4.3 Wider die philosophischen Logiker

Autor: Yusuf Kuhn - Fr., 13.11.2020 - 11:54

Ibn Taymiyya hat die Beweise der griechischen und islamischen Philosophen rundweg als zu abstrakt verworfen, da sie – falls überhaupt etwas – die Existenz einer Gottheit beweisen, die nicht mit jenen Merkmalen versehen ist, die einzig Gott eignen sollten.1 Die philosophischen Argumente, so stellt Ibn Taymiyya fest, sind zweifelhaft, da sie nichts anderes beweisen als ein dunkles, allgemeines Ideal von Gott. Obgleich Ibn Taymiyya seine Angriffe gegen die Philosophen als Gruppe richtet, ist es Ibn Sīnā (Avicenna), den er durchweg als den Anführer und Repräsentanten der »abirrenden« falāsifa betrachtet; und es ist dessen Metaphysik, die ihm als das Modell desjenigen philosophischen Systems dient, das es zu kritisieren und niederzureißen gilt.

Aus Ibn Taymiyyas Sicht haben die Beweise für die Existenz Gottes in der avicennischen Tradition2 im besonderen und im philosophischen Genre (falsafa) im allgemeinen ihren Ursprung in der Doktrin der Logik der Philosophen, wobei der Theorie des Wesens (Essenz) hier vorrangige Bedeutung zukommt. Dieser Lehre zufolge besitzt eine Essenz qua Essenz keine notwendige Verbindung zur Existenz, denn Existenz wird der Quiddität lediglich als Zusatz hinzugefügt, ist für sie aber nicht konstitutiv. Demzufolge kann der Essenz Existenz entweder im Geist oder in der Außenwelt zukommen, aber im strikten Sinne als Essenz betrachtet, existiert sie in keinem der beiden Bereiche.3

In entsprechender Weise ist eine Essenz an sich selbst weder universal noch partikular. Und damit sie universal wird, muss Universalität, welche ein Akzidens ist, das nur im Geist existiert, zu ihr hinzugefügt werden, wenn der Geist allererst die Essenz aus extramentalen Partikularien abstrahiert hat.4 Aber solche Abstraktion ist nicht auf die Essenz von Partikularien beschränkt, denn der Geist abstrahiert auch das, was Ibn Sīnā als dasjenige charakterisiert hat, was in der Außenwelt »vielen gemeinsam ist«.5 Demgemäß existiert Universalität, obgleich sie von der Essenz trennbar ist, tatsächlich in der Außenwelt.6

Aus solchen Überlegungen leiteten die philosophischen Logiker drei Arten von Universalien ab: natürliche, logische und mentale. Das natürliche Universale (al-kullī at-tabīʿī) wird definiert als die Quiddität, wie sie an sich selbst ist, d.h., wenn sie weder universal noch partikular, weder existent noch nichtexistent, weder eines noch vieles usw. ist; es ist absolut (mutlaq) und unbedingt durch irgendetwas (lā bi-schart schayʾ). Das logische Universale (al-kullī al-mantiqī) andererseits ist das Akzidens der Universalität qua Universalität; es ist absolut und unverbunden mit irgendetwas (mutlaq bi-schart al-itlāq), und da es ein logisches Konstrukt ist, wird angenommen, dass es nur im Geist existiert. Das mentale Universale (al-kullī al-ʿaqlī) schließlich repräsentiert die Verbindung der Natur an sich und der Universalität an sich im Geist, das heißt Natur von der Universalität bedingt (bi-schart lā schayʾ).7 Nun hat Ibn Sīnā, neben vielen anderen, Gott mit der absoluten Existenz (al-wudschūd al-mutlaq) identifiziert und sich einer Konzeption dieser Existenz verpflichtet, die von einer Verneinung der affirmativen Attribute bedingt ist (bi-schart nafy al-umūr ath-thubūtiyya).

Vor diesem Hintergrund vertrat Ibn Taymiyya die Auffassung, dass Universalien niemals in der extramentalen Welt existieren können, sondern lediglich im Geist.8 In der Außenwelt existieren lediglich individuierte Partikularien, Partikularien, die spezifisch, distinkt und einzig sind.9 Und außenweltliche Individuen sind in der Tat so einzig, so argumentiert Ibn Taymiyya, dass sie die Bildung einer außenweltlichen Universalie, unter die sie subsumiert werden, nicht in Betracht ziehen lassen können. Zwischen diesen Individuen kann es nur einen Aspekt oder Aspekte der Ähnlichkeit geben, aber sie können nicht völlig identisch sein.10

Daraus zieht Ibn Taymiyya den Schluss, dass die Universalität von Genus, Spezies und Differenz nicht die Essenz sein kann, denn das Universale ist nicht mehr als eine gemeinsame, allgemeine Bedeutung, die der Geist sich merkt, um Individuen in der wirklichen, natürlichen Welt zu bezeichnen. Dementsprechend haben alle Universalien, seien sie natürlich, logisch oder mental, lediglich mentale Existenz, genauso wie absolute Existenz, ganz gleich, ob sie durch irgendetwas bedingt oder unbedingt ist.11 Wenn absolute Existenz, wie Ibn Taymiyya feststellt, lediglich ein mentales Konzept ist, dann existiert das Notwendig-Existierende, das die Philosophen bewiesen zu haben behaupten, nicht in der äußeren Wirklichkeit, sondern nur im Geist.12 Daraus ergibt sich, dass das philosophische Argument nicht einen besonderen, einzigen Gott beweist, sondern vielmehr ein kategoriales und universales Attribut (wasf kullī), unter dem mannigfaltige und unbestimmte Entitäten existieren.13

Darüber hinaus hat Ibn Taymiyya den Syllogismus scharf kritisiert, und zwar sowohl als unbestreitbares Instrument des apodiktischen Beweises wie auch mithin als das entscheidende Mittel für den Beweis von der Existenz Gottes. Seine Ablehnung der avicennischen Theorie der Universalien führte ihn dazu, die Nützlichkeit des kategorialen Syllogismus insgesamt zu verwerfen. Da er fest davon überzeugt war, dass es nichts in der Schlussfolgerung gibt, das sich nicht schon in den Prämissen findet, ist der Syllogismus, obschon formal gültig,14 nicht im Geringsten dazu geeignet, zu neuem Wissen der wirklichen Welt zu gelangen.15 Wenn die Existenz Gottes in der Schlussfolgerung enthalten ist, so muss sie auch in den Prämissen zu finden sein, und wenn dem so ist, würde die Existenz Gottes lediglich behauptet, aber nicht bewiesen werden.

Die Auffassung, dass die Schlussfolgerung nichts liefert, was nicht schon in den Prämissen enthalten ist, führt uns zurück zu Ibn Taymiyyas Verwerfung einer realistischen Theorie der Uni­versalien. Indem er eine empiristische Sicht der Erkenntnis einnahm, konnte Ibn Taymiyya die Überzeugung wahren, dass – abgesehen von der Offenbarung – der Prozess des Wissenserwerbs mit der Erfahrung von partikularen Objekten und Ereignissen durch Sinneswahrnehmung einsetzt. Die Bildung von Universalien im Geist beginnt mit der Beobachtung von Partikularien. Und durch das Abziehen einer Eigenschaft oder von Eigenschaften, wie sie in einer Anzahl von beobachteten Partikularien gefunden werden, werden wir dazu befähigt, einen allgemeinen Begriff von solcherart existierenden Partikularien zu bilden.16 Indem wir solche Eigenschaften abziehen, müssen wir uns völlig auf unsere Fähigkeit stützen, eine Analogie zwischen einem partikularen Gegenstand und einem anderen partikularen Gegenstand zu ziehen. Ohne die existierenden Partikularien und das Instrument der Analogie kann es schlichtweg kein Universales geben.17 Nun kann Gott aber einem analogischen Schluss nicht unterworfen werden, da er gewiss jeglichem anderen Wesen ungleich ist. Da Er der Analogie nicht zugänglich ist, kann Er nicht in einer uni­versalen Proposition enthalten sein. Also werden weder Analogie noch Syllogismus hinreichend sein, um Seine Existenz zu beweisen.18 Daraus folgt ganz klar, dass auch die Induktion, das letzte in der allgemein anerkannten Triade von Schlussverfahren,19 für diesen Zweck von keinem Nutzen ist.20


1Tawhīd al-ulūhiyya, S. 49-50; Muwāfaqa, 2: 253-254; Tawhīd ar-rubūbiyya, S. 11. (Für nähere Angaben zur Literatur siehe im Anhang zu diesem Artikel das Verzeichnis der Abkürzungen der Titel von Ibn Taymiyya, S. 312, sowie das Verzeichnis der zitierten Werke und Artikel, S. 314.)

2Für eine ausführliche Analyse von Ibn Sīnās Beweis für die Existenz Gottes siehe Davidson, Proofs for Eternity, Creation and the Existence of God in Medieval Islamic and Jewish Philosophy, Oxford University Press, Oxford, 1987, S. 281-310, insbesondere S. 298-304; sowie den Abschnitt von Michael Marmura über Avicenna in Encyclopaedia Iranica, 3: 76 ff.

3Ibn Sīnā, Schifāʾ: Madkhal, S. 15; Tūsī, Scharh al-ischārāt, 1: 202-203; Marmura, Avicenna’s Chapter on Universals, S. 35, 36; vgl. Rahman, Essence and Existence, S. 3 ff.

4Ibn Sīnā, Schifāʾ: Madkhal, S. 65: Lawkarī, Bayān al-haqq, S. 181, 183; Marmura, Avicenna‛s Chapter on Universals, S. 34-35, 53 (Fn. 5).

5Ibn Sīnā. Schifāʾ: Madkhal, S. 66; Lawkarī, Bayān al-haqq, S. 181.

6Für eine detaillierte Analyse siehe Marmura, Avicenna‛s Chapter on Uni­versals, S. 35 ff.; sowie Kapitel I, Abschnitt 2 und 3 meiner Einleitung in: Wael B. Hallaq, Ibn Taymiyya against the Greek Logicians, Oxford, 1993, S. xiv ff.

7Ibn Sīnā, Schifāʾ: Madkhal, S. 65 ff.; Ibn Sīnā, Nadschāt, S. 256-257; Lawkarī, Bayān al-haqq, S. 181-183; Ahmadnagarī, Dschāmiʿ al-ʿulūm, 3: 192-193, Stichwort māhiyya, und 1: 413-414, Stichwort dschins; Tahānawī, Kaschschāf, 2: 1261 f., Stichwort kullī; Heer, Al-Jāmī‛s Treatise on Existence, S. 227; Marmura, Avicenna‛s Chapter on Universals, S. 39-42.

8Siehe z.B. Naqdh, S. 164, 194-196; Dschahd, S. 118, 119, 204, 233; Muwāfaqa, 1: 128-129, 176 ff., 180, 184; 2: 236 ff.; Furqān, S. 154; Tawhīd ar-rubūbiyya, S. 88 ff., 157 ff.; Tawhīd al-ulūhiyya, S. 47. Eine ausgearbeitete Version dieser Kritik findet sich in Radd, S. 22-30, 62-80, passim. Siehe auch Muwāfaqa, 1: 128 ff., 175-177, 178-179; Tawhīd ar-rubūbiyya, S. 88-89, 156-158, 163-164. Ibn Taymiyyas Kritik des Realismus und seine eigenen Gedanken über Universalien müssen noch untersucht werden. Es ist allerdings aufschlussreich, Ibn Taymiyyas Auffassung der von den Philosophen vertretenen Theorie der Universalien mit derjenigen von al-Ghazālī zu kontrastieren. Siehe Abū Hāmid al-Ghazālī, Tahāfut al-falāsifa, S. 86-87.

9Muwāfaqa, 1: 128, 129.

10Ebenda, 1: 65, 177. Auf S. 65 argumentiert er für die Einmaligkeit von Individuen auf der Grundlage des Koran. Siehe auch Naqdh, S. 196.

11Muwāfaqa, 1: 174 ff.; 2: 237; Tawhīd ar-rubūbiyya, S. 163 ff.

12Tawhīd al-ulūhiyya, S. 47-48; Muwāfaqa, 1: 128-129; Furqān, S. 118; Maschīʾa, S. 153.

13Tawhīd ar-rubūbiyya, S. 11; Muwāfaqa, 1: 14; Radd, S. 138, 356; Dschahd, S. 130-131. Vergleiche mit Ibn Sīnā, Nadschāt, S. 266-271, wo er seine Behauptung beweist, dass »das Notwendig-Existierende nicht auf Vielheit angewendet werden kann, da Er weder Gleiches noch Gegensatz hat.«

14Radd, S. 252, 293; Dschahd, S. 211, 217; Kulliyyāt al-mantiq, S. 260. Desweiteren siehe dazu Kapitel I, Abschnitt 6, meiner Einleitung in: Wael B. Hallaq, Ibn Taymiyya against the Greek Logicians, Oxford, 1993, S. xxviii ff.

15Radd, S. 251, 355; Dschahd, S. 211, 235.

16Naqdh, S. 188, 196, 206; Muwāfaqa, 2: 222; Radd, S. 368; Dschahd, S. 238.

17Radd, S. 107-108, 113 ff.; Dschahd, S. 106-107, 112-113, 115; Tawhīd al-ulūhiyya, S. 47.

18Muwāfaqa, 1: 14; Dschahd, S. 141.

19Siehe beispielsweise Abū Hāmid al-Ghazālī, Maqāsid al-falāsifa, S. 66; Abū Hāmid al-Ghazālī, Miʿyār al-ʿilm, S. 131.

20Siehe jedoch Anmerkung 41 unten.