6.2.3 III. Unberechtigte Kommentare

Autor: Yusuf Kuhn - Fr., 13.11.2020 - 13:28

Es ist gewiss, dass der Kommentar (tafsīr), den [diese Philosophierenden] von den Worten Gottes, des Erhabenen, und Seines Gesandten, möge Gott ihn segnen und ihm Frieden gewähren, – und sogar von den Worten anderer – geben, nicht zu dem passt, was mit ihnen gemeint ist – nicht zu reden davon, dass sie das sind, was mit ihnen gemeint ist. Vielmehr stehen die meisten ihrer Kommentare in Widerspruch zu dem, was Gott, der Erhabene, gemeint hat, entweder durch diesen Wortlaut oder durch einen anderen. Und wenn einige (ṭawāʾif) der Leute, die für Rechtsgelehrsamkeit und Sufismus berühmt sind, diese islamischen Ausdrücke mit [solchen] philosophischen qarmaṭischen Kommentaren äußern, erklären sie, dass sie von jenen [Philosophierenden] genommen sind, wie Abū Ḥāmid [al-Ghazālī] es in seinem Buch Miʿyār al-ʿilm (Standard des Wissens) erwähnt, wenn er über die Definitionen spricht und sagt: [185]

Aber wir haben detaillierte Definitionen geliefert1

Die Seele des Ganzen ist ein Prinzip, das den natürlichen Körpern nahe ist. – Ich sage: Was [al-Ghazālī] hier für die [Philosophierenden] sagt, ist ein Thema, das unter ihnen diskutiert wird, wobei die meisten von ihnen sagen, dass der Intellekt selbst das Prinzip für die Körper ist.

Die aktiven Intellekte. – Desgleichen gilt für diese Aussage. Sie ist auch ein diskutiertes Thema, wobei das, was unter ihnen »aktiver Intellekt« genannt wird, der letzte, zehnte Intellekt ist. So hat [al-Ghazālī] klargemacht, dass er derjenige [ist], der die Seelen der adamischen Wesen von der Potentialität zur Aktualität herauskommen lässt. [192]

Was er für sie erwähnt hat von dem Unterschied zwischen den Intellekten und den Seelen und [andererseits] den Körpern, [d.h.] dass jene von der Materie abgetrennt sind, wohingegen die Körper in der Materie sind, gründet auf [der Idee], dass der Körper eine Materie hat, die eine durch sich selbst subsistierende Substanz ist, was zu den schlimmsten nichtigen [Meinungen] gehört.

Nicht durch eine Abstraktion [die] durch etwas anderes [gemacht ist]. Was [al-Ghazālī] zur Sprache gebracht hat2, indem er dies sagte, hinsichtlich der Abstraktion und ihrer Exklusion (iḥtirāz) der intelligierten [Begriffe], impliziert eine Homonymie über das, was »der Intellekt« genannt wird. Dieser Intellekt ist in der Tat eine der Akzidenzien, wohingegen jener eine durch sich selbst subsistierende Substanz ist. Es gibt keinen Zweifel, dass das, was sie sagen, um [die Existenz von] dem [Intellekt] nachzuweisen, auch wenn es für Leute, die es nicht genau untersucht haben, eindrucksvoll ist, bei gründlicher Untersuchung [sich erweist als] von der höchsten Verderbtheit, Widersprüchlichkeit und Verwirrtheit, wie wir andernorts dargelegt haben.

Was Raum einnimmt (al-mutaḥayyiz). Desgleichen für das, was [al-Ghazālī] von den kalām-Theologen darüber erwähnt. Sie haben in der Tat Kontroversen darüber, und es würde eine detaillierte Studie verdienen, für die hier nicht der Ort ist. [193]

Das Ziel unseres Interesses (al-maqṣūd) hier ist allerdings nichts anderes, als dass Abū Ḥāmid und seinesgleichen bekennen, dass diese philosophischen Bedeutungen zu den Dingen, die von diesen prophetischen Ausdrücken benannt werden, zu machen, zu dem gehört, was diese Philosophierenden sagen. Wenn mithin etwas diesem Ähnliches in den Worten von einem von diesen gefunden wird, so ist erkannt, dass er ihrem Beispiel gefolgt ist. [Ich sage dies] damit nicht jemand, der dies3 bestreiten mag oder darüber in Zweifel ist, von solchen [Worten] getäuscht wird, oder [so dass] die Idee nicht sein Herz durchfährt – wegen seiner guten Meinung von jedem, der mit islamischen, prophetischen Ausdrücken spricht -, dass [jener Sprecher] nicht mit ihnen intendiert, was diese Philosophierenden meinen!4 Wie hervorragend ist doch, was der Schaykh al-Islām al-Harawī5 über manche der kalām-Theologen gesagt hat, [obgleich] sie in einer besseren Lage waren als diese! Er sagte: »Sie nahmen das Mark der Philosophie und kleideten es in den Bast der Sunna.«6

Bezüglich der verschiedenen Punkte von al-Ghazālīs Text, die Ibn Taymiyya hervorhebt, bereitet es ihm offensichtlich Vergnügen, in technische Einzelheiten von falsafa und kalām einzudringen und die Unzulänglichkeiten oder Widersprüche von al-Ghazālī herauszustreichen. Seine Bemerkungen sollten die Leser jedoch nicht vom Hauptargument ablenken, das er im ersten und letzten Paragraph vorbringt. Für Ibn Taymiyya gibt es eine Lücke, eine Diskontinuität, einen Widerspruch sogar zwischen der wahren Bedeutung des skripturalen oder anderen islamischen Vokabulars und den philosophischen Bedeutungen, die Philosophierende ihnen verleihen, wenn sie sie interpretieren. Diese philosophischen Interpretationen von islamischen Ausdrücken werden manchmal Religionsgelehrten entliehen – das heißt Rechtsgelehrten oder Sufis. Eine gute Veranschaulichung dieser Lage bieten die Definitionen im Miʿyār, in denen al-Ghazālī den philosophischen Ursprung der Interpretationen, die er einer Reihe von »islamischen, prophetischen Ausdrücken« gibt, ausdrücklich anerkennt.7 Man sollte daher immer Vorsicht walten lassen gegenüber Texten, die man liest, auch wenn sie von bedeutenden religiösen Autoritäten verfasst sind: Wenn immer ihre Interpretationen der islamischen Terminologie »etwas diesem Ähnliches« enthalten, das heißt von der Art der ghazālischen Interpretationen der Definitionen in Miʿyār, dann sind diese verehrten Gelehrten, trotz ihres Ruhmes und ihres Erscheinens, de facto Anhänger der Philosophen und sind Philosophierende. Getreu einem hanbalitischen spirituellen Meister, ʿAbd Allāh al-Anṣārī von Herat, dem er bekanntlich Hochachtung entgegenbrachte, ist es dem Damaszener Theologen gewissermaßen an einer Art von ideologischer ḥisba gelegen: d.h. an der Verhinderung der Fälschung des semantischen Wertes der islamischen Terminologie. Wie er an weiteren Stellen des Bughya näherhin darlegt, scheint ihm diese Aufgabe umso dringlicher zu sein, als al-Ghazālī selbst einer dieser Fälscher ist.


1Die kurzen Passagen in Kursivschrift, die mit einem Stern (✵) beginnen, sind allesamt Zitate von al-Ghazālī. Das Zeichen ⁂ zeigt an, dass Ibn Taymiyya fortfährt, einen Auszug aus einem Text von al-Ghazālī wörtlich zu zitieren, der zu lange wäre, um ihn hier zu übersetzen, oder für den es bereits eine englische Übersetzung gibt. Die genauen Verweise von allen diesen Zitaten, mit jenen einer eventuellen Übersetzung, werden unten in der Konkordanz angegeben. Das Zeichen ⁎ erscheint in der Konkordanz wieder nach dem Verweis, der für das Ende des langen Auszugs gegeben wird, der hier mit markiert ist.

2dhakara: dhakarū B

3Das heißt, dass jemand, der eine derartige Terminologie verwendet, tatsächlich diesen Philosophen folgt.

4yaʿnīhi: baʿnīhi B

5Abū Ismāʿīl ʿAbd Allāh ibn Muḥammad al-Anṣārī al-Harawī (Herat, 396/1006–481/1089), hanbalitischer Sufi; siehe S. De Beaurecueil, EI2, Art. »al-Anṣārī«.

6Ibn Taymiyya, Bughya, S. 184–193.

7Zitate, die in meinen Kommentaren (wie hier) ohne Quellenangaben angeführt werden, stammen aus Texten, die vorstehend (oder mitunter in der Folge) kommentiert und übersetzt werden, wo sie leicht aufgefunden und nachverfolgt werden können.