Wael B. Hallaq
1.1.1 Die moralische Dimension
An die Darstellungsweise seiner großen Studie über die Geschichte der Scharia knüpft Hallaq auch mit seinem Buch The Impossible State (Der unmögliche Staat) an, allerdings mit einem bemerkenswerten Unterschied, auf den der Autor ausdrücklich hinweist: Nicht nur werden die historische Darstellung des modernen Staates im islamischen Kontext und ihre theoretischen Implikationen breiter ausgeführt, indem sie mit Bezug auf westliche Wissenschaften wie Politologie, Rechtswissenschaft und Moralphilosophie erörtert werden, sondern vor allem besitzt diese Studie auch eine normative Dimension.
Hallaq stellt am Ende der Einleitung klar, dass »dieses Buch nicht lediglich eine Geschichte des islamischen Rechts ist«;
[…] während es Mannigfaltigkeit, Unordentlichkeit (messiness) und Verletzungen (violations) in der langen Geschichte der Scharia anerkennt und in Rechnung stellt, zieht es Nutzen aus dem Begriff des Paradigmas, um aus einer paradigmatischen Struktur heraus die moralische Dimension wiederzugewinnen, die gleichwohl diese komplexen und verworrenen Realien durchdringt. (S. xiv)
Diese wie auch die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013.
Was dies genau zu bedeuten hat, wird sich hoffentlich im Verlauf der Vorstellung des Buches aufklären. Es sollte hier lediglich vorab schon auf diesen wichtigen Aspekt aufmerksam gemacht werden. Denn es soll dem Eindruck vorgebeugt werden, der gleichwohl häufig zu entstehen scheint und auch in etlichen Rezensionen des Buches zum Ausdruck gebracht wird, dass es sich um eine historische Darstellung der Geschichte des islamischen Rechts handele, die allzu beschönigend, verklärt oder gar rosig ausfalle. Doch dabei gerät offenkundig die entscheidende Unterscheidung zwischen einer empirischen und einer paradigmatischen Darstellung aus dem Blick. Es geht also keineswegs um eine Beschönigung, Verschleierung oder gar Leugnung von Unrecht, Unterdrückung, Gewalt oder Rechtsverletzungen in der islamischen Geschichte, die vielmehr als solche anerkannt werden, sondern um einen anderen Blick auf diese Geschichte, der den Begriff des Paradigmas ins Zentrum stellt. Hallaq versucht diesem Missverständnis in einer Anmerkung entgegenzuwirken, auf die eben schon Bezug genommen worden ist und die darüber hinaus zur weiteren Klärung vollständig wiedergegeben sei:
Es muss hier so klar wie möglich gemacht werden, dass mein Narrativ des vormodernen islamischen Rechts auf dem beruht, was ich in Sharīʿa
Siehe Wael B. Hallaq, Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations, New York, Cambridge University Press, 2009. und IntroductionSiehe Wael B. Hallaq, An Introduction to Islamic Law, New York, Cambridge University Press, 2009. dargelegt habe. Das vorliegende Werk als Abweichung von diesen beiden Büchern oder als Ausdruck eines Wechsels in Richtung einer Reduktion der Komplexität dieses Narrativs zu betrachten, ist eine Versuchung, der widerstanden werden sollte. Wenn die Leserin, die mit meinem früheren Werk vertraut ist, eine derartige qualitative Differenz im Narrativ feststellt, so ist ihr dringlich anzuraten, dies in Begriffen der hier dargelegten Theorie des Paradigmas zu verstehen. Es sollte klar werden, dass unser Narrativ des vormodernen islamischen Rechts in einer Weise gestaltet ist, die dem vorliegenden Projekt angemessen ist, nämlich dem, was wir moralische Wiederherstellung genannt haben. Daher ist der vorliegende Band nicht eine Geschichte des islamischen Rechts und sollte nicht als solche betrachtet werden. (S. 174, Fußnote 22)
Damit sollte deutlich geworden sein, dass es keineswegs um ein nostalgisches Plädoyer für eine Rückkehr in eine vermeintliche Idylle geht, sondern vielmehr, in voller Anerkennung der Kluft zwischen sozialer Wirklichkeit und Norm, um eine vergleichende Reflexion über unterschiedliche Paradigmen, die zwar Einfluss auf die soziale Wirklichkeit haben, aber weit davon entfernt sind, diese kraft ihrer Normativität vollständig zu determinieren. Es ist hier nicht der Ort, diesen Ansatz weiter auszuführen, der durch die folgende Darstellung ohnehin ausführlich erläutert werden soll. An dieser Stelle muss es genügen, auf dieses mögliche Missverständnis mit aller Deutlichkeit hingewiesen zu haben, so dass die weitere Darlegung in diesem klärenden Lichte betrachtet werden kann. Wer dennoch dazu neigt, einen entsprechenden Vorwurf der Nostalgie zu erheben, sollte dies allerdings in voller Kenntnis der in obigem Zitat erwähnten beiden Bände tun, und nicht allein auf der Grundlage des hier erörterten Buches The Impossible State, das aus den genannten Gründen nicht der geeignete Adressat einer solchen Kritik sein kann.
Ein weiteres Missverständnis bestünde in der Annahme, dass sich aus der in diesem Buch vorgenommenen Analyse des modernen Staates unmittelbar Schlüsse über das politische Verhältnis von Muslimen, die in einem solchen Staat leben, zu eben diesem Staat ableiten ließen. Diese müssten in der Tat Kurzschlüsse sein, da diese Frage hier überhaupt nicht thematisiert wird und daher die nötigen Voraussetzungen gar nicht vorliegen, um daraus entsprechende Schlüsse ziehen zu können.
Nachdem also einiges dazu gesagt worden ist, worum es in diesem Buch nicht geht, um gängigen Missverständnissen möglichst vorzubeugen, nun aber näherhin zum eigentlichen Inhalt: Wovon handelt dieses Buch?
1.1.2 Staat, Islam, Moral: Worum geht es?
Zunächst sei der Titel kurz erläutert. Hallaq vertritt die These, dass der moderne Staat und der Islam nicht vereinbar sind. Der unmögliche Staat (The Impossible State) des Titels ist also der moderne und zugleich islamische Staat. Die tieferen Gründe für diese Unvereinbarkeit liegen nicht, wie das Thema des Staates vermuten lassen könnte, allein auf der politischen Ebene, sondern im wesentlichen auf der moralischen Ebene. Daher besitzen in dieser Untersuchung moralphilosophische Überlegungen und insbesondere die Diagnose einer tiefen moralischen Krise der modernen westlichen Zivilisation einen zentralen Stellenwert. So erklärt sich auch der Untertitel: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament (Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität). Und diese Krise ist so tief, dass nicht nur der moderne islamische Staat, sondern der moderne Staat selbst und darüber hinaus das Überleben der Menschheit insgesamt fraglich werden.
Die Krise übergreift westliche und islamische Zivilisation. Sie strahlt vom Westen auf den ganzen »Rest« aus, ist universell und verlangt nach entsprechenden Lösungen. Schließlich haben, wie Hallaq resümiert, Muslime kein Monopol auf Krise. Welche Rolle spielt dabei der moderne Staat selbst und sein Verhältnis zum Islam? Welche Bedeutung kommt der moralischen Grundlagenkrise der westlichen Kultur und deren Verhältnis zum Islam zu? Gibt es einen Ausweg aus der universellen Krise? Hallaq wirft diese Fragen auf und stellt sich ihnen, übrigens nicht aus einer muslimischen Perspektive, sondern, wie er immer wieder betont, aus der Sicht eines Beobachters, der durch seine kulturübergreifenden Analysen diskursive Schnittstellen zwischen westlicher und islamischer Zivilisation schafft und so das Gespräch all derer befördert, die erkannt haben, dass die universelle Krise, welche die geistige wie die physische Existenz aller Menschen in einem Strudel der Sinnlosigkeit und Vernichtung zu verschlingen droht, nur durch gemeinsame Anstrengung und Verantwortlichkeit überwunden werden kann.