2.1.1 Vorbemerkung von Hasan Azad zu Teil 1 des Interviews mit Wael Hallaq in Jadaliyya
Im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte ist Wael Hallaq zu einem der führenden Gelehrten des islamischen Rechts in der westlichen akademischen Welt aufgestiegen. Er hat maßgebliche Beiträge nicht nur zur Erforschung der Theorie und Praxis des islamischen Rechts geliefert, sondern auch zur Entwicklung einer Methodologie, mittels derer islamische Gelehrte befähigt wurden, den Herausforderungen, mit denen die islamische Rechtstradition konfrontiert war, zu begegnen. Hallaq ist daher in einzigartiger Weise positioniert, um umfassendere Fragen hinsichtlich der moralischen und geistigen Grundlagen konkurrierender moderner Projekte zu behandeln. Mit seinem letzten Buch The Impossible State
2.1.2 Interview mit Wael Hallaq - Teil 1
Hasan Azad: Eine der Debatten, die heutzutage grassieren, drehte sich um das Desinteresse, das muslimischen Intellektuellen im Westen zuteil wird. Es lässt sich sagen, dass, mit ziemlich unbedeutenden Ausnahmen, die moderne muslimische Präsenz in – oder der Beitrag zu – der intellektuellen Welt des Westens nahezu null ist. Auf den letzten Seiten deines Buches Impossible State hast du darauf aufmerksam gemacht, dass ein robustes intellektuelles Engagement zwischen muslimischen Denkern und ihren westlichen Pendants wesentlich ist, nicht nur für ein besseres westliches Verstehen des Islam, sondern auch für eine Erweiterung des Bereichs der intellektuellen Möglichkeiten innerhalb des euro-amerikanischen Denkens. Dein Argument verfolgt, glaube ich, das Ziel, den Gedanken zu vermitteln, dass die islamische Weltsicht und das islamische Erbe einen großen Beitrag zur Bereicherung unserer Reflexionen über das Projekt der Moderne zu leisten haben, im Westen nicht weniger als im Osten. Worin besteht dieser Beitrag? Und warum geschieht er nicht? Was sind die Hindernisse, die dem im Wege stehen?
Wael Hallaq: Von den möglichen Beiträgen des Islam zu einer Kritik und Restrukturierung des Projekts der Moderne zu sprechen, ist eine ziemliche große Herausforderung, die erst nach einer Diagnose der gegenwärtigen modernen Verfassung und ihrer Ursachen kommen sollte. Die Hindernisse, die du angesprochen hast, sind zahlreich und vielschichtig, und sie entspringen auf beiden Seiten der Scheidelinie. Wenn es Versagen gibt – und es gibt in der Tat eine Menge -, dann kann es nicht auf einer Seite allein verortet werden. Das erste und offensichtlichste ist natürlich das Hindernis der Sprache, das einzige Mittel, um Gedanken zu kommunizieren. Der Westen – damit meine ich hier Europa, seine Aufklärung, seine spezifisch modernen Institutionen und Kultur sowie die Ausbreitung von alledem hauptsächlich nach Nordamerika – hat es für ausreichend gehalten, seine zwei oder drei großen Sprachen als so universal zu erachten, um sich nicht darum bemühen zu müssen, andere Sprachen gut zu lernen, wenn überhaupt. Sogar der Orientalismus als akademische Disziplin war darin nicht erfolgreich, eine anhaltende Beherrschung islamischer Sprachen
Aber dem Orientalismus ist hier eine weitere Bedeutung zu geben. Das Feld des Orientalismus ist auf vielerlei Weisen von einer äußeren, ungeheuer ausgedehnten Schicht umgeben, nämlich von unzähligen einflussreichen Stimmen, die sich nie darum geschert haben, in irgendeiner Weise die harte geistige und philologische Arbeit über den Islam zu verrichten. Doch sie fühlen sich gleichwohl im vollen Besitz der Berechtigung und selbstsicheren Befähigung, sich über den »Orient« auszulassen, sowohl in den Klassenzimmern der akademischen Welt wie auch als sogenannte »Experten« in den Massenmedien. Dieser »periphere« Orientalismus entgeht meist unseren gebräuchlichen Definitionen dieser Disziplin, auch wenn er den Großteil des verbreiteten und populären westlichen Wissens über den Rest der Welt, insbesondere den Islam, bildet. Dies ist jedenfalls grob angedeutet das sprachliche Hindernis.
Hasan Azad: Würdest du sagen, dass dies ein technisches Hindernis ist, eines der Logistik und der Überwindung von sprachlich-pädagogischen Problemen bei der Übermittlung von Gedanken?
Wael Hallaq: Es kann freilich als ein technisches Problem beginnen, aber in Wirklichkeit ist es viel mehr als das. Den Zugang zu einer anderen Kultur durch die Sprache zu suchen, ist eine Wahl, welche die westlichen Mächte und ihre intellektuellen Eliten zu einem bestimmten Zeitpunkt im Dienst ihrer kolonialen Vorhaben wirkungsvoll ausgeführt haben. Hier bildete der Zugang zu den islamischen Sprachen keine große Schwierigkeit, noch viel weniger eine technische. Der Kolonialismus erforderte die Erzeugung des klassischen Orientalismus, denn ohne den ersteren wäre der letztere nicht in der Weise und Gestalt entstanden, die er schließlich angenommen hat und in der er sich weiterhin entwickelt. Desgleichen ist das Versagen, den Zugang zu einer Sprache zu finden, im Grunde eine substanzielle Angelegenheit, nicht bloß eine technische im engeren Sinne. Meine Entscheidung beispielsweise, auf Englisch und nicht Indisch oder Chinesisch zu schreiben, - wenn dies überhaupt meine Entscheidung ist – ist eine komplexe substanzielle Angelegenheit, die unmittelbar mit dem Verhältnis zwischen Macht und Wissen, zwischen meinem Hintergrund als einem kolonisierten Subjekt und den Machern dieser kolonialen Geschichte verknüpft ist. Und es gibt nichts Aufschlussreicheres über die substanzielle Komplexität dieser Frage der Sprache als den westlichen Universitätsprofessor, der den »Islam« reproduziert, ohne das Bedürfnis und Erfordernis zu empfinden, »ihn« durch eine eingehende textuelle, soziologische oder – unter anderem – anthropologische Untersuchung dieses Phänomens zu verstehen. Und alle diese akademischen Unterfangen bedürfen, um wirklich engagiert zu sein, einer ordentlichen Beherrschung der einen oder anderen islamischen Sprache, ja sie verlangen sogar, sie zu sprechen und zu leben. Die Wahl dieses Professors, sich um keines dieser Erfordernisse zu scheren – die in nahezu jedem anderen Kontext als selbstverständlich vorausgesetzt zu werden scheinen -, ist eine Sache, die mit der Konstitution und Struktur der Macht zu tun hat, nicht mit bloßer persönlicher Inkompetenz, eine Sprache zu beherrschen.
Hasan Azad: Was wäre ein anderes zentrales Hindernis?
Wael Hallaq: Ein weiteres sehr wichtiges Hindernis besteht darin, dass, abgesehen von seltenen Ausnahmen, muslimische Denker mit Prämissen beginnen, die sich grundsätzlich von denjenigen unterscheiden, von denen westliche Autoren ausgehen, wie sehr sie auch immer bewusst oder unbewusst westliches Denken und philosophisches Schreiben nachahmen. Sogar die »Utilitaristen« oder »Quasi-Utilitaristen« des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts – wie etwa Muhammad Abduh und insbesondere Raschid Rida – dachten in einem Bezugsrahmen, der zwei Dinge zum Ausgangspunkt hatte: (a) einen religiösen Kontext, von dem aus sie sprechen können und der die Grenzen, wenn nicht gar Konturen ihrer Narrative definiert; und (b) einen historischen Kontext oder, genauer gesagt, einen substanziellen Rahmen der Geschichte, der weiterhin eine Quelle der Autorität zur Legitimation von modernen Lebensformen ist. Und wenn ich hier sage »Geschichte« oder »historisch«, meine ich ein ziemlich ausgeprägtes historisches Engagement, das sich auf viele vergangene Jahrhunderte als Quelle von Wissen und Leitung bezieht, indem es danach trachtet, aus dieser Geschichte oder durch sie eine Interpretation wiederzugewinnen, die dem Leben in der modernen Welt entspricht (dies zog freilich beträchtliche Probleme nach sich, auf die ich hoffentlich später eingehen kann). Oder man könnte es auch anders darstellen und sagen, dass wenig auf dem Weg des Engagements mit dem Modernen erreicht werden konnte, ohne diese Geschichte und jene religiösen Texte eine Wirkung auf eine besondere – sehr besondere – Interpretation entfalten zu lassen, nämlich diejenige, die spezifisch modern ist. Und diese zwei miteinander verbundenen Verpflichtungen – die religiöse im besonderen – standen und stehen weiterhin in Konflikt mit einem heiligen Prinzip des modernen westlichen intellektuellen Milieus – und ich gebrauche »heilig« mit Bedacht. Um in diesem intellektuellen Milieu, das heutzutage das unsrige ist, ernst genommen zu werden, kannst du eine traditionelle Metaphysik nicht als grundlegende Prämisse annehmen, wie intellektuell raffiniert sie auch immer sein mag und unangesehen des Ausmaßes, in dem sie liberale Doktrinen und Praktiken aufnimmt (widrigenfalls wirst du dich nur in noch größere Probleme verstricken). Und selbst wenn du all dies versuchst, was manche sicherlich getan haben, wird dein Argument kein Gehör finden, außer es wird mit aller Deutlichkeit den diskursiven Bedingungen eines »säkular-rationalistischen« Narratives unterworfen. Die Verteidiger des Naturrechts im heutigen Westen sind ein ausgezeichnetes Beispiel, aber diese besondere Gruppe ist mit relativ weniger und minder substanziellen Hindernissen konfrontiert als ihre muslimischen Pendants.
Zweitens, der Geschichtsbegriff der Aufklärung – mit dem wir auch heute noch leben – verleugnet, obgleich er selbst noch zutiefst historisch ist, paradoxerweise gewisse Aspekte der Geschichte. Es gibt beispielsweise einen Widerspruch innerhalb der westlichen Theorie des Fortschritts selbst – nämlich eine bestimmte Art der Geschichte in Anspruch zu nehmen, während sie sich selbst zugleich gegen das, was wir heute traditionelle Geschichte nennen – die von der Aufklärung und ihrer Theorie des Fortschritts allererst hervorgebracht wurde -, in Stellung bringt, wenn sie diese nicht sogar unterminiert. Geschichte war also immer eine problematische Angelegenheit in einer Modernität, die auf die paradigmatische Übernahme einer Theorie des Fortschritts dringt. Die muslimische intellektuelle Elite andererseits hat erst in jüngerer Zeit begonnen, sich mit den tieferen Bedeutungen dieser Weltsicht auseinanderzusetzen, was – in der besonderen Weise, in der dies getan wurde – meines Erachtens kein begrüßenswerter Schritt ist. Das Konzept des Fortschritts selbst ist zutiefst problematisch, und muslimische Intellektuelle und Historiker gleichermaßen sind bislang nicht dazu in der Lage gewesen, seine inneren ideologischen Strukturen zu analysieren. Und wir sehen die Auswirkungen dieses Versagens in mindestens einem wichtigen Bereich. Im Laufe der vergangenen zwei oder drei Jahrzehnte ist in der muslimischen Welt ein neuer Trend entstanden, der dazu neigt, die islamische Geschichte als »dunkel und gewalttätig« zu verurteilen, womit das europäische Narrativ der Verurteilung der Gewalttätigkeiten der katholischen Kirche und des monarchischen Absolutismus nahezu detailgetreu reproduziert wird. Der Trend – um sein eigenes intellektuelles Erbe und Geschichte fast völlig unwissend – begann zwar schon früh im zwanzigsten Jahrhundert schwache Zeichen zu zeigen, aber richtig in Schwung kam er erst mehr als ein halbes Jahrhundert später. Wie mit vielen liberalen Werten und Doktrinen, mit denen die Theorie des Fortschritts eine organische Verbindung bildet, dauerte es einige Zeit, sie in das zu internalisieren, was zu einem »nativen Diskurs« geworden ist. Obwohl die geschichtlichen Welten des mannigfaltigen und vielgestaltigen Islams und Europas nicht hätten unterschiedlicher sein können, beginnt die »islamische Geschichte« allmählich wie das europäische dunkle Mittelalter auszusehen. Als Geschichten der Unterdrückung und von politischer und »rechtlicher« Gewalttätigkeit treten sie wenig überraschend als nahezu identisch in Erscheinung. Vielleicht kann ich später etwas erläutern, wie sich dies mit Blick auf das Thema, das uns hier besonders interessiert, auswirkt.
Nichtsdestotrotz bleibt das Beharren auf historischen und religiösen Narrativen, die eine legitimierte und legitimierende Tradition bilden, das grundlegende Merkmal, das weiterhin die westlich-aufgeklärten Denker von ihren muslimischen Pendants trennt und sie in Gegensatz zu ihnen bringt – ganz zu schweigen von den notorischen epistemischen, politischen und ideologischen Schwierigkeiten, die dieses Merkmal hervorgebracht hat. Die ersteren erklären eine – vermeintlich – abstrakte »Vernunft« zum Werkzeug der menschlichen Leitung schlechthin, während die letzteren, selbst die liberalsten unter ihnen, dieses historisch-religiöse Narrativ bei nahezu jeder Gelegenheit in Anspruch nehmen, selbst wenn sie es verurteilen. Man betrachte nur Figuren wie Muhammad Arkoun, M. Abed al-Jabiri, Ali Harb, Hasan Hanafi, Muhammad Shahrur, selbst den Christen George Tarabishi, und zahlreiche andere aus den iranischen, malaysischen und subkontinental indischen Welten (sie und ihresgleichen, die den Großteil der Kategorie bilden, die ich als muslimische Intellektuelle bezeichne). Schlussendlich sind sie nicht dazu in der Lage, ohne den Koran auszukommen, gelinde gesagt. Und das heißt auch, dass diese Autoren niemals Anklang finden können bei einer säkularen, radikal nicht-skripturalistischen Tradition wie derjenigen des Hauptstroms des aufgeklärt-westlichen Denkens.
Hasan Azad: Es scheint mir, nach einigen deiner Vorträge zu urteilen, dass das, was du über die skripturalen Grundlagen gesagt hast, lediglich die Spitze des Eisbergs ist. Könntest du zu diesem Thema etwas mehr ausführen?
Wael Hallaq: Selbstverständlich. Ich sollte auch anmerken, dass die Art des Diskurses, in dem moderne muslimische Denker sich ausgedrückt haben und weiterhin ausdrücken, wahrscheinlich nicht dazu angetan ist, die Aufmerksamkeit – und somit das Engagement – der westlichen akademischen Welt oder auch des westlichen Denkens im Allgemeinen zu erwecken. Lass mich erklären warum. Grob (sehr grob) gesprochen, gibt es zwei Lager oder Strömungen innerhalb des modernen islamischen und islamistischen Denkens (für meine spezifischen Zwecke hier sind »islamisch« und »islamistisch« voneinander nicht sehr unterscheidbar). Das eine ist eine große Mehrheit, die schon allzu lange ein – sowohl intern wie extern – auf verlorenem Posten stehendes Unterfangen verficht, nämlich das Unterfangen der Rationalisierung des Islams (in nahezu allen seiner Aspekte) in Begriffen der liberalen Philosophie und Kategorien des liberalen Denkens. Ein tiefes Verständnis dieses Projekts würde gewichtige Gründe für sein unausweichliches Scheitern aufzeigen, aber dies ist heute nicht mein Thema. Stattdessen möchte ich herausstellen, dass der Liberalismus als ein System des Denkens und der Praxis von den führenden Intellektuellen der muslimischen Welt noch nicht durchdacht und verarbeitet worden ist – abgesehen von bemerkenswerten, aber seltenen Ausnahmen.
Dieses Scheitern des Verstehens ist in Wirklichkeit ein doppeltes: muslimische Intellektuelle müssen erst noch die scharfe – und zuweilen radikale – Kritik des Liberalismus, die sich innerhalb der euro-amerikanischen Tradition selbst entwickelt hat, - ob liberal oder nicht – verstehen und schätzen lernen. (Und hier wie andernorts schließt »euro-amerikanisch« auch Australien neben anderen Orten mit ein, da diese ebenfalls einige wichtige Beiträge in dieser Hinsicht geleistet haben.)
Die andere Strömung oder das andere Lager im modernen islamischen Denken ist stark beschränkt und bildet sich langsam, aber hoffentlich stetig und sicher heraus. Das ist die islamische kritische Schule, an deren Spitze der marokkanische Sprach-, Logik- und Moralphilosoph Taha Abdurrahman steht, der den Denkweisen der Aufklärung nicht verfallen ist. Sein kritisch-konstruktiver Ansatz signalisiert einen vielversprechenden innovativen Anfang, von dem aus ein neuer Pfad des Denkens und der Re-Artikulation seinen Ausgang nehmen kann.
Nun möchte ich folgenden Punkt herausstreichen: keines der beiden Lager kann wahrscheinlich in kürzerer Zeit die Aufmerksamkeit von westlichen Denkern auf sich ziehen, teilweise weil die »muslimischen Liberalen« (die die überwältigende Mehrheit bilden) von ihren westlichen Pendants als zweitklassige, wenn nicht drittklassige Intellektuelle und als eine Art von Nachahmern erachtet werden. In Denken und Praxis dieser muslimischen Liberalen gibt es nichts, was für die heftige Debatte über den Liberalismus von Wert wäre, die im Westen grassiert (wie auch immer problematisch und selbstzentriert sie sein mag). Wenn überhaupt, so stellt ihre kollektive Position im Endeffekt eine Unterstützung von liberalen Ansprüchen und Werten dar, eine Tatsache, die sich unvermeidlich dahingehend auswirkt, erstens diese Ansprüche zu stärken und sie gegenüber Kritik widerstandsfähig zu machen und zweitens liberale Staaten mit der Rechtfertigung zu versehen, sich an islamischen Ländern weiterhin unerbittlich zu vergehen. Darüber hinaus wird das Schicksal dieser Nachahmer unausweichlich der Verachtung gleichen, mit der die vormodernen muslimischen mudschtahidūn
Und das Schicksal des zweiten Lagers wird nicht besser sein, zumindest auf kurze oder vorhersehbare Frist. Ich setze allerdings stark auf die Anziehungskraft dieses Lagers auf lange Frist, weil ich es als einen Ausdruck, neben anderen, eines vielversprechenden Wandels sehe. Mir scheint der Gegensatz zwischen dem allgemeinen Pfad der westlichen Intelligenzija und solchen Ansätzen wie dem von Abdurrahman allzu groß zu sein (auch wenn man im Falle dieses Philosophen eine gewisse Bedeutung darin erkennen muss, dass er zu seinem Denksystem gelangt ist, nachdem er einen Großteil der europäischen Tradition der Philosophie durchdacht und verarbeitet hatte). Selbst wenn also das dominante westliche Denken den Werken des marokkanischen Philosophen und seinesgleichen Beachtung schenken würde oder für sie empfänglich wäre, bin ich nicht sicher, ob es damit etwas anzufangen wüsste. Sprachbarrieren oder nicht, die Herausforderungen, die dieses Lager stellt, sind auf jeden Fall enorm. Vielleicht werden sie auf das Regal der »orientalischen« Kuriositäten verwiesen, wie es mit so vielen islamischen Phänomenen getan wurde. Abdurrahmans tiefe moralische Herausforderung ist für den gegenwärtigen westlichen Mainstream schlicht unverdaulich.
Hasan Azad: Das klingt wie eine Sackgasse. Wie kommen wir da heraus?
Wael Hallaq: Bislang ist es eine Sackgasse gewesen, aber nur in dem Sinne, dass die beiden Lager sich noch nicht begegnet sind. Das Engagement muss erst noch stattfinden, und dann können wir sehen, ob es auf eine echte Sackgasse hinausläuft. Doch bisher findet nicht einmal ein Beginn eines Austausches statt. Ich sehe nicht einen Michael Sandel, einen Alasdair MacIntyre, einen Charles Taylor oder irgend jemanden ihres Kalibers oder mit ähnlichen Positionen in einem Dialog mit, sagen wir, Taha Abdurrahman oder sonst irgend jemandem auf diesem Gebiet. Höchstwahrscheinlich haben diese Philosophen niemals von ihm gehört. Und offen gesagt, habe ich meine Zweifel daran, dass Leute wie Taylor aus ihren unmittelbaren intellektuellen Welten und Interessen heraustreten, um solch ein Unterfangen voranzubringen. Und wenn solch eine Gruppe von Philosophen sich wohl eher nicht in einem Dialog engagieren wird, dann gibt es kaum Hoffnung, dass sich andere anschließen. In meinem Buch The Impossible State
Aber dies ist an sich sicherlich nicht ausreichend. Wie ich zuvor schon sagte, muss es eine qualitativ verschiedene und kritische Denkmasse geben, die genug Gewicht hinter sich herzieht, damit westliche Intellektuelle allererst Gehör schenken. Die Herausforderung ist riesig. Wir Wissenschaftler und Intellektuellen tun alles, was wir können, um das Bild des Wissens als ein erhabenes Streben zu adeln, doch dies ist einer der größten modernen Mythen in unserem Leben. Ich verstehe und akzeptiere die Wahrheitstreue dieses Bildes in einem Kontext, in dem Wissen für moralische Zwecke und Absichten erstrebt worden ist, das heißt im Rahmen einer praktischen Ethik, in einer Weise, wie beispielsweise ghazalische oder aquinische Ethiken in ihrer jeweils eigenen Umgebung aufgebaut und verfasst worden sind. Doch die Transformationen in der modernen Welt und die beispiellose Komplizenschaft zwischen Wissen und Macht (von der sich letztlich herausstellt, dass sie die Macht des schmittschen Politischen ist) machen daraus den Mythos, den ich sehe. Wenn Politik Krieg mit anderen Mitteln ist – und das ist sie zweifellos -, dann ist Wissen – einschließlich der akademischen Wissenschaft – Politik-cum-Krieg mit anderen Mitteln. Die äußere Erscheinung der Form des Wissens als dem Geschäft von schwachhändigen Professoren und bärtigen bejahrten Gelehrten mit eifrigen Studenten, die auf einer »Suche nach Wissen« sind, sollte diese nüchterne Realität niemals maskieren oder verstellen. Dies ist in der Tat eine der größten modernen Täuschungen. Muslimische Intellektuelle und unzählige viele andere müssen die Macht dieser physisch niederschmetternden Metapher erst einmal erfassen und gedanklich verarbeiten.