Bergbauunternehmen die lokale Ökologie, tragen Krankheiten in die lokalen Gemeinschaften und setzen brutale Formen der Gewalt gegen Arbeiter oder Bevölkerungen, die Widerstand leisten, ein. Währenddessen profitieren die Zonen des Seins, die von denen bewohnt werden, die als rassialistisch-superior und daher als die Glückseligen dieser Erde gelten, von den Endprodukten, die in den Gebieten der Extraktion so viel Tod erzeugt haben.

Kupferchips für Computer oder iPhones und das in Schmuck verarbeitete Gold und Halbleiter für die Informationstechnologie (IT) sind jenseits der Reichweite der Massen von menschlichen Subjekten/Untertanen, die in den Bergbauzonen des Nicht-Seins schuften. In den Zonen des Seins verwendet das System regulatorische und emanzipatorische Mechanismen, um Konflikte zu verwalten, während sie in den Zonen des Nicht-Seins durch Gewalt und Enteignung entschieden werden.8 Eine Seite bringt Leben hervor und die andere Tod. Die Weisen, das Leben zu genießen, auf der einen Seite hängen von der möglichen Zerstörung des Lebens auf der anderen ab. Die Glückseligen dieser Erde leben auf Kosten der Verdammten dieser Erde.9 Tod auf der einen produziert Leben auf der anderen Seite. Dieses System der globalen Ungerechtigkeit liegt im Herzen der Debatte über den Extraktivismus. Wie Acosta feststellt:

Extraktivismus ist eine Konstante im ökonomischen, sozialen und politischen Leben vieler Länder im globalen Süden gewesen. So ist jedes Land in Lateinamerika in verschiedenen Graden der Intensität von diesen Praktiken betroffen. Abhängigkeit von den metropolitanen Zentren vermittels der Extraktion und des Exports von Rohmaterialien ist bis zum heutigen Tag praktisch unverändert geblieben. [...] Daher scheint, abgesehen von wenigen Unterschieden von größerer oder kleinerer Bedeutung, die extraktivistische Weise der Akkumulation im Herzen der Produktionsverfahren neoliberaler wie auch progressiver Regierungen zu liegen.10

Alberto Acosta wird hier ausführlich zitiert, weil er eine vorzügliche Zusammenfassung der politischen Ökonomie des Extraktivismus liefert. Wie für den Rassismus gilt auch für den Extraktivismus, dass es keine Unterschiede zwischen linken oder rechten verwestlichten Regierungen gibt. Die gleiche Ausbeutung, Zerstörung und Gewalt, die von den extraktivistischen transnationalen Unternehmen hervorgebracht wird, wird reproduziert, ungeachtet der Ausrichtung der Regierung, die gerade bestehen mag. Überdies setzen diese Regierungen in manchen Fällen das gleiche Maß an Gewalt gegen ihre Opfer ein. Die Entwicklungsideologie ist Teil des westzentrischen Prinzips der Linken wie auch der Rechten, und alle Mittel werden durch diesen Zweck gerechtfertigt, einschließlich der aus dem Extraktivismus resultierenden Zerstörung und Gewalt, die gegen alle Formen des (menschlichen und nicht-menschlichen) Lebens gerichtet sind.

Vieles ist über die politische Ökonomie des Extraktivismus geschrieben worden. Vielleicht braucht es aber mehr Studien darüber, wie die verwestlichte Linke – wie etwa die linken Regierungen in Bolivien, Venezuela und Ecuador – mit ihrem epistemologischen Eurozentrismus die selbe Vision und die gleichen entwicklungsideologischen extraktivistischen Praktiken reproduziert wie die rechten Regierungen, da sie die gleiche eurozentrische Sicht des Universums teilen. Damit soll nicht die qualitative Differenz geleugnet werden, die diese linken Regierungen im Vergleich zu den neoliberalen Umtrieben bieten, die zuvor in diesen Ländern herrschten. Nichtsdestotrotz bleibt das Problem, dass der Umstand, auf der Seite der Linken zu sein, keine Garantie bietet im Hinblick auf die Zerstörung des Lebens, die durch die westzentrische Entwicklungsideologie verursacht wird.

Mit diesem Text wird allerdings die Absicht verfolgt, andere Aspekte des Extraktivismus zu erörtern, nämlich epistemischen und ontologischen Extraktivismus als Weisen des Denkens, Seins und Handelns in der Welt.

5.2 Epistemischer Extraktivismus

Kognitiver Extraktivismus ist ein Konzept, das zuerst von Leanne Betasamosake Simpson, einer Intellektuellen aus dem indigenen Volk der Mississauga Nishnaabeg in Kanada, Anfang 2013 eingeführt worden ist. Ihr Denken weitet den Begriff des ökonomischen Extraktivismus auf weitere Praktiken innerhalb der kolonialen Herrschaft aus.

Wir beginnen damit, folgende Bemerkungen von Leanne Betasamosake Simpson über kognitiven Extraktivismus zu zitieren:

Als es einen Anstoß dazu gab, traditionelles Wissen in das ökologische Denken in den späten achtziger Jahren nach Our Common Future (Unsere gemeinsame Zukunft)11 aufzunehmen, handelte es sich um einen sehr extraktivistischen Ansatz: „Lasst uns jedwede Lehren nehmen, die ihr haben mögt, die uns helfen könnten, direkt aus eurem Kontext, direkt von euren Wissensbesitzern, direkt aus eurer Sprache, und sie in diese assimilatorische Denkart integrieren.“ Das ist die Idee, dass traditionelles Wissen und indigene Völker irgendeine Art von Geheimnis kennen, wie in einer nicht-ausbeuterischen Weise auf dem Land gelebt werden kann, das die breitere Gesellschaft sich aneignen muss. Aber in dieser extraktivistischen Denkart geht es nicht darum, ein Gespräch zu führen, einen Dialog zu haben und indigenes Wissen nach dem Verständnis der indigenen Völker einzubringen. Es geht vielmehr darum, all die Ideen zu extrahieren, die Wissenschaftler oder Umweltschützer für gut hielten und sie zu assimilieren [...], sie in Toilettenpapier zu verpacken und an die Leute zu verkaufen. Es gibt hier eine intellektuelle Extraktion, eine kognitive Extraktion, wie auch eine physische. Die Maschine, die sich um die Propagierung des Extraktivismus dreht, ist riesig, was Fernsehen, Spielfilme und die populäre Kultur betrifft.12

Hier greift Leanne Betasamosake Simpson das Konzept des Extraktivismus auf und dehnt es auf neue Gebiete aus, um eine besondere Einstellung zum Wissen zu definieren. Sie nimmt als Beispiel das Projekt der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen, in dem die Ideen von indigenen Völkern der ganzen Welt angeeignet werden, um sie zu kolonialisieren, indem sie an westliches Wissen assimiliert werden. Durch diese Assimilation oder, in anderen Worten, durch die Subsumtion dieser Formen von indigenem Wissen unter westliches Wissen werden die radikale Politik und „alternative“ Kritik der Kosmogonie herausgelöst, um sie annehmbarer zu machen, oder auch schlicht aus ihrer radikaleren epistemischen Matrix extrahiert, um sie zu entpolitisieren.

Intellektueller, kognitiver oder epistemischer Extraktivismus stellt eine Denkart dar, die nicht nach irgendeinem Dialog sucht, der einen egalitären, horizontalen Dialog zwischen Menschen impliziert, oder nach irgendeinem Verständnis des indigenen Wissens nach seinen eigenen Maßstäben strebt, sondern darauf abzielt, Ideen zu extrahieren, um sie zu kolonisieren, indem sie unter westliche kulturelle Parameter und Episteme subsumiert werden. Epistemischer Extraktivismus extrahiert Ideen (ob wissenschaftliche oder umweltpolitische) aus indigenen Gemeinschaften, indem sie aus den Kontexten herausgelöst werden, in denen sie erzeugt worden sind, um sie zu entpolitisieren und ihnen eine neue Bedeutung zu verleihen, die auf westzentrischen Ideen basiert.

Das Ziel des epistemischen Extraktivismus besteht darin, Ideen zu plündern, um sie zu propagieren und in ökonomisches Kapital zu transformieren oder sie in die westliche akademische Maschinerie aufzusaugen, um symbolisches Kapital zu gewinnen. In beiden Fällen bedeutet dies, sie zu dekontextualisieren, um den radikalen Inhalt zu entfernen, und möglicherweise zu entpolitisieren, um sie kommerziell attraktiver zu machen. In der extraktivistischen Mentalität wird das Ziel verfolgt, traditionelles Wissen anzueignen, so dass transnationale Konzerne es in private Patente verwandeln können oder Akademiker in westlichen Universitäten behaupten können, „originelle“ Ideen produziert zu haben, als würden sie das Urheberrecht dafür besitzen. Die Komplizen bei dieser epistemologischen Beraubung und Plünderung sind die ökonomische/akademische/politische/militärische imperiale Maschinerie des Westens und die Marionettenregierungen der Dritten Welt, die von den verwestlichten Eliten manipuliert werden.

Leanne Betasamosake Simpson fährt fort:

In dieser Denkart wird tatsächlich jeder Bestandteil unserer Kultur, der für die extraktivistische Mentalität nützlich erscheint, extrahiert. Das Kanu, der Kajak, jegliche Technologie, die wir hatten, die nützlich war, wurde extrahiert und an die Kultur der Siedler assimiliert, ohne Rücksicht auf die Menschen und das Wissen, die sie hervorbrachten.13

Aus einer extraktivistischen Perspektive werden alle potentiell nützlichen Objekte, Technologien oder Ideen, die aus indigenen Kulturen stammen, extrahiert und durch die kolonisierenden Kulturen ohne Würdigung der Völker, die dieses Wissen hervorgebracht haben, assimiliert. Und dies wird getan, indem die Völker, die diese Objekte, Ideen und Technologien erzeugt haben, von den symbolischen und ökonomischen Kapitalströmen ausgeschlossen werden. Somit werden Objekte, Ideen und Technologien zum Nutzen anderer aus ihnen extrahiert, während sie mittellos und verarmt bleiben. Nicht nur werden sie ihrer Ressourcen beraubt und wird ihre Umwelt durch ökonomischen Extraktivismus zerstört, sondern sie werden auch ihres Wissens und ihrer Technologie durch epistemischen Extraktivismus beraubt.

5.3 Silvia Rivera Cusicanquis Kritik wohlbekannter Intellektueller im Netzwerk Modernität/Kolonialität

Wir können ähnliche Herangehensweisen wie den von Leanne Betasamosake Simpson beschriebenen epistemischen und ontologischen Extraktivismus im Werk der bolivianischen Autorin Silvia Rivera Cusicanqui finden, auch wenn sie diese Ausdrücke nicht benutzt. So stellt sie in einem Interview mit Boaventura de Sousa Santos fest:

Das autoritative Wort gehört denen an der Spitze; die ganz unten liefern lediglich den Input. Das ist bei jedem Wissenssystem gleich: wir produzieren das Rohmaterial, und sie geben es als fertiges Produkt an uns zurück.14

Im epistemischen Extraktivismus wird die „originale“ Theorie, die angeeignet worden ist, so präsentiert, als sei sie durch den globalen Norden „produziert“ worden, während die Völker des globalen Südens darauf beschränkt werden, Input in der Form von Erfahrungen zu produzieren, die sodann vom Norden vereinnahmt und als voll entwickelte Theorien zurückgeliefert werden. Auch wenn sie diesen Ausdruck nicht verwendet, beschreibt Silvia Rivera Cusicanqui ebenfalls den Prozess, den die indigene Autorin Leanne Betasamosake Simpson als kognitiven Extraktivismus bezeichnet hat. Es ist sehr interessant zu sehen, wie jemand mit engen Beziehungen zum Volk der Aymara in Bolivien sehr ähnliche Prozesse identifiziert wie jene, die aus der Perspektive einer anderen Person mit Beziehungen zum Volk der Mississauga Nishnaabeg in Kanada beschrieben werden.

Zudem gibt es, wie Silvia Rivera Cusicanqui warnt, sogar perverse Formen des epistemischen Extraktivismus, die darauf ausgerichtet sind, das Wissen des Südens im Namen der epistemischen Dekolonisierung zu kolonisieren. Sie bemerkt mit Blick auf Walter Mignolo:

Mignolo & Co haben ein kleines Imperium innerhalb eines Imperiums aufgebaut, das die Beiträge der Schule der subalternen Studien in Indien und die vielen lateinamerikanischen Varianten der kritischen Reflexion über Kolonisation und Dekolonisierung auf strategische Weise aneignet.15

Einmal fühlte Dr. Mignolo sich genötigt, mich zu loben, vielleicht indem er ein Sprichwort, das wir im Süden Boliviens haben, in die Praxis umsetzte: „Lobe den Narren, wenn du [ihn] mehr arbeiten sehen möchtest.“ Indem er meine Ideen über internen Kolonialismus und die Epistemologie der oralen Geschichte aufgriff, plapperte er sie in einen Diskurs über Alterität verpackt nach, der zutiefst entpolitisiert war.16

Diese dekontextualisierten und entpolitisierten extraktivistischen Aneignungen des Wissens des Südens durch Akademiker im globalen Norden bilden einen Bestandteil der epistemisch-rassistischen Hierarchien innerhalb der Wissensproduktion, in der die Autorschaft der Denker des Südens ausgelöscht und durch die der Denker des Nordens ersetzt worden ist.

In Bezug auf eine Erfahrung mit einer angelsächsischen Zeitschrift, die sie nötigte, Quijano und Mignolo zu Theorien zu zitieren, die sie selbst und andere lateinamerikanische Autoren Jahrzehnte zuvor entwickelt hatten, stellt Silvia Rivera Cusicanqui fest:

Durch das Spiel des „wer zitiert wen“ werden Hierarchien strukturiert, und wir gelangen schließlich dazu, genau die Ideen über die Dekolonisierung, die wir indigene Völker und Intellektuelle in Bolivien, Peru und Ecuador unabhängig produziert haben, in einer nachgeplapperten Form zu konsumieren. Und dieser Prozess begann in den 1970er Jahren – das selten zitierte Werk von Pablo González Casanovas über „internen Kolonialismus“ wurde 1969 veröffentlicht -, zu einer Zeit, als Mignolo und Quijano noch immer einen positivistischen Marxismus und eine lineare Vision der Geschichte vertraten.17

Dieser Weckruf von Silvia Rivera Cusicanqui hinsichtlich der Weise, in der ursprünglich in Lateinamerika produziertes Wissen wiederaufbereitet wird als etwas Originelles, das von wenigen anerkannten Akademikern des Nordens entwickelt wurde, obwohl es in Lateinamerika entstanden ist, dient als Mahnung, dass epistemischer Extraktivismus auch bei Autoren auftreten kann, die im Namen der epistemologischen Dekolonisierung sprechen. Silvia Rivera Cusicanquis Kritik an Walter Mignolo und Aníbal Quijano ist dem sehr ähnlich, was Leanne Betasamosake Simpson als „kognitiven Extraktivismus“ bezeichnet.

Es gibt zwei Fragen, die in Rivera Cusicanquis Kritik hervorgehoben werden sollten. Einerseits, was Aníbal Quijano betrifft, so ist der wesentliche Punkt sein epistemischer Rassismus, der indigenes, mestizisches und afro-stämmiges Wissen untergräbt, indem er auf diesem Wissen basierende Ideen aufnimmt, ohne jemals die mestizischen, indigenen oder afro-stämmigen Intellektuellen, die sie entwickelt haben, zu zitieren.

Andererseits, was Leute wie Mignolo betrifft, so ist der von ihr kritisierte wesentliche Punkt die Weise, in der sie Ideen von Denkern, die jene repräsentieren, die im Kampf engagiert sind, sich aneignen, ohne sich auf die sozialen Bewegungen oder Kampagnen der indigenen und afro-stämmigen Völker politisch einzulassen. Sie produzieren Wissen, ohne jemals ihre Schriften und Werke mit den Befreiungskämpfen dieser Völker zu verbinden, sondern vielmehr in der Absicht, symbolisches und ökonomisches Kapital sowie intellektuelle Anerkennung in den Universitäten des globalen Nordens zu erwerben. Das eben ist es, was die Dekontextualisierung und Entpolitisierung ausmacht, die durch den „epistemischen Extraktivismus“ in der von Quijano produzierten rassistischen epistemischen Version und der von Mignolo produzierten populistischen epistemischen Version zur Anwendung kommt.18

Als Bestätigung von Silvia Rivera Cusicanquis Kritik erscheint es doch sehr seltsam, dass Walter Mignolo sich in einem kürzlich erschienenen Artikel auf manche Theorien bezieht, die von Leanne Betasamosake Simpson präsentiert worden sind, ohne jemals ihre radikale Kritik des epistemischen und ontologischen Extraktivismus zu erwähnen.19 Es wäre interessant gewesen, wenn Mignolo diesen Begriff einer ernsthaften Betrachtung unterzogen hätte, um darauf aufbauend eine kritische Selbstreflexion über dieses Thema vorzunehmen. Doch er erwähnt es nicht einmal. Er übernimmt auch manche Elemente von Betasamosake Simpson, indem er sie entpolitisiert und die Radikalität ihres Denkens herunterspielt, während er Aspekte ignoriert, die mit jeder radikalen Kritik der kolonialen extraktivistischen Epistemologie verbunden sind, die von „Mignolo & Co“ verwendet wird.20

Wenn Extraktivismus eine Weise des Denkens und der Wissensproduktion ist, dann kann sich das Problem unter weißen und mestizischen lateinamerikanischen Autoren, die sich im Besitz von Wissen befinden, das von indigenen und afro-stämmigen Völkern in den Amerikas erzeugt worden ist, leicht vervielfachen.

Quijano selbst eignet sich in einem kürzlich erschienenen Artikel mit dem Titel Buen Vivir (Gutes Leben)21 das kritische Denken über dieses Konzept an, das von indigenen Intellektuellen in den Anden entwickelt worden ist, ohne auch nur einen von ihnen zu zitieren. Von den zwanzig bibliographischen Angaben im Artikel von Aníbal Quijano über Buen Vivir verweisen in der Tat siebzehn auf den Autor selbst, eine auf einen britischen Historiker, der Spezialist für antike Geschichte ist, und die zwei verbleibenden auf zwei seiner mestizischen Schüler. Nicht ein indigener Denker wird in diesem Artikel erwähnt. Doch wenn es ein Thema gibt, zu dem indigene Intellektuelle in den Anden einen bedeutenden Beitrag geleistet haben, dann ist es eben das Thema des Buen Vivir. Einmal mehr ist ein Konzept, das von der indigenen Welt hervorgebracht und von ihren Intellektuellen entwickelt wurde, ohne jegliche Würdigung extrahiert worden. Überdies wird Javier Lajo, der berühmte indigene amazonische Intellektuelle aus Peru, der zum Thema des Buen Vivir viel geschrieben hat,22 im Artikel des mestizischen peruanischen Intellektuellen Aníbal Quijano nicht einmal erwähnt, wodurch die höchst schädlichen Praktiken des epistemischen Extraktivismus reproduziert werden.

Für Leanne Betasamosake Simpson ist die Alternative zu dieser kolonialen Form der epistemischen Plünderung, die zum kognitiven Extraktivismus führt:

[...] ein Wandel der Denkart, die von einer Sicht der indigenen Völker als zu extrahierende Ressource dazu übergeht, uns als intelligente, redegewandte, bedeutsame, lebendige, atmende Völker und Nationen zu sehen. Ich denke, dass dies von Einzelnen, Gemeinschaften und Völkern verlangt, faire, bedeutungsvolle und aufrichtige Beziehungen mit uns zu entwickeln [...] Wir haben eine Menge von Ideen darüber, wie ein behutsames Leben innerhalb unseres Territoriums zu führen ist, wo wir verschiedene Jurisdiktionen und separate Nationen, aber auf einem gemeinsamen Territorium haben. Ich denke, dass es eine Verantwortung seitens der Mainstream-Gemeinschaft und -Gesellschaft gibt, eine nachhaltigere Lebensweise zu entwickeln und sich aus dem extraktivistischen Denken zu extrahieren – und ihre eigene Anstrengung und ihre eigene Verantwortung zu übernehmen, um herauszufinden, wie man ein Leben in Verantwortung führen und für die nächsten sieben Generationen von Menschen verantwortlich sein kann. Für mich ist das ein Wandel, den die kanadische Gesellschaft vollziehen muss, das ist ihre Verantwortung. Unsere Verantwortung besteht darin, weiterhin jenes Wissen wiederzubeleben, jene Praktiken wiederzubeleben, die Geschichten und Philosophien wiederzubeleben und unsere Nationen von innen heraus wiederaufzubauen.23

Indigene Völker als soziale Akteure, die denken und gültiges Wissen für alle produzieren, zu sehen, statt als eine Ressource, die extrahiert werden kann, ist der erste Schritt in Richtung der epistemischen Dekolonisierung, die Leanne Betasamosake Simpson vorschlägt. Sie fügt hinzu, dass der zweite Schritt in der Erfordernis für Gemeinschaften besteht, verantwortlich zu leben und sich selbst aus dem extraktivistischen Denken zu extrahieren. Verantwortlich zu leben, ist in ihrer Aussage zusammengefasst: „Die Alternative zum Extraktivismus ist tiefe Reziprozität.“ Die dekoloniale Alternative, die sie daher vorschlägt, ist tiefe Reziprozität als eine Weise des Seins und Lebens in der Welt. Reziprozität erfordert eine tiefe Revolution in Weisen des Lebens. Gemäß der Prinzipien der Reziprozität zu leben, verlangt auch Beziehungen, die auf fairem Austausch zwischen Menschen und zwischen Menschen und Nicht-Menschen gründen. Wenn die Ökologie des Planeten uns mit Wasser, Nahrung, Luft usw. versorgt, so dass wir leben können, verlangt das Prinzip der Reziprozität, das, was wir vom Kosmos genommen haben, zu reproduzieren und zurückzuerstatten.

Zu extrahieren, ohne zurückzugeben, ist das Prinzip, das zur Zerstörung des Lebens führt. Zu extrahieren und dabei Sorge zu tragen, Leben zu reproduzieren und das, was extrahiert worden ist, zurückzuerstatten, ist ein ganz anderes kosmologisches Prinzip. Es impliziert eine planetarische ökologische Achtsamkeit, die nicht den Machtstrukturen der westlichen Zivilisation folgt, die nunmehr global und die einzige ist, die noch übriggelassen worden ist, nachdem alle anderen durch über fünfhundert Jahre der kolonialen und neokolonialen Expansion zerstört worden sind. Für Leanne Betasamosake Simpson ist die epistemische Dekolonisierung daher nicht ausreichend: eine radikale Veränderung in den Formen des Seins, Lebens und Handelns in der Welt ist ebenso notwendig.

5.4 Ontologischer Extraktivismus

Extraktivismus ist eine Weise des Seins und Lebens in der Welt oder, mit anderen Worten, eine Form der Existenz, eine Ontologie. Leanne Betasamosake Simpson sagt:

Extrahieren bedeutet wegnehmen. Extrahieren bedeutet in Wirklichkeit rauben. Es bedeutet nehmen ohne Zustimmung, ohne Denken, Sorge oder gar Wissen um die Wirkungen auf die anderen lebenden Dinge in dieser Umwelt. Dies war immer schon ein Bestandteil von Kolonialismus und Eroberung. Der Kolonialismus hat stets das Indigene extrahiert – Extraktion von indigenem Wissen, indigenen Frauen, indigenen Völkern. [...] Unsere Ältesten haben uns nunmehr seit Generationen davor gewarnt – sie erkannten sofort, dass die Siedlergesellschaft nicht aufrechtzuerhalten war. Gesellschaften, die auf Eroberung basieren, können nicht aufrechterhalten werden. Daher denke ich, ja, dass wir dem Bruchpunkt gewiss näher kommen. Uns läuft die Zeit davon. Wir verlieren die Möglichkeit, das noch einmal umzukehren. Wir haben keine Zeit für diese gewaltige langsame Transformation in etwas, das aufrechtzuerhalten und alternativ ist. Ich habe das Gefühl, gegen die Wand gedrückt zu werden. Wahrscheinlich empfanden meine Vorfahren das schon vor zweihundert oder vierhundert Jahren. Aber ich glaube nicht, dass es darauf ankommt.24

Extraktivismus ist Diebstahl, Raub und Plünderung. Es ist eine Weise des Existierens und Handelns in der Welt, zu der Aneignung der Ressourcen von anderen ohne ihre Zustimmung gehört, und ohne einen Gedanken oder eine Sorge darauf zu verschwenden, welche negativen Wirkungen dies auf das Leben der anderen (menschlichen und nicht-menschlichen) Lebewesen haben wird. Das Motiv hinter der ontologisch-extraktivistischen Haltung ist: „Solange es mir nützt, kümmere ich mich nicht um die Folgen für andere (menschliche und nicht-menschliche) Lebewesen.“ Diese egozentrischen Haltungen und selbstzentrierten Weisen des Lebens und Verhaltens gehören zu Gesellschaften, die durch eine lange Geschichte von Imperialismus, Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat geprägt worden sind, oder, mit anderen Worten, durch das Ausplündern von Reichtum, Arbeit und Wissen von anderen Völkern, die als rassialistisch-inferior erachtet werden, und Frauen zugunsten von wenigen Völkern, die als rassialistisch-superior erachtet werden, oder von chauvinistischen Männern, die Privilegien gegenüber Frauen zu besitzen glauben, weil sie sie als auszubeutende Ressource betrachten.

Imperiale/koloniale/kapitalistische/patriarchalische Gesellschaften sind nicht aufrechtzuerhalten, da sie davon leben, (menschliche und nicht-menschliche) Andere zu berauben und zu zerstören. Gesellschaften, die auf der Eroberung von Menschen und Nicht-Menschen basieren, zerstören die Mittel zur Reproduktion des Lebens. Egozentrizität ist Teil der Subjektivität, die mit Kolonialismus und Patriarchat verbunden ist, da das einzige, worauf es ankommt, die egoistischen Interessen des männlichen Kolonisators sind, auch wenn dies die Zerstörung von Menschen und Nicht-Menschen überall auf dem Planeten bedeutet.

Irrationalität herrscht vor, weil langfristig die Kolonisatoren selbst davon betroffen sind, da doch die Idee, dass Menschen außerhalb des Kosmos und der Ökologie des Planeten existieren können, ein Mythos ist. Wenn wir den Kosmos und die Ökologie des Planeten zerstören, zerstören wir uns selbst. Weise in den Ahnengemeinschaften haben seit Jahrhunderten vor den Folgen dieser westzentrischen Zerstörung gewarnt. Leanne Betasamosake Simpson kündigt nun an, dass die Zeit abläuft, da sich die Zerstörung des Planeten beschleunigt und wir die Chance verpassen, das Leben auf Erden für zukünftige Generationen zu bewahren. Sie fügt hinzu:

Extraktion und Assimilation gehen zusammen. Kolonialismus und Kapitalismus basieren auf Extraktion und Assimilation. Mein Land wird als eine Ressource betrachtet. Meine Verwandten in den Welten der Pflanzen und Tiere werden als Ressourcen betrachtet. Meine Kultur und mein Wissen wird als Ressource betrachtet. Mein Körper ist eine Ressource, und meine Kinder sind eine Ressource, weil sie das Potential sind, das Extraktions-Assimilations-System wachsen zu lassen, aufrechtzuerhalten und zu betreiben. Der Akt der Extraktion löscht alle Beziehungen aus, die all dem, was extrahiert wird, Sinn verleihen.25

Extraktivismus und Assimilationismus arbeiten Hand in Hand. In der extraktivistischen Sicht der Welt wird alles in eine Ressource transformiert, die extrahiert werden kann, um auf dem Weltmarkt als Ware um des Profits willen verkauft zu werden. Dies reicht von Formen des (menschlichen und nicht-menschlichen) Lebens bis hin zu kulturellen Artefakten und Wissen. Alles wird als Instrument betrachtet, das benutzt werden kann, um die extraktivistische und assimilationistische Weise des Lebens zu erhalten – eine Form der Existenz, die entpolitisiert, dekontextualisiert sowie die sprachlichen und kulturellen Bedeutungen der Artefakte und Objekte, die extrahiert werden, abspaltet.

Extraktivismus ist also nicht nur eine Weise des Extrahierens von anderen zum eigenen Nutzen, sondern auch eine Form des Seins und Existierens, die indigene Bedeutungen und Kulturen extrahiert/eliminiert/subtrahiert, um alles innerhalb westzentrischer Formen von Existenz, Erfahrung und Denken mit neuer Bedeutung zu versehen und zu assimilieren. Die Artefakte und Objekte, die extrahiert werden, haben Bedeutungen innerhalb spezifischer kultureller Kontexte. Ein Kanu, eine Pflanze oder eine Trommel haben allesamt ethische, politische und spirituelle Bedeutungen für Völker mit Ahnentraditionen. Wenn sie jedoch in den Westen transferiert werden, wird das Kanu zu einer Ware, die Pflanze zu einer halluzinogenen Substanz und die Trommel zu einem Rhythmus ohne spirituelle Bedeutung. Wenn sie aus ihrem ursprünglichen Kontext entfernt und in neue versetzt werden, verlieren sie ihren indigenen Sinn und Bedeutung und werden in die eurozentrische kulturelle Matrix der Moderne/Modernität assimiliert.

Dieses Prinzip der Assimilation ist Epistemizid,26 denn es zerstört letztlich überliefertes (ancestral) Wissen und Praktiken. Was einst ein heiliges Prinzip war, das Respekt für alle Formen des Lebens verlangte, wird zu einem säkularisierten Prinzip, das die Zerstörung des Lebens nach sich zieht. Überlieferte Artefakte, Objekte und Kenntnisse werden in andere Kontexte eingeschrieben/assimiliert, die ihnen einen ganz anderen Sinn und Bedeutung verleihen. Epistemizid und „Existenzializid“ (existencialicide) bedeuten die Zerstörung des Wissens und der Weisen des Lebens, die mit Artefakten, Kenntnissen und Objekten, die extrahiert und in die westliche Kultur und entsprechende Weisen des Seins und Existierens assimiliert worden sind, verbunden sind. Alles, was anders ist, verliert, wenn es assimiliert wird, seine Einzigartigkeit.

Die Maschinerie des Modernismus transformiert alles in eine entzauberte Welt ohne Seele oder Geist, indem andere Weisen des Denkens und Existierens zugunsten von westlichen Weisen des Denkens und der Existenz zerstört werden. Das Problem ist nicht, dass keine Kultur das Recht hat, Dinge aus anderen Kulturen aufzunehmen. Das Problem ist, wenn eine Kultur eine andere zerstört, indem sie sich dabei deren Leistungen aneignet und keine Spur von den Völkern lässt, die sie hervorgebracht haben. Wir gehen von einer verzauberten Welt mit Ritualen und Respekt für andere Formen des Lebens und der Existenz zu einer entzauberten Welt über, in der die Gesamtheit der menschlichen Kultur anders ist und alles, was als nicht-menschlich klassifiziert wird, seine Einzigartigkeit als ein Subjekt verliert und in ein lebloses Objekt transformiert wird, indem es der Zerstörung des Lebens unterworfen wird, die den selbstsüchtigen Interessen des westlichen Kolonialismus dient.

Der extraktivistische Kapitalismus privilegiert seinem Wesen nach westliche Weisen des Lebens und zerstört alle anderen kulturell und biologisch verschiedenartigen Formen des Lebens. Diese privilegierten westlichen Weisen des Lebens werden als die einzig ontologisch mögliche menschliche Wahl aufgezwungen, während andere kulturell und kosmologisch verschiedenartige Formen der menschlichen Existenz als tierisch und inferior ontologisiert werden.

Leanne Betasamosake Simpson schließt, indem sie die extraktivistische Weise des Lebens oder den ontologischen Extraktivismus mit der entwicklungsideologischen extraktivistischen politischen Ökonomie in Verbindung bringt:

Indigene Gemeinschaften, besonders an Orten, wo es einen starken Druck gibt, natürliche Ressourcen zu entwickeln, sind mit einer gewaltigen aufgezwungenen wirtschaftlichen Armut konfrontiert. Milliarden von Dollars in Gestalt von natürlichen Ressourcen sind aus ihren Territorien extrahiert worden, ohne ihre Erlaubnis und ohne Kompensation. Das ist die Wirklichkeit. Wir hatten nicht das Recht gehabt, nein zur Entwicklung zu sagen, weil diese Gemeinschaften letztlich nicht als Menschen betrachtet werden, sie werden als Ressourcen angesehen.27

Natürliche Ressourcen werden ohne Erlaubnis oder Zustimmung extrahiert, so dass Gemeinschaften überall in der Welt in Massenarmut zurückgelassen werden. Zudem verfügen sie nicht über das Recht zur echten demokratischen Beratung über die Frage der Entwicklung, da sie letztlich als nicht-menschlich betrachtet werden oder, mit anderen Worten, als Ressourcen oder Objekte, die es nicht wert sind, in die Beratung mit einbezogen zu werden. Das extraktivistische Prinzip zerstört nicht nur auf genozidale Weise andere menschliche und nicht-menschliche Lebewesen, stürzt Völker in Armut, extrahiert, entreißt und eignet sich ihre Ressourcen an und zerstört auf der epistemischen Ebene ihr Wissen, sondern löscht auch durch die Transformation von allem in ein Objekt und eine Ressource die politische Handlungsfähigkeit der objektifizierten Akteure und den gesamten Begriff der Demokratie aus.

Extraktivismus ist eine Form des eklatanten Faschismus, der sich über verschiedene Phasen hinweg entwickelt hat: vom „christianisiere dich oder ich werde dich töten“ des sechzehnten Jahrhunderts zum „zivilisiere dich oder ich werde dich töten“ des neunzehnten Jahrhunderts, dem „entwickle dich oder ich werde dich töten“ des zwanzigsten Jahrhunderts und dem „demokratisiere dich oder ich werde dich töten“ des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Alle diese globalen kolonialen Projekte sind mit dem „Extraktivismus oder ich werde dich töten“ verbunden, der seit dem sechzehnten Jahrhundert eine Konstante war.

Daher sind gegenwärtig in Lateinamerika und der neokolonisierten Welt Verfahren der „vorherigen Beratung“ (prior consultation), die nicht-westliche Gemeinschaften einbeziehen, ein schlechter Witz. Transnationale Konzerne kaufen die Anführer von manchen dieser Völker auf, während diejenigen, die sich widersetzen, von militärischen oder paramilitärischen Gruppen mit einer Gewalt ermordet werden, die ethnischer Säuberung (Genozid) gleichkommt.

Wenn beispielsweise in Kolumbien eine Gemeinschaft mit einem multinationalen extraktivistischen Projekt kollaboriert, weil sie mit Geld dafür gewonnen worden ist, findet im Anschluss daran die „vorherige Beratung“ statt, wie gesetzlich vorgesehen. Wenn sich jedoch eine Gemeinschaft widersetzt, tauchen paramilitärische Gruppen auf und dann wird das Gebiet ethnisch gesäubert. Nach den Massakern, da in der Region keine Menschen übrig sind, wird die vorherige Beratung zynischerweise für ungültig erklärt.

Dieses Prinzip von Gewalt, Tod und eklatantem Genozid ist überall in der Welt im Gefolge des Anstiegs der Preise von Metallen und Mineralien, der durch die Finanzspekulation im Zuge der Krise von 2008 verursacht wurde, intensiviert worden, auch wenn es im Grunde schon seit 1492 besteht. Es kann in anderen Teilen Amerikas und dem Rest der Welt (wie etwa in Brasilien, Südafrika und Mexiko) beobachtet werden. Durch den Diebstahl von Wissen ohne vorherige Beratung oder Würdigung ihrer Schöpfer sind auch Akademiker in diese Plünderung verstrickt. Epistemizidaler Raub gehörte seit dem Beginn der europäischen kolonialen Expansion vor mehr als fünfhundert Jahren zum globalen westzentrischen Extraktivismus.

5.5 (Un)Schluss: Moderne Wissenschaft und Epistemischer Extraktivismus

Ein Teil der Erklärung für das, was historisch geschehen ist, besteht darin, dass ein obskurantistisches Christentum, das vom vierten Jahrhundert unter Kaiser Konstantin bis zum siebzehnten Jahrhundert in der frühen modernen/kolonialen Welt währte, der Wissenschaft oder dem kritischen Denken jegliche Entwicklung verwehrte. Alles, was die Dogmen der Kirche in Frage stellte, wurde letztlich als Teufelswerk betrachtet. Infolgedessen war Europa genötigt, sich angesichts der Macht der Kirche zu „säkularisieren“, um die Wissenschaft zu entwickeln und die Wissenschaft anderer Zivilisationen, die bedeutende Fortschritte erreicht hatten, aufzunehmen. Die wichtigste Quelle des wissenschaftlichen Einflusses war aufgrund ihrer Nähe die islamische Zivilisation.

Die Ursprünge der modernen Wissenschaft liegen in einem gewaltigen Akt des epistemologischen Extraktivismus. Ein erheblicher Teil der Grundlagen der modernen europäischen Wissenschaften und Philosophie wurden von muslimischen Wissenschaftlern und Philosophen übernommen. Mit der Kolonisierung und der nachfolgenden Zerstörung von anderen Zivilisationen und ihrer jeweiligen Infrastrukturen der Wissensproduktion wurde jedoch Wissenschaft von europäischen Männern monopolisiert, wodurch andere Völker in den epistemischen Niedergang gestoßen worden sind.28

Infolge des modernen Konstrukts der Rasse, das europäische Männer zu rassialistisch-superioren Wesen erhebt, sind Narrative für die Geschichte der Wissenschaft geschaffen worden, aus denen die Beiträge nicht-westlicher Zivilisationen, auf die sich der Westen bei der Produktion seiner Wissenschaft und Philosophie gestützt hatte, entfernt worden sind, wodurch der moderne rassialistische Mythos erzeugt worden ist, demzufolge die Wissenschaft ihre Ursprünge in westlichen Männern habe.

Daher feiern wir Kopernikus, vergessen aber Ibn asch-Schātir, den Wissenschaftler von Damaskus, der dreihundert Jahre früher genau die mathematischen Theoreme entwickelt hatte, die von ersterem benutzt wurden, oder auch al-Bīrūnī, den persisch-muslimischen Astronomen, der fünfhundert Jahre früher bereits die Idee formuliert hatte, dass die Erde um die Sonne kreist und sich um ihre eigene Achse dreht.29

Und genauso verlief es auch bei der Erfindung der Druckerpresse, die Gutenberg zugeschrieben wurde, obwohl sie schon sechshundert Jahre zuvor existierte und von den Chinesen erfunden worden war. Und so geschah es auch mit der griechischen Philosophie, die vermittelt über die andalusischen Philosophen Ibn Ruschd (Averroes) und Ibn Maymūn (Maimonides) nach Europa gelangte.

Diese Aneignung des Wissens und Auslöschung des historischen Gedächtnisses von den Ursprüngen der Philosophie und modernen Wissenschaft konstituierte das moderne/koloniale epistemisch-extraktivistische Projekt seit seinen frühesten Tagen am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Es war ein kolonialer extraktivistischer Prozess, der in den folgenden fünf Jahrhunderten unablässig in seinen eurozentrischen Versionen, linken oder rechten, wiederkehren sollte und in jüngster Zeit in seiner schlimmsten Form im Namen des „Dekolonialen“.

 

 Literatur

Acosta, Alberto, „Extractivismo y neoextractivismo: Dos caras de la misma maldición“, EcoPortal.net, 25. Juli 2012, https://www.ecoportal.​net/temas-especiales/varios/extractivismo_y_neoextractivismo_dos_caras_de_la_misma_maldicion.

Fanon, Frantz, Die Verdammten dieser Erde, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1969; französisches Original: Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Éditions François Maspero, Paris, 1961.

Grosfoguel, Ramón, „La descolonización del conocimiento: diálogo crítico entre la visión descolonial de Frantz Fanon y la sociología descolonial de Boaventura de Sousa Santos“, in: AA.VV, Formas-otras: Saber, nombrar, narrar, hacer: IV training seminar de jóvenes investigadores en dinámicas interculturales, Fundación CIDOB, Barcelona, 2011, S. 97-108, https://www.cidob.org/es/publicaciones/​serie_de_publicacion/monografias/monografias/formas_otras_saber​_nombrar_narrar_hacer.

Grosfoguel, Ramón, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.

Grosfoguel, Ramón, „Hay que tomarse en serio el pensamiento crítico de los colonizados en toda su complejidad“, in: Metapolítica, 83, 2013, S. 38-74, http://www.boaventuradesousasantos.pt/media/Grosfoguel%20METAPOLITICA_8….

Grosfoguel, Ramón, „Epistemischer Rassismus/Sexismus, verwestlichte Universitäten und die vier Genozide/Epistemizide des langen 16. Jahrhunderts“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 69-117; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Epistemic Racism/Sexism, Westernized Universities and the Four Genocides/Epistemicides of the Long Sixteenth Century“, in: Marta Araújo & Silvia Rodríguez Maeso (Hrsg.), Eurocentrism, Racism and Knowledge. Debates on History and Power in Europe and the Americas, Palgrave Macmillan, London, 2015, S. 23-46.

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Lajo, Javier, „Sumaq Kaway-Ninchik o nuestro vivir bien“, in: Revista de la Integración, Nr. 5, 2010, S. 112-125, https://rebelion.org/sumaq​-kawsay-ninchik-o-nuestro-vivir-bien.

Mignolo, Walter, „Further thoughts on (de)coloniality“, in: Sabine Broeck & Carsten Junker (Hrsg.), Postcoloniality-Decoloniality-Black Critique: Joints and Fissures, Campus, Frankfurt am Main, 2014, S. 21-52.

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de Sousa Santos, Boaventura, & Meneses, Maria Paula (Hrsg.), Epistemologias do Sul, Almedina, Coimbra, 2009.

 de Sousa Santos, Boaventura & Meneses, Maria Paula (Hrsg.), Knowledges Born in the Struggle. Constructing the Epistemologies of the Global South, Routledge, New York, 2020.


 


1Zum Thema der Gewalt in Zonen des Seins und Nicht-Seins siehe Ramón Grosfoguel, „La descolonización del conocimiento: diálogo crítico entre la visión descolonial de Frantz Fanon y la sociología descolonial de Boaventura de Sousa Santos“, in: AA.VV, Formas-otras: Saber, nombrar, narrar, hacer: IV training seminar de jóvenes investigadores en dinámicas interculturales, Fundación CIDOB, Barcelona, 2011, S. 97-108, https://www.cidob.org/es/
publicaciones/serie_de_publicacion/monografias/monografias/formas_otras_saber_nombrar_narrar_hacer. [Anm. d. Übers.: Siehe auch Ramón Grosfoguel, „Was ist Rassismus? Zone des Seins und Zone des Nicht-Seins in den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 217-239; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „What is racism? Zone of being and zone of non-being in the work of Frantz Fanon and Boaventura de Sousa Santos“, in: Julie Cupples & Ramón Grosfoguel (Hrsg.), Unsettling Eurocentrism in the Westernized University, Routledge, New York, 2019, S. 264-273.]

2Alberto Acosta, „Extractivismo y neoextractivismo: Dos caras de la misma maldición“, EcoPortal.net, 25. Juli 2012, https://www.ecoportal.net/temase​speciales/varios/extractivismo_y_neoextractivismo_dos_caras_de_la_​misma​_maldicion.

3Ebenda.

4Der Ausdruck „globaler Süden“ wird hier nicht als geographische Bezeichnung verwendet, sondern als eine Positionierung innerhalb der Machtverhältnisse und Herrschaft des „Westens“ im Verhältnis zur „nicht-westlichen“ Welt. Siehe dazu „Introduction. Epistemologies of the South—Giving Voice to the Diversity of the South“ in: Boaventura de Sousa Santos & Maria Paula Meneses (Hrsg.), Knowledges Born in the Struggle. Constructing the Epistemologies of the Global South, Routledge, New York, 2020, S. xvii-xliii.

5Boaventura de Sousa Santos & Maria Paula Meneses (Hrsg.), Epistemologias do Sul, Almedina, Coimbra, 2009.

6Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1969; französisches Original: Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Éditions François Maspero, Paris, 1961.

7Boaventura de Sousa Santos & Maria Paula Meneses (Hrsg.), Epistemologias do Sul, Almedina, Coimbra, 2009.

8Die Ansicht von Fanon (Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1969; französisches Original: Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Éditions François Maspero, Paris, 1961) wird hier mit derjenigen von Sousa Santos und Meneses (Boaventura de Sousa Santos & Maria Paula Meneses (Hrsg.), Epistemologias do Sul, Almedina, Coimbra, 2009) verknüpft. Für eine detailliertere Erörterung dieser Frage siehe Ramón Grosfoguel, „La descolonización del conocimiento: diálogo crítico entre la visión descolonial de Frantz Fanon y la sociología descolonial de Boaventura de Sousa Santos“, in: AA.VV, Formas-otras: Saber, nombrar, narrar, hacer: IV training seminar de jóvenes investigadores en dinámicas interculturales, Fundación CIDOB, Barcelona, 2011, S. 97-108, https://www.cidob.org/es/publicaciones/serie_de_publicacion/monografias…. [Anm. d. Übers.: Siehe auch Ramón Grosfoguel, „Was ist Rassismus? Zone des Seins und Zone des Nicht-Seins in den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 217-239; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „What is racism? Zone of being and zone of non-being in the work of Frantz Fanon and Boaventura de Sousa Santos“, in: Julie Cupples & Ramón Grosfoguel (Hrsg.), Unsettling Eurocentrism in the Westernized University, Routledge, New York, 2019, S. 264-273.]

9Der Ausdruck „die Verdammten dieser Erde“ stammt freilich von Fanon, siehe Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1969; französisches Original: Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Éditions François Maspero, Paris, 1961. Ich habe den Ausdruck „die Glückseligen dieser Erde“ hinzugefügt, weil sein Werk, auch wenn er diesen Ausdruck nicht verwendet, klarmacht, dass es keine „Verdammten“ ohne die „Glückseligen“ in dieser lebenszerstörenden Kultur gibt, die ich als das „kapitalistische/patriarchalische west-/christozentrische moderne/koloniale Weltsystem“ bezeichne.

10Alberto Acosta, „Extractivismo y neoextractivismo: Dos caras de la misma maldición“, EcoPortal.net, 25. Juli 2012, https://www.ecoportal.net/temase​speciales/varios/extractivismo_y_neoextractivismo_dos_caras_de_la_​misma​_maldicion.

11Our Common Future (Unsere gemeinsame Zukunft) ist ein Bericht, der 1987 von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen („Brundtland-Kommission“) veröffentlicht wurde.

12Naomi Klein, „Dancing the World into Being: A Conversation with Idle No More’s Leanne Simpson“, in: YES Magazine, 5. März 2013, https://www.​yesmagazine.org/social-justice/2013/03/06/dancing-the-world-into-being-a-conversation-with-idle-no-more-leanne-simpson.

13Ebenda.

14Dieser Auszug findet sich in der Aufzeichnung des Interviews „Conversa del Mundo - Silvia Rivera Cusicanqui y Boaventura de Sousa Santos“ (https://www.youtube.com/watch?v=xjgHfSrLnpU) bei 27:27, einem der Eckpfeiler das ALICE-Projektes, das von Boaventura de Sousa Santos an der Universität von Coimbra geleitet wird.

15Silvia Rivera Cusicanqui, Ch’ixinakak utxiwa: Una reflexión sobre prácticas y discursos descolonizadores, Tinta Limón, Buenos Aires, 2010, S. 58.

16Ebenda, S. 64.

17Ebenda, S. 66.

18Ramón Grosfoguel, „Hay que tomarse en serio el pensamiento crítico de los colonizados en toda su complejidad“, in: Metapolítica, 83, 2013, S. 38-74, http://www.boaventuradesousasantos.pt/media/Grosfoguel%20METAPOLITICA_8….

19Walter Mignolo, „Further thoughts on (de)coloniality“, in: Sabine Broeck & Carsten Junker (Hrsg.), Postcoloniality-Decoloniality-Black Critique: Joints and Fissures, Campus, Frankfurt am Main, 2014, S. 21-52.

20Ich habe persönlich Mignolo in öffentlichen Debatten sagen gehört, dass indigenes Denken in Lateinamerika eine „Mine“ ist. Diese Analogie ist symptomatisch für die extraktivistische Denkart und Ideen, die Leanne Betasamosake Simpson beschreibt. Der Gebrauch von indigenen Ideen als eine „epistemische Mine“ für persönlichen Gewinn und im Dienst einer erfolgreichen akademischen Karriere im Norden ist im Kern genau das, was Silvia Rivera Cusicanqui bei Mignolo verwirft. Dennoch ist dies im Falle von Mignolo schlimmer als bei anderen, da sein kolonialer extraktivistischer Diskurs im Namen der „epistemologischen Dekolonisierung“ produziert wird.

21Aníbal Quijano, „‘Buen vivir’: Entre el ‘desarrollo’ y la des/colonialidad del poder“, in: Viento Sur, 122, 2012, S. 46-56.

22Siehe den ausgezeichneten Artikel von Javier Lajo, „Sumaq Kaway-Ninchik o nuestro vivir bien“, in: Revista de la Integración, Nr. 5, 2010, S. 112-125, https://rebelion.org/sumaq-kawsay-ninchik-o-nuestro-vivir-bien. Siehe auch seinen Artikel „¿Imaninantataq Suma Kausay?“, https://www.​voltairenet.org/article144920.html.

23Naomi Klein, „Dancing the World into Being: A Conversation with Idle No More’s Leanne Simpson“, in: YES Magazine, 5. März 2013, https://www.​yesmagazine.org/social-justice/2013/03/06/dancing-the-world-into-being-a-conversation-with-idle-no-more-leanne-simpson.

24Ebenda.

25Ebenda.

26Anm. d. Hrsg.: „Epistemizid“ ist ein von Boaventura de Sousa Santos geprägter Begriff. Siehe dazu Fußnote 4 auf Seite 71.

27Ebenda.

28Ramón Grosfoguel, „Epistemischer Rassismus/Sexismus, verwestlichte Universitäten und die vier Genozide/Epistemizide des langen 16. Jahrhunderts“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 69-117; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Epistemic Racism/Sexism, Westernized Universities and the Four Genocides/Epistemicides of the Long Sixteenth Century“, in: Marta Araújo & Silvia Rodríguez Maeso (Hrsg.), Eurocentrism, Racism and Knowledge. Debates on History and Power in Europe and the Americas, Palgrave Macmillan, London, 2015, S. 23-46.

29Zur Schuld von Kopernikus gegenüber muslimischen Astronomen siehe George Saliba, Islamic Science and the Making of the European Renaissance, MIT Press, Cambridge, 2011.

6 Schwarzer dekolonialer Marxismus

6 Schwarzer dekolonialer Marxismus Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 24

Im folgenden Text möchte ich anhand von drei Beispielen zeigen, wie epistemischer Rassismus nicht nur Unwissenheit hervorgebracht, sondern dazu geführt hat, dass die Beiträge von den Intellektuellen, die den Kanon der schwarzen radikalen Tradition (Black Radical tradition) bilden, systematisch ignoriert worden sind. Hierzu werden wir drei Denkschulen erörtern: Welt-System-Analyse, interner Kolonialismus und Kolonialität.

 6.1 Einführung

Es gibt eine epistemische Unwissenheit über schwarzen Marxismus in den verwestlichten Universitäten und sogar unter der verwestlichten Linken aufgrund mehrerer Faktoren. Ein Faktor für die Unsichtbarkeit des kritischen Denkens, das schwarze Marxisten produziert haben, ist der offenkundigste: epistemologischer Rassismus. Da es schwarze Denker sind, haben die Verlagshäuser die Übersetzung und Veröffentlichung dieser Autoren weltweit behindert, während die verwestlichten Universitäten sie nicht in ihren Lehrplan aufnehmen. Die eurozentrische Linke hat ebenfalls zu dem Prozess beigetragen, die schwarzen marxistischen Intellektuellen zum Schweigen zu bringen, indem sie sie in ihren gegenwärtigen Paradigmen nicht ernst genommen hat. Ein Beispiel ist das Werk von W.E.B. Dubois, der als einer der bedeutendsten, wenn nicht als der bedeutendste Soziologe des zwanzigsten Jahrhunderts gilt, aber von den universitären Lehrplänen und dem Archiv der verwestlichten Linken systematisch ausgeschlossen worden ist. Zudem kann man zwar die Bücher und Übersetzungen von Jacques Derrida, Michel Foucault, Jacques Lacan, Immanuel Wallerstein, Perry Anderson, Pierre Bourdieu, Norbert Elias, Judith Butler usw. finden, aber es ist nahezu unmöglich, Übersetzungen oder neue Wiederauflagen der Bücher von Kwame Nkrumah, C.L.R. James, Carla Jones, Harry Haywood, Walter Rodney, Amilcar Cabral, Aimé Césaire, Oliver L. Cox usw. zu finden. Sogar Cedric Robinsons Meisterwerk, das den Titel Black Marxism (Schwarzer Marxismus) trägt,1 ist lediglich in englischer Sprache verfügbar und überdies zu einem sehr hohen Preis. Auch nahezu fünfzig Jahre nach seiner Veröffentlichung sind keine Übersetzungen von Robinsons Buch in andere Sprachen verfügbar, das ursprünglich 1983 in London von Zed Books veröffentlicht und im Jahr 2000 von Routledge wieder aufgelegt worden ist.2

In diesem kurzen Artikel ist es nicht möglich, einer Tradition gerecht zu werden, die so divers, heterogen und reich an kritischen Begriffen und Theorien ist. Was ich hier wagen möchte, ist zu zeigen, wie die Unwissenheit über diese Tradition uns täuscht und uns glauben macht, dass die Ideen und Begriffe, die heute bestimmten Autoren fälschlich zugeschrieben werden, „neu“ seien, während sie ursprünglich von schwarzen Marxisten hervorgebracht, ausgearbeitet und entwickelt wurden. Der „epistemische Extraktivismus“3, der den schwarzen Ursprung der kritischen Theorien verdeckt und den Ursprung dieser Theorien weißen Denkern zuschreibt, fährt fort, den epistemischen Rassismus zu reproduzieren, der schwarzes oder Africana4 Denken als „inferior“ und weißes oder europäisches/euro-amerikanisches Denken als „superior“ konstruiert. Diese Dinge anzuerkennen, ist auch eine Frage der kognitiven Gerechtigkeit. Wie Boaventura de Sousa Santos uns unablässig erinnert: „Es gibt keine soziale Gerechtigkeit ohne kognitive Gerechtigkeit.“5

 6.2 Epistemischer Rassismus und epistemischer Extraktivismus

Die epistemische Ungerechtigkeit gegenüber den schwarzen marxistischen Denkern ist nicht allgemein anerkannt. Die Ursprünge vieler kritischer Theorien können zum kritischen Denken von schwarzen Marxisten zurückverfolgt werden. Aber diese Theorien erkennen ihre Ursprünge im kritischen Denken, das von der schwarzen radikalen Tradition, die als schwarzer Marxismus bekannt ist, hervorgebracht wurde, nicht an. Ich möchte dies veranschaulichen, indem ich drei Theorien erörtere: Welt-System-Analyse, Kolonialität der Macht und interner Kolonialismus.

Es ist nicht gut bekannt, obgleich es von Immanuel Wallerstein selbst anerkannt wurde,6 dass der Begründer der Welt-System-Analyse Oliver C. Cox war, ein karibischer schwarzer Mann von Trinidad und Tobago. Die historisch-begriffliche Periodisierung der hegemonischen Zyklen des Finanzkapitals im kapitalistischen Weltsystem (Venedig/Genua/Florenz im 15.-16. Jahrhundert, Amsterdam im 17.-18. Jahrhundert, London im 19. Jahrhundert und New York im 20. Jahrhundert), die von westlichen Historikern und Geschichtssoziologen wie Fernand Braudel7 in den siebziger Jahren und Giovanni Arrighi8 Mitte der neunziger Jahre verwendet wurde, stammte aus den drei Bänden, die Oliver C. Cox während der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts über das kapitalistische Weltsystem geschrieben hat.9 Braudel und Arrighi haben Cox in ihren jeweiligen Werken zitiert. Dennoch blieb Cox unbekannt, und der Zugang zu seinen Werken ist sehr schwierig und ziemlich teuer. Es gibt nicht viele Neuauflagen seiner Bücher und sehr wenige Übersetzungen.

Die Theorie des internen Kolonialismus ignoriert ebenfalls ihre Ursprünge bei schwarzen marxistischen Denkern. Wir sehen in der Literatur stets, dass Namen von weißen Wissenschaftlern wie etwa Harold Wolpe, Pablo González Casanova, Rodolfo Stavenhagen, Robert Blauner, William Tabb usw. angeführt werden. Die Ursprünge der Theorie des internen Kolonialismus wird immer den 1965 erschienenen Artikeln von weißen mexikanischen Wissenschaftlern wie Pablo González Casanova10 und Rodolfo Stavenhagen11 zugeschrieben. Beide Autoren haben jedoch öffentlich anerkannt, dass sie nicht der Ursprung des Begriffs des internen Kolonialismus sind. Sie haben eingeräumt, dass sie den Ausdruck zum ersten Mal bei den Vorträgen des amerikanischen Marxisten C. Wright Mills in den frühen sechziger Jahren in Rio de Janeiro gehört haben.12 C. Wright Mills hat den Begriff von den schwarzen Marxisten übernommen. W.E.B. Dubois hat 1945 die Erfahrung von Schwarzen und indigenen Völkern in den USA als „semi-koloniale“ Subjekte/Untertanen begrifflich gefasst und ihre Lage mit den kolonisierten Völkern Afrikas und Asiens zur gleichen Zeit verglichen.13 St. Clair Drake und Horace C. Clayton haben in ihrem Meisterwerk Black Metropolis: A Study of Negro Life in a Northern City, das 1945 veröffentlicht wurde, von „schwarzen Kolonien“ innerhalb der amerikanischen Städte gesprochen.14 Der berühmte afroamerikanische Kommunist Harry Haywood sagte in seinem 1948 erschienenen Buchklassiker Negro Liberation:

Obwohl die Neger-Gemeinschaft in dieser Gegend [Black Belt in den USA] über alle diese ökonomischen und sozialen Elemente des Kapitalismus verfügt, die sie zusammenschweißt, dürfen wir nicht die entscheidende Tatsache aus den Augen verlieren, dass die Ökonomie dieser Region rückständig, vor allem agrarischen Charakters bleibt. Die volle Entwicklung des modernen Kapitalismus ist willkürlich angehalten worden. In dieser Hinsicht ist die Ökonomie der Region typisch für die von kolonialen und anderen zurückgebliebenen Nationen. Man kann sagen, dass der Black Belt eine Art von „interner Kolonie“ des amerikanischen Imperialismus ist, die dazu bestimmt ist, hauptsächlich als der Rohmaterialanhang des letzteren zu dienen. Der Charakter der Unterdrückung der Neger unterscheidet sich in keiner Weise von der von Kolonialvölkern. Die Ökonomie der Region wird nicht von Neger-Kapitalisten kontrolliert. Ihre unmittelbare Leitung liegt in den Händen von weißen lokalen Kapitalisten und Grundbesitzern, die als das Außenkommando für die wirklichen Herrscher fungieren, nämlich die Finanzdynastie der Wall Street. Dies unterstreicht nur die Tatsache, dass die Ökonomie des Black Belt typisch für die einer unterdrückten Nation ist, deren volle Entwicklung durch den Imperialismus willkürlich und gewaltsam gehemmt wird.15

Einige Jahre später gebrauchte der schwarze Marxist Harold Cruse den Ausdruck „heimischer Kolonialismus“ (domestic colonialism).16 Im Jahr 1967 erfolgte die Veröffentlichung des Buches Black Power: Politics of Liberation in America von Stokely Carmichael und Charles V. Hamilton, das die Bewegung der Black Panther in den USA inspirierte.17 Ihr zentraler Punkt in diesem Buch ist, dass Schwarze eine interne Kolonie in den USA sind und dass kolonialer Rassismus für den Kapitalismus konstitutiv ist.

Es ist offenkundig unbestreitbar, dass die Ursprünge des Begriffs des „internen Kolonialismus“ in den schwarzen marxistischen Traditionen liegen. Im Allgemeinen jedoch schreiben wir diesen Begriff weiterhin weißen Autoren zu, wodurch die Beiträge von schwarzen Marxisten verschleiert und ausgelöscht werden.

Weniger bekannt ist, dass die Idee der „Kolonialität“, das heißt die Idee, dass der Rassismus ein organisierendes Prinzip der modernen Machthierarchien und Kapitalakkumulation im Weltmaßstab ist, von schwarzen Marxisten lange vor Aníbal Quijano zum Ausdruck gebracht worden ist. Quijano begann ziemlich spät in seinem Leben, über die Frage der „Kolonialität“ zu schreiben.18 Er begann, den Begriff der Kolonialität in den neunziger Jahren zu verwenden, nachdem er mit der schwarzen marxistischen Tradition bei seinen jährlichen sechswöchigen Aufenthalten seit 1983 als Gastprofessor an der State University of New York (Binghamton) in Berührung gekommen war.

Die schwarze marxistische Tradition hatte die Idee der Kolonialität bereits Jahrzehnte vor Quijano entwickelt, verwendete aber andere Ausdrücke. Während Quijano sie Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als „Kolonialität“ bezeichnete, verwendeten schwarze Marxisten verschiedene Ausdrücke, um auf dieselben Prozesse zu verweisen. Ein Beispiel ist Cedric J. Robinson, der der Idee der „Kolonialität“, ohne diesen Ausdruck zu gebrauchen, seit den frühen achtziger Jahren unter dem Begriff des „rassialistischen Kapitalismus“ (racial capitalism) Ausdruck verlieh. Für Robinson ist der Rassismus als organisierendes Prinzip konstitutiv sowohl für den Kapitalismus als auch für die moderne Welt. Robinson sagte über den modernen Kapitalismus:

Mit jedem geschichtlichen Augenblick wurden allerdings die rationalen und kulturellen Mechanismen der Beherrschung immer durchsichtiger. Rasse war ihre Epistemologie, ihr ordnendes Prinzip, ihre organisierende Struktur, ihre moralische Autorität, ihre Ökonomie der Gerechtigkeit, des Handels und der Macht.19

Für Robinson sind das moderne Weltsystem und der globale Kapitalismus von ihren Anfängen an rassialistisch, da für ihn die europäische koloniale Expansion die Expansion einer Zivilisation ist, in der Rassialismus bereits existierte. Beispielsweise waren die Eroberung von al-Andalus20 und andere innereuropäische Prozesse vor 1492 von zentraler Bedeutung für die Herausbildung der Idee der Rasse, die Europäer nach 1492 in ferne Länder tragen sollten. Für Robinson war dies, auch wenn der innereuropäische Rassialismus von 1492 nicht von der Hautfarbe, sondern von religiösen und ethnischen Identitäten geprägt war, von entscheidender Bedeutung, um zu verstehen, was sich nach 1492 in den Amerikas, Afrika und dem Rest der Welt zutrug.

W.E.B. Dubois brachte in seinem 1935 veröffentlichten klassischen Buch mit dem Titel Black Reconstruction in America 1860-1880 die Idee der „Kolonialität“ mit dem Begriff der „Farbkaste“ (color caste) zum Ausdruck.21 Seit den dreißiger Jahren und lange vor dem afrotrinidadischen Autor Eric Williams in seinem klassischen Capitalism and Slavery22 sagte Dubois, dass die Idee der Rasse und die Versklavung von Afrikanern von grundlegender und konstitutiver Bedeutung für die modernen kapitalistischen Industrie- und Handelsunternehmungen waren.

Frantz Fanon brachte die gleiche Idee der Kolonialität zum Ausdruck, zum ersten Mal in seinem 1952 erschienen Buch Peau Noire, Masques Blancs (Schwarze Haut, weiße Masken)23 und weiter entwickelt in seinem 1961 erschienenen Buch Les Damnés de la Terre (Die Verdammten dieser Erde).24 Fanon war davon überzeugt, dass in den Kolonien der Rassismus konstitutiv ist, das heißt, der Rassismus ist eine strukturierende Logik der gesellschaftlichen Klassen und der Kapitalakkumulation.

Für Fanon sind in der kolonialen und neokolonialen Welt die Reichen weiß und die Weißen reich, wohingegen die Armen die als nicht-Weiße klassifizierten „inferioren Rassen“ sind. Die kapitalistische Ökonomie und ihre Arbeitsteilung ist um die Idee der Rasse herum organisiert. Fanon sagte, dass in den Kolonien das, was die Marxisten als die Basis (Ökonomie) bezeichnen, in Wirklichkeit der Überbau (Rassismus) ist. Die Ökonomie ist schon auf rassistische Weise organisiert. Daher vertrat Fanon mit Nachdruck, dass in den Kolonien und Neokolonien die marxistische Analyse modifiziert werden sollte.

Fanon sagte:

Die Stadt des Kolonisierten, oder zumindest die Eingeborenenstadt, das Negerdorf, die Medina, das Reservat, ist ein schlecht berufener Ort, von schlecht berufenen Menschen bevölkert. Man wird dort irgendwo, irgendwie geboren. Man stirbt dort irgendwo, an irgendwas. Es ist eine Welt ohne Zwischenräume, die Menschen sitzen hier einer auf dem andern, die Hütten eine auf der andern. Die Stadt des Kolonisierten ist eine ausgehungerte Stadt, ausgehungert nach Brot, Fleisch, Schuhen, Kohle, Licht.25

Und Nelson Maldonado-Torres drückt es so aus:

[...] das Ziel heute bleibt, gegen die formalen Verhältnisse der Kolonisation zu kämpfen, indem Strategien des Widerstands und Wandels im Hinblick auf die kolonialen, rassistischen und entmenschlichenden Dimensionen von Nationalstaaten und einer globalen Matrix der Macht, die nicht einfachhin als kapitalistisch bezeichnet werden können, entworfen werden. Fanon selbst gibt uns in seinem klassischen Werk Die Verdammten dieser Erde den Rat, Herangehensweisen zu vermeiden, welche die Probleme von Kolonialismus und Rassismus auf bloße Klassenfragen reduzieren: „In den Kolonien ist der ökonomische Unterbau zugleich ein Oberbau. Die Ursache ist Folge: man ist reich weil weiß, man ist weiß weil reich. Deshalb müssen die marxistischen Analysen immer etwas gedehnt werden, wenn man sich mit dem kolonialen Problem befaßt.“26 Fünfzig Jahre nach seinem Tod gibt es immer noch vieles, was wir aus all den Dimensionen dieses Verdikts von Fanon lernen und verstehen können, vor allem in den Kreisen der Linken.27

Und Sara Salem fasst es so:

Marxisten haben zurecht auf den Kapitalismus als eine Antwort auf die Fragen der globalen Ungleichheit verwiesen. Fanon wiederum hat zurecht bemerkt, dass es beim Kapitalismus niemals nur um ökonomische Belange geht: er ist ein vollkommen rassialisiertes Projekt, und deshalb ist die Grenzlinie zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen oftmals eine rassialistische Grenzlinie – für Fanon ist es die Rasse, nicht die Klasse, die die Zone des Seins und die Zone des Nicht-Seins trennt. Man kann arm und weiß sein und in der Zone des Seins bleiben, wo man das automatische Recht auf Leben hat; man kann reich und schwarz sein und in der Zone des Nicht-Seins sein – an ihrer Spitze, aber nichtsdestoweniger in dieser Zone. Dies [ist eine] provokative Herausforderung für den ökonomistischen Marxismus.28

In Fanons Worten:

In den Kolonien hat sich der von weither gekommene Ausländer mit Hilfe seiner Kanonen und seiner Maschinen breitgemacht. Trotz der gelungenen Domestizierung, trotz der Besitzergreifung bleibt der Kolonialherr immer Ausländer. Weder die Fabriken noch der Besitz noch das Bankkonto kennzeichnen die „herrschende Klasse“. Die herrschende Art ist zunächst die, die von woanders kommt, die nicht den Autochthonen ähnelt, die Art der „anderen“.29

Doch kann man dieselbe Idee der Kolonialität nicht nur bei Fanon ausgedrückt finden, sondern bei vielen anderen schwarzen Marxisten, die andere Ausdrücke gebrauchen. Der afrikanische Marxist Kwame Nkrumah sagte:

Während eine rassistische Sozialstruktur einer kolonialen Situation nicht inhärent ist, ist sie untrennbar von der kapitalistischen ökonomischen Entwicklung. Denn Rasse ist unentwirrbar verbunden mit Klassenausbeutung; in einer rassistisch-kapitalistischen Machtstruktur sind kapitalistische Ausbeutung und Rassenunterdrückung komplementär; die Beseitigung der einen sichert die Beseitigung der anderen. In der modernen Welt ist der Rassenkampf zu einem Teil des Klassenkampfes geworden. Anders gesagt, wo immer es ein Rassenproblem gibt, ist es mit dem Klassenkampf verbunden worden.30

Und er sagte darüber hinaus:

In den USA, der Karibik und überall da, wo Afrikaner unterdrückt werden, werden Befreiungskämpfe ausgefochten. In diesen Gegenden ist der schwarze Mensch (Black man) in einer Situation des heimischen Kolonialismus und leidet aufgrund sowohl der Klasse als auch der Farbe.31

Seit den frühen achtziger Jahren hat ein anderer schwarzer Marxist, Stuart Hall, über Rasse gesprochen als einem „artikulierenden Prinzip“ (articulator principle) der politischen, sozialen und ideologischen Strukturen, wobei die kapitalistische Produktionsweise sich selbst erhält, indem sie sowohl „freie“ wie auch „erzwungene“ Arbeit einsetzt. Für Hall ist Rasse ein „strukturierendes Prinzip“ von gesellschaftlichen Klassen, der Ökonomie und der Organisation der Gesellschaft.32 Laut Hall sind Gesellschaften durch Rasse „in Herrschaft strukturiert“.

Kurzum, es gibt viele schwarze radikale Denker, welche die Tatsache hervorgehoben haben, dass Rassismus und die Idee der Rasse nicht einfachhin Teil des ideologischen „Überbaus“ des Kapitalismus sind, sondern ein organisierendes/artikulierendes/​strukturierendes Prinzip, das zum Wesen der kapitalistischen Ausbeutung und der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab gehört. Im Unterschied zu Arrighi, Wallerstein und Braudel hat der Peruaner Aníbal Quijano diese Autoren, die er gelesen und gründlich studiert hat, weder zitiert noch gewürdigt. Dies hat zu dem falschen Eindruck geführt, dass die Idee der Kolonialität eine originelle Idee von Aníbal Quijano sei, wodurch ihre Ursprünge in der schwarzen marxistischen Tradition verschleiert wurden. Der epistemische Rassismus von Aníbal Quijano hat ihm nie erlaubt, die intellektuellen Quellen seines Werkes zu würdigen, was doch seine eigenen intellektuellen Beiträge um nichts geschmälert hätte. Quijano praktizierte einen unverzeihlichen „epistemischen Extraktivismus“ mit schwarzen marxistischen Intellektuellen. Die Ironie liegt darin, dass der Autor der „Kolonialität der Macht“ schwarzen Intellektuellen antun sollte, was weiße Akademiker immerzu nicht-weißen Intellektuellen angetan haben, nämlich den alten kolonialen Mechanismus, sich ihre Ideen anzueignen, ohne zu würdigen, woher sie stammen.33

Die Unwissenheit, fehlende Würdigung und das Ausbleiben von Übersetzungen der schwarzen marxistischen Intellektuellen ließ viele Intellektuelle weltweit glauben, dass die Idee der Kolonialität eine exklusive und originelle Idee von Aníbal Quijano sei. Dadurch entstand eine „epistemisch extraktivistische“ Industrie von Veröffentlichungen, die im Namen der „Dekolonialität“ den bedeutenden Einfluss von schwarzen Marxisten in den dekolonialen Perspektiven übergingen und verschleierten. Dass dieser epistemische Extraktivismus falsch ist, gleich wer ihn betreibt, ist ziemlich offenkundig. Ihn allerdings im Namen der Dekolonialität zu betreiben, ist pervers.

 6.3 Der epistemologische Status der schwarzen Marxismen

Was macht einen schwarzen Marxisten aus? Ist ein schwarzer Marxist dadurch ausgezeichnet, dass er ein Marxist ist, der zufälligerweise eine schwarze Haut hat? Schwarzer Marxismus ist nicht eine Hautfarbe, sondern eine besondere Weise, den Marxismus und die Welt überhaupt zu verstehen. Schwarze Marxisten denken von der sozialen/historischen Erfahrung schwarzer Körper aus, die in der Verbindung zwischen Kapitalakkumulation und rassialistischer Herrschaft in einer weißen westlichen globalen Welt als „inferior“ gelten. Das Denken schwarzer Marxisten ist die kritische Vision, die von der Geo- und Körperpolitik des Wissens der Unterdrückung, die schwarze Menschen in einem „modernen/kolonialen kapitalistischen/patriarchalischen west-/christozentrischen rassistischen Weltsystem“, das von verwestlichten weißen Eliten beherrscht wird, erfahren, erzeugt wird. Aus dem Überdenken des Marxismus von der schwarzen Erfahrung aus ergibt sich die Notwendigkeit, den Marxismus in einer dekolonialen Gestalt weg von seinen eurozentrischen Vorannahmen „zu dehnen“ und „neu zu bestimmen“.

Nicht jedes Denken von einer Person, die in der rassialistischen Hierarchie als „schwarz“ sozial klassifiziert wird, bringt „kritisches Denken“ oder gar „dekolonialen Marxismus“ hervor. Die große Errungenschaft des bestehenden Systems besteht darin, die unterdrückten Subjekte/Untertanen epistemisch denken zu lassen wie ihre Unterdrücker. Und so kann auf die gleiche Weise, wie eine Person, die in der rassialistischen Hierarchie als „inferior“ klassifiziert wird, epistemisch denken kann wie ihre Unterdrücker, nämlich eurozentrisch, eine Person, die rassialistisch als „weiß“ klassifiziert wird, - auch wenn dies weniger verbreitet ist – sich mit dem Wissen von „Schwarzen“ identifizieren und Wissen aus einer schwarzen Perspektive hervorbringen.

Die Bedingung der Möglichkeit des letzteren ist lediglich, dass diese weiße Person das kritische Denken der schwarzen radikalen Tradition, das aus der Erfahrung der Unterdrückung von Schwarzen in einer von Weißen beherrschten Welt hervorgebracht wird, ernst nimmt und aktiv in der Praxis darum kämpft, das weiße strukturelle Privileg niederzureißen. Nur eine Minderheit von Weißen ist fähig, diese dekoloniale Position einzunehmen. Dies ist keine essentialistische Aussage. Das weiße strukturelle Privileg, das die Mehrheit der Weißen genießt, ist eben die Erklärung dafür, warum sie nicht einen schwarzen epistemologischen Standpunkt einnehmen. Das Privileg, das sie genießen und verteidigen, beraubt sie der Fähigkeit, die dekoloniale Wende in ihrem Denken und Handeln zu vollziehen.

Frantz Fanon erklärt in seinem Buch Peau Noire, Masques Blancs (Schwarze Haut, weiße Masken)34 den Prozess, durch den eine schwarze Person in einer von Weißen beherrschten Welt in ihren Körper und Geist die Vision und Strukturen der rassialistischen Herrschaft der weißen Kolonisatoren internalisieren und somit von einer weißen Epistemologie aus denken kann. Was Fanon die „Epidermisierung“ der sozialen Strukturen nennt,35 ist die Internalisierung der Verhaltensgewohnheiten und des Denkens der weißen Suprematie in schwarze Körper. Kurzum, wir können nicht von der reduktionistischen Auffassung ausgehen, dass die rassialistische soziale Position in einer kongruenten und inhärenten Weise der epistemischen Position entspricht. Es ist ganz gewöhnlich, in der rassialistischen Hierarchie als schwarz klassifiziert zu werden und epistemisch wie die Weißen zu denken. Wenn wir reduktionistische Essentialismen vermeiden wollen, dürfen wir die soziale Position einer Person nicht mit der epistemischen Position zusammenfallen lassen.

Der Grund, warum schwarze Marxisten fähig sind, einen dekolonialen Marxismus hervorzubringen, liegt nicht in einem besonderen Wesen, sondern in der Dringlichkeit, die durch die gelebte Erfahrung der Unterdrückung erzeugt wird, danach zu trachten, die Verbindung zwischen Rassismus und Kapitalismus zu verstehen. Deshalb ist es eben kein Zufall, dass die Mehrheit der schwarzen Marxisten schwarz ist oder dass die Mehrheit derjenigen, die feministische Theorie betreiben, Frauen sind. Sie sind gleichermaßen diejenigen, die ihre jeweiligen Unterdrü­ckungen mit größerer Dringlichkeit erleben. Sie haben gleichermaßen die gelebte Erfahrung, unterdrückte Subjekte/Untertanen in Herrschaftsverhältnissen zu sein, einmal aufgrund der rassialistischen Herrschaft und andermal aufgrund des Patriarchats, und empfinden daher die Dringlichkeit, ihre jeweiligen Unterdrückungen theoretisch zu verstehen.

Es gibt jedoch auch Intellektuelle, die als Weiße sozial klassifiziert werden, die in den Rahmen dessen, was als schwarzer Marxismus gilt, aufgenommen werden könnten, da sie die kritische Theorie, die von schwarzen Marxisten aus der Erfahrung der schwarzen Unterdrückung in der Sklaverei oder der Überausbeutung der Lohnarbeit im rassialistischen Kapitalismus hervorgebracht wird, ernst nehmen. Einige wenige Beispiele sind David R. Roediger, Bob Blauner usw. Diese Autoren haben das kritische Denken von schwarzen Marxisten ernst genommen und manche ihrer Thesen weiter entwickelt. Harold Wolpe36 und Bob Blauner37 haben den Begriff des internen Kolonialismus von den schwarzen Marxisten ernst genommen, während David. R. Roegiger38 das kritische Denken von W.E.B. Dubois, dem größten schwarzen Marxisten des zwanzigsten Jahrhunderts, ernst genommen hat. Es ist allerdings üblicher, schwarze Intellektuelle zu finden, die wie Weiße entlang eurozentrischer Linien denken, als das Gegenteil, nämlich weiße Intellektuelle, die wie schwarze kritische Denker denken.

Weißheit als eine Stellung des Privilegs verblendet und hindert die Mehrheit der Weißen, den Standpunkt des schwarzen kritischen Denkens epistemisch einzunehmen. Dieses Hindernis ist nicht begründet in einer essentialistischen Beschränkung von Weißen, sondern in ihrer privilegierten sozialstrukturellen Position in der rassialistischen Herrschaft. Das Gegenteil ist wahr, nämlich dass Schwarze von der weißen Epistemologie aus denken, und zwar aus Gründen, die mit der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen weißen rassialistischen/kolonialen Herrschaft zusammenhängen.

Kurzum, was schwarze Marxisten ausmacht, ist nicht die Hautfarbe der Autoren, sondern die modifizierten marxistischen dekolonialen Theorien, die aus dem kritischen Denken geboren werden, das hervorgebracht wird, um die Verbindung von Klassenausbeutung und rassialistischer Herrschaft aufgrund der Dringlichkeit zu verstehen, der gelebten Erfahrung der Unterdrückung schwarzer Körper in einer weißen westlichen kapitalistischen Welt zu begegnen. Jemand ist ein schwarzer Marxist, nicht wegen der Hautfarbe, sondern aufgrund der begrifflichen und theoretischen dekolonialen Modifikationen am eurozentrischen Marxismus, die ausgehend von der verschiedenartigen epistemischen Geo- und Körperpolitik des Wissens der sozialhistorischen Erfahrung von Schwarzen in einer von Weißen beherrschen Welt hervorgebracht werden.

 6.4 Moderne Zivilisation und Kapitalismus? Moderne Zivilisation oder Kapitalismus? Oder Kapitalismus als das Wirtschaftssystem der westlichen modernen Zivilisation?

Die schwarze marxistische Tradition hat eine große Debatte darüber entwickelt, wie das Verhältnis von Kapitalismus und westlicher Zivilisation begrifflich zu fassen ist. Es gibt zwei schwarze Marxisten, die das bestehende moderne Weltsystem als eine Zivilisation begreifen: Aimé Césaire und Cedric Robinson.

Aimé Césaire eröffnet seinen berühmten Discours sur le colonialisme (Rede über den Kolonialismus) mit den folgenden Sätzen:

Eine Zivilisation, die sich als unfähig erweist, die Probleme zu lösen, die ihr Funktionieren hervorruft, ist eine dekadente Zivilisation.

Eine Zivilisation, die vor ihren entscheidenden Problemen die Augen verschließt, ist eine kranke Zivilisation.

Eine Zivilisation, die ihre eigenen Prinzipien mit Finten unterläuft, ist eine sterbende Zivilisation.

Jedenfalls ist die Zivilisation, die man als die „europäische“, die „westliche“ bezeichnet, so wie zwei Jahrhunderte bürgerlicher Herrschaft sie geprägt haben, unfähig, die beiden größten, durch ihre Existenz entstandenen Probleme zu lösen: das Problem des Proletariats und das koloniale Problem [...].39

Es sei daran erinnert, dass dieses Buch von Césaire im Stil einer Rede verfasst wurde und zum ersten Mal 1950 in Frankreich im Verlag Réclame erschien, worauf 1955 eine zweite Auflage im berühmten Verlagshaus Présence Africaine folgte. Seither hat ein schwarzer Marxist wie Césaire das konstitutive Verhältnis zwischen moderner westlicher Zivilisation mit ihrem kolonialen Rassismus und Kapitalismus erkannt. Für Césaire war dieses Projekt der europäischen kolonialen Expansion von 1492 nicht nur eine Expansion eines Wirtschaftssystems, sondern die Expansion einer Zivilisation, die planetarisch wurde, indem sie all die zuvor existierenden Zivilisationen zerstörte und ihre Überlebenden rassialistisch „inferiorisierte“.

Für Césaire, wie für viele schwarze und indigene Intellektuelle weltweit, ist die Moderne/Modernität eine Zivilisation des Todes. Diese Perspektive wurde von vielen schwarzen Marxisten mit neuem Leben erfüllt, darunter Cedric Robinson.40 Robinson begriff die moderne Welt als das Ergebnis der Expansion einer Zivilisation, die in sich bereits die rassistischen Wurzeln trug, die für das neue kapitalistische Weltsystem nach 1492 konstitutiv werden sollten. Infolgedessen entwickelte Robinson den Begriff des „rassialistischen Kapitalismus“ (racial capitalism), da seiner Ansicht nach der Weltkapitalismus von dem Tag an, da er geboren wurde, ein rassialistisches System war. Kapitalismus ist das Wirtschaftssystem einer Zivilisation, die sich über mehrere Jahrhunderte hinweg mit der europäischen kolonialen Expansion ausbreitete, bis sie planetarisch wurde.

Die koloniale Zerstörung und Transformation vormoderner Zivilisationen erzeugte eine Spaltung innerhalb der schwarzen Marxisten. Aufgrund der Komplizenschaft und Kollaboration von kolonisierten tribalen Anführern aus vormodernen afrikanischen Systemen mit den europäischen Kolonisatoren haben viele schwarze Marxisten die Verwendung vormoderner traditioneller Systeme als Weisen des Denkens über die Dekolonisation in Afrika gänzlich verworfen. Dadurch wurde in Afrika eine Debatte eröffnet zwischen denen, die vormoderne afrikanische Gesellschaftssysteme und Kosmologien als Keime wertschätzen, um über dekoloniale egalitäre und demokratische Zukunftshorizonte jenseits der Moderne/Modernität nachzudenken, und jenen, die die vormodernen Systeme insgesamt verwerfen, da sie die modernen Vorurteile übernehmen, dass alles aus der Vergangenheit rückständig und schlechter ist als das, was in der modernen Gegenwart und Zukunft existiert.

Dies ist eine wichtige Debatte unter schwarzen Marxisten mit bedeutenden Implikationen für gegenwärtige globale Debatten über die Frage, wie die Rolle von epistemischen Beiträgen von indigenen Zivilisationen, die durch die europäische Kolonisation zerstört wurden, für gegenwärtige Projekte der Befreiung zu verstehen ist. Die mehr eurozentrisch eingestellten unter den schwarzen Marxisten erachteten stets die vormodernen Zivilisationen, die in der Vergangenheit zerstört wurden, und die gegenwärtigen indigenen Epistemologien, die die koloniale Katastrophe überlebt haben, als inferior und ohne jeglichen Wert als Beitrag für Befreiungskämpfe. Die mehr dekolonial eingestellten unter den schwarzen Marxisten erkennen in den Kosmologien und Institutionen früherer Zivilisationen wichtige Werkzeuge, um die Zukunft jenseits der Moderne/Modernität auf neue Weise zu bedenken.

Es ist von ganz grundlegender Bedeutung, den epistemischen Rassismus der verwestlichten Universitäten und der verwestlichten Linken zu bekämpfen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, Intellektuelle/Aktivisten, die entlang der Linien eines schwarzen dekolonialen Marxismus arbeiten, in ihre Archive und Lehrpläne aufnehmen zu können.

 Literatur

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1Cedric J. Robinson, Black Marxism. The making of the black radical tradition, Zed Books, London, 1983. Und die zweite Auflage: Cedric J. Robinson, Black Marxism. The making of the black radical tradition, Routledge, London, 2000.

2Anm. d. Übers.: Mittlerweile ist eine dritte Auflage erschienen: Cedric J. Robinson, Black Marxism, Revised and Updated Third Edition: The Making of the Black Radical Tradition, University of North Carolina Press, Chapel Hill, 2020. Sowie eine französische Übersetzung: Cedric J. Robinson, Marxisme noir. La génèse de la tradition radicale noire, Entremonde, Genève/​Paris, 2023.

3Ramón Grosfoguel, „Epistemischer Extraktivismus. Ein Dialog mit Alberto Acosta, Leanne Betasamosake Simpson und Silvia Rivera Cusicanqui“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 241-272; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Epistemic extractivism. A Dialogue with Alberto Acosta, Leanne Betasamosake Simpson, and Silvia Rivera Cusicanqui“, in: Boaventura de Sousa Santos & Maria Paula Meneses (Hrsg.), Knowledges Born in the Struggle. Constructing the Epistemologies of the Global South, Routledge, New York, 2020, S. 203-218.

4Anm. d. Übers.: Siehe zum Beispiel Lewis Gordon, An Introduction to Africana Philosophy, Cambridge University Press, Cambridge, 2008.

5Vgl. Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018, S. 7 sowie an vielen anderen Stellen; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).

6Immanuel Wallerstein, „Oliver C. Cox as World-Systems Analyst“, in: Research in Race and Ethnic Relations, 11, 2000, S. 173-183.

7Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Kindler, München, 1985 (3 Bände). Band 1: Der Alltag, 1985. Band 2: Der Handel, 1986. Band 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, 1986; französisches Original: Fernand Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme (XVe–XVIIIe siècles), Armand Colin, Paris, 1979 (3 Bände). Band 1: Les structures du quotidien. Band 2: Les jeux de l'échange. Band 3: Le temps du monde.

8Giovanni Arrighi, The Long Twentieth Century: Money, Power and the Origins of Our Times, Verso, London, 1994.

9Oliver C. Cox, Caste, Class and Race: A Study in Social Dynamics, Monthly Review Press, New York, 1948. Oliver C. Cox, The Foundations of Capitalism, Peter Owen, London, 1959. Oliver C. Cox, Capitalism as a System, Monthly Review Press, New York, 1964.

10Pablo González Casanova, „Internal Colonialism and National Development“, in: Studies in International Comparative Development, 1, 1965.

11Rodolfo Stavenhagen, „Classes, Colonialism and Acculturation“, in: Studies in Comparative International Development, 1, Nr. 6, 1965.

12Sie beide haben diese Anerkennung bei einer Veranstaltung im Alter von neunzig Jahren ausgesprochen. Indem sie einräumten, dass sie nicht der Ursprung der Theorie des internen Kolonialismus sind, zeigten sie intellektuelle Redlichkeit. Siehe das Video mit dem Titel Rodolfo Stavenhagen y Pablo González Casanova: Diálogo magistral, https://www.youtube.com/watch?v=5Brw74WU1YU.

13W.E.B. Dubois, W.E.B. Dubois Speaks: Speeches and Addresses 1920-1963, Pathfinder Press, New York, 1971.

14St. Clair Drake & Horace R. Clayton, Black Metropolis: A Study of Negro Life in a Northern City, Harcourt, Brace and Company, Chicago, 1945.

15Harry Haywood, Negro Liberation, International Publishers, New York, 1948.

16Harold Cruse, „Revolutionary Nationalism and the Afro-American“, in: Studies on the Left, 2, 1962, S. 12-25.

17Stokely Carmichael & Charles V. Hamilton, Black Power: Die Politik der Befreiung in Amerika, Fischer, Frankfurt am Main, 1969; englisches Original: Stokely Carmichael & Charles V. Hamilton, Black Power: Politics of Liberation in America, Random House, New York, 1967.

18Aníbal Quijano, „Raza, Etnia y Nación en Mariátegui: cuestiones abiertas“, in: Roland Forgues (Hrsg.), José Carlos Mariátegui y Europa: el otro aspecto del descubrimiento, Editorial Amauta, Lima, 1993, S. 167-188.

19Cedric J. Robinson, Black Marxism. The making of the black radical tradition, Routledge, London, 2000, S. xxxi.

20Ramón Grosfoguel, „Epistemischer Rassismus/Sexismus, verwestlichte Universitäten und die vier Genozide/Epistemizide des langen 16. Jahrhunderts“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 69-117; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Epistemic Racism/Sexism, Westernized Universities and the Four Genocides/Epistemicides of the Long Sixteenth Century“, in: Marta Araújo & Silvia Rodríguez Maeso (Hrsg.), Eurocentrism, Racism and Knowledge. Debates on History and Power in Europe and the Americas, Palgrave Macmillan, London, 2015, S. 23-46.

21W.E.B. Dubois, Black Reconstruction in America: An Essay Toward a History of the Part Which Black Folk Played in the Attempt to Reconstruct Democracy in America, 1860-1880, Albert Saifer Publisher, Philadelphia, 1935.

22Eric Williams, Capitalism and Slavery, The University of North Carolina Press, Chapell Hill, 1944.

23Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980; französisches Original: Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Les Éditions du Seuil, Paris, 1952.

24Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1969; französisches Original: Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Éditions François Maspero, Paris, 1961.

25Ebenda, S. 30.

26Ebenda, S. 31.

27Nelson Maldonado-Torres, With Fanon, yesterday and today, 2011, http://www.decolonialtranslation.com/english/with-fanon-yesterday-and-t….

28Sara Salem, A Revolutionary Lifeline: Teaching Fanon in a Postcolonial World, 2017, https://www.historicalmaterialism.org/blog/revolutionary-lifeline-teach….

29Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1969, S. 31; französisches Original: Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Éditions François Maspero, Paris, 1961.

30Kwame Nkrumah, Class Struggle in Africa, International Publishers, New York, 1970, S. 27.

31Ebenda, S. 87.

32Stuart Hall, „Race, Articulation and Societies Structured in Dominance“, in: Sociological Theories: Race and Colonialism, Unesco, Paris, 1980, S. 305-345.

33Ramón Grosfoguel, „Epistemischer Extraktivismus. Ein Dialog mit Alberto Acosta, Leanne Betasamosake Simpson und Silvia Rivera Cusicanqui“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 241-272; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Epistemic extractivism. A Dialogue with Alberto Acosta, Leanne Betasamosake Simpson, and Silvia Rivera Cusicanqui“, in: Boaventura de Sousa Santos & Maria Paula Meneses (Hrsg.), Knowledges Born in the Struggle. Constructing the Epistemologies of the Global South, Routledge, New York, 2020, S. 203-218.

34Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980; französisches Original: Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Les Éditions du Seuil, Paris, 1952.

35Anm. d. Übers.: Siehe Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980, S. 10; französisches Original: Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Les Éditions du Seuil, Paris, 1952.

36Harold Wolpe, „The Theory of Internal Colonialism: The South African Case“, in: I. Oxhaal et al., Beyond the Sociology of Development, Routledge & Kegan Paul, London, 1975.

37Bob Blauner, Racial Oppression in America, Harper & Row Publishers, New York, 1972.

38David R. Roediger, The Wages of Whiteness, Verso, London, 1991.

39Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Übers. Monika Kind, Klaus Wagenbach, Berlin, 1968, S. 31; französisches Original: Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, Réclame, Paris, 1950.

40Cedric J. Robinson, Black Marxism. The making of the black radical tradition, Zed Books, London, 1983.

7 Die vielen Gesichter der Islamophobie

7 Die vielen Gesichter der Islamophobie Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 42

Jede Auseinandersetzung mit Islamophobie muss heutzutage von einer Betrachtung der Kartographie der Macht des „Weltsystems“ seit 1492 ausgehen.

Wenn wir das „moderne Weltsystem“ als ein System verstehen, das lediglich in Begriffen einer internationalen Arbeitsteilung und eines globalen zwischenstaatlichen Systems organisiert ist, wäre Islamophobie mithin ein Epiphänomen der politischen Ökonomie des Weltsystems und insbesondere der unaufhörlichen Kapitalakkumulation im Weltmaßstab. Wenn wir jedoch die Geo- und Körperpolitik des Wissens von einer nach Norden orientierten Sicht auf das Weltsystem auf einen nach Süden orientierten Blick umstellen, erhalten wir ein anderes Bild der globalen Kartographie der Macht.

Aus einer südlichen Perspektive ist das Weltsystem nicht nur um eine internationale Arbeitsteilung und ein globales zwischenstaatliches System herum organisiert, sondern schließt auch, nicht als zusätzliche Elemente, sondern als konstitutiv für die Kapitalakkumulation im Weltmaßstab, eine globale rassialistische/ethnische Hierarchie (westliche versus nicht-westliche Völker), eine globale patriarchalische Hierarchie (globales System des sozialen und biologischen Geschlechts), eine globale religiöse Hierarchie, eine globale sprachliche Hierarchie, eine globale epistemische Hierarchie usw. ein.1 Das „Paket“ verwobener Machthierarchien des Weltsystems ist breiter und komplexer als das, was oftmals in der Weltsystemanalyse theoretisiert wird.

Wir verwenden den Ausdruck „Weltsystem“ in diesem Essay, kurz gesagt, um das „moderne/koloniale verwestlichte christozentrische kapitalistische/patriarchalische Weltsystem“ zu bezeichnen.2 Auf die Gefahr hin, lächerlich zu klingen, ziehen wir einen langen Ausdruck wie diesen vor, um die gegenwärtige heterarchische Struktur (mannigfaltige Machthierarchien, die in komplexen historischen Weisen miteinander verwoben sind) des Weltsystems zu bezeichnen, statt der beschränkten Kennzeichnung einer einzigen Hierarchie namens „kapitalistisches Weltsystem“ mit der Kapitalakkumulation als der einzigen Logik des Systems.3 Letztere führt zu einem ökonomisch-reduktionistischen Verständnis des Weltsystems, während erstere zu einer komplexeren, nicht-reduktiven, strukturell-historischen Analyse führt.

Islamophobie als eine Form des Rassismus gegenüber Muslimen ist kein Epiphänomen, sondern konstitutiver Bestandteil der internationalen Arbeitsteilung.

Das erste Kapitel 7.1 dieses Essays behandelt Islamophobie als eine Form des Rassismus in einer welthistorischen Perspektive. Das zweite Kapitel 7.2 erörtert Islamophobie als eine Form des kulturellen Rassismus. Das dritte Kapitel 7.3 betrachtet Islamophobie als Orientalismus. Das vierte Kapitel 7.4 untersucht Islamophobie als epistemischen Rassismus. Das fünfte Kapitel 7.5 beschäftigt sich mit Islamophobie in Gestalt eurozentrischer Sozialwissenschaften. Und das sechste Kapitel 7.6 kommt auf die heutigen islamophoben Debatten zu sprechen.4

 7.1 Islamophobie als eine Form des Rassismus in welthistorischer Perspektive

Die große Herausforderung bei unserem Thema besteht darin, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie es möglich ist, dass eine religiöse Differenz in der vormodernen/kolonialen Welt in eine rassialistische/ethnische Differenz in der modernen/kolonialen Welt umgewandelt worden ist. In der heterarchischen Konzeptualisierung des Weltsystems, wie sie hier vorgenommen wird, wäre Islamophobie die Subalternisierung und Inferiorisierung des Islams, die durch die christozentrische religiöse Hierarchie des Weltsystems seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts herbeigeführt worden ist.

Das Jahr 1492 ist ein entscheidendes Jahr, das für das Verstehen des gegenwärtigen Systems von grundlegender Bedeutung ist. In diesem Jahr hat die christliche spanische Monarchie das islamische Spanien zurück-erobert, indem sie Juden und Araber von der spanischen Halbinsel vertrieben hat, während sie zur gleichen Zeit die Amerikas „entdeckt“ und die indigenen Völker kolonisiert hat. Die arabische und jüdische Bevölkerung, die innerhalb der Iberischen Halbinsel belassen wurde, wurde gezwungen, zum Christentum zu konvertieren. Marranen (konvertierte Juden) und Morisken (konvertierte Muslime) waren die Bezeichnungen, die zu dieser Zeit gebraucht wurden, um diese „christianisierten“ Bevölkerungen zu klassifizieren. Das ganze sechzehnte Jahrhundert war ein Jahrhundert der Verfolgung der Morisken auf der Iberischen Halbinsel bis zu ihrer endgültigen Vertreibung 16095 und der Versklavung der indigenen und afrikanischen Völker in den Amerikas6.

Diese „internen“ und „externen“ eroberten Territorien und Völker schufen nicht nur eine internationale kapitalistische Arbeitsteilung von Zentrum und Peripherie, die mit einer internationalen ethnischen/rassialistischen Arbeitsteilung zwischen Westen und Nicht-Westen überlappte, sondern konstituierten auch die internen und externen imaginierten Grenzen Europas. Dies ist damit verbunden, dass die globale rassialistische/ethnische Hierarchie des Weltsystems Bevölkerungen europäischer Abstammung gegenüber dem Rest privilegiert. Juden und Araber wurden die nicht-europäischen subalternen internen „Anderen“ innerhalb Europas, während indigene Völker die externen „Anderen“ Europas wurden.7

Das erste Kennzeichen für „Andersheit“ in dem „verwestlichten christozentrischen kapitalistischen/patriarchalischen modernen/kolonialen Weltsystem“ war die religiöse Identität. Juden und Araber wurden als „Völker mit der falschen Religion“ charakterisiert, während indigene Völker als „Völker ohne Religion“ konstruiert wurden.8 In der globalen rassialistischen/​ethnischen Hierarchie, die aus den beiden Hauptgeschehnissen von 1492 hervorging, waren die „Völker ohne Religion“, das heißt „Völker ohne Gott“, am Boden der Hierarchie, während die „Völker mit der falschen Religion“, das heißt „Völker mit dem falschen Gott“, eine andere Position in dieser Hierarchie einnahmen. Wie sind die „Völker mit der falschen Religion“ in „Völker unterhalb des Menschseins“, das heißt rassialistisch-inferiore Völker, umgewandelt worden?

Der Kampf des christlichen Spaniens gegen den Islam war Bestandteil eines langen imperialen Kampfes im Mittelmeergebiet, der bis auf die Kreuzzüge zurückgeht. Der christliche Kampf gegen den Islam artikulierte, was Walter Mignolo9 als die „imperiale Differenz“ bezeichnet hat, während der spanische Kampf gegen die Indigenen in den Amerikas nach 1492 die „koloniale Differenz“ artikulierte.

Die „imperiale Differenz“ nach 1492 ist das Ergebnis der imperialen Beziehungen zwischen europäischen Reichen und nicht-europäischen Reichen. Wir werden sie hier als das Ergebnis der „imperialen Beziehung“ charakterisieren.

Die „koloniale Differenz“ ist das Ergebnis der kolonialen Beziehungen zwischen europäischen und nicht-europäischen Völkern. Und wir werden sie hier als ein Ergebnis der „kolonialen Beziehung“ charakterisieren.

Die Vertreibung von Arabern und Juden aus dem christlichen Spanien im Namen der „Reinheit des Blutes“ (limpieza de sangre) war in historischer Betrachtung ein proto-rassistischer Prozess (noch nicht vollkommen rassistisch, obgleich die Folgen nicht so verschieden waren). „Reinheit des Blutes“ wurde nicht als rassialistischer Ausdruck verwendet, sondern als eine Technologie der Macht, um die Spur der religiösen Herkunft der Bevölkerung zu verfolgen. „Reinheit des Blutes“ wird indes erst viel später zu einer vollkommen rassistischen Perspektive werden, nämlich erst nach der Anwendung des Begriffs der „Reinheit des Blutes“ auf die indigenen Völker der Amerikas.

Indigene Völker, die im späten fünfzehnten und frühen sechzehnten Jahrhundert in der christlichen spanischen Vorstellungswelt als „Völker ohne Gott“ charakterisiert worden waren, wurden inferiore Untermenschen oder Nicht-Menschen. Es ist diese Inferiorisierung unter das „Menschsein“, auf die Ebene von Tieren, die die indigenen Völker in den Amerikas in das erste rassialisierte Subjekt der modernen/kolonialen Welt umwandelte, die 1492 eröffnet wurde.10 Diese rassistische Vorstellungswelt wurde auf neue „Völker ohne Gott“ wie etwa subsaharische Afrikaner ausgedehnt, die nach der berüchtigten Debatte zwischen Sepúlveda und Las Casas in den 1550er Jahren im Rahmen des europäischen Sklavenhandels massenhaft in die Amerikas verschleppt worden sind.

Sepúlveda vertrat die Auffassung, dass indigene Völker keine Seele hatten, daher keine Menschen waren und versklavt werden konnten, ohne eine Sünde in den Augen Gottes darzustellen. Hingegen sprach Las Casas sich dafür aus, dass sie Wilde mit einer Seele waren, das heißt kulturell-inferior, kindergleich und daher Menschen, die zu christianisieren waren und nicht zu versklaven. Beide repräsentieren die anfängliche formale Artikulation der zwei Formen des Rassismus, der sich durch die folgenden fünf Jahrhunderte hindurchziehen sollte. Sepúlveda repräsentierte einen biologisch-rassistischen, Las Casas hingegen einen kulturell-rassistischen Diskurs.

Las Casas sprach sich dafür aus, dass „Indianer“ in die Encomienda (eine Form der semifeudalen Zwangsarbeit) aufgenommen werden sollten, und erhob die Forderung, Afrikaner heranzuschaffen, um sie als Sklaven auf den Plantagen zu ersetzen. Schließlich wurden Afrikaner von Las Casas nicht als „Völker ohne Religion“ charakterisiert, sondern auch als „Völker ohne Seele“. Das Argument hier lautet, dass die rassistische Vorstellungswelt, die gegen die indigenen Völker der Neuen Welt geschaffen worden ist, sodann auf alle nicht-europäischen Völker übertragen wurde, was mit dem Sklavenhandel mit Afrikanern in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts einsetzte.

Von besonderer Bedeutung für unser Thema ist, wie diese rassistische Vorstellungswelt sogar auf Völker übertragen worden ist, die im späten fünfzehnten Jahrhundert als „Völker mit dem falschen Gott“ charakterisiert wurden. Als die Beziehungen der europäischen Reiche mit den islamischen Reichen von „imperialen Beziehungen“ in eine „koloniale Beziehung“ übergingen (die spanische Zerstörung von al-Andalus im späten fünfzehnten Jahrhundert und die darauffolgende Unterwerfung der Morisken im sechzehnten Jahrhundert, die holländische Kolonisation Indonesiens im siebzehnten Jahrhundert, die britische Kolonisation Indiens im achtzehnten Jahrhundert, die französische Kolonisation des Mittleren Ostens im neunzehnten Jahrhundert sowie der Niedergang und die darauffolgende Aufspaltung des Osmanischen Reiches unter mehreren europäischen Reichen am Ende des ersten Weltkrieges), wurden „Völker mit dem falschen Gott“ in der theologisch-christlichen Vorstellungswelt des späten fünfzehnten Jahrhunderts im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert zu Tieren inferiorisiert;11 und später wurde diese theologisch-rassialistische Grundlage in eine „wissenschaftliche evolutionäre hierarchische zivilisatorische“ Vorstellungswelt säkularisiert, die die „Völker mit der falschen Religion“ des späten fünfzehnten Jahrhunderts (imperiale Differenz) in die inferioren „Wilden und Primitiven“ der „Völker ohne Zivilisation“ im neunzehnten Jahrhundert (koloniale Differenz) verwandelte.

Dieser Prozess repräsentierte eine entscheidende Transformation von der Inferiorisierung der nicht-christlichen Religionen (wie etwa Islam, Judentum usw.) zur Inferiorisierung der Menschen, die diese Religionen praktizieren (wie etwa Muslime und Juden, die in Semiten umgewandelt wurden, das heißt in eine gegenüber Europäern inferiore Rasse). Diese diskursive Mutation war von zentraler Bedeutung für die Verflechtung zwischen der Inferiorisierung der Religion und dem Rassismus gegen nicht-europäische Menschen, die diese Religionen praktizieren. Die christozentrische globale religiöse Hierarchie und die eurozentrische globale rassialistische/ethnische Hierarchie sind zunehmend verflochten worden, und die Unterscheidung zwischen dem Praktizieren einer nicht-christlichen Religion und dem Rassialisiertsein als inferiorer Mensch wurde zunehmend ausgelöscht.

 7.2 Islamophobie als eine Form des kulturellen Rassismus

Darüber hinaus hat sich in den letzten 60 Jahren ein historischer Wandel in den rassistischen Diskursen vollzogen. Während biologisch-rassistische Diskurse zurückgingen, wurde der kulturelle Rassismus zur hegemonialen Form des Rassismus im ausgehenden Weltsystem.12

Die Niederlage Nazideutschlands, die antikolonialen Kämpfe und die Bürgerrechtsbewegungen der kolonialen Minderheiten innerhalb der westlichen Imperien schufen die historischen und politischen Bedingungen für den Übergang vom biologischen zum kulturellen Rassismus. Die weißen Eliten des Weltsystems haben ihren Rassismus nicht aufgegeben. Sie veränderten die Bedeutungen von und Diskurse über „Rasse“ als Antwort auf die Herausforderungen infolge der Kämpfe der kolonisierten Menschen.

Kultureller Rassismus ist eine Form des Rassismus, bei der das Wort „Rasse“ nicht einmal erwähnt wird. Er konzentriert sich auf die kulturelle Inferiorität einer Gruppe von Menschen. In der Regel wird er in Begriffen von inferioren Gewohnheiten, Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Werten einer Gruppe von Menschen eingerahmt. Er steht dem biologischen Rassismus insofern nahe, als der kulturelle Rassismus die Kultur der rassialisierten/inferiorisierten Menschen naturalisiert/essentialisiert. Letztere werden als in einem zeitlosen Raum fixiert dargestellt.

In den neuen kulturell-rassistischen Diskursen spielt die Religion eine herausragende Rolle. Die gängigen Phrasen über „unzivilisierte“, „barbarische“, „wilde“, „primitive“, „unterentwickelte“, „autoritäre“ und „terroristische“ inferiore Menschen sind heute auf die religiösen Praktiken und Überzeugungen der „anderen“ gerichtet. Indem sie sich auf die Religion der „anderen“ fokussieren, gelingt es den Europäern, Euro-Amerikanern und Euro-Israelis, dem Vorwurf des Rassismus zu entgehen. Wenn wir jedoch die gegenwärtige hegemoniale Rhetorik genau untersuchen, stellen die gegenwärtigen Phrasen eine Wiederauflage alter biologisch-rassistischer Diskurse dar, und die Menschen, die Zielscheibe islamophober Diskurse sind, sind die traditionellen kolonialen Subjekte/Untertanen der westlichen Imperien, das heißt die „üblichen Verdächtigen“.

Nur im Rahmen der umrissenen langen Dauer (longue durée) historischer Kontinuitäten in Verbindung mit der jüngsten Hegemonie des kulturellen Rassismus können wir die Beziehung zwischen Islamophobie und gegenwärtigem Rassismus verstehen. Es ist absolut unmöglich, Hass oder Angst, die gegen Muslime gerichtet sind, vom Rassismus gegen nicht-europäische Völker zu entkoppeln. Islamophobie und kultureller Rassismus sind miteinander verwobene und sich überschneidende Diskurse. Die Assoziation von Muslimen mit den kolonialen Subjekten/Untertanen westlicher Imperien in den Köpfen weißer Bevölkerungen ist im Zentrum des „modernen/kolonialen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystems“ einfach gegeben. Dies verbindet die Islamophobie mit einem alten kolonialen Rassismus, der in der Welt von heute immer noch präsent ist, insbesondere in den metropolitanen Zentren.

In Großbritannien werden Muslime mit Ägyptern, Pakistanern und Bangladeschern (koloniale Subjekte/Untertanen aus den ehemaligen britischen Kolonien) in Verbindung gebracht. Islamophobie wird in Großbritannien mit anti-schwarzen-, anti-arabischen und anti-südasiatischen-Rassismus in Verbindung gebracht. In Frankreich sind die meisten Muslime Nordafrikaner (aus ehemaligen Kolonien wie Algerien, Marokko, Tunesien, Senegal usw.). In den Niederlanden sind die Muslime hauptsächlich Gastarbeiter und Migranten aus den Kolonien aus der Türkei, Marokko, Indonesien und Surinam. Die Islamophobie in den Niederlanden ist mit dem Rassismus gegen Gastarbeiter-Migranten und ehemaligen kolonialen Subjekten/Untertanen verbunden. Islamophobie als Angst vor oder Hass auf Muslime wird also mit anti-arabischen, anti-asiatischen und anti-schwarzen Rassismen in Verbindung gebracht.

In Deutschland wird der Islam mit anti-türkischem Rassismus in Verbindung gebracht, in Spanien mit anti-maurischem Rassismus. Auch in den USA wird der Islam mit Afroamerikanern und Arabern aller Ethnizitäten in Verbindung gebracht. Puerto Ricaner als koloniale Subjekte/Untertanen des US-Imperiums sind ebenfalls verdächtige Subjekte/Untertanen in der islamophoben Hysterie.13 Latinos sind die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe von Konvertiten zum Islam in den USA. Das macht sie auch zur Zielscheibe der neofaschistischen Politik des US-Staates. Darüber hinaus brachte die Bush-Regierung nach 9/11 illegale Einwanderer mit Terrorismus und nationaler Sicherheit in Verbindung, was zu einer verstärkten Militarisierung der Grenze zwischen den USA und Mexiko führte.

Es spielt keine Rolle, ob das westliche innerstaatliche politische System das britische multikulturelle oder das französische republikanische Modell ist, Tatsache ist, dass keines davon funktioniert. Ohne die Überwindung des Problems der rassialistischen Diskriminierung wird der Rassismus zu einem zersetzenden Prozess, der letztlich die abstrakten Ideale des jeweiligen Modells zerstört.

Im Falle der angloamerikanischen Welt dienen Multikulturalismus und Diversität dazu, die weiße Suprematie zu verschleiern. Den rassialistischen Minderheiten wird erlaubt, ihre Geschichte, ihren Karneval und ihre Identität zu feiern, solange sie die rassialistische/ethnische Hierarchie der weißen Suprematie des Status quo unberührt lassen. Das vorherrschende System im Vereinigten Königreich, in Kanada und in den Vereinigten Staaten ist eine institutionalisierte und verschleierte „positive Diskriminierung für Weiße“ (White affirmative action), von der die Weißen täglich und auf allen Ebenen der sozialen Existenz profitieren. Sie ist so mächtig, dass sie so weit normalisiert wurde, dass sie nicht mehr als solche erkannt wird.

Im französischen republikanischen Modell funktioniert das formale System der Gleichheit mit einem institutionalisierten und normalisierten „weißen männlichen Kommunitarismus“ (comunitarisme masculin blanc). Wenn rassialistische/​geschlechtliche/sexuelle Minderheiten gegen Diskriminierung protestieren, werden sie von den „weißen männlichen Kommunitaristen“ an der Macht beschuldigt, als „Kommunitaristen“ (communitaristes) zu handeln. Als ob die Eliten an der Macht rassialistisch und geschlechtlich blind/neutral wären und sich allen gegenüber nach einem „universalen Prinzip der Gleichheit“ verhalten würden. Die weiße Suprematie in Frankreich operiert mit dem Mythos einer „rassialistisch-blinden Gesellschaft“. Der „rassialistisch-blinde Rassismus“ ist in Frankreich so weit institutionalisiert und normalisiert, dass er den diskriminierenden „weißen männlichen Kommunitarismus“ an der Macht unsichtbar macht.

Islamophobie ist ein typisches Beispiel dafür. Die so genannte Neutralität des Westens wird widerlegt, wenn Muslime ihre Praktiken und Identitäten im öffentlichen Raum bekräftigen und wenn sie als mit gleichen Rechten ausgestattete Bürger in westlichen Staaten gegen Diskriminierung im Bildungswesen oder auf dem Arbeitsmarkt klagen. Das „Schleiergesetz“ (loi sur le voile) in Frankreich, das muslimischen Frauen das Tragen des „Schleiers“ in öffentlichen Einrichtungen verbietet, oder die Inhaftierung und Folterung tausender Muslime in den Vereinigten Staaten ohne ordnungsgemäßes Verfahren sind nur die jüngsten Beispiele in einer langen Liste von Missständen.

Auf globaler Ebene war Islamophobie der vorherrschende Diskurs, der in der Ära nach den Bürgerrechten und nach der Unabhängigkeit in den vorherrschenden kulturell-rassistischen Diskursen gegen Araber eingesetzt wurde. Die Ereignisse von 9/11 haben den anti-arabischen Rassismus durch eine islamophobe Hysterie in der ganzen Welt eskalieren lassen, insbesondere bei den herrschenden Eliten der USA und Israels. Letzteres ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass die USA und Israel Palästinenser, Araber und Muslime im Allgemeinen schon Jahrzehnte vor 9/11 als Terroristen dargestellt haben.14 Die Verantwortung der US-Außenpolitik wird nie mit den tragischen Ereignissen von 9/11 in Verbindung gebracht. Der Kalte Krieg der USA gegen das Reich des Bösen in Afghanistan in den 1980er Jahren finanzierte, unterstützte und kreierte ein globales Netzwerk islamischer fundamentalistischer Terrorgruppen, die sie zur damaligen Zeit noch „Freiheitskämpfer“ nannten, das aber mit 9/11 auf sie zurückschlug.15 Die USA waren an den Operationen von Osama Bin-Laden und al-Qaida als Teil der globalen/imperialen Pläne und Operationen der CIA gegen die Sowjetunion in den 1980er Jahren beteiligt.

Es ist indes einfacher, den Arabern die Schuld zu geben und rassistische, islamophobe Argumente anzuführen, als die US-Außenpolitik der letzten 50 Jahre kritisch zu hinterfragen. Dasselbe gilt für Saddam Hussein, der ein treuer Verbündeter der USA war und in den 1980er Jahren einen von der CIA finanzierten schmutzigen Krieg gegen den Iran führte, der den imperialen/globalen Plänen der USA folgte, und der später zum Feind der USA erklärt und von den US-Eliten fälschlicherweise beschuldigt wurde, Verbindungen zu al-Qaida zu unterhalten, um einen lange geplanten Krieg gegen den Irak zu rechtfertigen.16

Es ist symptomatisch, dass die Araber in den meisten westlichen Ländern immer noch so wahrgenommen werden, als stellten sie „die Mehrheit der Muslime in der Welt“ dar, obwohl sie nur ein Fünftel der gesamten muslimischen Weltbevölkerung ausmachen. Dies hängt mit den globalen/imperialen Plänen des Westens zur Beherrschung und Ausbeutung des Öls im Nahen Osten und dem Widerstand der Araber dagegen zusammen. Das in den westlichen Medien (Zeitungen, Filme, Radio, Fernsehen usw.) seit langem übertriebene Erscheinungsbild der Araber als terroristisch und gewalttätig war grundlegend für die neue Welle des anti-arabischen Rassismus in Verbindung mit einem islamophoben Diskurs durch kulturellen Rassismus vor und nach 9/11.17 Es ist kein Zufall, dass der anti-arabische Rassismus für den größten Teil der Islamophobie im Westen verantwortlich ist. Auch die im Westen lebenden Muslime südasiatischer und afrikanischer Herkunft bekommen einen Teil des anti-arabischen Rassismus zu spüren, insbesondere in den USA.18

 7.3 Islamophobie als Orientalismus

Eines der kulturell-rassistischen Argumente, die heute gegen Muslime vorgebracht werden, ist deren „patriarchalische und sexistische Herabsetzung von Frauen“. Als Teil der Konstruktion von Muslimen als inferior gegenüber dem Westen ist die Unterdrückung der Frauen durch die Männer ein wichtiges Argument, um ihre „unzivilisierten“ und „gewalttätigen“ Werte/Verhaltensweisen zu bekräftigen. Es ist eine Ironie des Schicksals, wenn westliche patriarchalische und christlich-konservative Fundamentalisten so tun, als seien sie Fürsprecher des Feminismus, wenn sie über den Islam sprechen. George W. Bushs Hauptargument für den Einmarsch in Afghanistan war die Notwendigkeit, braune Frauen von den Gräueltaten brauner Männer zu befreien. Die Heuchelei dieses Arguments wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Bush-Regierung in den acht Jahren ihrer Amtszeit in den USA aktiv den christlich-patriarchalischen Fundamentalismus verteidigte, Abtreibung und zivile/soziale Rechte der Frauen ablehnte, während sie für den Einmarsch in Afghanistan das Argument der Frauenrechte gegen die Taliban anführte.

Die Rhetorik von „weißen Männern als Retter der farbigen Frauen vor den patriarchalischen Herabsetzungen durch farbige Männer“ geht auf die Kolonialzeit zurück. Sie hat historisch dazu gedient, die wahren Gründe für die Kolonisation des Nicht-Westens durch die weißen Männer zu verschleiern.

Wir wissen jetzt, dass die wahren Gründe für die Invasion Afghanistans durch die Bush-Regierung und deren Fortsetzung durch die Obama-Regierung in der geopolitisch-strategischen Lage des Landes und seiner Bedeutung im Hinblick auf seine Nähe zu Öl und Gas in Südasien liegen. Unmittelbar nach der Invasion erteilte das besetzte Afghanistan transnationalen Gas- und Ölkonzernen die rechtliche Erlaubnis, Pipelines über sein Territorium zu bauen.19 Die islamophobe Darstellung von Muslimen als Wilde, die westlicher zivilisierender Missionen bedürfen, ist das Hauptargument, mit dem globale/imperiale militärische und ökonomische Pläne verschleiert werden.

Außerdem ist die Kolonisation des Islams durch das Patriarchat nicht nur auf den Islam beschränkt. Die gleichen Herabsetzungen gegen Frauen können wir bei Christen (Katholiken und Protestanten) oder jüdischen Männern beobachten. Man kann in christlichen Texten ebenso viele patriarchalische und sexistische Gedanken finden wie in jüdischen oder muslimischen Texten. Die sexistische und patriarchalische Charakterisierung des Islams ist jedoch das, was in der Presse dargestellt wird, während über die patriarchalische Unterdrückung von Frauen, die vom Judentum und Christentum im Westen aufrechterhalten und praktiziert wird, fast nichts gesagt wird. Es ist wichtig zu erwähnen, dass der Islam die erste Religion der Welt war, die Frauen vor mehr als tausend Jahren das Recht auf Scheidung zugestanden hat. Die christliche Welt erkannte das Recht der Frauen auf Scheidung erst sehr spät im späten 20. Jahrhundert an, und die katholische Kirche und viele Länder erkennen es immer noch nicht an. Wir sagen dies nicht, um patriarchalische Herabsetzungen von Frauen durch einige muslimische Männer zu rechtfertigen, sondern um die stereotype rassialistische Darstellung in Frage zu stellen, die nur muslimische Männer zur Quelle der Herabsetzungen von Frauen in der ganzen Welt macht. Dieses islamophobe Argument ist inkohärent, inkonsistent und falsch. Es dient einzig den globalen/imperialen Plänen des Westens.

Somit haben wir es in der heutigen Welt nicht mit einem Kampf der Kulturen, sondern mit einem Kampf der Fundamentalismen20 und einem Kampf der Patriarchate zu tun. Die Bush-Regierung verteidigte christlich-fundamentalistische Argumente, um den „islamischen Feind“ als Teil der alten Kreuzzüge zu charakterisieren, während islamische Fundamentalisten eine ähnliche Sprache verwenden.21 Erstere verteidigen im Namen der Zivilisation und des Fortschritts eine westliche Form des Patriarchats mit der christlichen monogamen Familie im Zentrum, während letztere eine nicht-westliche Form des Patriarchats verteidigen, in der die Polygamie für Männer (nicht für Frauen) als zentraler Bestandteil für die Familienstruktur anerkannt wird. Wie islamische Feministinnen jedoch betonen, sind patriarchalische Versionen des Islams nicht wesenhaft islamisch, sondern stellen die Kolonisation des Islams durch das Patriarchat dar.22 Die Auslegung der ursprünglichen heiligen Schriften wurde im Laufe der Geschichte des Islams von Männern vereinnahmt.

Das Gleiche gilt für die jüdischen und christlichen heiligen Texte. Die Interpretationen wurden durch patriarchalische Auslegungen der Schriften als dominante Perspektive in diesen Weltreligionen kontrolliert. Daher gibt es im heutigen Weltsystem kein „Patriarchat“ als einzelnes System, sondern „Patriarchate“ im Sinne mehrerer Systeme der geschlechtlichen Vorherrschaft von Männern über Frauen. Es ist jedoch von grundlegender Bedeutung zu betonen, dass das patriarchalische System, das im heutigen Weltsystem globalisiert wurde, die westlich-christliche Form des Patriarchats ist. Nicht-westliche Formen des Patriarchats haben mit dem Westen in peripheren Regionen des Weltsystems koexistiert, und in vielen Epochen der Kolonialgeschichte hat sich der Westen mit ihnen bei ihren kolonialen/​imperialen Projekten verschworen.

So zu tun, als sei das Patriarchat als System der geschlechtlichen Vorherrschaft außerhalb des Westens und im Islam angesiedelt, ist eine historisch-orientalistische Verzerrung, die auf westliche rassistische Darstellungen des Islams im 18. Jahrhundert zurückgeht. Die europäische koloniale Expansion hat nicht nur Kapitalismus und Militarismus, sondern auch das christliche Patriarchat in die ganze Welt exportiert.

Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass orientalistische Sichtweisen durch rassistisch-exotische und inferior-essentialistische Darstellungen des Islams als in der Zeit eingefroren gekennzeichnet sind.23 Diesen orientalistischen Darstellungen des Islams nach dem 18. Jahrhundert gingen dreihundert Jahre Okzidentalismus (die Superiorität des Westens über den Rest) vom späten 15. Jahrhundert bis zum Aufkommen des Orientalismus im 18. Jahrhundert voraus.24 Die historische und politische Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung des Orientalismus war der Okzidentalismus.

 7.4 Islamophobie als epistemischer Rassismus

Der Okzidentalismus schuf das epistemische Privileg und die hegemoniale Identitätspolitik des Westens, von dem aus die „Anderen“ beurteilt und das Wissen über sie erzeugt wird. Die Ego-Politik des Wissens von René Descartes im 17. Jahrhundert, in der die westlichen Männer an die Stelle Gottes als Grund des Wissens treten, ist die Grundlage der modernen westlichen Philosophie. Wie Enrique Dussel25, lateinamerikanischer Philosoph der Befreiung, uns jedoch in Erinnerung ruft, ging Descartes’ ego cogito („Ich denke, also bin ich“) 150 Jahre lang ego conquiro („Ich erobere, also bin ich“) voraus. Der von Descartes verfochtene Blick mit dem Auge Gottes übertrug die Attribute des christlichen Gottes auf die westlichen Männer (men) (das Geschlecht ist hier nicht zufällig). Dies war jedoch nur von einem imperialen Sein/Wesen (Imperial Being) aus möglich, das heißt von der Subjektivität eines Menschen aus, der im Zentrum der Welt steht, weil er sie bereits erobert hat.

Der Mythos von der Fähigkeit der westlichen Männer, ein universales Wissen jenseits von Zeit und Raum hervorzubringen, war für die imperialen/globalen Entwürfe von grundlegender Bedeutung. Die cartesianische Ego-Politik des Wissens führte zu dem, was der kolumbianische Philosoph Santiago Castro-Gomez die „Nullpunkt“-Perspektive nannte. Die „Nullpunkt“-Perspektive bezeichnet den westlichen Mythos eines Standpunkts, der sich selbst als jenseits eines Standpunkts begreift. Dieser Mythos erlaubte es den westlichen Männern, ihr Wissen als universal, neutral und objektiv zu deklarieren. Zeitgenössische Autoren wie Samuel Huntington26 reproduzieren eine Kombination des alten Okzidentalismus mit dem Orientalismus. Die Superiorität des Westens wird als selbstverständlich vorausgesetzt, und das epistemische Privileg der westlichen Identitätspolitik, von dem aus Urteile über den „Anderen“ und globale/imperiale Entwürfe überall auf der Welt hervorgebracht werden, ist eine unhinterfragte Grundannahme.

Welche Bedeutung hat diese epistemische Betrachtung für die Islamophobie? Ausgehend von der hegemonialen Identitätspolitik und dem epistemischen Privileg des Westens werden die übrigen Epistemologien und Kosmologien der Welt als Mythos, Religion, Folklore oder Kultur subalternisiert, indem nicht-westliches Wissen unter den Status von Philosophie und Wissenschaft herabgestuft wird. Von dieser hegemonialen epistemischen Position aus entwerfen westliche Denker den Orientalismus über den Islam. Ersteres führt zu epistemischem Rassismus, das heißt zur Inferiorisierung und Subalternisierung nicht-westlichen Wissens, während letzteres zum Orientalismus führt. Die Subalternisierung und Inferiorisierung des Islams bedeutete nicht nur eine Herabstufung des Islams zu bloßer Spiritualität, sondern auch eine im Hinblick auf seine Epistemologie.

Islamische kritische Denker werden als inferior gegenüber den westlichen/christlichen Denkern betrachtet. Die Superiorität der westlichen Epistemologie erlaubt es dem Westen unter Bezugnahme auf seine Autorität, das islamische „Andere“ als inferiores, in der Zeit erstarrtes Volk zu konstruieren. Epistemischer Rassismus führt zur Orientalisierung des Islams. Dies ist von entscheidender Bedeutung, da Islamophobie als eine Form des Rassismus nicht ausschließlich ein soziales Phänomen darstellt, sondern auch eine epistemische Frage aufwirft. Epistemischer Rassismus erlaubt es dem Westen, sich das kritische Denken islamischer Denker zu westlichen globalen/imperialen Entwürfen nicht anhören zu müssen. Das Denken, das von nicht-westlichen Standorten ausgeht, wird nicht für beachtenswert gehalten, außer um es als „unzivilisiert“, „primitiv“, „barbarisch“ und „rückständig“ darzustellen. Der epistemische Rassismus erlaubt es dem Westen, einseitig zu entscheiden, was für die Muslime heute das Beste ist, und verhindert jede Möglichkeit eines ernsthaften interkulturellen Dialogs. Islamophobie als eine Form des Rassismus gegenüber Muslimen manifestiert sich nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungswesen, im öffentlichen Raum, im globalen Krieg gegen den Terrorismus oder in der globalen Wirtschaft, sondern auch auf dem epistemologischen Schlachtfeld der Festlegung der Prioritäten der heutigen Welt.

Jüngste Ereignisse wie der Anschlag vom 11. September in den USA (9/11), die Unruhen in den Pariser „Banlieues“, gegen Immigranten gerichtete Fremdenfeindlichkeit, die Demonstrationen gegen dänische Karikaturen des Propheten, die Bombenanschläge auf Londoner U-Bahn-Stationen, der Triumph der Hamas bei den palästinensischen Wahlen, der Widerstand der Hizbullah gegen die israelische Invasion im Libanon, die Bombenanschläge auf spanische Vorortzüge (3/11) und der Atomenergiekonflikt mit dem Iran wurden in der westlichen Öffentlichkeit mit islamophober Sprache kodiert. Westliche Politiker (mit Ausnahme von Rodríguez Zapatero in Spanien) und die Mainstream-Medien haben sich an den islamophoben Reaktionen auf die geschilderten Ereignisse mitschuldig gemacht, wenn nicht sogar aktiv daran mitgewirkt.

Epistemischer Rassismus als die unsichtbarste Form des Rassismus trägt zur Legitimierung einer Schar von Experten, Beratern, Fachleuten, Beamten, Akademikern und Theologen bei, die trotz ihrer absoluten Unkenntnis des Themas und ihrer islamophoben Vorurteile weiterhin mit Autorität über den Islam und die Muslime sprechen. Diese Schar von Intellektuellen, die orientalistisches Wissen über die Inferiorität des Islams und seiner Völker verbreiten, gibt es seit dem 16. Jahrhundert in Spanien27 und seit dem 18. Jahrhundert in Frankreich und England28. Sie tragen zur arroganten Zurückweisung islamischer Denker durch den Westen bei.

Epistemischer Rassismus und epistemischer Sexismus sind die verborgensten Formen von Rassismus und Sexismus in dem globalen System, in dem wir alle leben, dem „verwestlichten/christianisierten modernen/kolonialen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystem“.29 Sozialer, politischer und ökonomischer Rassismus und Sexismus sind heute viel sichtbarer und bekannter als epistemologischer Rassismus/Sexismus. Der epistemische Rassismus ist jedoch die grundlegende Form und eine alte Version des Rassismus, bei der die Inferiorität „nicht-westlicher“ Völker als unterhalb der Grenze des Menschseins (Nicht-Menschen oder Untermenschen) aufgrund ihrer Nähe zur Tierheit definiert ist; und letztere wird aufgrund ihrer inferioren Intelligenz und somit mangelnden Rationalität definiert.

Epistemischer Rassismus funktioniert durch die Privilegierung einer essentialistischen („Identitäts“-)Politik „westlicher“ männlicher Eliten, das heißt der hegemonialen Denktradition der westlichen Philosophie und Gesellschaftstheorie, die fast nie „westliche“ Frauen und nie „nicht-westliche“ Philosophen/​Philosophien und Sozialwissenschaftler (Männer und Frauen) einschließt. In dieser Tradition gilt der „Westen“ als die einzige legitime Denktradition, die in der Lage ist, Wissen hervorzubringen, und als die einzige, die Zugang zu „Universalität“, „Rationalität“ und „Wahrheit“ hat. Epistemischer Rassismus betrachtet „nicht-westliches“ Wissen als inferior gegenüber „westlichem“ Wissen. Da epistemischer Rassismus mit epistemischem Sexismus verwoben ist, stellt die westzentrische Sozialwissenschaft eine Form des epistemischen Rassismus/Sexismus dar, die das Wissen der „westlichen“ Männer als das superiore Wissen in der heutigen Welt privilegiert.

Wenn wir den Kanon der in den westlichen akademischen Disziplinen privilegierten Denker betrachten, können wir feststellen, dass sie ausnahmslos „westliche“ männliche Denker und Theorien privilegieren, vor allem die von europäischen und europäisch-nordamerikanischen Männern. Diese hegemoniale essentialistische „Identitätspolitik“ ist so mächtig und so normalisiert – durch den Diskurs der „Objektivität“ und „Neutralität“ der cartesianischen „Ego-Politik des Wissens“ in den Sozialwissenschaften -, dass sie verbirgt, wer spricht und von welchem Ort der Macht aus, so dass wir, wenn wir an „Identitätspolitik“ denken, sofort annehmen, wie durch „Commonsense“, dass wir über rassialisierte Minderheiten sprechen. Ohne die Existenz einer essentialistischen „Identitätspolitik“ unter rassialisierten Minderheiten zu leugnen, benutzt die hegemoniale „Identitätspolitik“ – die des eurozentrischen männlichen Diskurses – diesen identitären, rassistischen und sexistischen Diskurs, um alle kritischen Interventionen zu verwerfen, die in Epistemologien und Kosmologien von unterdrückten Gruppen und „nicht-westlichen“ Denktraditionen wurzeln.30

Der zugrundeliegende Mythos der verwestlichten Akademie ist immer noch der szientifizistische (scientificist) Diskurs der „Objektivität“ und „Neutralität“, der den „Ort der Äußerung“ (locus of enunciation) des Sprechers verbirgt, das heißt wer spricht und von welcher in den bestehenden Machtverhältnissen im Weltmaßstab verorteten epistemischen Körper- und Geopolitik des Wissens aus. Durch den Mythos der „Ego-Politik des Wissens“ (die in Wirklichkeit immer durch einen „westlichen“ männlichen Körper und eine eurozentrische Geopolitik des Wissens spricht) werden kritische Stimmen von Individuen und Gruppen, die durch diesen hegemonialen epistemischen Rassismus und Sexismus inferiorisiert und subalternisiert werden, verleugnet und als partikularistisch abgetan.

Wenn die Epistemologie eine Farbe hat – wie der afrikanische Philosoph Emmanuel Chukwudi Eze31 so treffend feststellt – und wenn sie zudem ein Geschlecht hat – wie die afroamerikanische Soziologin Patricia Hill Collins32 argumentiert hat -, dann hat die eurozentrische Epistemologie, die die Sozialwissenschaften beherrscht, sowohl eine Farbe als auch ein Geschlecht. Die Konstruktion der Epistemologie „westlicher“ Männer als superior und der übrigen Welt als inferior ist ein wesenhafter Bestandteil des epistemologischen Rassismus/Sexismus, der im Weltsystem seit mehr als 500 Jahren vorherrscht.

Das epistemische Privileg des „Westens“ wurde durch die Zerstörung von al-Andalus durch die spanische katholische Monarchie und die europäische koloniale Expansion seit dem späten 15. Jahrhundert in die Wege geleitet und normalisiert. Von der Neubestimmung der Welt gemäß der christlichen Kosmologie (Europa, Afrika, Asien und später Amerika) und der Charakterisierung alles nichtchristlichen Wissens als Produkt heidnischer und teuflischer Kräfte bis hin zur Annahme innerhalb ihres eigenen eurozentrischen Provinzialismus, dass „Wahrheit“ und „Universalität“ im Durchgang durch Renaissance, Aufklärung und westliche Wissenschaften nur innerhalb der griechisch-römischen Tradition erreicht werden, wurde das epistemische Privileg der westlichen, eurozentrischen, männlichen „Identitätspolitik“ so weit normalisiert, dass es als hegemoniale „Identitätspolitik“ unsichtbar wurde. Sie wurde zum universalen normalisierten Wissen. Auf diese Weise wurden alle „anderen“ Denktraditionen als inferior abgetan (im 16. Jahrhundert als „Barbaren“, im 19. Jahrhundert als „Primitive“, im 20. Jahrhundert als „unterentwickelt“ und zu Beginn des 21. Jahrhunderts als „antidemokratisch“).

Daher sind seit der Herausbildung der westlichen liberalen Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert sowohl der epistemische Rassismus als auch der epistemische Sexismus konstitutiv für ihre Disziplinen und ihre Wissensproduktion. Die westlichen Sozialwissenschaften gehen in ihrer Wissensproduktion von der Inferiorität, Voreingenommenheit und mangelnden Objektivität des „nicht-westlichen“ Wissens und der Superiorität des „Westens“ aus. Infolgedessen basiert die westliche Gesellschaftstheorie auf den Erfahrungen von fünf Ländern (Frankreich, England, Deutschland, Italien und den USA), die nur knapp 12 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Der Provinzialismus der Gesellschaftstheorie der westlichen Sozialwissenschaften mit ihrem falschen Anspruch auf Universalität gibt vor, die soziale Erfahrung der anderen 88 Prozent der Weltbevölkerung zu repräsentieren. Kurzum, der Eurozentrismus mit seinem epistemischen Rassismus/Sexismus ist eine Form des Provinzialismus, der sich in den heutigen Sozialwissenschaften fortsetzt.

Gegen diese hegemoniale „Identitätspolitik“, die stets christliche und westliche Schönheit, Wissen, Traditionen, Spiritualitäten und Kosmologien privilegierte, während sie nicht-christliche und nicht-westliche Schönheit, Wissen, Traditionen, Spiritualitäten und Kosmologien als inferior und subaltern abtat, entwickelten die durch diese hegemonialen Diskurse als inferior und subaltern abgestempelten Subjekte/Untertanen ihre eigene „Identitätspolitik“ als Reaktion auf den Rassismus der ersteren. Dieser Prozess ist notwendiger Bestandteil eines Prozesses der Selbstaufwertung in einer rassistischen Welt, die sie als inferior abstempelt und ihnen ihr Menschsein abspricht.

Dieser Prozess der identitären Selbstbestätigung hat jedoch seine Grenzen, wenn er zu fundamentalistischen Vorhaben führt, die die dichotomen Begriffe der hegemonialen „westlichen“, männlichen, eurozentrischen, rassistischen und sexistischen philosophischen Denktradition auf den Kopf stellen. Wenn beispielsweise davon ausgegangen wird, dass subalterne nicht-westliche ethnische/rassialistische Gruppen superior und die vorherrschenden westlichen rassialistischen/ethnischen Gruppen inferior sind, werden lediglich die Begriffe des hegemonialen westlichen Rassismus umgedreht, ohne dessen grundlegendes Problem zu überwinden, das heißt den Rassismus, der einige Menschen als inferior abstempelt und andere aus kulturellen oder biologischen Gründen zur Kategorie der Superioren erhebt.33

Ein weiteres Beispiel ist die Übernahme – wie von einigen islamischen und afrozentrischen Fundamentalisten vollzogen – des hegemonialen, fundamentalistischen, eurozentrischen Diskurses, wonach die europäische Tradition die einzige ist, die von Natur aus und dem Wesen nach demokratisch ist, während die nicht-europäischen „Anderen“ als von Natur aus und dem Wesen nach autoritär angesehen werden, wodurch der nicht-westlichen Welt demokratische Diskurse und Formen der institutionellen Demokratie (die sich natürlich von der westlichen liberalen Demokratie unterscheiden) vorenthalten werden und folglich politischer Autoritarismus unterstützt wird. Das ist es, was alle Dritte-Welt-Fundamentalisten tun, wenn sie die eurozentrische, fundamentalistische, falsche Prämisse übernehmen, dass die einzige demokratische Tradition die westliche ist, und daher davon ausgehen, dass die Demokratie nicht für ihre „Kultur“ und ihre „Gesellschaften“ gilt, und monarchische, autoritäre und/oder diktatorische Formen der politischen Autorität verteidigen. Damit wird lediglich eine auf den Kopf gestellte Form des eurozentrischen Essentialismus reproduziert. Die Vorstellung, dass „Demokratie“ dem Wesen nach „westlich“ ist und dass „nicht-demokratische“ Formen dem Wesen nach „nicht-westlich“ sind, wird sowohl von eurozentrischen fundamentalistischen Diskursen als auch von deren Abwandlungen wie den „Dritte-Welt“-Fundamentalismen geteilt.

Die „Spaltungen“, die sich aus dieser Identitätspolitik ergeben, reproduzieren letztlich in auf den Kopf gestellter Form denselben Essentialismus und Fundamentalismus des hegemonialen eurozentrischen Diskurses. Wenn wir Fundamentalismus als jene Perspektive definieren, die ihre eigene Kosmologie und Epistemologie als superior und als einzige Quelle der Wahrheit ansieht und andere Epistemologien und Kosmologien inferiorisiert und ihnen die Ebenbürtigkeit abspricht, dann ist der Eurozentrismus nicht nur eine Form des Fundamentalismus, sondern der hegemoniale Fundamentalismus in der heutigen Welt.

Diese Dritte-Welt-Fundamentalisten (afrozentrische, islamistische, indigenistische usw.), die als Reaktion auf den hegemonialen eurozentrischen Fundamentalismus entstehen und von der „westlichen“ Presse täglich auf die Titelseiten der Zeitungen gebracht werden, sind untergeordnete Formen des eurozentrischen Fundamentalismus, insofern sie die dichotomen, essentialistischen, rassialistischen Hierarchien des eurozentrischen Fundamentalismus reproduzieren und aufrechterhalten.34

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine politische Konsequenz dieser epistemologischen Erörterung darin besteht, dass die gegenwärtigen Diskussionen über den politischen Islam, über die Demokratie und über den so genannten „Krieg gegen den Terrorismus“ auf einem „epistemischen Rassismus“ beruhen. Der „westliche“ epistemische Rassismus, der „nicht-westliche“ Epistemologien und Kosmologien inferiorisiert und die „westliche“ Epistemologie als die superiore Form des Wissens und als einzige Quelle für die Definition von Menschenrechten, Demokratie, Staatsbürgerschaft usw. privilegiert, disqualifiziert den „Nicht-Westen“ letztlich als unfähig, Demokratie, Gerechtigkeit, Menschenrechte, wissenschaftliche Erkenntnisse usw. hervorzubringen. Dem liegt die essentialistische Vorstellung zugrunde, dass Vernunft und Philosophie im „Westen“ verortet sind, während nicht-rationales Denken beim „Rest“ zu lokalisieren ist.

 7.5 Islamophobie in Gestalt eurozentrischer Sozialwissenschaften

Wie ich in diesem Artikel zu argumentieren versucht habe, ist der epistemische Rassismus in der Form von epistemischer Islamophobie eine grundlegende und konstitutive Logik der modernen/kolonialen Welt und ihrer legitimen Formen der Wissensproduktion. Europäische Humanisten und Gelehrte haben seit dem 16. Jahrhundert argumentiert, dass islamisches Wissen dem des Westens gegenüber inferior sei. Die Debatte über die Morisken im Spanien des 16. Jahrhunderts war voll von epistemischen, islamophoben Vorstellungen.35 Nach der Vertreibung der Morisken im frühen 17. Jahrhundert wurde die Inferiorisierung der „Moros“ im Rahmen eines epistemischen islamophoben Diskurses fortgesetzt. Einflussreiche europäische Denker des 19. Jahrhunderts wie zum Beispiel Ernest Renan führten aus, „der Islam sei mit Wissenschaft und Philosophie unvereinbar“36.

In ähnlicher Weise gibt es in den Sozialwissenschaften konkrete Manifestationen von epistemischer Islamophobie in den Werken klassischer Gesellschaftstheoretiker der westzentrischen patriarchalischen Sozialwissenschaft wie Karl Marx und Max Weber.

Sukidi stellt dazu fest:

Der Islam, so Weber, war das genaue Gegenteil des Calvinismus. Es gab keine Doppeldeutigkeit im Hinblick auf die Prädestination im Islam. Stattdessen enthält der Islam, wie Weber in Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus37 feststellte, einen Glauben an die Vorherbestimmung (predetermination), nicht an die Prädestination (predestination), die das Schicksal der Muslime in dieser Welt, nicht in der nächsten, betraf.38 Die von den Calvinisten vertretene Lehre der Prädestination, die sie zu harter Arbeit als einer Pflicht (Beruf, Berufung) veranlasste, ist bei den Muslimen nicht zu finden. In der Tat, wie Weber argumentiert, „das ethisch Entscheidende: die ‚Bewährung‘ als Prädestinierter, [spielte] im Islam keine Rolle“39. Ohne das Konzept der Prädestination konnte der Islam den Gläubigen keine positive Einstellung zum diesseitigen Handeln vermitteln. Infolgedessen sind die Muslime zum Fatalismus verurteilt.40

Die Rationalisierungen von Lehre und Lebensführung waren dem Islam fremd. Weber verwendete den Glauben an die Prädestination als Schlüsselbegriff, um die Rationalisierung der Lehre und der Lebensführung zu erklären. Im Calvinismus konnte der Glaube an die Prädestination durchaus eine ethische Rigorosität, Gesetzlichkeit und eine rationale diesseitige Handlungsweise hervorbringen. Nichts von alledem war im Islam vorhanden. Dementsprechend führte der islamische Glaube an die Prädestination nicht zu einer Rationalisierung der Lehre und der Lebensführung. Im Gegenteil, er machte die Muslime zu irrationalen Fatalisten. Der Islam, so Weber, hat durch das „Eindringen des Heiligenkults und schließlich der Magie […] vollends von jeder eigentlichen Lebensmethodik abgeführt“41.42

Wenn wir der Logik Webers bis zu ihrer letzten Konsequenz folgen, das heißt, dass Muslime irrationale und fatalistische Menschen sind, dann kann von ihnen kein ernstzunehmendes Wissen kommen. Was ist die Geopolitik des Wissens, die in Webers epistemischem Rassismus gegenüber Muslimen eine Rolle spielt? Die Geopolitik des Wissens ist die epistemische Islamophobie der deutschen und französischen Orientalisten, die sich in Webers Verdikt über den Islam wiederholt. Für Weber ist es nur die christliche Tradition, die den ökonomischen Rationalismus und damit den modernen westlichen Kapitalismus hervorbringt. Der Islam kann mit der „Superiorität“ der westlichen Werte nicht mithalten, da es ihm an Individualität, Rationalität und Wissenschaft mangelt. Rationale Wissenschaft und die daraus abgeleitete rationale Technologie sind, so Weber, den orientalischen Zivilisationen unbekannt. Diese Aussagen sind äußerst problematisch.

Wissenschaftler wie Saliba43 und Graham44 haben den Einfluss der wissenschaftlichen Entwicklungen in der islamischen Welt auf den Westen, die moderne Wissenschaft und die moderne Philosophie nachgewiesen. Rationalität war ein zentraler Grundsatz der islamischen Zivilisation. Während Europa während des so genannten Mittelalters in obskurantistischem feudalem Aberglauben versank, war die Schule von Bagdad das weltweite Zentrum der intellektuellen und wissenschaftlichen Produktivität und Kreativität. Die orientalistischen Ansichten Webers und der Weberianer über den Islam reproduzieren eine epistemische Islamophobie, nach der Muslime trotz historischer Beweise nicht in der Lage sind, Wissenschaft zu betreiben und Rationalität zu besitzen.

Das gleiche Problem der epistemischen Islamophobie finden wir allerdings auch bei Marx und Engels. Obwohl Marx 1882 zwei Monate in Algier verbrachte, um sich von einer Krankheit zu erholen, schrieb er fast nichts über den Islam. Marx hatte indes eine orientalistische, epistemische, rassistische Sicht auf nicht-westliche Völker im Allgemeinen, über die er ausführlich schrieb.45 Darüber hinaus schrieb sein enger Mitstreiter Friedrich Engels über muslimische Völker und wiederholte die gleichen rassistischen Stereotypen, die Marx gegen „orientalische“ Völker verwendete. In Bezug auf die französische Kolonisation Algeriens sagte Engels:

Alles in allem ist es unserer Meinung nach ein großes Glück, dass der arabische Anführer gefangen genommen wurde. Der Kampf der Beduinen war aussichtslos, und obwohl die Art und Weise, wie brutale Soldaten wie Bugeaud den Krieg geführt haben, höchst tadelnswert ist, ist die Eroberung Algeriens eine wichtige und glückliche Tatsache für den Fortschritt der Zivilisation. Die Piraterie der barbarischen Staaten, in die die englische Regierung nie eingegriffen hat, solange sie ihre Schiffe nicht störte, konnte nur durch die Eroberung eines dieser Staaten unterbunden werden. Und die Eroberung Algeriens hat bereits die Herrscher von Tunis und Tripolis und sogar den König von Marokko gezwungen, den Weg der Zivilisation zu beschreiten. Sie waren gezwungen, für ihre Leute eine andere Beschäftigung als die Piraterie zu finden [...] Und wenn wir auch bedauern, dass die Freiheit der Beduinen in der Wüste zerstört wurde, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass dieselben Beduinen ein Volk von Räubern waren, deren Lebensunterhalt hauptsächlich darin bestand, sich gegenseitig oder die sesshaften Dorfbewohner zu überfallen, zu rauben, was sie fanden, alle, die sich widersetzten, abzuschlachten und die übrigen Gefangenen als Sklaven zu verkaufen. Alle diese Völker freier Barbaren sehen aus der Ferne sehr stolz, edel und ruhmreich aus, aber wenn man sich ihnen nähert, wird man feststellen, dass sie ebenso wie die zivilisierteren Völker von der Gier nach Gewinn beherrscht werden und nur gröbere und grausamere Mittel anwenden. Und schließlich ist der moderne Bürger (bourgeois) mit seiner Zivilisation, seiner Industrie, seiner Ordnung und seiner zumindest verhältnismäßigen Aufgeklärtheit dem feudalen, marodierenden Räuber mit seinem barbarischen Gesellschaftszustand, dem er angehört, vorzuziehen.46

Engels’ Standpunkt ist ganz klar: die koloniale Expansion unterstützen und die westliche Zivilisation bringen, auch wenn diese bürgerlich und brutal ist, um einen „barbarischen“ Zustand zu überwinden. Die Superiorität des „Westens über den Rest“ und insbesondere über die Muslime wird in dieser Aussage ganz deutlich. Im Rahmen der Betrachtungen über Indien kommt der irrationale Fanatismus der Muslime in dem folgenden Zitat von Engels zum Ausdruck:

Die Kriegführung der Aufständischen beginnt nun, den Charakter des Krieges anzunehmen, den die Beduinen Algeriens gegen die Franzosen führen, mit dem Unterschied, daß die Hindus längst nicht so fanatisch und daß sie kein Reitervolk sind.47

Wenn es irgendeinen Zweifel daran gibt, dass Marx die Ansichten von Engels über die Inferiorität von Muslimen und „nicht-westlichen“ Völkern gegenüber dem Westen teilt, dann ist das folgende Zitat eine Bestätigung:

Die Frage ist [...] nicht, ob die Engländer ein Recht hatten, Indien zu erobern, sondern ob ein von den Türken, den Persern, den Russen erobertes Indien dem von den Briten eroberten vorzuziehen wäre.

England hat in Indien eine doppelte Mission zu erfüllen: eine zerstörende und eine erneuernde – die Zerstörung der alten asiatischen Gesellschaftsordnung und die Schaffung der materiellen Grundlagen einer westlichen Gesellschaftsordnung in Asien.

Die Araber, Türken, Tataren, Moguln, die Indien nacheinander überrannten, wurden rasch hinduisiert, denn einem unabänderlichen Gesetz der Geschichte zufolge werden barbarische Eroberer selbst stets durch die höhere Zivilisation der Völker erobert, die sie sich unterwarfen. Die britischen Eroberer waren die ersten, die auf einer höheren Entwicklungsstufe standen und daher der Hindu-Zivilisation unzugänglich waren. […]

Der Tag ist nicht mehr fern, an dem dank dem Zusammenwirken von Eisenbahnen und Dampfschiffen die Entfernung zwischen England und Indien auf ein Zeitmaß von acht Tagen verkürzt und so dies einstige Märchenland wirklich an die Welt des Westens angeschlossen sein wird.48

Marx hatte nicht viel Hoffnung in den proletarischen Geist der muslimischen Massen, als er in Bezug auf die Ausdehnung des Osmanischen Reiches auf osteuropäische Gebiete Folgendes feststellte:

Die Hauptstütze der türkischen Bevölkerung in Europa ist – abgesehen von der stets bereiten Reserve in Asien – der Mob Konstantinopels und einiger anderer großer Städte. Er ist vorwiegend türkischer Abkunft, und obgleich er seinen Unterhalt hauptsächlich durch die Beschäftigung bei christlichen Kapitalisten verdient, hält er doch eifersüchtig an der eingebildeten Überlegenheit und an der tatsächlichen Straflosigkeit für alle Exzesse fest, die ihm der privilegierte Islam gegenüber den Christen verleiht. Es ist wohl bekannt, daß dieser Mob bei jedem wichtigen Coup d’état durch Bestechung und Schmeichelei gewonnen werden muß. Dieser Mob allein ist es, der, abgesehen von einigen kolonisierten Distrikten, die Hauptmasse der türkischen Bevölkerung in Europa bildet. Und sicherlich wird sich früher oder später die absolute Notwendigkeit herausstellen, einen der schönsten Teile des europäischen Kontinents von der Herrschaft eines Mobs zu befreien, mit dem verglichen der Mob des römischen Kaiserreichs eine Versammlung von Weisen und Helden war.49

Für Marx sind die türkischstämmigen Muslime, ähnlich wie für Weber, ein Mob von Unwissenden, der die Mobs des Römischen Reiches wie Weise aussehen lässt. Er rief zum Befreiungskampf gegen die muslimischen Mobs. Dementsprechend ist für Marx die westliche Zivilisation superior, und er rief dazu auf, die nicht-westlichen Muslime zu zivilisieren. Aus seiner Sicht ist die westliche koloniale Expansion besser, als ein barbarisches, inferiores Volk in einem zeitlosen Stadium verharren zu lassen.

Marx misstraute den Muslimen und war von den wesenhaft fremdenfeindlichen Zügen des Islams überzeugt, weshalb er über den westlichen Kolonialismus auf apologetische Weise schrieb. Marx legte dar:

Da der Koran jeden Ausländer zum Feind erklärt, so wird niemand wagen, in einem muselmanischen Land aufzutreten, ohne seine Vorsichtsmaßregeln getroffen zu haben. Die ersten europäischen Kaufleute, die das Risiko des Handels mit solch einem Volk auf sich nahmen, gedachten deshalb, sich anfänglich für ihre Person Ausnahmebedingungen und Privilegien zu sichern, die sich aber später auf ihre ganze Nation ausdehnten. Daher rührt der Ursprung der Kapitulationen.50

Indem er den typischen epistemischen Rassismus der orientalistischen Vorstellung seiner Zeit wiederholte, schrieb Marx:

Der Koran und die auf ihm fußende muselmanische Gesetzgebung reduzieren Geographie und Ethnographie der verschiedenen Völker auf die einfache und bequeme Zweiteilung in Gläubige und Ungläubige. Der Ungläubige ist „harby“, d.h. der Feind. Der Islam ächtet die Nation der Ungläubigen und schafft einen Zustand permanenter Feindschaft zwischen Muselmanen und Ungläubigen.51

Diese grob vereinfachte, essentialistische und reduktionistische Sicht des Islams aus einer judeo-/christozentrischen, westzentrischen Perspektive war Teil des epistemischen Rassismus und der herablassenden Bevormundung des islamischen Denkens durch die Orientalisten, von denen Marx keine Ausnahme darstellte.

Marx war der Ansicht, dass der Säkularismus von grundlegender Bedeutung sei, damit die Revolution in den Ländern der Muslime eine Chance habe. Er schrieb:

Schafft man also ihre Unterwerfung unter den Koran durch eine zivile Emanzipation ab, so hebt man gleichzeitig ihre Unterwerfung unter die Geistlichkeit auf und ruft eine Revolution in ihren sozialen, politischen und religiösen Verhältnissen hervor [...]. Wer den Koran durch einen code civil „ein Bürgerliches Gesetzbuch“ ersetzt, der muß die ganze Struktur der byzantinischen Gesellschaft nach abendländischem Muster verändern.52

Diese säkularistische Sichtweise von Marx war eine typische koloniale Strategie, die von den westlichen Imperien befördert wurde, um die Weisen des Denkens und Lebens der kolonialen Subjekte/Untertanen zu zerstören und so jede Spur von Widerstand zu verhindern. Mit der Behauptung, die Muslime seien der Herrschaft einer „Religion“ unterworfen, projizierte Marx die Kosmologie der säkularisierten westzentrischen, christozentrischen Sichtweise auf den Islam.

Der Islam versteht sich nicht als „Religion“ im verwestlichten, christianisierten Sinne einer von Politik, Wirtschaft usw. getrennten Sphäre. Der Islam stellt vielmehr eine Kosmologie dar, die der Idee von tauhīd folgt, einer Lehre von der Einheit, einer ganzheitlichen Weltsicht, die die eurozentrische cartesianische moderne/koloniale Weltsicht im Westen zerstört hat und mit ihrer kolonialen Expansion auch im Rest der Welt zu zerstören versuchte. Die Praxis der kolonialen Christianisierung im frühen modernen/kolonialen Zeitalter und des Säkularismus nach der kolonialen Expansion im späten 18. Jahrhundert war Teil des „Epistemizids“ (epistemicide)53 und des „Religiozid“ (religiouscide), das heißt die durch die westliche koloniale Expansion in Gang gesetzte Vernichtung nicht-westlicher Spiritualität und Wissensformen. Epistemizid und „Religiozid“ ermöglichten die Kolonisation des Geistes/Körpers der kolonialen Subjekte/Untertanen.

Wenn Marx und Weber die klassischen Theoretiker der Sozialwissenschaften sind, so sind die westlichen Sozialwissenschaften von epistemischen eurozentrischen und islamophoben Vorurteilen geprägt. Die Dekolonisierung der westlichen Sozialwissenschaften würde viele wichtige Prozesse nach sich ziehen, die wir hier nicht im Detail ausführen können. Aber einer davon wäre, den Kanon der Gesellschaftstheorie zu erweitern, um die Beiträge dekolonialer europäischer und nicht-europäischer Gesellschaftstheoretiker wie Boaventura de Sousa Santos, Salman Sayyid, Ali Schariati, Aníbal Quijano, Silvia Rivera Cusicanqui, W.E.B. Dubois, Silvia Wynter und anderer Gesellschaftstheoretiker, die von der Unterseite der Moderne/Modernität her denken, als zentralen Bestandteil mit einzubeziehen. Diese Denker einzubeziehen ist keine Frage des Multikulturalismus, sondern der Schaffung einer rigoroseren und pluriversalen (im Gegensatz zu einer universalen) dekolonialen Sozialwissenschaft. Insbesondere Ali Schariati ist ein islamischer Sozialwissenschaftler, der wichtige Kritiken an westlichen Gesellschaftstheoretikern wie Marx vorgebracht hat und in den heutigen Sozialwissenschaften ignoriert wird.

Was wir derzeit als Sozialwissenschaft bezeichnen, ist eine partikulare, provinzielle (westliche männliche Denktradition), die für den Rest absteckt, was Sozialwissenschaft ist und was gültiges, universales Wissen darstellt. Um die verwestlichten, provinziellen Sozialwissenschaften zu dekolonisieren, müssen wir in einen globalen, inter-epistemischen, horizontalen Dialog zwischen Sozialwissenschaftlern aus verschiedenen epistemischen Denktraditionen eintreten, um neue, dekoloniale Sozialwissenschaften in einem pluriversalen Modus anstelle des derzeitigen universalistischen Modus zu gründen. Dies ist keine leichte Aufgabe, und wir können in diesem Artikel nicht im Detail darauf eingehen, was dies bedeutet.

Der Übergang vom Universalismus zum Pluriversalismus in den Sozialwissenschaften ist allerdings von grundlegender Bedeutung für den Übergang von Rahmenbedingungen, in denen man dem Rest etwas vorschreibt (koloniale Sozialwissenschaften), zu einem neuen Paradigma, in dem die Herausbildung von Konzepten und Wissen das Ergebnis eines wirklich inter-epistemischen, horizontalen und universalen Dialogs ist (dekoloniale Sozialwissenschaften). Dies ist kein Aufruf zum Relativismus, sondern dazu, Universalität als Pluriversalität zu begreifen, das heißt als Ergebnis der inter-epistemischen Interaktion im horizontalen Modus und nicht als Ergebnis der gegenwärtigen uni­versalistischen Sozialwissenschaften der mono-epistemischen imperialen/kolonialen Interaktion mit dem Rest der Welt.

 7.6 (Un)Schluss: Islamophobe Debatten heute

Die Bedeutung dieser Erörterung der Islamophobie liegt in den vielen Gesichtern, die sie annimmt, und in den Folgen, die sie in heutigen Debatten und in der öffentlichen Politik hat. Der islamophobe Rassismus als eine Form des epistemischen Rassismus und der von ihm abgeleitete eurozentrische Fundamentalismus in der Gesellschaftstheorie manifestieren sich in den heutigen Diskussionen über Menschenrechte und Demokratie. „Nicht-westliche“ Epistemologien, die Menschenrechte und Menschenwürde anders definieren als der Westen, werden als inferior gegenüber „westlichen“ hegemonialen Festlegungen betrachtet und somit von der globalen Diskussion über diese Fragen ausgeschlossen.

Wenn die islamische Philosophie und das islamische Denken von eurozentrischen Denkern und der klassischen Gesellschaftstheorie als inferior gegenüber dem Westen dargestellt werden, dann ist die logische Konsequenz, dass sie nichts zur Frage der Demokratie und der Menschenrechte beizutragen haben und nicht nur von der globalen Diskussion ausgeschlossen, sondern unterdrückt werden sollten. Die zugrundeliegende westzentrische Sichtweise besagt, dass Muslime so lange an der Diskussion teilnehmen können, wie sie aufhören, als Muslime zu denken und die hegemoniale eurozentrische liberale Definition von Demokratie und Menschenrechten übernehmen. Jeder Muslim, der versucht, diese Fragen aus der islamischen Tradition heraus zu denken, wird sofort des Fundamentalismus verdächtigt. Islam und Demokratie oder Islam und Menschenrechte gelten im hegemonialen eurozentrischen „Commonsense“ als ein Widerspruch in sich.

Die Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie beruht auf der epistemischen Inferiorisierung der muslimischen Weltsicht. Heute spricht eine Schar von epistemischen rassistischen „Experten“ im Westen mit Autorität über den Islam, ohne ernstzunehmendes Wissen von der islamischen Tradition. Die Stereotypen und Lügen, die in der westlichen Presse und in Zeitschriften immer und immer wieder wiederholt werden, werden schließlich, wie in Goebbels nazistischer Propagandatheorie, als Wahrheit geglaubt. Wie Edward Said vor nicht allzu langer Zeit schrieb:

Eine Schar von Experten für die islamische Welt ist zu Berühmtheit gelangt, die in Krisenzeiten herangezogen werden, um in Nachrichtensendungen oder Talkshows ihre formelhaften Vorstellungen über den Islam zu verkünden. Es scheint auch eine seltsame Wiederbelebung kanonischer, wenn auch zuvor diskreditierter, orientalistischer Vorstellungen über im Allgemeinen nicht-weiße Muslime gegeben zu haben – Vorstellungen, die in einer Zeit, in der rassialistische oder religiöse Falschdarstellungen jeder anderen kulturellen Gruppe nicht mehr so ungestraft in Umlauf gebracht können, eine erstaunliche Verbreitung gefunden haben. Böswillige Verallgemeinerungen über den Islam sind zur letzten akzeptablen Form der Verunglimpfung fremder Kulturen im Westen geworden; was über den muslimischen Geist oder Charakter oder die Religion oder die Kultur als Ganzes gesagt wird, kann in der Mainstream-Diskussion nicht mehr über Afrikaner, Juden, andere Orientalen oder Asiaten gesagt werden. […]

Ich behaupte [...], dass das meiste davon eine inakzeptable Verallgemeinerung der unverantwortlichsten Art ist und niemals für irgendeine andere religiöse, kulturelle oder demografische Gruppe auf der Erde verwendet werden kann. Was wir von der ernstzunehmenden Forschung westlicher Gesellschaften mit ihren komplexen Theorien, enorm vielschichtigen Analysen von sozialen Strukturen, Geschichten und kulturellen Formationen sowie anspruchsvollen Untersuchungsmethoden erwarten, sollten wir auch von der Erforschung und Diskussion islamischer Gesellschaften im Westen erwarten.54

Die Verbreitung dieser Stereotypen trägt dazu bei, dass Muslime als rassialistisch-inferiore, gewalttätige Kreaturen dargestellt werden. Daher werden sie leicht mit „Terrorismus“ in Verbindung gebracht und als „Terroristen“ hingestellt.

 

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Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Mohr Siebeck, Tübingen, 2002.

Weber, Max, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Springer VS, Wiesbaden, 2016.


 


1Ramón Grosfoguel, World-Systems Analysis in the Context of Transmodernity, Border Thinking, and Global Coloniality, REVIEW Vol. XIX, No. 2, 2006, S. 167-187.

2Ebenda.

3Ebenda.

4Anm. d. Hrsg.: Dieser Artikel wurde im Jahr 2012 veröffentlicht. Da die neueren Entwicklungen im Fall Tariq Ramadan demnach keine Berücksichtigung finden, wurde von der Übersetzung des ehemals fünften Unterkapitels mit der Überschrift „Islamophobia as intellectual irresponsibility: the Western case against Tariq Ramadan“ (Islamophobie als intellektuelle Unverantwortlichkeit: die westlichen Vorwürfe gegen Tariq Ramadan) abgesehen.

5José María Pérez de Perceval, „Animalitos del señor: Aproximación a una teoría de las animalizaciones propias y del otro, sea enemigo o siervo, en la España imperial (1550-1650)“, in: Áreas: Revista Internacionale de Ciencias Sociales, Universidad de Murcia, Nr. 14, 1992, S. 173-184.

6Enrique Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen: ein Projekt der Transmoderne, Patmos, Düsseldorf, 1993; spanisches Original: Enrique Dussel, 1492: El encubrimiento del Otro. Hacia el origen del „mito de la Modernidad“, Facultad de Humanidades y Ciencias de la Educación, La Paz, 1992.

7Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

8Nelson Maldonado-Torres, „Reconciliation as a Contested Future: Decolonization as Project or Beyond the Paradigm of War“, in: Iain S. Maclean (Hrsg.), Reconciliation: Nations and Churches in Latin America, Ashgate, London, 2006, S. 225-245.

9Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

10Enrique Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen: ein Projekt der Transmoderne, Patmos, Düsseldorf, 1993; spanisches Original: Enrique Dussel, 1492: El encubrimiento del Otro. Hacia el origen del „mito de la Modernidad“, Facultad de Humanidades y Ciencias de la Educación, La Paz, 1992.

11José María Pérez de Perceval, „Animalitos del señor: Aproximación a una teoría de las animalizaciones propias y del otro, sea enemigo o siervo, en la España imperial (1550-1650)“, in: Áreas: Revista Internacionale de Ciencias Sociales, Universidad de Murcia, Nr. 14, 1992, S. 173-184. José María Pérez de Perceval, Todos son uno. Arquetipos, xenofobia y racismo. La imagen del morisco en la monarquía española durante los siglos XVI y XVII, Instituto de Estudios Almerienses, Almería, 1997.

12Ramón Grosfoguel, Colonial Subjects, Puerto Ricans in a Global Perspective, California University Press, Berkeley, 2003.

13Siehe den Fall von Jose Padilla, einem Puerto-Ricaner aus Chicago, der mehr als drei Jahre in einer isolierten Zelle eines Militärgefängnisses verbracht hat, ohne dass eine Anklage erhoben wurde. Obwohl Puerto-Ricaner US-Bürger sind, erlaubt das neofaschistische Gesetz des US Patriot Act die uneingeschränkte Inhaftierung von US-Bürgern ohne Anklage und Verfahren vor einem Zivilgericht. Der erste öffentliche Anklagepunkt gegen Padilla, der von den US-Behörden bei seiner Verhaftung erhoben wurde, war, dass er angeblich ein Dokument zum Selbstbau einer Atombombe in seiner Wohnung in Chicago besaß. Diese Anschuldigung ist so lächerlich, dass sie ihn mehrere Jahre lang ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren inhaftiert hielten.

14Edward Said, Orientalismus, Übers. Hans Günter Holl, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2009; englisches Original: Edward Said, Orientalism, Pantheon Books, New York, 1978. Edward Said, Covering Islam: How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World, Pantheon Books, New York, 1981.

15Chalmers Johnson, Nemesis: The Last Days of the American Republic, Metropolitan Books, New York, 2006.

16James Risen, State of War: Die geheime Geschichte der CIA und der Bush-Administration, Hoffmann und Campe, Hamburg, 2006; englisches Original: James Risen, State of War: The Secret History of the CIA and the Bush Administration, Simon & Schuster, New York, 2006.

17Edward Said, Covering Islam: How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World, Pantheon Books, New York, 1981.

18Steven Salaita, Anti-Arab Racism in the United States: Where it Comes from and What it Means for Politics Today, Pluto Press, London, 2006.

19Ahmed Rashid, Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, Übers. Harald Riemann, Rita Seuß & Thomas Stauder, Droemer Knaur, München, 2022; englisches Original: Ahmed Rashid, Taliban. The Power of Militant Islam in Afghanistan and Beyond, Bloomsbury Publishing, London, 2010.

20Tariq Ali, Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung: Die Krisenherde unserer Zeit und ihre historischen Wurzeln, Übers. Petra Hrabak, Sonja Schuhmacher & Rita Seuß, Diederichs, München, 2003; englisches Original: Ali, Tariq, The Clash of Fundamentalisms: Crusades, Jihads and Modernity, Verso, London, 2009.

21Ebenda.

22Fatima Mernissi, Der politische Harem – Mohammed und die Frauen, Übers. Veronika Kabis-Alamba, Herder, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien, 1992; französisches Original: Fatima Mernissi, Le harem politique : le Prophète et les femmes, Albin Michel, 1987.

23Edward Said, Orientalismus, Übers. Hans Günter Holl, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2009; englisches Original: Edward Said, Orientalism, Pantheon Books, New York, 1978.

24Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

25Enrique Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen: ein Projekt der Transmoderne, Patmos, Düsseldorf, 1993; spanisches Original: Enrique Dussel, 1492: El encubrimiento del Otro. Hacia el origen del „mito de la Modernidad“, Facultad de Humanidades y Ciencias de la Educación, La Paz, 1992.

26Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Übers. Holger Fliessbach, Goldmann, München, 2002; englisches Original: Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, Simon & Schuster, New York, 1996.

27José María Pérez de Perceval, „Animalitos del señor: Aproximación a una teoría de las animalizaciones propias y del otro, sea enemigo o siervo, en la España imperial (1550-1650)“, in: Áreas: Revista Internacionale de Ciencias Sociales, Universidad de Murcia, Nr. 14, 1992, S. 173-184.

28Edward Said, Orientalismus, Übers. Hans Günter Holl, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2009; englisches Original: Edward Said, Orientalism, Pantheon Books, New York, 1978.

29Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.

30Nelson Maldonado-Torres, Against War: Views from the Underside of Modernity, Duke University Press, Durham, 2008. Nelson Maldonado-Torres, „Religion, Conquest, and Race in the Foundations of the Modern/Colonial World“, in: Journal of the American Academy of Religion, 82, 2014, S. 636-665.

31Emmanuel Eze, „The Color of Reason. The Idea of ‚Race‛ in Kant’s Anthropology“, in: Emmanuel Eze (Hrsg.), Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader, Oxford, 1997, S. 103-140.

32Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness and the Politics of Empire, Routledge, London, 1991.

33Ramón Grosfoguel, Colonial Subjects, Puerto Ricans in a Global Perspective, California University Press, Berkeley, 2003.

34Ramón Grosfoguel, „Menschenrechte und Antisemitismus nach GAZA“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 343-375; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Human Rights and Anti-Semitism after GAZA“, in: Historicizing Anti-Semitism, Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge, Okcir Press, Belmont, MA, 7, 2009, S. 89-102.

35José María Pérez de Perceval, „Animalitos del señor: Aproximación a una teoría de las animalizaciones propias y del otro, sea enemigo o siervo, en la España imperial (1550-1650)“, in: Áreas: Revista Internacionale de Ciencias Sociales, Universidad de Murcia, Nr. 14, 1992, S. 173-184. José María Pérez de Perceval, Todos son uno. Arquetipos, xenofobia y racismo. La imagen del morisco en la monarquía española durante los siglos XVI y XVII, Instituto de Estudios Almerienses, Almería, 1997.

36Carl W. Ernst, Mohammed folgen. Der Islam in der modernen Welt, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2007, S. 45; englisches Original: Carl W. Ernst, Following Muhammad; Rethinking Islam in the Contemporary World, University of North Carolina Press, Chapel Hill, 2003.

37Max Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Springer VS, Wiesbaden, 2016, S. 204.

38Ebenda.

39Ebenda.

40Sukidi, „Max Weber’s remarks on Islam: The Protestant Ethic among Muslim puritans“, in: Islam and Christian-Muslim Relations, 17, Nr. 2, MIT Press, Boston, 2006, S. 195-205, hier: S. 197.

41Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Mohr Siebeck, Tübingen, 2002, S. 376.

42Sukidi, „Max Weber’s remarks on Islam: The Protestant Ethic among Muslim puritans“, in: Islam and Christian-Muslim Relations, 17, Nr. 2, MIT Press, Boston, 2006, S. 195-205, hier: S. 199-200.

43George Saliba, Islamic Science and the Making of the European Renaissance, MIT Press, Cambridge, 2011.

44Mark Graham, How Islam Created the Modern World, Amana Publications, Beltsville/Maryland, 2006.

45Carlos Moore, Were Marx and Engels White Racists?, The Prolet-Aryan Outlook of Marx and Engels, Institute of Positive Education, Chicago/​Illinois, 1977.

46Friedrich Engels, French Rule in Algiers, The Northern Star, 22. Januar 1848, in: MECW, Vol. 6, S. 469-472; zitiert nach: S. Avineri, Karl Marx on Colonialism and Modernization, Doubleday, New York, 1968, S. 43.

47Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Dietz, 12, Berlin/DDR, 1961, S. 521

48Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Dietz, 9, Berlin/DDR, 1960, S. 221-222.

49Ebenda, S. 8-9.

50Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Dietz, 10, Berlin/DDR, 1960, S. 171-172.

51Ebenda, S. 170.

52Ebenda, S. 171.

53Anm. d. Hrsg.: „Epistemizid“ ist ein von Boaventura de Sousa Santos geprägter Begriff. Siehe dazu Fußnote 4 auf Seite 71.

54Edward Said, Covering Islam: How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World, Pantheon Books, New York, 1981, S. xi-xvi.

8 Menschenrechte und Antisemitismus nach GAZA

8 Menschenrechte und Antisemitismus nach GAZA Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 35

Dieser Artikel erörtert die Folgen der letzten israelischen Massaker in GAZA1 im Hinblick auf seine globalen Konsequenzen für Menschenrechte und globalen Antisemitismus in der Gegenwart. Der erste Teil ist eine Erörterung der Folgen von GAZA für die Menschenrechte. Der zweite Teil ist eine Erörterung der Folgen von GAZA für den globalen Antisemitismus. Der letzte Teil ist eine Erörterung des Fundamentalismus in der heutigen Welt, insbesondere der hegemonialen, stillschweigenden und allgegenwärtigen Form des Fundamentalismus: eurozentrischer Fundamentalismus.

 8.1 Menschenrechte nach GAZA

Jede Auseinandersetzung mit den Menschenrechten heute muss die folgenden drei Postulate anerkennen:

1. Postulat: Menschenrechte in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts sind eine Fortführung der westlichen globalen/kolonialen Entwürfe von Rechten der Völker (Rights of People) im 16. Jahrhundert und Rechten des Menschen/Mannes (Man) im 18. Jahrhundert.

Als Teil seiner globalen/kolonialen Entwürfe schuf der Westen über mehrere Jahrhunderte hinweg verschiedene globale/koloniale Diskurse, die sich im Laufe der Zeit verlagerten.

Erstens: Die Rechte von Völkern im 16. Jahrhundert waren das Problem von Vitoria, Sepúlveda und Las Casas als Teil der Kolonisation der Amerikas durch das spanische Imperium. Ihr Problem bestand darin, die Völker zu definieren, auf die sie in den Amerikas stießen. Die Debatte über die Rechte der Völker fand innerhalb der kirchlichen Eliten des spanischen Imperiums statt, ohne dass der Wille und die Ansichten der kolonialen Subjekte/Untertanen je Berücksichtigung gefunden hätten. Sie wurde gleichwohl zum hauptsächlichen Diskurs der europäischen kolonialen Expansion während der spanischen Hegemonie des Weltsystems im 16. Jahrhundert. Der Diskurs über Rechte der Völker war von Anfang an mit einem universalistischen Projekt verbunden, das von einer christozentrischen Kosmologie aus provinziell definiert war.

Zweitens: Nachdem die Rechte der Völker definiert waren, wurden die Rechte des Menschen/Mannes (Man) zum neuen globalen/kolonialen Entwurf im neuen säkularen Projekt der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Die Rechte des Menschen/Mannes der Aufklärung waren eine Fortführung des westzentrischen und patriarchalischen Konzepts des Menschen (Human), das mit den Rechten der Völker begonnen hatte. Frauen aller Farben und nicht-westliche Völker wurden nicht in das Konzept der Rechte des Menschen/Mannes aufgenommen.

Wie Emmanuel Eze2 und Walter Mignolo3 ausführlich dargelegt haben, fand das kantische Projekt des transzendentalen Subjekts und der Rechte des Menschen/Mannes in Kants anthropologischen Schriften eine besonders klare Darstellung. Kant erachtete die weiße Rasse als superior gegenüber anderen Rassen und als die einzige mit Zugang zur Vernunft. Hinter der Kulisse von Kants transzendentalem Subjekt verbirgt sich ein weißer Mensch/Mann.

Einige Jahrhunderte später entwickelten sich die Menschenrechte in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem neuen Diskurs unter US-Hegemonie in einem Kontext, in dem offene Formen des Kolonialismus bereits durch antikoloniale Kämpfe in der Dritten Welt eine Niederlage erfahren hatten. Die Menschenrechte haben Elemente der Rechte der Völker und der Rechte des Menschen/Mannes in dem neuen entwicklungsideologischen Projekt der postkolonialen Ära, die vom Aufstieg der US-Hegemonie im Weltsystem eingeleitet wurde, fortgesetzt und miteinander kombiniert. Der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die 1948 verkündet wurde, besagt:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Der Begriff der „Menschen“ (human beings), der hier verwendet wurde, hatte wie auch der Begriff des Volkes und des Menschen/Mannes zuvor universelle Ansprüche, war aber provinziell definiert und kam eingeschränkt zur Anwendung. Ohne den Begriff des „Menschen“ (human) von einem westzentrischen patriarchalischen Blick zu dekolonisieren und ohne die globale Kolonialität der Macht von der Hegemonie der euro-amerikanischen weißen Suprematie als dem führenden Land der westlichen imperialistischen Einheitsfront der Nachkriegszeit zu dekolonisieren, ist es schlicht unmöglich, ein mehr kosmopo­litisches und multi-epistemisches Konzept der Menschenrechte zu entwickeln und auch nur das gegenwärtige hegemoniale Konzept der Menschenrechte in einer fairen und kohärenten Weise zur Anwendung zu bringen. Vom Koreakrieg in den frühen fünfziger Jahren bis zum Irakkrieg der jüngeren Vergangenheit waren Menschenrechte stets ein Privileg des Westens und wurden in nicht-westlichen Räumen nur dann in Anspruch genommen, wenn der Nationalstaat von Feinden des Westens kontrolliert wurde.

2. Postulat: Der Begriff der „Menschenwürde“ (human dignity) im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen ist ein westzentrischer Begriff, der das Individuum gegenüber gemeinschaftsbasierten Definitionen privilegiert.

Nicht-westliche Begriffe der Menschenwürde werden von der UN-Erklärung ausgeschlossen. Dies ist eine Fortführung des epistemischen Rassismus, der die westlichen globalen/kolonialen Entwürfe von den Rechten der Völker bis hin zu den Rechten des Menschen/Mannes und den Menschenrechten prägte, die allesamt von innerhalb der westlichen Denktradition aus unter Ausschluss, Unterordnung und Inferiorisierung von nicht-westlichen Epistemologien definiert wurden. Die epistemische Hierarchie des Weltsystems mit seinem epistemisch-rassistischen Anspruch auf westliche epistemische Superiorität gegenüber dem Rest ist ein entscheidender Faktor in der Konstruktion des Menschenrechtsdiskurses unter der US-Hegemonie nach dem zweiten Weltkrieg.

3. Postulat: Die Rhetorik der Menschenrechte wurde stets gegen Feinde der westlichen imperialistischen Einheitsfront in Anschlag gebracht und dann, wenn es um befreundete Regime ging, übergangen.

Befreundete Diktatoren wurden stets vor Beschuldigungen von Verstößen gegen die Menschenrechte geschützt, während Feinden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass einerseits manche Regime mit einer schauerlichen Menschenrechtsbilanz davor in Schutz genommen wurden, als Verletzer der Menschenrechte angeklagt zu werden, wohingegen andererseits einige Regime mit einer besseren Menschenrechtsbilanz verurteilt wurden. Dieser Doppelstandard herrschte vom ersten Tag an, da die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte angenommen hatte.

Heutzutage mit dem „Krieg für das Imperium“, der besser bekannt ist als „Krieg gegen den Terrorismus“, sind die kolonialen Kontinuitäten und Inkonsistenzen des Menschenrechtsdiskurses offener und perverser geworden. Staatsterrorismus und seine Kolonialität der Macht werden gerechtfertigt, indem Widerstandsbewegungen des „Terrorismus“ beschuldigt werden. Staatliche Gräueltaten, Verletzungen der Menschenrechte und sogar genozidale Verbrechen werden nunmehr im Namen der Bekämpfung des Terrorismus zur Verteidigung von Freiheit und Demokratie legitimiert.

GAZA ist das sichtbarste Beispiel der kolonialen Folgen des „Krieges gegen den Terrorismus“, der heute als der hauptsächliche Mechanismus des Staatsterrorismus weltweit in Anschlag gebracht wird, um Befreiungsbewegungen zu bekämpfen. Politik der Apartheid und ethnische Säuberung, die schon bei der Bildung des Staates von Israel im Jahr 1948 vorhanden waren, werden nunmehr mit der neuen Rhetorik der Terrorismusbekämpfung offen gerechtfertigt.

GAZA repräsentiert das Ende einer Ära. Es ist das gleichzeitige Ende von drei Prozessen:

1. Es ist der finale Schlag für das imperialistische internationale Menschenrechtsregime unter US-Hegemonie.

Obgleich das Ende der Menschenrechte schon früher verkündet worden ist – wie etwa in dem hervorragenden Buch von Costas Douzinas mit dem Titel The End of Human Rights4 -, stellt GAZA den finalen Schlag dar, den Tod der Glaubwürdigkeit des internationalen Menschenrechtsregimes. Diese Ordnung befand sich schon in der Krise und war bereits delegitimiert durch die Invasion des Iraks durch die Bush-Regierung ohne Zustimmung der UNO und durch die imperialen Gräueltaten, deren Zeuge wir seither geworden sind, einschließlich der vom Kriegsverbrecher Ariel Scharon begangenen Massaker und der Zerstörung der Westbank seit 2002 im Namen der Terrorismusbekämpfung. Viele Leute weltweit befanden sich in der Illusion, dass diese Gräueltaten auf die Bush-Regierung und einen von den Republikanern kontrollierten Kongress zurückzuführen wären, wohingegen mit einer neuen von den Demokraten geführten US-Regierung dieser Politik ein Ende bereitet würde. GAZA jedoch ist das Ende dieser Illusion.

Die Antwort des demokratisch kontrollierten US-Kongresses auf GAZA war ein Schlag ins Gesicht des internationalen Menschenrechtsregimes. Der US-Kongress fasste nahezu einstimmig einen Beschluss für die Unterstützung von Israels Recht zur Selbstverteidigung gegen den Terrorismus und verlor kein Wort über den israelischen Staatsterrorismus wie auch Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und genozidale Maßnahmen. Peres, Barak, Livni und Olmert, die weithin der Verübung von Kriegsverbrechen in GAZA beschuldigt werden,5 können alle Arten von Gräueltaten, naziartige Verbrechen (wie etwa die Methode von „Sophies Entscheidung“ gegenüber palästinensischen Müttern,6 Massenmorde an Zivilisten und sogar Bombardements von UN-Gebäuden, in denen sich palästinensische Flüchtlinge aufhalten) verüben und vorgeben, gerechtfertigt zu sein, indem sie behaupten, den Terrorismus zu bekämpfen. Überdies beförderten Obamas Erklärungen zugunsten von Israel ohne jegliche Erwähnung der in GAZA begangenen Gräueltaten weltweit die rasche Desillusionierung mit der neuen US-Regierung. Die symbolische Schließung von Guantanamo und das Ende einer offenen Politik der Folter (ich sagte offen, weil Folter in den USA stets als verdeckte Operation betrieben wurde und weiterhin wird), so bedeutend sie auch sein mögen, reichen nicht hin für das, was notwendig wäre, um Legitimität wiederzugewinnen. Diese Erklärung von führenden Eliten der Demokratischen Partei in den USA stellt einen ernsthaften Schlag für die Möglichkeit einer internationalen Wiederlegitimierung des globalen Menschenrechtsregimes nach acht Jahren der Bush-Regierung dar.

So beurteilte Noam Chomsky etwa Obamas Position zu Israel:

Es ist ungefähr die Position von Bush. Er begann damit, zu sagen, dass Israel, wie jede Demokratie, ein Recht auf Selbstverteidigung hat. Das ist wahr, aber es gibt eine Lücke in der Argumentation. Es hat ein Recht, sich selbst zu verteidigen. Es folgt daraus nicht, dass es ein Recht hat, sich selbst mit Gewalt zu verteidigen. So können wir uns beispielsweise darauf einigen, dass, wie man weiß, die britische Armee in den Vereinigten Staaten in den Kolonien 1776 ein Recht hatte, sich selbst gegen den Terror der Armeen von George Washington zu verteidigen, welcher ganz real war, aber es folgte nicht daraus, dass sie ein Recht hatten, sich selbst mit Gewalt zu verteidigen, da sie kein Recht hatten, hier zu sein. Also hatten sie, ja, ein Recht, sich selbst zu verteidigen, und sie hatten eine Weise, es zu tun – nämlich wegzugehen.

Das gilt genauso für die Nazis, die sich selbst gegen den Terror der Partisanen verteidigen. Sie haben kein Recht, es mit Gewalt zu tun.

Im Falle von Israel sieht es ganz genauso aus. Sie haben ein Recht, sich selbst zu verteidigen, und sie können es leicht tun. In einem engen Sinne zunächst hätten sie es tun können, indem sie die Waffenruhe akzeptiert hätten, die Hamas direkt vor der Invasion vorgeschlagen hatte [...] eine Waffenruhe, die in Kraft war und die Israel verletzt und gebrochen hat.7

Kurzum, die US-Rechtfertigung der israelischen Gräueltaten in GAZA schließt rasch die Tore für die weltweiten Illusionen mit der Obama-Regierung und dem von den Demokraten kontrollierten Kongress. Wenige globale Illusionen bleiben für die US-Hegemonie bestehen und wenige Möglichkeiten, um ihre Weltführerschaft wieder zu legitimieren, sind nach GAZA noch vorhanden, wenn es in der Politik nicht eine Wende um 180 Grad gibt, und dass dies tatsächlich geschieht, ist sehr unwahrscheinlich. Dies stellt das Ende einer Ära dar.

Wie Immanuel Wallerstein8 und Giovanni Arrighi9 seit nunmehr fünfzehn Jahren darlegen, befinden wir uns am Ende der US-Hegemonie im Weltsystem. Wir befinden uns jetzt in einer chaotischen Weltordnung und am Beginn einer neuen Großen Depression (Great Depression) mit keinem Hegemon, der noch die Fähigkeit besäße, dem globalen System Ordnung zu verleihen.

2. GAZA ist das Ende der Unschuld des Zionismus.

Es gibt einen rechten Zionismus und einen linken Zionismus. Der linke Zionismus gab sich immer als unschuldig und naiv aus, indem er die rechten Zionisten als die Bösen tadelte und für alle Gräueltaten gegenüber Palästinensern verantwortlich machte. Die linken Zionisten haben in palästinensischen Augen ihre Unschuld schon vor langer Zeit verloren.

Nach GAZA haben die Zionisten aller Tendenzen und politischen Ausrichtungen ihre Unschuld in den Augen der internationalen Gemeinschaft verloren. Der Zionismus wird nun offen identifiziert mit einem und/oder diskutiert als ein rassistisches, Apartheid- und siedlerkolonialistisches Projekt, das auf ethnische Säuberung und naziartige Gräueltaten zurückgreift. Zionisten können heute nicht länger behaupten, nicht einmal mehr vorspielen, unschuldig und naiv zu sein, nach GAZA.

3. GAZA markiert das Ende des verwestlichten imperialisti­schen, mythischen Projekts des angeblichen Exports von Demokratie als Bestandteil der Rhetorik der Menschenrechte.

Ähnlich wie die Afroamerikaner bis 1964 hatten die Palästinenser nicht das Wahlrecht. Sie haben dieses Recht erst vor drei Jahren errungen. Doch als sie eine Regierung demokratisch gewählt haben, die dem Westen und den Israelis nicht behagte, war die Antwort Bestrafung.

4. GAZA ist eine radikale Infragestellung der hegemonialen Narrative der US-Hegemonie und ihrer Charakterisierung des zweiten Weltkriegs und das Ende ihrer reduktionistischen Inanspruchnahmen des Opferstatus.

Die grob vereinfachende Identitätspolitik des hegemonialen Holocaust-Narratives, das die jüdische Identität als homogenes ewiges Opfer und stets der Absicht nach unschuldig essentialisiert, endete mit GAZA. Es gibt keinen Zweifel, dass Juden innerhalb des christlichen Europas über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten koloniale Subjekte/Untertanen und Opfer aller Arten von Gräueltaten waren, von ihrer Vertreibung zusammen mit Muslimen aus dem katholischen Spanien 1492 bis zu ihrer Vernichtung während des Nazi-Holocausts im zweiten Weltkrieg. Dies führte jedoch zu einem essentialistischen und grob vereinfachenden Verständnis des Nazismus und zu einer essentialisierten Betrachtung der Juden.

Von der Judeophobie zur Judeophilie, vom ewigen Bösen zum ewigen Opfer konnte das eurozentrische rassistische Denken die jüdische Identität nicht außerhalb essentialistischer Dichotomien begreifen. Diese grob vereinfachenden und reduktionistischen Narrative über den Holocaust und die jüdische Identität wurden über die letzten sechzig Jahre hinweg von den Zionisten ausgeschlachtet, um ihren fundamentalistischen jüdischen Staat zu rechtfertigen, der auf den Praktiken und Methoden des Siedlerkolonialismus gegen Palästinenser errichtet wurde. Nach GAZA ist die Legitimation dieser Rhetorik zu Ende gegangen.

Wie Hannah Arendt einst über den Eichmann-Prozess in Jerusalem sagte, zeigen Nazi-Verbrecher die Banalität des Bösen. Jeder, der Kolonialismus betreibt und dessen Vorstellungswelt vom Rassismus infiziert ist, hat das Potential zur ethnischen Säuberung und zum Kriegsverbrecher, und diese Feststellung schließt alle Menschen ein samt Juden.

5. GAZA wirft abermals die Frage auf: „Was ist Hitlerismus?“

Das ist eine Frage, die vor langer Zeit von Emmanuel Levinas und Aimé Césaire aufgeworfen worden ist und die zurückkommt, um uns mit den jüngsten Ereignissen in GAZA zu verfolgen. Wenn Aimé Césaire Recht hat mit seiner Kennzeichnung des Nazismus als einer Fortführung des Kolonialismus, nämlich als „Bumerangeffekt“ der kolonialen Methoden, die zurückkommen, um Europäer zu verfolgen, - indem Nazis Europäern das antun, was der europäische Kolonialismus dem Rest der nicht-westlichen Welt über vierhundert Jahre hinweg angetan hat -, dann ist der Hitlerismus ein integraler Bestandteil der westlichen Subjektivität. Es gibt einen Hitler in der Psyche und Vorstellungswelt eines jeden Westlers samt der am meisten liberalen humanistischen Intellektuellen, stellt Césaire in seinem Discours sur le colonialisme (Rede über den Kolonialismus) fest.10 Wenn dies der Fall ist und wenn die Dekolonisationen von Macht, Sein und Wissen mit dem Ende der Kolonialverwaltungen nicht abgeschlossen waren (woran uns der Begriff der Kolonialität des peruanischen Intellektuellen Aníbal Quijano erinnert) und wenn die Entmenschlichung der nicht-westlichen Mehrheiten der Welt wie nach dem zweiten Weltkrieg üblich fortgesetzt wird, dann müssen wir die hegemonialen Narrative über die Ergebnisse des zweiten Weltkriegs überdenken.

Die hegemoniale Vorstellung ist, dass Hitler den Krieg verloren hat. Dies ist wahr in der gewöhnlichsten und offensichtlichsten Art der militärischen Analyse. Doch die wesentliche Frage ist, ob der Hitlerismus, im Sinne einer Césaireschen Form als koloniale/rassialistische Idee und Ideal des modernen/kolonialen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystems, den zweiten Weltkrieg verloren hat. Diese Frage verlangt eine andere Antwort, und diese Frage wird durch die jüngsten Ereignisse in GAZA wieder aufgeworfen. Wie von Nelson Maldonado-Torres festgestellt,11 tritt für die Verdammten dieser Erde, für die „damnés“, für die am meisten inferiorisierten und überausgebeuteten nicht-westlichen Mehrheiten der Welt der Hitlerismus in der Ära nach dem zweiten Weltkrieg weiterhin in Erscheinung – allerdings, so füge ich hinzu, verkörpert in dem neuen institutionellen internationalen Regime, das von der hegemonialen Supermacht der Nachkriegszeit organisiert worden ist: den USA.

Worin besteht der Unterschied zwischen der massiven Bombardierung der Zivilbevölkerung durch die Nazis und der willkürlichen Bombardierung von Laos, Vietnam und Kambodscha durch Nixon/Kissinger? Wie charakterisieren wir die US-Politik, die Militärputsche in der Dritten Welt organisierte, finanzierte und absichtsvoll hervorrief, durch die eine ganze Generation von Menschen in Lateinamerika, Afrika, Asien und dem Nahen Osten gefoltert, verschwinden gelassen und ausgelöscht worden ist? Wie viele Millionen von Zivilisten wurden in den CIA-Militärputschen in Indonesien, Chile, Guatemala, Kongo und Iran ermordet? Wie soll die US-Unterstützung für Militärdiktaturen charakterisiert werden, die naziartige Methoden der Folter und Ermordung praktizierten, wie Mobutu, Pinochet, Videla, Duvalier, Sukarno, Marcos, der Schah, Somoza, Batista, Trujillo usw.? Was ist der Unterschied zwischen dem GAZA-Ghetto und dem Warschauer Ghetto? Wie stark unterscheidet sich die ethnische Säuberung der Palästinenser vom Hitlerismus? GAZA ist heute die äquivalente Fortführung des Warschauer Ghettos.

 8.2 GAZA und Antisemitismus

Es ist schlicht unmöglich, heute über Antisemitismus zu sprechen ohne eine Erörterung der Geschichte des christlichen Europas, des Zionismus und der Bildung des Staates von Israel 1948.

Über Jahrhunderte hinweg waren Juden die Opfer des Antisemitismus des christlichen Europas. Vor und nach 1492 war Antisemitismus mit Islamophobie verbunden. Der Antisemitismus hatte von Anfang an zwei Komponenten: „anti-jüdischer Antisemitismus“ und „anti-arabischer/muslimischer Antisemitismus“. Spaniens christliche Monarchie als eine der Grenzen des christlichen Europas mit der muslimischen Welt führte Krieg, um den islamischen Teil Spaniens, besser bekannt unter dem Namen al-Andalus, zu erobern.12 Nachdem die spanisch-christliche Monarchie schließlich die Streitkräfte von al-Andalus bezwungen hatte, vertrieben sie Anfang 1492 Juden und Araber von der Iberischen Halbinsel, nicht ohne Pogrome und Massaker zu verüben.13 Antisemitismus in jenen Jahren schloss arabische Muslime ein. „Semitische“ Völker wurden dadurch gekennzeichnet, dass sie aus der Region kamen, die heute als Naher Osten bezeichnet wird, und somit waren Araber und Juden eingeschlossen.

Nach der Eroberung des islamischen Spaniens durch die christliche Monarchie wurden die andalusischen Juden nach Nordafrika und in das Osmanische Reich vertrieben, als Flüchtlinge vor den Gräueltaten der katholischen Monarchie in al-Andalus. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die andalusischen Juden in diesen muslimischen Gebieten eine Heimstatt fanden. Ähnlich wie al-Andalus im südöstlichen Teil des heutigen Spaniens14 erkannten die meisten zu dieser Zeit bestehenden muslimischen Regime die Rechte der jüdischen Minderheit an und behandelten sie im Unterschied zum christlichen Europa mit Würde.15 Ohne eine romantische Sicht der Vergangenheit einzunehmen, lebten zumindest bis zur Bildung des Staates von Israel 1948 Araber und Juden in arabischen Gebieten jahrhundertelang in Frieden zusammen, und al-Andalus wird in der Geschichte als eine Zeit der friedvollen Koexistenz zwischen Juden und Muslimen gepriesen. Obgleich diese Geschichte auch nicht frei von Konflikten war, war es keine Geschichte von antisemitischer Vernichtung oder Pogromen.16 Antisemitische Pogrome, Vernichtung, Folter und Massaker gegen Juden waren im Grunde ein christlich-europäisches Problem.

So legt Carl W. Ernst dar:

Juden und Muslime hatten in der Vormoderne sehr viel positivere Beziehungen zu einander als jede dieser beiden Gruppen zu den Christen unterhielt. Antagonistische Haltungen zwischen Juden und Muslimen entstanden in der Tat erst mit der Gründung des Staates Israel.17

 8.2.1 Endlösungen des christlichen Europas

Die spanisch-christliche Monarchie begann die europäische koloniale Expansion 1492, im gleichen Jahr, in dem sie Araber und Juden aus al-Andalus vertrieb.18 Die Kolonisation der indigenen Völker in den Amerikas und die Versklavung der Afrikaner in der kolonialen Plantagenwirtschaft in der Neuen Welt leitete das ein, was als moderne Welt bekannt ist. Es geschah auf den Schultern einer kolonialen/rassistischen Konfiguration des anti-schwarzen und anti-indigenen Rassismus, dass eine neue internationale rassialistische Arbeitsteilung ausgebildet und die Moderne begründet wurde.19 Indigene und afrikanische Völker wurden unter die Linie dessen gesetzt, was den Menschen definiert.20 Sie wurden behandelt und gekennzeichnet als Untermenschen oder einfach Nicht-Menschen.21

Mit dem Aufkommen der neuen rassialistischen Ökonomie sind Antisemitismus und Islamophobie als eine besondere Form der Diskriminierung gegen „semitische“ Völker in Europa neue Konnotationen zugekommen. Wenn vor 1492 „anti-jüdischer Antisemitismus“ und „anti-arabischer/muslimischer Antisemitismus“ auf der Basis von religiöser Diskriminierung („zum falschen Gott beten“) oder theologischen Interpretationen von Christus definiert wurden, erwarben in den Amerikas diese alten Formen der Diskriminierung mit dem anti-indigenen und anti-schwarzen Rassismus neue Bedeutungen.22

Anti-schwarzer Rassismus wurde Teil der Grundfesten der Moderne und wirkte sich auf die Lage aller nicht-europäischen Subjekte/Untertanen jener Zeit aus.23 Mit dem kolonialen „Bumerangeffekt“24 kam der koloniale Rassismus in den Amerikas nach Europa zurück und definierte alte Formen der Diskriminierungen gegen Araber, „Zigeuner“ und Juden neu, indem sie wie schwarze und indigene Völker zu Untermenschen oder einfach Nicht-Menschen verwandelt wurden.25 Jahrhundertelang lebten Juden in Europa die Alpträume des Antisemitismus. Sie wurden unterdrückt, gefoltert, ermordet und verfolgt.

Der Holocaust repräsentiert eine der extremsten Formen der europäischen Endlösungen, war aber bei weitem nicht die einzige zu jener Zeit. Eine andere antisemitische „Endlösung“, die von den Nazis schon früh in Betracht gezogen, aber vom britischen Empire entwickelt wurde, bestand darin, die europäischen Juden aus Europa hinaus zu transferieren.26 Da das britische Empire die koloniale Kontrolle über das heilige Land von Juden, Christen und Muslimen in Palästina innehatte, begannen die Briten nach der Balfour-Erklärung im Jahr 1917 und mit der Unterstützung der europäischen zionistischen Bewegung, europäische Juden in großer Zahl massiv in die Gegend zu exportieren, die von diesen monotheistischen Religionen als Heiliges Land verstanden wird.27 Damit begann ein Prozess des Siedlerkolonialismus, wobei der Zionismus als eine Form des jüdischen Nationalismus in Europa in Kolonialismus verwandelt wurde.28

Europäische Juden reproduzierten in Palästina mit dem Segen des britischen Empires die klassischen Formen des europäischen Siedlerkolonialismus. Palästinensische Juden, die eine Vielzahl von Rechten genossen, als das Osmanische Reich in Palästina herrschte,29 standen völlig in Opposition zur Besatzung Palästinas durch das britische Empire und zu den zionistischen Zielen der europäischen Juden, die einen rein jüdischen Nationalstaat in Palästina errichten wollten.30 Das zionistische Projekt der Gründung eines jüdischen Staates war im Grunde ein europäisch-jüdisches Projekt, das europäische koloniale Methoden des Siedlerkolonialismus nach Palästina brachte. Die Bildung des Staates von Israel erfolgte auf den Schultern von Rassismus und Massakern gegen Palästinenser, christliche und muslimische, um sie von ihrem Land zu vertreiben.31

„Ethnische Säuberung“ ist der Ausdruck, der von einer neuen Generation von israelischen Historikern verwendet wird, um die israelischen Maßnahmen gegen Palästinenser zu beschreiben.32 Aimé Césaires Discours sur le colonialisme (Rede über den Kolonialismus)33 paraphrasierend, lässt sich sagen, dass der Hitlerismus als eine Fortführung der kolonialen rassistischen Ideologie zurückkam, um diesmal die Palästinenser durch die Hände von europäischen Juden zu verfolgen, die ironischerweise dem Nazi-Holocaust gerade entflohen waren. Israel wurde als siedlerkolonialistisches Projekt mit einem „antisemitischen Antisemitismus“-Diskurs gegründet. Europäische Juden bauten eine rassistische/koloniale Diskriminierung der Palästinenser auf. Ähnlich wie der nordamerikanische Siedlerkolonialismus gegen indigene Amerikaner haben israelische Eliten, die neue Identität von europäischen Juden, jeden Vertrag verletzt und über die vergangenen mehr als sechzig Jahre hinweg eine systematische Zwangsvertreibung der Palästinenser aus ihrem Land betrieben, um Gebiete zu erobern und dort jüdische Kolonien anzusiedeln.34

Die Einverleibung von europäischen Juden als „Weiße“ in den meisten westlichen metropolitanen Zentren nach dem zweiten Weltkrieg35 und der Gebrauch von Israel als einer westlichen pro-imperialistischen Militärbastion im Nahen Osten36 führte dazu, dass das israelische koloniale Projekt direkt in das Zentrum der US-Hegemonie und der globalen weißen Suprematie Aufnahme fand. Eine dreifache globale Allianz wurde geschaffen zwischen weißen europäischen und weißen euro-amerikanischen Eliten mit euro-amerikanischen und europäischen jüdischen pro-zionistischen Eliten im Westen und europäischen und euro-amerikanischen jüdischen Siedlern in Palästina. Westlicher Segen für Israel legitimierte, finanzierte und gab grünes Licht für den israelischen Siedlerkolonialismus und seine Gräueltaten in Palästina. GAZA ist heute die tragische Konsequenz dieser kolonialen Geschichte.

 8.2.2 GAZA und globaler Antisemitismus

Es ist ebenfalls unmöglich, den Antisemitismus zu erörtern, ohne die Transformation der europäischen Juden von rassialisierten Subjekten/Untertanen in „Weiße“ in Westeuropa wie in Nordamerika und ohne die Transformation von Palästina in einen rein jüdischen siedlerkolonialistischen Staat zu berücksichtigen. Mit der Einverleibung der europäischen Juden als Weiße kommt es zu einer erheblichen Reduktion des „anti-jüdischen Antisemitismus“ im Westen und weltweit. Im Gegensatz dazu werden andere Formen des Rassismus wie der „anti-arabische/muslimische Antisemitismus“ zu einem integralen Bestandteil der westlichen Kultur. Die kürzliche Einverleibung der europäischen und euro-amerikanischen Juden in die Weißheit zieht bedeutende Folgen nach sich.37

Können wir uns vorstellen, was heute die Reaktion im Westen wäre, wenn irgendein arabischer Staat den Juden antun würde, was Israel gegenwärtig den Palästinensern antut? Was wäre die Reaktion, wenn ein arabischer Staat in der Weise Juden massakrieren würde, wie Israel heute in GAZA Palästinenser massakriert? Was wäre die Reaktion von Israel, der Europäischen Gemeinschaft und der USA, wenn irgendein europäisches Land einen Minister wie Israels Lieberman einsetzen würde, der zur Vertreibung der Palästinenser aus Israel und zur Vertreibung aller Juden aus ihrem Land aufruft? Es ist nebenbei wichtig, darauf hinzuweisen, dass palästinensische Juden unter dem muslimischen Osmanischen Reich mehr politische, demokratische und zivile Rechte hatten38 als palästinensische Muslime und Christen während der britischen kolonialen Besatzung Palästinas und sechzig Jahre lang unter dem Siedlerkolonialismus des israelischen Staates. Überdies ist ein rein jüdischer Staat einer Apartheid-Republik näher als einer wirklich demokratischen Republik.

Dennoch definieren neokonservative Eliten in den USA und Westeuropa39 „Judeophobie“ und „anti-jüdischen Antisemitismus“ als die hegemonialen Formen des Rassismus im Westen heutzutage in der Absicht, auf eine perverse Weise Arabern und Muslimen die Schuld zu geben und die hegemonialen Formen des weißen Rassismus zu verbergen, die nunmehr zumeist „anti-schwarzer Rassismus“ und „anti-arabischer/muslimischer Antisemitismus“ sind. Unter der Voraussetzung, dass Araber/Muslime Israel kritisch sehen und der israelische Staat Kritiker des zionistischen Staates mit Antisemitismus in Verbindung bringt, haben weiße rassistische Eliten in Europa und Nordamerika eine Strategie der „Arglist“ entwickelt,40 wodurch die Hauptopfer des Rassismus nunmehr bezichtigt werden, die Haupttäter des Rassismus zu sein. Das ist, gelinde gesagt, pervers, in einem Kontext, in dem weißer Rassismus vor allem als „anti-schwarzer Rassismus“ und „anti-arabischer/muslimischer Antisemitismus“ in Erscheinung tritt. Die gleiche perverse Logik geschieht heute im israelisch-palästinensischen Konflikt, wo israelische Kolonisatoren Palästinenser des Antisemitismus bezichtigen, während der „anti-arabische/muslimische Antisemitismus“ stillschweigend übergangen wird.

Manche pro-zionistischen euro-amerikanisch-jüdischen und europäisch-jüdischen Eliten, die sich des Privilegs der „Weißheit“ in den rassialistischen/ethnischen Hierarchien des Westens erfreuen, gebrauchen ihre Machtposition, um unkritische Unterstützung des Westens für Israel zu mobilisieren und Straflosigkeit für seine Verbrechen zu erlangen. Juden aus der gesamten Welt können nach Palästina kommen und Zugang zu Land bekommen, während palästinensische Flüchtlinge nicht zurückkehren können und diejenigen, die in Palästina leben, Bürger zweiter Klasse oder schlicht Parias in ihrem eigenen Land sind.

Die Kritik des „anti-jüdischen Antisemitismus“ und des Holocaust ist stets vom israelischen siedlerkolonialistischen Staat seit seiner Gründung 1948 und bis heute manipuliert, missbraucht und instrumentalisiert worden, um seine koloniale Herrschaft, Expansion und Terror zu rechtfertigen.41 Der israelische Staat ist der Hauptakteur, der für die Banalisierung der Kritik des Antisemitismus verantwortlich ist, während jegliche Kritik des zionistischen Staates mit Antisemitismus gleichgesetzt wird.42 Dieses instrumentalistische Argument hat die wirklichen Vorkommnisse des Antisemitismus trivialisiert und die Glaubwürdigkeit des antirassistischen Diskurses gegen Antisemitismus weltweit herabgesetzt.43

Seit wann ist Kritik an der Politik eines Staates zu einem Äquivalent dafür geworden, rassistisch gegenüber seiner Bevölkerung zu sein? Seit wann ist Kritik am amerikanischen staatlichen Militarismus und Imperialismus äquivalent damit, anti-amerikanisch zu sein, oder seit wann wird Kritik am mexikanischen Staat gleichgesetzt damit, anti-mexikanisch zu sein? Diese diskursive Gleichsetzung von staatlicher Identität und seiner Bevölkerung ist typisch für jeden Nationalismus. An der zionistischen nationalistischen Rhetorik ist allerdings der Versuch besonders, Kritik an Israel nicht nur mit einer anti-nationalen, anti-israelischen Stimmung in Verbindung zu bringen (was jeder Nationalismus tut), sondern auch mit rassistischer Rhetorik vermittels der Schaffung einer diskursiven Äquivalenz von Kritik am israelischen Staat mit Antisemitismus. Israel hat den Antisemitismus banalisiert, indem jeder Kritiker des israelischen Staates systematisch des Antisemitismus beschuldigt wird. Dadurch wurde eine komplexe und perverse Situation geschaffen, in der „anti-jüdischer Antisemitismus“ von manchen banalisiert und von anderen übertrieben wird, während „anti-arabischer Antisemitismus“ im Westen im Namen der Bekämpfung eines gewalttätigen, terroristischen Antisemitismus als erlaubt und akzeptabel gilt und zu dem sogar ermutigt wird.

Wenn wir den anti-arabischen Rassismus als eine Form des Antisemitismus verstehen, sind heutzutage die hauptsächlichen Vertreter dieses „antisemitischen Antisemitismus“ pro-zionistische Intellektuelle, sowohl israelische als auch nicht-israelische.44 Dies hat zu einer Situation geführt, in der wirkliche Ausdrücke von „anti-jüdischem Antisemitismus“ von vielen Leuten banalisiert werden und in der alte Formen des „anti-jüdischem Antisemitismus“ wiederaufbereitet werden, um israelische Gräueltaten zu beschreiben. Beispielsweise sollte Parolen wie „Hamas, Hamas: Jude ins Gas“ auf anti-zionistischen Demonstrationen in Europa heute seitens antikolonialer, antiimperialistischer und antirassistischer Bewegungen mit Sorge begegnet werden. Es ist wahr, dass dies eine Minderheit innerhalb der anti-zionistischen Bewegung ist. Nichtsdestotrotz dürfen wir die Rückkehr des „anti-jüdischen antisemitischen“ Rassismus nicht unterschätzen. Der alte Antisemitismus kommt kraftvoll zurück als Reaktion auf Israels ethnische Säuberung der Palästinenser. „Anti-jüdischer Antisemitismus“ ist falsch, ganz gleich woher er kommt und was die Ursachen für seine Rückkehr sind. Eine Minderheit von weißen christlichen Europäern wiederholt einmal mehr den alten antisemitischen Rassismus; und unterdrückte Gruppen wie Araber, wenn auch in kleiner Zahl innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaften, reproduzieren ebenfalls alte Stereotype über jüdische Menschen.

Es gibt allerdings einen fundamentalen Unterschied zwischen den jüdischen Menschen und dem zionistischen Staat. Einerseits ist der zionistische Anspruch, alle Juden zu repräsentieren, falsch und stellt eine politische Manipulation dar. Aber dies rechtfertigt nicht den Gebrauch von rassistischer Rhetorik, auch dann nicht, wenn die Gruppen unterdrückte Gruppen sind. Andererseits hat die zionistische Rechtfertigung naziartiger ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschheit durch Israel in Palästina und jüngst in GAZA, indem „anti-arabischer Antisemitismus“ eingesetzt und die Kritiker von Israel als „Antisemiten“ beschuldigt wurden, eine globale Empörung und in manchen wenigen Fällen „anti-jüdische antisemitische“ Reaktionen hervorgerufen.

Darüber hinaus befördern Beschlüsse des US-Kongresses, die Israels Recht auf Selbstverteidigung bekräftigen, während das israelische Abschlachten von Palästinensern in vollem Gange ist, Israels Straflosigkeit, wenn es den offenen Rassismus gegen Palästinenser als Volk reproduziert, deren Existenzrecht in Frage gestellt wird, indem sie rassialistisch in das versetzt werden, was Fanon als „Leben in der Hölle“ oder die „Zone des Nicht-Seins“ beschrieben hat.45

Israelische Gräueltaten werden heutzutage unter dem Vorwand gerechtfertigt, den islamischen Fundamentalismus zu bekämpfen. Die kürzlichen Massaker in GAZA wurden im Namen der Bekämpfung der Hamas gerechtfertigt. Nachdem Saddam Hussein ermordet und der Irak unter US-Besatzung gebracht worden ist, ist nun der neue Feind des Zionismus der Iran. Hizbullah und Hamas gelten als ausschließliche Geschöpfe des Irans. Die Rolle, die der Iran beim Aufstieg und/oder dem Fortbestehen dieser Organisationen spielte, ist gewiss nicht von größerer Bedeutung als die Rolle, die der Westen bei der Schaffung und fortgesetzten Unterstützung von Israel als siedlerkolonialem Staat spielte. Der Iran unterstützt Hizbullah und Hamas, hat sie aber nicht geschaffen. Sie sind vielmehr beide ein Resultat des israelischen Kolonialismus in der Region.

So stellt sich nun die Frage: Was ist Fundamentalismus?

 8.3 Fundamentalismus und Eurozentrismus

Eine grundlegende Voraussetzung der gegenwärtigen Diskussionen über den politischen Islam und den sogenannten „Krieg gegen den Terrorismus“ ist der „epistemische Rassismus“, wie er von Walter Mignolo begrifflich gefasst wurde.46 „Epistemischer Rassismus“ steht für die Inferiorisierung von nicht-westlichen Epistemologien und Kosmologien, um die westliche Epistemologie als die superiore Form des Wissens und als die einzige Quelle zur Definition von Menschenrechten, Demokratie, Bürgerschaft usw. zu privilegieren. Und dies ist in der Vorstellung begründet, dass Vernunft und Philosophie im Westen liegen, während Nicht-Vernunft im „Rest“ liegt.

So stellte Lewis Gordon fest:

Die Vorstellung, dass Philosophie eine rein europäische Angelegenheit war, führte logischerweise zum Schluss, dass es etwas in den europäischen Kulturen gab (und weiterhin gibt), das sie für philosophische Reflexion förderlicher macht als andere. [...] Die Vorstellung einer wesenhaften Verbindung der Europäer mit der Philosophie ist, anders gesagt, zirkulär: sie definiert sie als philosophisch in dem Bemühen zu bestimmen, ob sie philosophisch waren. [...] Zu schlussfolgern, dass die Arten von intellektueller Tätigkeit, die in der Vergangenheit philosophisch genannt wurden und in der Gegenwart in diesen Bereich fielen, daher auf eine einzige Gruppe von Menschen beschränkt waren, die zumeist künstlich in einen Sack gesteckt wurden, um falsche Vorstellungen von Einheit und einzigartiger Identität zu erwecken, verlangt ein Modell der Menschheit, das nicht zu den Tatsachen passt.47

Epistemischer Rassismus ist eine grundlegende und konstitutive Logik der modernen/kolonialen Welt. Europäische Humanisten und Wissenschaftler im neunzehnten Jahrhundert wie Ernest Renan, der 1883 an der Sorbonne in Paris eine Vorlesung hielt, „in der er ausführte, der Islam sei mit Wissenschaft und Philosophie unvereinbar. Er begründete seine Ansicht auf die Behauptung, der Islam sei eine im Wesentlichen arabische Religion und die Araber seien, da sie zur semitischen Rasse gehörten, wegen ihrer atomistischen Mentalität zur philosophischen Synthesis unfähig [...] Renan [blieb] fest davon überzeugt, dass den Semiten (er meinte damit die Araber und die Juden) diese Fähigkeit abgehe.“48

Dieser epistemische Rassismus tritt heutzutage in Diskussionen über Menschenrechte in Erscheinung. Nicht-westliche Epistemologien, die Menschenrechte und Menschenwürde in anderen Formen als der Westen begreifen, werden schlechterdings vom Gespräch ausgeschlossen. Dies ist eng verbunden mit gegenwärtigen Diskussionen über „Fundamentalismus“. So meint etwa der „wiedergeborene Neocon“ Christopher Hitchens:

[...] die genaue Definition eines „Fundamentalisten“ ist jemand, der glaubt, dass die „heilige Schrift“ das festgelegte und unveränderliche Wort Gottes ist.49

Diese spezifische Definition, die heute die im Westen verwendete hegemoniale Definition ist, verbirgt, was für alle Fundamentalismen fundamental ist, nämlich den Glauben an die Superiorität ihrer eigenen Epistemologie und die Inferiorität des Rests. Die erste Prämisse der Definition von Hitchens lautet, dass ein Fundamentalist notwendigerweise religiös sein muss. In dieser Definition werden sogenannte säkulare Ansichten von vornherein davon ausgenommen, fundamentalistisch zu sein. Die problematische westliche Dichotomie von säkular und religiös wird hier reproduziert. Dementsprechend kann eine säkulare Perspektive nach der Logik dieser Definition nicht fundamentalistisch sein.

Die zweite Prämisse lautet, dass der einzig mögliche Fundamentalismus eine solche Doktrin betrifft, die eine „wörtliche“, „dogmatische“ Interpretation eines „heiligen Textes“ vornimmt. Die Prämisse lautet, dass ein „heiliger Text“ nur ein religiöser Text sein kann. Einen säkularen Text als „heilig“ zu behandeln, wird nicht als Teil der Definition des Fundamentalismus erachtet. Säkulare Formen des Fundamentalismus wie etwa Stalinismus als ein marxistischer Fundamentalismus oder Positivismus als eine Form des wissenschaftlichen Fundamentalismus werden von der hegemonialen Definition ausgenommen.

Kurzum, diese Definition verbirgt die wichtigste Form des Fundamentalismus in der heutigen Welt: den eurozentrischen Fundamentalismus. Er ist so mächtig, dass er als die „Norm“ und hegemoniale „Selbstverständlichkeit“ (common sense) verwendet wird, um zu definieren, was Demokratie ist, was „Terrorismus“ ist, was „Ökonomie“ ist, was Menschenrechte sind, was die Umwelt ist und wer ein Fundamentalist ist. Eurozentristischer Fundamentalismus ist die „Sakralisierung“ der westlichen Denktradition und die Inferiorisierung der nicht-westlichen Epistemologien und Kosmologien. Er ist auf epistemischen Rassismus gegründet. Sein Universalismus besteht in Wirklichkeit darin, ein Partikulares als das Universale für den Rest zu definieren – nämlich als einen globalen/imperialen Entwurf. Wenn wir mit der dichotomen Spaltung von säkular und religiös brechen, so erweist sich, dass das, was alle Fundamentalismen in der modernen/kolonialen Welt gemeinsam haben, der „epistemische Rassismus“ ist.

Eine wesentliche Folge der europäischen kolonialen Expansion und ihres epistemischen Rassismus ist der Epistemizid gegen nicht-westliche Epistemologien, wie Boaventura de Sousa Santos es genannt hat.50 Die Unsichtbarkeit und sogar Auslöschung anderer Epistemologien liegt an der Wurzel des eurozentrischen Fundamentalismus. Die hegemoniale Rolle des eurozentrischen Fundamentalismus tritt überdies darin in Erscheinung, dass viele Gestalten dessen, was heutzutage als Dritte-Welt-Fundamentalismus bezeichnet wird, wie etwa islamischer Fundamentalismus, afrozentrischer Fundamentalismus und indigener Fundamentalismus, umgekehrte Formen des eurozentrischen Fundamentalismus sind. Sie sind Umkehrungen der eurozentrischen fundamentalistischen Dichotomien. Wenn der Westen sich selbst definiert als wesenhaft und naturgemäß demokratisch, als Förderer von Frauenrechten, Menschenrechten, Demokratie, Freiheit usw., dann ist der Nicht-Westen definiert als wesenhaft und naturgemäß autoritär, patriarchalisch usw. Diese eurozentrische Dichotomie, die dem epistemischen Rassismus zugrunde liegt, wird durch die sogenannten Dritte-Welt-Fundamentalismen nicht überwunden, sondern umgekehrt.

Was ich hiermit hervorheben möchte, ist, dass Dritte-Welt-Fundamentalismen wie der islamische Fundamentalismus oder der afrozentrische Fundamentalismus abgeleitete Formen des eurozentrischen Fundamentalismus sind. Sie kehren lediglich die eurozentrische Dichotomie um, bekräftigen die entgegengesetzte Seite der Dichotomie und lassen die hegemoniale Dichotomie intakt. Beispielsweise bekräftigen sie das Patriarchat oder autoritäre Formen der politischen Macht, indem sie das Bild, demokratisch und feministisch zu sein, in den Händen des Eurozentrismus belassen. Hitchens’ Definition dessen, was Fundamentalismus ist, verbirgt die zugrundeliegende Annahme aller Fundamentalismen: die ethnozentrische Idee, dass nur ihre eigene Epistemologie superior und der Rest inferior ist.

Es sind Diaspora- und Grenzdenker, von denen Herausforderungen für den eurozentrischen Fundamentalismus und seine abgeleiteten Formen der eurozentrischen Dritte-Welt-Fundamentalismen ausgehen. Islamische Feministinnen, afro-karibische Philosophen, der marxistische Tojolabalismus der Zapatisten, der „ayllu“ der aymarischen Denker usw. sind Beispiele von Denktraditionen, die institutionelle Formen und Konzepte von nicht-westlicher Demokratie, Ökologie, Feminismus und Menschenrechten jenseits der eurozentrischen fundamentalistischen Dichotomien entwickelt haben.

 

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1Anm. d. Hrsg.: Dieser Artikel wurde 2009 veröffentlicht und bezieht sich hier auf den Krieg und das Massaker, mit dem das israelische Militär den Gazastreifen unter dem Titel Operation Gegossenes Blei vom 27. Dezember 2008 bis 18. Januar 2009 überzogen hat.

2Emmanuel Eze, „The Color of Reason. The Idea of ‚Race‛ in Kant’s Anthropology“, in: Emmanuel Eze (Hrsg.), Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader, Oxford, 1997, S. 103-140.

3Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

4Costas Douzinas, The End of Human Rights, Hart Publishing, Oxford, 2000.

5Aaron Gray-Block, „World court prosecutor mulls GAZA war crimes probe“, Reuters, 3. Februar 2009.

6Anm. d. Übers.: „Sophies Entscheidung“ ist der Titel eines Films, der auf der Adaption des gleichnamigen Romans von William Styron basiert. Darin wird Sophie als Mutter von zwei Kindern vor folgende Entscheidung gestellt: „Sophie war während des Zweiten Weltkrieges nach Auschwitz deportiert worden. In einer Rückblende sieht man sie mit ihrem Sohn und ihrer Tochter im Zug sitzen. Auf dem Weg vom Zug zu den Baracken hält sie ihre Kinder ängstlich an sich gedrückt. Zwischen ihr und einem sich nähernden KZ-Aufseher entspinnt sich ein Dialog, in dessen Verlauf sie ihre Verbundenheit mit der ‚arischen Rasse‛ betont und darauf hinweist, keine Jüdin zu sein. Der sadistische Aufseher stellt sie daraufhin vor die Wahl, eines ihrer Kinder behalten zu dürfen, sie müsse sich jedoch für eines entscheiden. Den drohenden Verlust beider Kinder vor Augen, trifft Sophie eine Entscheidung: ‚Nehmen Sie mein kleines Mädchen!‛ Die Tochter wird ihr daraufhin entrissen und weggebracht. Ihr Sohn wird in einem getrennten Bereich im Lager untergebracht, Sophie selbst wird aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in der Villa des KZ-Kommandanten Rudolf Höß beschäftigt. Sie unternimmt alle opportunen Versuche, ihren Sohn ausfindig zu machen und ihm ‚eine gute Behandlung‛ zu verschaffen; sein Verbleib ist jedoch nicht zu ermitteln.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/​Sophies_​Entscheidung)

7Noam Chomsky, Obama’s Stance on GAZA Crisis „Approximately the Bush Position“, Interview auf Democracy Now! (23. Februar 2009), https://www.​democracynow.org/2009/1/23/noam_chomsky_obamas_stance_on_gaza.

8Immanuel Wallerstein, Absturz oder Sinkflug des Adlers? Der Niedergang der amerikanischen Macht, Übers. Britta Dutke, VSA, Hamburg, 2004; englisches Original: Immanuel Wallerstein, Decline of American Power: The U.S. in a Chaotic World, New Press, New York, 2003.

9Giovanni Arrighi, The Long Twentieth Century: Money, Power and the Origins of Our Times, Verso, London, 1994.

10Siehe Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Übers. Monika Kind, Klaus Wagenbach, Berlin, 1968; französisches Original: Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, Réclame, Paris, 1950.

11Nelson Maldonado-Torres, Against War: Views from the Underside of Modernity, Duke University Press, Durham, 2008.

12Hugh Kennedy, Muslim Spain and Portugal: A Political History of al-Andalus, Longman, Essex, 1997.

13Yitzhak Baer, A History of the Jews in Christian Spain, Vol. 2, Jewish Publication Society, Philadelphia & Jerusalem, 1993. Jane S. Gerber, Jews of Spain: A History of the Sephardic Experiment, The Free Press, New York, 1992. Henri Bresc, Arabes de langue, Juifs de religion, Bouchène, Paris, 2001.

14Maria Rosa Melocal, The Ornament of the World: How Muslims, Jews and Christians Created a Culture of Tolerance in Medieval Spain, Back Bay Books, New York, 2003. Chris Lowney, A Vanished World: Medieval Span’s Golden Age of Enlightenment, Free Press, New York, 2005.

15Carl W. Ernst, Mohammed folgen. Der Islam in der modernen Welt, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2007; englisches Original: Carl W. Ernst, Following Muhammad; Rethinking Islam in the Contemporary World, University of North Carolina Press, Chapel Hill, 2003.

16Norman A. Stillman, The Jews of Arab Lands, Jewish Publication Society, Philadelphia, 1979.

17Carl W. Ernst, Mohammed folgen. Der Islam in der modernen Welt, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2007, S. 38; englisches Original: Carl W. Ernst, Following Muhammad; Rethinking Islam in the Contemporary World, University of North Carolina Press, Chapel Hill, 2003.

18Enrique Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen: ein Projekt der Transmoderne, Patmos, Düsseldorf, 1993; spanisches Original: Enrique Dussel, 1492: El encubrimiento del Otro. Hacia el origen del „mito de la Modernidad“, Facultad de Humanidades y Ciencias de la Educación, La Paz, 1992.

19Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Übers. Alke Jenss & Stefan Pimmer, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2016; spanisches Original: Aníbal Quijano, „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, CLACSO, Buenos Aires, 2000.

20Nelson Maldonado-Torres, „Religion, Conquest, and Race in the Foundations of the Modern/Colonial World“, in: Journal of the American Academy of Religion, 82, 2014, S. 636-665. Nelson Maldonado-Torres, „Reconciliation as a Contested Future: Decolonization as Project or Beyond the Paradigm of War“, in: Iain S. Maclean (Hrsg.), Reconciliation: Nations and Churches in Latin America, Ashgate, London, 2006, S. 225-245.

21Aníbal Quijano, „Colonialidad y Modernidad/Racionalidad“, in: Perú Indígena, 13, Lima, 1991, S. 11-20. Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Übers. Alke Jenss & Stefan Pimmer, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2016; spanisches Original: Aníbal Quijano, „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, CLACSO, Buenos Aires, 2000. Enrique Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen: ein Projekt der Transmoderne, Patmos, Düsseldorf, 1993; spanisches Original: Enrique Dussel, 1492: El encubrimiento del Otro. Hacia el origen del „mito de la Modernidad“, Facultad de Humanidades y Ciencias de la Educación, La Paz, 1992. Lewis Gordon, An Introduction to Africana Philosophy, Cambridge University Press, Cambridge, 2008.

22Nelson Maldonado-Torres, „Religion, Conquest, and Race in the Foundations of the Modern/Colonial World“, in: Journal of the American Academy of Religion, 82, 2014, S. 636-665. Nelson Maldonado-Torres, „Reconciliation as a Contested Future: Decolonization as Project or Beyond the Paradigm of War“, in: Iain S. Maclean (Hrsg.), Reconciliation: Nations and Churches in Latin America, Ashgate, London, 2006, S. 225-245.

23Lewis Gordon, Bad Faith and Anti Black Racism, Humanity Books, New Jersey, 1995.

24Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Übers. Monika Kind, Klaus Wagenbach, Berlin, 1968; französisches Original: Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, Réclame, Paris, 1950.

25Ramón Grosfoguel & Eric Mielants, „The Long-Duree Entanglement Between Islamophobia and Racism in the Modern/Colonial Capitalist/​Patriarchal World-System“, in: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge, 6, 2006, S. 1-12.

26Tom Segev, Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, Übers. Doris Gerstner, Siedler, München, 2005; englisches Original: Tom Segev, One Palestine, Complete: Jews and Arabs Under the British Mandate, Picador, London, 2001.

27Tom Segev, Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, Übers. Doris Gerstner, Siedler, München, 2005; englisches Original: Tom Segev, One Palestine, Complete: Jews and Arabs Under the British Mandate, Picador, London, 2001. Jane S. Gerber, Jews of Spain: A History of the Sephardic Experiment, The Free Press, New York, 1992. Ilan Pappe, A History of Modern Palestine: One Land, Two Peoples, Cambridge University Press, Cambridge, 2006.

28Gabriel Piterberg, The Returns of Zionism: Myth, Politics and Scholarship in Israel, Verso, London, 2008.

29Jane S. Gerber, Jews of Spain: A History of the Sephardic Experiment, The Free Press, New York, 1992.

30Alan Hart, Zionismus: Der wirkliche Feind der Juden, Band 1: Der Falsche Messias, Zambon-Verlag, Frankfurt am Main, 2016; englisches Original: Alan Hart, Zionism: The Real Enemy of the Jews, Band 1: The False Messiah, World Focus Publishing, Kent, 2007.

31Nur Marsalha, Catastrophe Remembered: Palestine, Israel and the Internal Refugees, Zed Books, London, 2005. Alan Hart, Zionismus: Der wirkliche Feind der Juden, Band 1: Der Falsche Messias, Zambon-Verlag, Frankfurt am Main, 2016; englisches Original: Alan Hart, Zionism: The Real Enemy of the Jews, Band 1: The False Messiah, World Focus Publishing, Kent, 2007. Gabriel Piterberg, The Returns of Zionism: Myth, Politics and Scholarship in Israel, Verso, London, 2008.

32Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Westend-Verlag, Frankfurt am Main, 2019; englisches Original: Ilan Pappe, The Ethnic Cleansing of Palestine, Oneworld Publications, Oxford, 2006.

33Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Übers. Monika Kind, Klaus Wagenbach, Berlin, 1968; französisches Original: Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, Réclame, Paris, 1950.

34Nur Marsalha, Expulsion of the Palestinians: The Concept of Transfer’ in Zionist Political Thought, 1882-1948, Institute of Palestinian Studies, Washington, D.C., 1992. Alan Hart, Wer ist der wahre Feind der Juden, Band 2: Aus David wird Goliath, Zambon-Verlag, Frankfurt am Main, 2018; englisches Original: Alan Hart, Zionism: The Real Enemy of the Jews, Band 2: David Becomes Goliath, World Focus Publishing, Kent, 2007. Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Westend-Verlag, Frankfurt am Main, 2019; englisches Original: Ilan Pappe, The Ethnic Cleansing of Palestine, Oneworld Publications, Oxford, 2006.

35Karen Brodkin, How Jews Became White Folks and What that Says about Race in America, Rutgers University Press, New Brunswick, 2000.

36Noam Chomsky, Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US-Politik, Übers. Michael Haupt, Europa, Hamburg, 2003; englisches Original: Noam Chomsky, The Fateful Triangle. The United States, Israel & the Palestinians, Pluto Press, London, 1987.

37Carl W. Ernst, Mohammed folgen. Der Islam in der modernen Welt, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2007, S. 36; englisches Original: Carl W. Ernst, Following Muhammad; Rethinking Islam in the Contemporary World, University of North Carolina Press, Chapel Hill, 2003.

38Siehe Jane S. Gerber, Jews of Spain: A History of the Sephardic Experiment, The Free Press, New York, 1992.

39Pierre-André Taguieff, La Nouvelle judéophobie, Fayard-Mille et une Nuit, Paris, 2002. Paul Iganski (Hrsg.), A New Anti-Semitism? Debating Judeophobia in 21st Century Britain, Profile Books Ltd., London, 2003.

40Lewis Gordon, Bad Faith and Anti Black Racism, Humanity Books, New Jersey, 1995.

41Norman Finkelstein, Antisemitismus als politische Waffe. Israel, Amerika und der Missbrauch der Geschichte, Übers. Maren Hackmann, Piper, München, 2006; englisches Original: Norman Finkelstein, Beyond Chutzpah. On the Misuse of Anti-Semitism and the Abuse of History, University of California Press, Berkeley, 2005.

42Etienne Balibar, Rony Brauman, Judith Butler & Eric Hazan, Antisémitisme : l'intolérable chantage. Israël-Palestine, une affaire française ?, Éditions La Découverte, Paris, 2003. Norman Finkelstein, Antisemitismus als politische Waffe. Israel, Amerika und der Missbrauch der Geschichte, Übers. Maren Hackmann, Piper, München, 2006; englisches Original: Norman Finkelstein, Beyond Chutzpah. On the Misuse of Anti-Semitism and the Abuse of History, University of California Press, Berkeley, 2005.

43Ebenda.

44Nur Marsalha, The Bible and Zionism: Invented Traditions, Archaeology and Post-Colonialism in Palestine Israel, Zed Books, London, 2007. Stephen Spector, Evangelicals and Israel: The Story of American Christian Zionism, Oxford University Press, New York, 2008. Norman Finkelstein, Antisemitismus als politische Waffe. Israel, Amerika und der Missbrauch der Geschichte, Übers. Maren Hackmann, Piper, München, 2006; englisches Original: Norman Finkelstein, Beyond Chutzpah. On the Misuse of Anti-Semitism and the Abuse of History, University of California Press, Berkeley, 2005.

45Lewis Gordon, „Through the Zone of Non-being: A Reading of Black Skin, White Masks in Celebration of Fanon’s Eightieth Birthday“, in: Worlds and Knowledge Otherwise, 1, 2006, S. 1-29.

46Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

47Lewis Gordon, An Introduction to Africana Philosophy, Cambridge University Press, Cambridge, 2008, S. 6.

48Carl W. Ernst, Mohammed folgen. Der Islam in der modernen Welt, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2007, S. 45; englisches Original: Carl W. Ernst, Following Muhammad; Rethinking Islam in the Contemporary World, University of North Carolina Press, Chapel Hill, 2003.

49Christopher Hitchens, „Assassins of the Mind“, in: Vanity Fair, Nr. 582, Februar 2009, S. 72-75.

50Anm. d. Übers.: „Epistemizid“ ist ein von Boaventura de Sousa Santos geprägter Begriff. Siehe dazu Fußnote 4 auf Seite 71.

9 Enrique Dussel: Ein Denker der Befreiung

9 Enrique Dussel: Ein Denker der Befreiung Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 15

Dussel ist ein Pionier des „unbekannten Marx“, da er sowohl veröffentlichte als auch unveröffentlichte Werke in den Archiven von Berlin und Amsterdam studierte.1

9.1 Enrique Dussel: der Hegel und Marx des globalen Südens?

Philosophisch gesehen ist Enrique Dussel der Hegel des globalen Südens.2 Dussel mochte diese Analogie jedoch nicht und bat uns stets höflich darum, sie aus mehreren Gründen nicht zu verwenden. Erstens, wegen seiner Bescheidenheit. Zweitens, weil die Analogie falsch war, da Hegel den Gipfel des Eurozentrismus darstellt, während Dussels Werk genau gegen einen solchen Ansatz gerichtet ist. Dennoch greifen wir auf diesen Vergleich zurück, damit ein eurozentrisches Publikum, das Dussels Werk nicht kennt, aber mit der europäischen und nordamerikanischen Philosophie vertraut ist, die Tragweite seines Denkens verstehen kann.

Eurozentrische Philosophen, ob aus Europa, Lateinamerika, Afrika, Asien oder anderen Regionen, sehen in Hegel den Denker, dem die große Synthese der eurozentrischen Philosophie, Weltgeschichte, Ethik und Politik gelungen ist. In der Nachfolge Hegels bis Habermas beziehen sich eurozentrische Philosophen auf ihn, entweder um ihn zu kritisieren, um die eurozentrische Perspektive zu vervollkommnen, oder um ihn so anzunehmen, wie er ist.

Aus unserer Sicht ist Dussel unser Hegel, weil ihm die große Synthese des dekolonialen Denkens des globalen Südens gelungen ist. Er schuf eine philosophische Vision, die von der Erfahrung der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen des globalen Südens ausging, das heißt von der Exteriorität oder dem „Nicht-Sein“ jenseits des ontologischen Seins der modernen Welt. Von diesem Ort der Äußerung (lugar de enunciación) aus begründete Dussel ein umfassendes philosophisches „System“, das eine Ontologie, eine Metaphysik, eine Ethik, eine Philosophie, eine Methode (die Analektik) sowie eine Politik, Pädagogik, Erotik und Theologie, samt einer Ökonomie, und alsbald, posthum, eine Ästhetik der Befreiung umfasst.

Aber Dussel hat auch eine Weltgeschichte nachgezeichnet, die im Gegensatz zu Hegel weder helleno- noch eurozentrisch ist, was eine gewaltige Anstrengung abverlangte, die sich in Werken niederschlug wie Hipótesis para el estudio de Latinoamérica en la historia universal und Política de la Liberación. Historia mundial y crítica.3

Die Calibane4 des Planeten, wo auch immer sie sich befinden, finden in Dussel eine Quelle des kritischen Denkens, die einen Wendepunkt in der kritischen und dekolonialen Tradition des globalen Südens markiert hat, so wie Hegel in der eurozentrischen Tradition des globalen Nordens. Das ist wichtig, denn wir müssen nicht alles rekonstruieren, was Dussel getan hat, aber wir können von ihm ausgehen, so wie die Eurozentristen von Hegel ausgegangen sind. Daher müssen der globale Süden und das globale dekoloniale Denken von der großen Synthese und dem offenen philosophischen System ausgehen, das Dussel geschaffen hat.

Dussel kann zudem als der Marx unserer Zeit betrachtet werden. Es ist bekannt, dass er sich bei seinen Studien vom Geist der Marx’schen Methodologie leiten ließ, nicht von der der Marxisten. Dussel widmete zehn Jahre seines Lebens, was achtzehn Universitätssemestern entspricht, dem Studium der Marx’schen Werke. Dussel verstand sich jedoch nicht als Marxist, sondern als Anhänger des Marx’schen Denkens. Diese Unterscheidung ist von entscheidender Bedeutung, da der Marxismus des 20. Jahrhunderts zum größten Teil eurozentrisch ist, mit Ausnahme des Marxismus des globalen Südens, wie der schwarze oder lateinamerikanische Marxismus, etwa von José Carlos Mariátegui, Cedric Robinson oder Oliver Cox und anderen.

Die im 20. Jahrhundert vorherrschende Lesart von Marx war die sowjetische und westliche, was zu einem weißen und eurozentrischen Marxismus führte, der viele Probleme reproduzierte. Leider hatten die marxistischen Intellektuellen keinen Zugang zu Marx’ gesamtem Werk. Tatsächlich sind bis zum heutigen Tag viele Bände unveröffentlicht geblieben. Dussel ist daher ein Pionier des „unbekannten Marx“, denn er studierte sowohl veröffentlichte als auch unveröffentlichte Werke in den Archiven von Berlin und Amsterdam, was ihm einen einzigartigen Einblick in das Werk des deutschen Denkers verschaffte. Infolgedessen sehen viele Marxisten des 20. und 21. Jahrhunderts in Dussel die einzige Person, die das Gesamtwerk von Marx gelesen hat, ein enormes Unterfangen, das sich in fünf seinem Werk gewidmeten Bänden niedergeschlagen hat.5 In diesen Bänden leistete Dussel einen wichtigen Beitrag, indem er uns einen Marx vorstellte, der sich in einem ständigen Wandlungsprozess befindet und sich von dem statischen und dogmatischen Marx des Stalinismus unterscheidet. Dussels Marx ist ein Denker, der in den letzten Jahren seines Lebens mehrere äußerst wichtige dekoloniale Wendungen vollzogen hat, die vielen renommierten Marxisten unbekannt waren.

Vor diesem Hintergrund brachte Dussel das Werk von Marx auf den aktuellen Stand. Werke wie Ética de la Liberación en la Edad de la Globalización y de la Exclusión6, die drei Bände Política de la Liberación7 und die fünf Bände über Marx8 spiegeln unter anderen Werken den Geist der Marx’schen Methodologie wider. Dieser Punkt wird oft aus den Augen verloren, da Dussel Marx nicht ständig zitiert, obgleich er dies in seinen Vorlesungen, Kursen und Seminaren tat. Es ist indes wichtig zu verstehen, dass sein Ansatz nicht dogmatisch an der Methodologie von Marx festhält, sondern vielmehr einen Einblick in die Arbeitsweise von Marx gibt, die sich von der besagten Methodologie unterscheidet.

Es ist ferner wichtig, Dussel als führenden Befreiungstheologen anzuerkennen, da die Kritik des Fetischismus eine der Grundlagen dieser Theologie ist. Dussel schaffte es, im Bereich der Philosophie und der Theologie zu arbeiten, wobei er die Verflechtung beider Epistemen aufrechterhielt, aber immer eine gewisse Autonomie bewahrte. Das bedeutet, dass Dussel, wenn er über Befreiungstheologie schrieb, sich trotz seiner Verwurzelung in der prophetischen und messianischen Weltsicht nicht auf die Theologie beschränkte, sondern offen war für vielfältige und heterogene Wissensbereiche.

Die prophetische Tradition der Kritik an Pharaonen, Herrschern und Königen war für Dussel von grundlegender Bedeutung. In Anlehnung an Marx vertrat er stets die Auffassung, dass politische Kritik voraussetzt, Atheist der irdischen Götter zu sein. Für ihn verhindert die Sakralisierung und Fetischisierung dieser falschen Götter die Heranbildung eines kritischen Denkens. Radikale Kritik ergibt sich daher aus der Übernahme einer atheistischen Haltung gegenüber den irdischen Mächten: dem Kapital.

Eine weitere zentrale Kategorie in Dussels Werk, die an das Denken von Marx anknüpft, ist die der „Exteriorität“. Im Gegensatz zur marxistischen Tradition des 20. Jahrhunderts, die die Kategorie der „Totalität“ als zentral für Marx’ Denken ansah, vertrat Dussel die Auffassung, dass die Kategorie der „Exteriorität“ die wichtigste sei.

Das bedeutet, dass Dussel sich nicht nur mit der Lektüre von Marx’ unveröffentlichtem Material beschäftigte, sondern dass sein Hintergrund Theologie, politische Ökonomie, Weltgeschichte, Weltphilosophie – europäische, chinesische, lateinamerikanische, indigene, afrikanische, indische und viele weitere – umfasste, was es ihm ermöglichte, in einem Marx’schen Satz Aspekte wahrzunehmen, die sich der allgemeinen Wahrnehmung entzogen. Während einige von uns zwei Themen in einem Satz ausmachen, konnte er sieben erkennen, was ihn in die Lage versetzte, eine höchst originelle Interpretation von Marx vorzunehmen, die im Einklang mit dem Geist von Marx selbst stand.

In der eurozentrischen marxistischen Tradition werden die theologischen Aspekte der Marx’schen Werke oft unterschlagen, da diese moderne Tradition zwischen dem Säkularen und dem Religiösen hin- und hergerissen ist. Auch die weltgeschichtlichen Elemente werden vernachlässigt. Dussel verortet Marx jedoch in der semitischen Tradition9 und stellt damit die vom eurozentrischen Marxismus des 20. Jahrhunderts propagierte Darstellung des kartesischen Marx in Frage, die Marx als einen Autor begreift, der nicht nur von einem „Nicht-Ort“ aus denkt, sondern auch mechanistisch und szientistisch ist. Dussel zufolge ist Marx hingegen in Zeit und Raum verortet und geht von einer bestimmten Weltsicht aus. In diesem Sinne lieferte Marx’ semitische Sichtweise, so Dussel, ihm Kategorien, einige davon theologischen Ursprungs, die ihm eine radikale Kritik an der Welt seiner Zeit ermöglichten.

9.2 Sein Verhältnis zur Akademie, kritisches Denken und politisches Engagement

Wir hatten die Gelegenheit, Dussel in Aktion zu erleben. Die Tatsache, dass die meisten Veranstaltungen des „Netzwerks“ Modernität/Kolonialität von uns organisiert wurden, erlaubt es uns, einige Erfahrungen aus erster Hand zu berichten.10

Dussel war nicht nur ein großer Intellektueller, sondern auch ein Mensch, der sich der Befreiung der Völker zutiefst verpflichtet fühlte. Was er schrieb und ausdrückte, war die Formalisierung seiner konkreten Praxis. Wir reisten gemeinsam in verschiedene Teile der Welt und konnten unsere Erfahrungen sehr eng miteinander teilen. Persönlich waren wir bei der Auswahl der Orte, an die wir ihn einluden, immer sehr vorsichtig, da wir seine Zeit nicht missbrauchen wollten. Wir haben ihn immer dorthin eingeladen, wo seine Teilnahme sinnvoll war und wo er auch durch die antiimperialistische, antikoloniale, antirassistische und antisexistische Erfahrung der politischen und sozialen Bewegungen bereichert werden konnte. Deshalb pflegte er zu sagen: „Wohin immer Ramón mich einlädt, gehe ich hin.“ In diesem Sinne wählten wir Orte von sowohl intellektueller als auch politischer Bedeutung, da es letztere Einladungen waren, die Dussel am meisten interessierten. Wir luden ihn nicht nur ein, um über die Befreiung der Welt nachzudenken, sondern auch politisch in ihre Umgestaltung und Befreiung zu intervenieren.

Wir bereisten gemeinsam viele Länder Lateinamerikas, unter anderem mehrmals Venezuela, sowie mehrere Länder Afrikas, unter anderem Marokko und Südafrika, und mehrere Länder Europas. Wir haben immer mit antiimperialistischen Volksbewegungen zusammengearbeitet, die auf der Straße gegen imperialistische, kolonialistische, rassistische, sexistische und eurozentrische Herrschaft kämpfen, darunter die Bewegung der Indigènes de la République (Indigene/Eingeborene der Republik) in Frankreich. Wir luden Dussel auch ein, an Veranstaltungen und Treffen des „Dekolonialen Europas“ teilzunehmen, zusammen mit muslimischen, karibischen und afrikanischstämmigen Mitstreitern in Europa, in Ländern wie Deutschland, Frankreich, England, Spanien und anderen.

Bei der Organisation vieler Veranstaltungen des Netzwerks Modernität/Kolonialität sind wir Denkern wie Aníbal Quijano begegnet, der eine moderne und eurozentrische Logik in Bezug auf die Debatte zwischen dem Säkularen und dem Religiösen, das heißt zwischen der modernen Wissenschaft und der modernen Religion, reproduzierte, was aus einer dekolonialen Perspektive ein tiefgreifendes Problem darstellt.

Was wir „säkular“ nennen, setzt die theologische Weltsicht des Christentums als Sinnhorizont voraus. Die vorherrschende Theologie des modernen/kolonialen Christentums gibt sich als „säkular“ und wissenschaftlich aus und erzeugt einen höchst problematischen Dualismus zwischen Mensch und Natur, was bedeutet, dass die provinzielle Geschichte des mittelalterlichen europäischen Christentums, in dem die Entfaltung von Wissenschaft aufgrund der Unvereinbarkeit von Spiritualität und Wissenschaft nicht zugelassen war, als universelle Geschichte angenommen wird. Die Dualismen des Christentums verhinderten die Entwicklung der Wissenschaft, da sie als Bedrohung für die Dogmen der Kirche empfunden wurde. Wissenschaftler, die mit den als dämonisch angesehenen Kräften der Natur experimentierten, wurden zum Scheiterhaufen verurteilt. Dieser Dualismus stürzte Europa für viele Jahrhunderte in den Obskurantismus. Im Rest der Welt hingegen waren Wissenschaft und Spiritualität dank einer ganzheitlichen kosmologischen Sicht auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur miteinander vereinbar. Im Gegensatz zum Christentum ermöglichte dies der Wissenschaft, sich in Übereinstimmung mit der Spiritualität zu entwickeln.

In diesem Zusammenhang warf Quijano die Frage auf, warum wir diesen „Pfaffen“ (curita), womit er Dussel meinte, zu diesen Veranstaltungen einladen. Mit anderen Worten, er wollte nicht, dass wir Dussel einladen, weil er angeblich nur ein Theologe sei und nichts zum dekolonialen Denken beizutragen habe. Als wir ihn jedoch fragten, was er von Dussel gelesen hatte, stellte sich heraus, dass er gar nichts gelesen hatte, aus rein eurozentrischen und modernen Vorurteilen heraus. Er hatte in den 1970er Jahren ein oder zwei Texte im Zusammenhang mit der Befreiungstheologie gelesen und damit Dussels Werk als Ganzes abgetan, als sei er eine Person, die keinen Respekt und keine Aufmerksamkeit verdiene.

Als Dussel seine Arbeit vorstellte, diskreditierte Quijano alles, was er sagte. Wir waren immer wieder erstaunt über Dussels Bescheidenheit gegenüber Quijanos arrogantem Tonfall, obwohl sie etwa gleich alt waren und Dussel viel mehr Veröffentlichungen vorzuweisen hatte, vor allem über Marx. Dussel antwortete Quijano stets mit Geduld und Respekt, mit soliden Argumenten und Wertschätzung.

Ein Beispiel dafür ist die Meinungsverschiedenheit in ihren Positionen zur Kategorie der „Totalität“. Für Quijano ist alles Totalität und nichts außerhalb davon, auch wenn er eine Vision der „Totalität mit Heterogenität“ und nicht eine eurozentrische Vision der „Totalität mit Homogenität“ vertrat. Dussel hingegen beanspruchte die Kategorie der „Exteriorität“, insbesondere die Exteriorität der menschlichen Subjektivität, eine Position, die Quijano mit Skepsis betrachtete. Quijano erkannte keine anderen Epistemologien als die europäische an, indem er alles als Teil desselben Systems betrachtete. Er erkannte also weder das Potenzial noch die Möglichkeit eines Denkens, das ausgehend von der relativen Exteriorität der Totalität des Systems hervorgebracht wird.

1998 organisierten wir an der State University of New York in Binghamton eine Konferenz zum Thema „Historical Capitalism, Coloniality of Power, and Transmodernity“ (Historischer Kapitalismus, Kolonialität der Macht und Transmoderne).11 Als Gast war auch Bolívar Echeverría eingeladen. Als Professor am Fachbereich Soziologie und Mitglied des Fernand Braudel Center kam Immanuel Wallerstein, der Direktor des Zentrums, eines Tages auf uns zu und fragte, warum Bolívar sich darüber beschwert habe, dass Dussel eingeladen ist. Er bat uns darum, mit ihm zu sprechen, da Bolívar behauptete, Dussel sei kein seriöser Mensch. Im Gespräch bezeichnete Bolívar Dussel ebenso als „theologischen Pfaffen“ (curita teólogo) mit keinerlei relevanten Beiträgen für Marxisten. Auf die Frage, ob er Dussels Werk über Marx, das 1998 in fünf Bänden erschienen ist, gelesen habe, gestand er ein, dass er dies nicht getan habe; er habe nicht einmal die Philosophie der Befreiung12 von 1977 gelesen. Seine Ablehnung beruhte wieder einmal auf säkularistischen, modernen und eurozentrischen Vorurteilen. Wir wiesen daher darauf hin, dass solche Argumente uns nicht davon überzeugen konnten, Dussel nicht einzuladen, da er in vielen Wissensbereichen von großer Bedeutung ist und eine grundlegende Referenz für den Süd-Süd-Dialog darstellt.

Wir haben diese Erfahrungen noch nie geteilt, um Konflikte zu vermeiden, aber jetzt fühlen wir uns frei, dies zu tun. Es ist an der Zeit, zu sagen, dass Dussel in der akademischen Welt schlecht behandelt, verfolgt und ausgeschlossen wurde, was eine Schande für den globalen Süden darstellt.

Bei einer Gelegenheit begleiteten wir Dussel zu einem Seminar in Guadalajara, das von der Philosophischen Vereinigung Mexikos organisiert wurde. Wir waren sehr erstaunt darüber, dass Dussel beim Betreten der Lobby des Gebäudes, in dem viele der großen mexikanischen Philosophen versammelt waren, von niemandem begrüßt wurde und alle ihm den Rücken zuwandten. Niemand reagierte auf seine Begrüßung, was wir äußerst schockierend fanden. Von dort aus liefen wir mehr als zwanzig Minuten, bis wir in der hintersten Ecke ankamen, wo sich der Kursraum für die Veranstaltung mit Dussel befand. Wir gingen durch viele Gänge mit fast leeren Kursräumen, bis wir Dussels Raum erreichten, der voll war mit Menschen, die sogar auf die Fensterbänke kletterten, um ihm zuzuhören, wie er über die Philosophie der Befreiung sprach.

Etwas Ähnliches geschah 2019, als Dussel an einer Veranstaltung der Universität Saint Denis in Paris teilnahm. Bei dieser Veranstaltung sprach Alain Badiou, der anschließend die Veranstaltung verließ, dann sprach Jacques Rancière und verließ sie ebenfalls, und schließlich tat Étienne Balibar es ihnen gleich. Dussel kam spät an die Reihe, und es waren keine französischen Philosophen mehr anwesend, obwohl er sich intensiv auf die Debatte mit ihnen vorbereitet hatte. Als er sah, dass kein Philosoph geblieben war und es keine Debatte geben würde, brachte er zu Beginn seines Beitrags seine Enttäuschung zum Ausdruck. Er kritisierte die Veranstaltung und die arrogante Haltung der französischen Philosophen.

Sechs Monate später organisierten wir ebenfalls in Paris eine Veranstaltung zur Frage des Dekolonialen am Institut des hautes études de l’Amérique latine (Institut für Höhere Lateinamerikastudien). Dussel war sehr daran interessiert, mit Balibar zu diskutieren. Also luden wir ihn ein. Obwohl er aus Zeitmangel zunächst zögerte, willigte er dennoch ein, Dussels Vortrag zu kommentieren. Bei dieser Gelegenheit hielt Dussel einen Hauptvortrag über die Weltgeschichte der Politik, von Mesopotamien vor 5000 Jahren über China, Indien, Ägypten und so weiter. Die Zuhörerschaft war verblüfft. Als Balibar mit seinem Kommentar an der Reihe war, waren wir verdutzt, denn wir wurden Zeugen der personifizierten eurozentrischen Arroganz und Hybris. Sein Eurozentrismus war so offensichtlich, dass wir uns fragten, ob er sich seiner Grenzen bewusst war. Anstatt aufrichtig über seine Zweifel und Fragen zu sprechen, da er mit der außereuropäischen Philosophie nicht vertraut war, äußerte Balibar als erstes: „Ich bin sehr misstrauisch gegenüber Leuten, die von Eurozentrismus sprechen“, und er fuhr fort, diejenigen, die diesen Begriff verwendeten, ohne Grundlage zu kritisieren. Seine Reaktion ließ uns alle konsterniert zurück, und für uns stellte es einen Wendepunkt dar.13

Dussel bewies während seines gesamten akademischen Lebens eine beeindruckende Geduld und Beharrlichkeit, trotz der Gewalt, die er in diesen Einrichtungen erlebte. Er ließ sich durch diese Situationen nie von seinem Weg abbringen. Er ging mit Enthusiasmus, Disziplin und einer tiefen Liebe zu der Menschheit, den Völkern und der Befreiung voran.

Sein ethisch-politisches Engagement zeigte Dussel auch in den kompliziertesten Momenten in Venezuela14, Kuba und hinsichtlich der vielen anderen unterdrückten und ausgeschlossenen Völker des globalen Südens.

So war die Wirkung der Dekolonialen Schulen in Südafrika enorm und führte zur Bewegung Rhodes Must Fall: Decolonize the University (Rhodes muss gestürzt werden: Dekolonisiert die Universität). Jene Studenten, die an den Kursen teilnahmen, die wir mit Dussel und Nelson Maldonado-Torres unterrichteten, bildeten eine dekoloniale südafrikanische Nationalbewegung, die das Universitätssystem lahmlegte, um es zu dekolonisieren. Obwohl sie stark unterdrückt wurde, hinterließ sie ein wichtiges Erbe, da alle Universitäten in Südafrika nun ernsthaft über die Dekolonisierung der Lehrpläne nachdenken.

9.3 Demut als Bedingung der Möglichkeit des kritischen Denkens

Wir haben oft beobachtet, dass Dussel mit Menschen interagierte, unabhängig von ihrem Titel oder Hintergrund. Wenn sie ihn auf Fehler hinwiesen oder Korrekturen vorschlugen, hörte er zu, machte sich Notizen und überprüfte seinen Standpunkt.

Dussel wachte jeden Morgen mit den Ohren eines Schülers auf. Obwohl er 88 Jahre alt war, dachte er weiter nach, überlegte er und überarbeitete sein Werk. Im Allgemeinen neigen Akademiker mit anerkannten Werken dazu, negativ auf Kritik zu reagieren, aber Dussel überarbeitete und aktualisierte sein Werk unentwegt. Demnächst werden bei AKAL 15 Bände unter dem Titel „Colección Enrique Dussel“ erscheinen, die den „letzten Dussel“ (último Dussel) oder „späten Dussel“ (Dussel tardío) zum Thema haben. In diesen Bänden überarbeitet, aktualisiert und radikalisiert er sogar frühere Themen. So haben wir Dussel für mindestens ein weiteres Jahrzehnt. Außerdem versprechen diese Werke sehr bedeutsam zu werden, und sie werden alle beeindrucken. Die Fähigkeit, sein Werk am Ende seines Lebens immer wieder zu überarbeiten, zu aktualisieren und zu modifizieren, erfordert große Demut und eine starke Verbundenheit mit den Völkern und Menschen. Für Dussel war sein Werk ein Werkzeug für den Kampf um die Befreiung der Völker und Menschen, und er zögerte nicht, alles zu modifizieren, was notwendig war, um dieses Ziel zu erreichen.

 

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1Anm. d. Übers.: Der Anlass dieses am 22. November 2023 veröffentlichten Artikels war das Versterben Dussels am 05. Nov. 2023 im Alter von 88 Jahren.

2„Globaler Süden“ ist eine Kategorie, die sich auf die Unterdrückten innerhalb des modernen/kolonialen Weltsystems bezieht, die geografisch in Ländern im Süden oder Norden des Planeten verortet werden können oder auch gar nicht. Wenn wir den Begriff „globaler Süden“ verwenden, beziehen wir uns auf eine beherrschte Position in den Herrschaftsverhältnissen des imperialistischen Weltsystems.

3Enrique Dussel, Hipótesis para el estudio de Latinoamérica en la historia universal. (investigación del mundo donde se constituyen y evolucionan las weltanschauungen), Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales, Chaco, Resistencia (Arg.), 1966. Enrique Dussel, Política de la Liberación. Historia mundial y crítica, Editorial Trotta, Madrid, 2007.

4Anm. d. Übers.: „Calibane“ bezieht sich auf eine Figur namens Caliban aus Shakespeares Stück Der Sturm. Sie dient oft als Symbol für die kolonialisierte indigene Bevölkerung.

5Wir können uns glücklich schätzen, auf Spanisch lesen zu können, da es nur sehr wenige Übersetzungen in andere Sprachen gegeben hat.

6Enrique Dussel, Ética de la Liberación en la Edad de la Globalización y de la Exclusión, Editorial Trotta, Madrid, 1998. Anm. d. Übers.: Es gibt folgende gekürzte deutsche Übersetzung: Enrique Dussel, Prinzip Befreiung. Kurzer Aufriß einer kritischen und materialen Ethik, Concordia Reihe Monographien, Band 31, Wissenschaftsverlag Mainz, Aachen, 2000.

7Enrique Dussel, Política de la Liberación. Historia mundial y crítica, Editorial Trotta, Madrid, 2007. Enrique Dussel, Política de la Liberación. Le arquitectónica, Editorial Trotta, Madrid, 2009. Enrique Dussel, Política de la Liberación. Crítica creadora, Editorial Trotta, Madrid, 2022.

8Enrique Dussel, La producción teórica de Marx. Un comentario a los Grundrisse, siglo veintiuno editores, Mexiko-Stadt, 1985. Enrique Dussel, Hacia un Marx desconocido. Un comentario de los Manuscritos del 61-63, siglo veintiuno editores, Mexiko-Stadt, 1988. Enrique Dussel, El último Marx (1863-1882) y la liberación latinoamericana. Un comentario a la tercera y cuarta redacción de „El Capital“, siglo veintiuno editores, Mexiko-Stadt, 1990. Enrique Dussel, Las metáforas teológicas de Marx, Editorial Verbo Divino, Estella, 1993. Enrique Dussel, Tesis de Economía Política. Interpretación filosófica, XVIII- 1a ed., Buenos Aires, 2013.

9Anm. d. Übers.: Siehe dazu beispielsweise Enrique Dussel, El humanismo semita: estructuras intencionales radicales del pueblo de Israel y otros semitas, Editorial Universitaria de Buenos Aires, 1969; Enrique Dussel, Ethics of Liberation: In the Age of Globalization and Exclusion, Übers. Eduardo Mendieta et al., Duke University Press, Durham and London, 2013, S. 18-23; spanisches Original: Enrique Dussel, Ética de la liberación en la Edad de la Globalización y la Exclusión, Editorial Trotta, Madrid, 1998.

10Wir gehörten zu den Organisatoren des Netzwerks Modernität/Kolonialität, obwohl wir uns später öffentlich davon distanziert haben.

11Das utopische Projekt von Dussel heißt „Transmoderne“ und ist als Überwindung der modernen Zivilisation des Todes im Hinblick auf die Bejahung des Lebens in all seinen Formen gedacht. Dussel schlägt die Schaffung einer neuen Zivilisation vor, die bisher noch keinen Namen hat, da wir uns im Prozess der „Geburt“ befinden.

12Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Argument, Hamburg, 1989; spanisches Original: Enrique Dussel, Filosofía de Liberación, Edicol, México, 1977.

13Das Einzige, was Balibar übernahm, waren bestimmte Aspekte des analogen Denkens von Dussel, da er sich erst jetzt mit Ideen auseinandersetzte, die Dussel bereits über ein halbes Jahrhundert lang entwickelt und ausgereift hatte. [Anm. d. Übers.: Zum analogen Denken bzw. dem eng damit verbundenen analektischen Denken von Dussel siehe Enrique Dussel, Método para una filosofía de la liberación: Superación analéctica de la dialéctica hegeliana, Ediciones Sígueme, Salamanca, 1974, S. 181-193; Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Übers. Peter Penner, Argument-Verlag, Berlin, 1989, S. 173-175; spanisches Original: Enrique Dussel, Filosofía de la Liberación, Edicol, Mexico, 1977; Enrique Dussel, Ethics of Liberation: In the Age of Globalization and Exclusion, Übers. Eduardo Mendieta et al., Duke University Press, Durham and London, 2013, passim; spanisches Original: Enrique Dussel, Ética de la liberación en la Edad de la Globalización y la Exclusión, Editorial Trotta, Madrid, 1998.]

14Als Teile des Netzwerks Modernität/Kolonialität im Sommer 2017 inmitten der „Guarimbas“ [Anm. d. Übers.: Als „Guarimbas“ werden in Venezuela die Straßenblockaden bezeichnet, die Teil der gegen die Regierung gerichteten außerparlamentarischen Strategien der Oppositionsbewegung sind.] und paramilitärischen Angriffe in Caracas ein ruchloses Dokument verfassten, das die Regierung von Nicolás Maduro wie eine Diktatur diffamierte und imperiale Thesen über Venezuela wiederholte, kontaktierten wir Dussel. Nach der Lektüre der Dokumente schlug er vor, eine sofortige Antwort zu verfassen, um der Position der Pseudo-Dekolonialen zu entgegnen. Da es jedoch zu lange dauern würde, bis sich ein schriftlicher Text verbreitet, schlugen wir ein Video vor, das Dussel am nächsten Tag fertigstellte und das viral ging, nachdem es im Internet verbreitet wurde. Diese Initiative stellte eine starke Unterstützung für die Bolivarische Revolution dar und stand im Gegensatz zu den Positionen der Versöhnung mit dem Imperium, die von vielen Intellektuellen im Internet propagiert werden. Neben anderen Aktionen veröffentlichten wir darüber hinaus ein weiteres Dokument, in dem wir Unterschriften sammelten. Der Mut, die Entschlossenheit und die Kohärenz von Dussel wurden deutlich, als er sein Video präsentierte, in dem er dem Netzwerk entgegnete und klarstellte, dass es falsch lag.

Anhang

Anhang Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf

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Grosfoguel, Ramón, „Die vielen Gesichter der Islamophobie“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 299-342; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „The Multiple Faces of Islamophobia“, in: Islamophobia Studies Journal, 1, 2012, S. 9-33.

Grosfoguel, Ramón, „Epistemischer Rassismus/Sexismus, verwestlichte Universitäten und die vier Genozide/Epistemizide des langen 16. Jahrhunderts“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 69-117; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Epistemic Racism/Sexism, Westernized Universities and the Four Genocides/Epistemicides of the Long Sixteenth Century“, in: Marta Araújo & Silvia Rodríguez Maeso (Hrsg.), Eurocentrism, Racism and Knowledge. Debates on History and Power in Europe and the Americas, Palgrave Macmillan, London, 2015, S. 23-46.

Grosfoguel, Ramón, „Was ist Rassismus? Zone des Seins und Zone des Nicht-Seins in den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 217-239; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „What is racism? Zone of being and zone of non-being in the work of Frantz Fanon and Boaventura de Sousa Santos“, in: Julie Cupples & Ramón Grosfoguel (Hrsg.), Unsettling Eurocentrism in the Westernized University, Routledge, New York, 2019, S. 264-273.

Grosfoguel, Ramón, „Epistemischer Extraktivismus. Ein Dialog mit Alberto Acosta, Leanne Betasamosake Simpson und Silvia Rivera Cusicanqui“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 241-272; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Epistemic extractivism. A Dialogue with Alberto Acosta, Leanne Betasamosake Simpson, and Silvia Rivera Cusicanqui“, in: Boaventura de Sousa Santos & Maria Paula Meneses (Hrsg.), Knowledges Born in the Struggle. Constructing the Epistemologies of the Global South, Routledge, New York, 2020, S. 203-218.

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Grosfoguel, Ramón, „Schwarzer dekolonialer Marxismus“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 273-297; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „The global contributions of Black decolonial Marxism—a foreword“, in: Sabelo J. Ndlovu-Gatsheni & Morgan Ndlovu (Hrsg.), Marxism and Decolonization in the 21st Century, Routledge, New York, 2022, S. xiv-xxiii. Veröffentlicht auch unter dem Titel: „Black Marxists or Black Marxisms? A Decolonial Gaze“, in: Bernd Reiter & John Antón Sánchez (Hrsg.), Routledge handbook of Afro-Latin American studies, Routledge, New York, 2023, S. 322-328.

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Textnachweise

Textnachweise Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
  1. „Diálogos tras tres décadas de descolonización epistémica: memorias y horizontes del pensamiento decolonial. Entrevista biográfica a Ramón Grosfoguel“ in: Ramón Grosfoguel, De la sociología de la descolonización al nuevo antiimperialismo decolonial. Selección de textos, prólogo y entrevista introductoria a cargo de Javier García Fernández, Ediciones Akal, México, 2022. S. 21-46.

  2. „Epistemic Racism/Sexism, Westernized Universities and the Four Genocides/Epistemicides of the Long Sixteenth Century“, in: Marta Araújo & Silvia Rodríguez Maeso (Hrsg.), Eurocentrism, Racism and Knowledge. Debates on History and Power in Europe and the Americas, Palgrave Macmillan, London, 2015, S. 23-46.

  3. „Decolonizing Western Uni-versalisms: Decolonial Pluri-versalism from Aimé Césaire to the Zapatistas“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2012, http://dx.doi.org/10.5070/T413012884, abgerufen von: https://escholarship.org/uc/item/01w7163v.

  4. „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011, http://dx.doi.org/​10.5070/T411000004, abgerufen von: https://escholarship.org/uc/​item/21k6t3fq.

  5. „What is racism? Zone of being and zone of non-being in the work of Frantz Fanon and Boaventura de Sousa Santos“, in: Julie Cupples & Ramón Grosfoguel (Hrsg.), Unsettling Eurocentrism in the Westernized University, Routledge, New York, 2019, S. 264-273.

  6. „Epistemic extractivism. A Dialogue with Alberto Acosta, Leanne Betasamosake Simpson, and Silvia Rivera Cusicanqui“, in: Boaventura de Sousa Santos & Maria Paula Meneses (Hrsg.), Knowledges Born in the Struggle. Constructing the Epistemologies of the Global South, Routledge, New York, 2020, S. 203-218.

  7. „The global contributions of Black decolonial Marxism—a foreword“, in: Sabelo J. Ndlovu-Gatsheni & Morgan Ndlovu (Hrsg.), Marxism and Decolonization in the 21st Century, Routledge, New York, 2022, S. xiv-xxiii. Veröffentlicht auch unter dem Titel: „Black Marxists or Black Marxisms? A Decolonial Gaze“, in: Bernd Reiter & John Antón Sánchez (Hrsg.), Routledge handbook of Afro-Latin American studies, Routledge, New York, 2023, S. 322-328.

  8. „The Multiple Faces of Islamophobia“, in: Islamophobia Studies Journal, 1, 2012, S. 9-33, https://www.scienceopen.com/hosted-document?doi=10.13169/islastudj.1.1.0009 (leicht gekürzte Fassung).

  9. „Human Rights and Anti-Semitism after GAZA“, in: Historicizing Anti-Semitism, Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge, Okcir Press, Belmont, MA, 7, 2009, S. 89-102.

  10. „Enrique Dussel: Un pensador de la liberación“, in: Pensar Jondo, 22. November 2023, https://www.elsaltodiario.com/pensar-jondo-descolonizando-andalucia/enr….

Über den Autor

Über den Autor Yusuf Kuhn
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf

Ramón Grosfoguel ist einer der bedeutendsten Vertreter des dekolonialen Denkens der Gegenwart. Aus dem karibischen Puerto Rico stammend, das mit seinem historischen Hintergrund von Kolonisation und Versklavung weiterhin unter US-amerikanischem Verwaltungskolonialismus steht, wurde sein Bewusstsein für die anhaltenden Formen der kolonialen Machthierarchien und den dagegen gerichteten Kampf schon früh geschärft. Mit dazu beigetragen haben mag auch sein familiärer Hintergrund – sein Vater ein Argentinier jüdischer Herkunft, seine Mutter eine Puertoricanerin afrikanischer Abstammung -, der nicht nur weitreichende historische, geographische und kulturelle Horizonte eröffnet, sondern auch einen Lebensweg außergewöhnlicher Bandbreite ebnete: von militantem Befreiungskampf über politischen Aktivismus bis hin zu akademischer Forschung und Lehre.

Ramón Grosfoguel ist Professor für ethnische Studien (Chicano/Latino Studies) an der University of California in Berkeley. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen über die politische Ökonomie des Weltsystems, internationale Migration und die Dekolonisierung von Macht, Wissen und Sein. Ein besonderer Schwerpunkt seines Schaffens liegt auf der Betonung kolonialer Kontinuitäten in miteinander verflochtenen politisch-rechtlichen, ökonomischen, kulturellen und epistemischen Hierarchien und der darin gründenden Notwendigkeit der globalen Dekolonisierung.