Die genannten zwei Alternativen sieht MacIntyre einerseits im rationalen Objektivismus der klassischen Tradition, die auf Aristoteles zurückgeht, und andererseits im irrationalen Subjektivismus des Willens zur Macht, in dem Nietzsche die wahre Grundlage der entlarvten Moral erkennt. Das zentrale neunte Kapitel, in dem MacIntyres negative Kritik den Zenit erreicht, trägt daher die Frage nach der Alternative im Titel: Nietzsche oder Aristoteles?
Es mag erhellend sein, die eingangs bereits angeführte Formulierung von MacIntyres These im Lichte des bislang Dargestellten nochmals zu bedenken:
Ein zentraler Teil meiner These war, daß die moderne moralische Äußerung und Praxis nur als eine Reihe bruchstückhafter Überreste einer älteren Vergangenheit verstanden werden können, und daß die unlösbaren Probleme, die sie den modernen Moraltheoretikern gestellt haben, so lange unlösbar bleiben, bis das richtig erkannt ist. Falls der deontologische Charakter moralischer Urteile der Schatten der Konzeption des göttlichen Rechts ist, das der Metaphysik der Moderne ziemlich fremd ist, und falls ihr teleologischer Charakter in ähnlicher Weise der Schatten der Konzeption der menschlichen Natur und ihrer Handlungen ist, die in der modernen Welt ebensowenig zu Hause ist, sollten wir damit rechnen, daß die Probleme, moralische Urteile zu verstehen und ihnen einen verstandesmäßig faßbaren Status zuzuweisen, sowohl ständig zunehmen als auch philosophischen Lösungen immer unzugänglicher werden. (151)
6.3.10.1 Anthropologischer Blick
Um dieser These weiter nachzuspüren und den Blick zu schärfen, nimmt MacIntyre die Sichtweise des Anthropologen zu Hilfe, die befähigt, Kulturen von außen zu beobachten sowie Überreste und Unverständliches zu identifizieren, die von innen nicht erfasst werden können. Dies führt ihn zum Vergleich der modernen Moral mit den Taburegeln auf Inseln im Pazifik, denen Kapitän Cook auf seiner dritten Reise (1776–79) begegnete.
Das polynesische Wort tabu bezeichnete eine Reihe von Verboten und Regeln, die ursprünglich im Kontext von Hintergrundüberzeugungen verstanden wurden, die ihrerseits jedoch nicht nur aufgegeben, sondern vergessen worden sind. Durch den Verlust ihres ursprünglichen Kontextes erscheinen die Taburegeln als willkürliche Verbote, für die keine Gründe mehr angegeben werden können. Das Wort tabu wird damit zunehmend unverständlich. Dafür spricht jedenfalls auch die Tatsache, dass die Abschaffung dieser Tabus durch König Kamehameha II. im Jahr 1819 ohne soziale Folgen blieb.
MacIntyre schildert, das gleichnishafte Geschehen verallgemeinernd, die Folgen:
In einer solchen Situation fehlt den Regeln der Status, der ihre Autorität sichern kann, und wenn sie nicht schnell einen neuen Status erhalten, werden ihre Auslegung und ihre Rechtfertigung fraglich. Wenn die Mittel einer Kultur nicht ausreichen, die Aufgabe einer Neuauslegung zu lösen, wird die Aufgabe der Rechtfertigung unlösbar. (153)
Daran hätten auch imaginäre analytische Philosophen auf Pazifikinseln nichts ändern können. Denn sie wären bei der Analyse der Bedeutung des Wortes tabu aufgrund des Verlustes des sinnstiftenden Kontextes zu keinen anderen Ergebnissen gekommen als ihre modernen Gegenstücke bei der Analyse der moralischen Ausdrücke der modernen Sprache.
MacIntyre benennt den Grund dafür:
Die Sinnlosigkeit dieser imaginären Debatte ergibt sich aus der gemeinsamen Voraussetzung der streitenden Parteien, nämlich daß das Regelwerk, dessen Status und Rechtfertigung sie untersuchen, einen adäquat abgegrenzten Forschungsgegenstand und das Material für ein autonomes Forschungsgebiet liefert. Wir erkennen von unserem Standpunkt in der wirklichen Welt aus, daß dies nicht der Fall ist, daß das Wesen der Taburegeln ausschließlich als Überrest eines früheren, weiterentwickelten kulturellen Hintergrundes zu verstehen ist. (153)
Die Taburegeln wie auch die Regeln der modernen Moral müssen ohne Bezug auf ihre Geschichte unverständlich bleiben. Die analytischen Moralphilosophen haben dies nicht verstanden, im Gegensatz zu Nietzsche.
Und daher wirft MacIntyre die Frage auf:
Und warum sollten wir uns Nietzsche nicht als den Kamehameha II. der europäischen Tradition vorstellen? Denn es war Nietzsches historische Leistung, besser als jeder andere Philosoph - ganz bestimmt besser als seine Ebenbilder im angelsächsischen Emotivismus und Existentialismus des europäischen Festlands - nicht nur zu verstehen, daß die angebliche Berufung auf Objektivität in Wirklichkeit Ausdruck des subjektiven Willens war, sondern auch das Wesen der Probleme zu verstehen, die daraus für die Moralphilosophie entstanden. (154)
6.3.10.2 Nietzsches Entlarvung der Moral
Nietzsche schießt dabei freilich über das Ziel hinaus, indem er seine Analyse der modernen Moral auf Moral überhaupt ausdehnt. Denn er meint, nicht nur die moderne, sondern jede Moral schlechthin als bloße Maske des Willens zur Macht entlarven zu können. Auf dieser Grundlage stellt sich Nietzsche indes wie kein zweiter dem Problem, das sich aus der Zerstörung der Moral für die Moralphilosophie ergibt, nämlich dem Problem der radikalen Schöpfung einer neuen Moral.
MacIntyre beschreibt Nietzsches Kritik prägnant:
Der grundlegende Aufbau seines Arguments ist folgender: wenn die Moral nur aus Äußerungen des Willens besteht, dann kann meine Moral nur das sein, was mein Wille schafft. Es kann keinen Platz für Fiktionen wie Naturrechte, Nützlichkeit oder das größte Glück für die größte Zahl geben. Ich selbst muß jetzt die »Schöpfung neuer eigener Gütertafeln« vornehmen. (155)
MacIntyre bezieht sich dabei auf einen Aphorismus aus Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft, in dem zunächst die Versuche einer Gründung der Moral auf das Gewissen und auf den kategorischen Imperativ, die Universalisierbarkeit im Stile Kants höhnisch widerlegt werden. Aber nicht nur das Projekt einer rationalen Rechtfertigung der Moral, sondern auch der Glaube, die moderne Moral und ihre Sprache seien in guter Verfassung und tragfähig, erntet mit dem Verweis auf die Entstehung moralischer Urteile aus Eigensinn und Selbstsucht nichts als Spott und Hohn. Über diese radikale Ablehnung einer entlarvten Moral der Vergangenheit kommt Nietzsche sodann zu seinem eigenen Projekt der Neuschöpfung einer überlegenen und ehrlichen Moral, die ihre eigene Herkunft aus dem Willen zur Macht nicht vor sich selbst verbergen muss.
Nietzsche schreibt in Die fröhliche Wissenschaft im Aphorismus Nr. 335:
Beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Werthschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln: — über den »moralischen Werth unserer Handlungen« aber wollen wir nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der Einen über die Andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu Gericht sitzen soll uns wider den Geschmack gehen! Ueberlassen wir diess Geschwätz und diesen üblen Geschmack Denen, welche nicht mehr zu thun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen und welche selber niemals Gegenwart sind, — den Vielen also, den Allermeisten! Wir aber wollen Die werden, die wir sind, — die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!
Friedrich Nietzsche, Morgenröte - Idyllen aus Messina - Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 3, München, 1999, S. 563; Hervorhebungen im Original. MacIntyre zitiert nur den letzten Satz dieser Stelle.
Nietzsche radikalisiert die Vorstellung des autonomen moralischen Subjekts, dessen vernünftige Gestalt er als Täuschung, als Fiktion enthüllt, indem er an die Stelle der Vernunft den Willen zur Selbstermächtigung setzt. Aus diesem heroischen Willensakt geht das wahrhaft autonome Subjekt hervor, das, indem es sich selbst schafft, sich ein neues moralisches Gesetz geben muss.
MacIntyre merkt zu dieser Konzeption einer radikal neuen Moralphilosophie an:
Die Schwierigkeit ist dann, wie auf völlig ursprüngliche Weise eine neue Gütertafel und ein Gesetz geschaffen, erfunden werden soll, eine Schwierigkeit, die sich für jeden einzelnen erhebt. Dieses Problem wäre der Kern einer Moralphilosophie Nietzsches. Denn Nietzsches Größe liegt in seiner rückhaltlos ernsten Beschäftigung mit dem Problem, nicht in seinen leichtfertigen Lösungen, eine Größe, die ihn zu dem Moralphilosophen machen würde, wenn es sich erweist, daß die einzigen Alternativen zu Nietzsches Moralphilosophie die von den Philosophen der Aufklärung und ihren Nachfolgern formulierten sind. (155; Hervorhebungen im Original)
MacIntyre sieht zudem einen weiteren Grund für Nietzsches Größe darin, dass das weberianische Denken, das in der Kultur des bürokratischen Individualismus vorherrschend ist, ebenfalls die zentrale These Nietzsches voraussetzt. Auch daher verdient Nietzsche die Bezeichnung als »der Moralphilosoph der Gegenwart« (155; Hervorhebung im Original).
MacIntyre führt dazu aus:
Nietzsches prophetischer Irrationalismus - Irrationalismus, weil Nietzsches Probleme ungelöst bleiben und seine Lösungen sich der Vernunft widersetzen - bleibt daher den weberianischen, managerhaften Formen unserer Kultur immanent. Wann immer diejenigen, die in die bürokratische Kultur der Zeit verstrickt sind, den Versuch unternehmen, sich gedanklich einen Weg zu den moralischen Fundamenten dessen zu bahnen, was sie sind und was sie tun, werden sie unterdrückte Prämissen Nietzsches entdecken. Und folglich kann man mit gutem Gewissen voraussagen, daß im anscheinend davon völlig unterschiedlichen Kontext der bürokratisch gemanagten modernen Gesellschaften periodisch soziale Bewegungen wiederkehren werden, die gerade von jenem prophetischen Irrationalismus durchdrungen sind, dessen Stammvater das Denken Nietzsches ist. Gerade weil und insofern als der zeitgenössische Marxismus tatsächlich in seinem Wesen weberianisch ist, können wir mit prophetischem Irrationalismus der Linken wie der Rechten rechnen. (155-156)
6.3.10.3 War es richtig, Aristoteles zu verwerfen?
Nietzsches zentrale These erstreckt sich freilich nicht nur auf die moderne Moral, sondern auf jegliche Moral, die schlechthin als Maske des Willens zur Macht entlarvt wird. Dies gilt somit auch für die aristotelische Ethik. Gibt es eine Moralphilosophie, die Nietzsches Kritik widersteht, so ist seine These widerlegt. Und unter der Voraussetzung, dass es keine weitere Alternative gibt, gilt auch die Umkehrung. So kann MacIntyre feststellen:
Aber es ist natürlich nicht [nur]
In der deutschen Ausgabe fehlt »nur«, das hier in eckigen Klammern eingefügt ist. Durch diese Auslassung wird allerdings der Sinn ins Gegenteil verkehrt. Im englischen Original lautet der Satz: »Yet it is not of course just that Nietzsche's moral philosophy is false if Aristode's is true and vice versa.« (After Virtue, S. 117) so, daß Nietzsches Moralphilosophie falsch ist, wenn die von Aristoteles richtig ist und umgekehrt. (159)
Denn die Beziehung der beiden Moralphilosophien beschränkt sich nicht nur auf diesen Gegensatz, sondern »in einem viel stärkeren Sinn«
Da die aristotelische Ethik schon aus dem Weg geräumt war, konnte diese Kritik einen Erfolg gegen die gesamte frühere Ethik verbuchen. Doch war dies lediglich ein Scheinerfolg? Denn obgleich die Kritik an der modernen Moralbegründung berechtigt sein mag, so bleibt doch die Frage, ob auch alle früheren Formen und insbesondere die aristotelische Ethik wirklich widerlegt oder bloß verworfen wurden.
MacIntyre kommt daher zu folgendem Schluss:
Ob die Position Nietzsches zu verteidigen ist, führt also letzten Endes zu der Antwort auf die Frage: war es überhaupt richtig, Aristoteles zu verwerfen? Denn wenn die Position von Aristoteles in der Ethik und der Politik - oder etwas sehr Ähnliches - aufrechterhalten werden könnte, wäre das gesamte Unternehmen Nietzsches sinnlos. Das liegt daran, daß die Stärke der Position Nietzsches von der Richtigkeit einer einzigen zentralen These abhängt: daß alle rationalen Rechtfertigungen der Ethik offenkundig scheitern, und daß deshalb der Glaube an die Dogmen der Ethik als ein Komplex von Rationalisierungen erklärt werden muß, welche die im Grunde nicht-rationalen Phänomene des Willens verbergen. Meine eigene Beweisführung zwingt mich, mit Nietzsche darin übereinzustimmen, daß es den Philosophen der Aufklärung nie gelang, Gründe zu liefern, seine zentrale These anzuzweifeln; seine Epigramme sind noch vernichtender als seine ausführlich vorgetragenen Gedanken. Aber falls mein früheres Argument richtig ist, war dieses Scheitern selbst nichts anderes als eine historische Folge der Zurückweisung der aristotelischen Tradition. Und so wird es tatsächlich zur Schlüsselfrage, ob die Ethik des Aristoteles oder etwas ihr sehr Ähnliches überhaupt verteidigt werden kann. (159-160)
MacIntyre schickt sich daher an, ebendiese Frage nach der Möglichkeit der Verteidigung der aristotelischen Tradition der Moralphilosophie zu beantworten. Er geht dabei davon aus, dass die aristotelische Ethik »philosophisch die stärkste prämoderne Form moralischen Denkens« (160; Hervorhebung im Original) repräsentiert.
Der Aristotelismus hat sich schließlich wie keine andere Lehre in vielen sehr unterschiedlichen Kontexten wie dem griechischen, islamischen, jüdischen und christlichen behauptet und bewährt.
Die Verbindung von philosophischer und historischer Argumentation zeigt damit, daß man entweder den Bestrebungen und dem Zusammenbruch der verschiedenen Versionen des Vorhabens der Aufklärung folgen, bis nur noch Diagnose und Problematik Nietzsches übrigbleiben, oder die Meinung vertreten muß, daß das Aufklärungsvorhaben nicht nur in die Irre ging, sondern überhaupt nicht hätte in Angriff genommen werden sollen. Eine dritte Alternative gibt es nicht, und vor allem jene Denker im Mittelpunkt des gegenwärtigen, konventionellen Lehrplans der Moralphilosophie bieten keine Alternative, Hume, Kant und Mill. (160-161; Hervorhebungen im Original)
Aber, so lässt sich fragen, gibt es wirklich keine dritte Alternative? Ist diese Beschränkung nicht vielmehr einer Verengung des philosophischen wie historischen Blicks MacIntyres geschuldet? MacIntyre selbst wird später zu einer anderen Alternative gelangen, indem er die thomistische Moralphilosophie, die ihrerseits auf dem Aristotelismus aufbaut, als Ausweg vorschlägt. Darin spiegelt sich bereits eine deutliche Erweiterung des Horizonts, obgleich der Thomismus als Verbindung aus Aristotelismus und Christentum als Teil der klassischen Tradition verstanden werden kann.
Jedenfalls bietet MacIntyre hier kein Argument für die Beschränkung auf diese zwei Alternativen. Warum sollte es keine weitere Alternative neben Nietzsche und Aristoteles geben? Im europäischen Denken selbst, das MacIntyre hier freilich einzig in den Blick zu nehmen vermag, oder auch im außereuropäischen Denken? Könnte es keine konfuzianische, buddhistische oder islamische Alternative geben? Gar eine, in deren Licht der vermeintlich alternativlose Gegensatz von Nietzsche und Aristoteles sich ganz anders darstellt und womöglich sogar überwunden werden kann? MacIntyre hat hier zu diesen Fragen nichts zu sagen. Sie müssen also vorerst offen bleiben und verdienen späterhin allerdings eine gründliche Untersuchung.