Wenn ein moderner islamischer Staat unmöglich und sogar ein Widerspruch in sich ist, drängen sich zwei Fragen auf: Welche Form der Gouvernanz haben Muslime in der Vergangenheit praktiziert? Und welche Regierungsformen bestehen in der gegenwärtigen muslimischen Welt? Diese Fragen stellen sich insbesondere vor dem Hintergrund der Geschichte der letzten zweihundert Jahre, die von Kolonialherrschaft und postkolonialer nationalistischer Reaktion und Kontinuität geprägt war.
1.3.1 Kolonialismus, Staat, Scharia
Hallaq geht davon aus, dass die postkolonialen nationalistischen Eliten die Machtstrukturen, die ihnen der Kolonialismus vermacht hatte, aufrechterhalten und nach der Erlangung der Unabhängigkeit keinen wirklichen Bruch mit der Kolonialpolitik vollzogen haben. Die europäischen Kolonialmächte vermachten ihnen einen Nationalstaat samt seiner konstitutiven Machtstrukturen, der nicht zu den bestehenden Gesellschaftsformen passte. Das paradigmatische Konzept des Bürgers, ohne das kein Staat bestehen kann, bildete sich nur sehr schleppend heraus. Die politischen Lücken, die durch die Zerstörung der traditionellen Strukturen aufbrachen, wurden nicht angemessen aufgefüllt. Der Nationalstaat stand daher immer in einem Spannungsverhältnis zu den Gesellschaften in der muslimischen Welt. Die politische Organisation, die vom Kolonialismus übernommen und danach weiter ausgebaut wurde, blieb stets von Autoritarismus und Unterdrückung gekennzeichnet. Soweit die Scharia für die Regierungsform in Anspruch genommen wurde, ging dies kaum über bloße Lippenbekenntnisse hinaus. Wo mehr angestrebt wurde, hat der Staatsapparat die Scharia-Normen der Gouvernanz in seinen Dienst gestellt und entstellt, woraus sich in der Folge ergeben hat, dass sowohl die islamische Gouvernanz als auch der moderne Staat als politische Projekte misslungen sind.
Das moderne Experiment in der muslimischen Welt muss daher als in politischer und rechtlicher Hinsicht gescheitert gelten. Aus ihm können keine positiven Lehren darüber gezogen werden, wie Muslime sich selbst regieren sollten. Dass die »Scharia« in etlichen Verfassungen als »eine« oder »die« Quelle des Rechts verankert wurde, ändert nichts daran, dass sie institutionell tot und politisch missbraucht ist. Für die Frage nach einer islamischen Gouvernanz hat die Erfahrung mit dem modernen Staat und seiner sogenannten »Scharia« keinen positiven Beitrag zu leisten. Daher muss sich unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was die Scharia für Muslime während der zwölf Jahrhunderte vor der Kolonialzeit bedeutete, als ihr noch der Rang eines Paradigmas zukam.
So bleibt einzig die Frage, wie sich Muslime in der vorkolonialen Geschichte organisiert und regiert haben. Wenn die These von der Unmöglichkeit eines modernen islamischen Staates zutrifft, kann es eine solche Regierungsform nicht gegeben haben. Aber auch historische Gründe schließen diese Möglichkeit aus, da der moderne Staat ausschließlich ein Produkt der europäischen Geschichte ist. Zudem sprechen nicht-historische Gründe dafür, denn es bestand eine qualitative Differenz bereits zwischen vormodernen prototypischen »Staaten« und vormodern islamischen Formen der Gouvernanz. Wer letztere unterschiedslos als vormoderne »Staaten« klassifiziert, macht sich Hallaq zufolge des Versäumnisses schuldig, die paradigmatischen Kräfte nicht gebührend zu berücksichtigen, die der »islamischen Gouvernanz« Form und Inhalt verliehen.
Gestalt und Verfassung der modernen Welt sind weitgehend von den materiellen und geistigen Institutionen des übermächtigen Europas samt seinem kolonialen Ableger Nordamerika bestimmt. Während der Westen in einer Gegenwart lebt, die immerhin aus seiner eigenen Geschichte mit Aufklärung, industrieller Revolution, moderner Wissenschaft, Nationalismus, Kapitalismus und amerikanisch-französischer Verfassungstradition hervorging, wurden dem »Rest« der Welt die Bedingungen der Modernität von außen aufgezwungen. Die meisten Menschen wurden ihrer eigenen Geschichte und Lebensweise beraubt. Die politischen, rechtlichen und kulturellen Kämpfe der heutigen Muslime entspringen daher in hohem Maße der durch die westliche Vorherrschaft gegen ihren eigenen Willen erzeugten Spannungen zwischen den moralischen Realitäten der modernen Welt, in denen sie zwangsweise leben müssen, einerseits und ihren eigenen moralischen und kulturellen Bestrebungen und Hoffnungen andererseits. Der hegemoniale Diskurs der Modernität lässt ihnen dabei nur die Wahl zwischen Untergang und Anpassung, bestenfalls Aufholen. Fortschritt jedenfalls gibt es nur um den Preis des Verlusts der eigenen Traditionen und historischen Erfahrungen. Und meist führen die Anstrengungen in diese Richtung ohnehin nur in verheerende Kriege, Armut, Elend, Krankheit und Zerstörung der Natur.
Die Fürsprecher des modernen Projekts mögen dagegenhalten, dass es Armut und Elend schon immer gegeben habe und gerade der Fortschritt einen Ausweg aufzeige. Hallaq begegnet ihnen mit drei Gegenargumenten. Erstens sind Armut und Elend unter den Bedingungen der Moderne allemal nicht mehr das Werk der Natur, sondern menschengemacht, also Produkt von Kapitalismus, Industrialismus und der damit einhergehenden Naturzerstörung; sie sind eben Wirkungen des sogenannten Fortschritts. Zweitens führt die durch den staatlichen Kapitalismus hervorgerufene Zersplitterung der Gesellschaft zur Auflösung der traditionellen Familie und Gemeinschaft und zur Herausbildung des entzauberten, fragmentierten und narzisstischen Individuums; dieser Zusammenbruch ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Projekts. Drittens kann es keinen Zweifel an den zerstörerischen Folgen des modernen Projekts für die natürliche Umwelt geben.
Dieses Projekt der Zerstörung muss auf einer moralischen Grundlage untersucht und bewertet werden, wie Hallaq unmissverständlich deutlich macht:
Es ist ein Desaster, für das wir alle verurteilt werden müssen, nicht als wissenschaftlich bestimmter homo oeconomicus oder bloß als unverantwortliche Konsumenten, sondern als moralisch verantwortliche Wesen. Die moralischen und anderen Implikationen dieses Projektes sind im wesentlichen epistemologischer Natur, denn sie betreffen unsere Philosophien, Soziologien, Wissenschaften, Technologien, Politiken und alles, was wir tun. (S. 4)
Alle drei Gegenargumente sind mit unserer Konstitution als moralische Subjekte untrennbar verbunden und müssen auf moralische Verantwortung hin befragt werden. Erst die Marginalisierung der moralischen Dimension und ihre Abspaltung von Wissenschaft, Ökonomie und Recht, die zum Wesen des modernen Projekts gehören, hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass soziale Ungerechtigkeit, gesellschaftliche Auflösung und Naturzerstörung in einem solchen Ausmaß hervorgebracht werden konnten. Selbst nach Maßgabe der Aufklärung, die doch meist immerhin Moral auf rationaler Grundlage predigt, - geschweige denn nach islamischen Ansprüchen – sollte die Frage nach der moralischen Verantwortung nicht völlig aufgegeben werden. Und die Fürsprecher der Moderne müssen sich zumindest vorhalten lassen, dass das Verständnis moralisch verantwortlichen Handelns in vormodernen Gesellschaften eine hohe Hürde gegen die Durchführung des Projekts der Zerstörung gebildet hätte, wenn letzteres dieses Verständnis freilich nicht ohnehin völlig neutralisiert und unterminiert hätte. Menschen, die sich bewusst sind, für die Folgen ihres Handelns zur Verantwortung gezogen zu werden, und die mit den verheerenden Konsequenzen nicht leben können und wollen, bilden sich nur unter sorgsam gewählten und gehüteten Bedingungen heraus. Doch alle dafür erforderlichen Voraussetzungen und Schranken wurden vom Projekt der Moderne niedergerissen. Und der Staat hat dabei eine ebenso entscheidende wie unrühmliche Rolle gespielt.
1.3.2 Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen
Unter diesen Umständen gibt es gute Gründe, auf die Suche nach moralischen Ressourcen in anderen Traditionen zu gehen. Hallaq sucht hier Anschluss an westliche Denker wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor. Insbesondere MacIntyre hat sich ausgehend von der Diagnose, dass das moderne Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral gescheitert ist und die moralischen Ressourcen moderner Gesellschaften erschöpft sind, vormodernen Traditionen zugewandt. Diese Denker haben sich dabei auf die sogenannte »europäische« Tradition beschränkt, etwa auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin – »sogenannte«, weil es sich um eine konstruierte eurozentrische Tradition handelt. Denn Platon und Aristoteles sind keineswegs so eindeutig »europäisch«, sondern vielmehr durch einen Prozess der Ausblendung dazu gemacht worden, und Thomas von Aquin könnte durchaus als Schüler des arabischen und muslimischen Philosophen Ibn Ruschd gelten.
Hallaq hingegen richtet seine Untersuchung auf die moralischen Ressourcen der muslimischen Kultur aus. Denn Muslime verfügen über ihre eigene reiche Tradition, welche die kulturellen Leistungen vieler Jahrhunderte in sich birgt. Diese Tradition übt auch heute noch einen tiefen und bestimmenden Einfluss auf moderne Muslime aus. Aus der Sicht des Projekts der Aufklärung, das ausschließlich die autonome Vernunft als Grundlage der Moral anerkennt, erscheint jeder Versuch, eine alternative Weise des Verstehens, die sich zudem auf eine Tradition stützt, zu entwickeln, als irrational. MacIntyre versucht dagegen nicht nur aufzuzeigen, dass das Projekt der Aufklärung selbst gescheitert ist, sondern auch, dass Tradition und Vernunft sich keineswegs ausschließen müssen. Vielmehr können rationale Untersuchung und ethische Werte in einer Tradition eingebettet sein und über verschiedenen Traditionen hinweg wirksam werden.
So schreibt MacIntyre etwa:
Gibt es also solch eine alternative Weise des Verstehens? Wessen hat uns die Aufklärung beraubt? Wofür uns die Aufklärung größtenteils blind gemacht hat und was wir wiedererlangen müssen, ist, so werde ich argumentieren, eine Konzeption der rationalen Untersuchung als in einer Tradition verkörpert, eine Konzeption, der zufolge die Maßstäbe der rationalen Rechtfertigung selbst aus einer Geschichte hervorgehen und zu dieser gehören, in der sie bestätigt werden durch die Weise, in der sie die Grenzen überschreiten und Abhilfen für die Mängel ihrer Vorgänger innerhalb der Geschichte eben derselben Tradition liefern.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana, 1988, S. 7; Hallaq zitiert lediglich einen kleinen Ausschnitt davon.
Hallaq sieht große Ähnlichkeiten auf der theoretischen Ebene zwischen seinem Projekt und insbesondere dem von MacIntyre. Die moralischen Ressourcen der vormodernen islamischen Tradition, um die es ihm zu tun ist, spiegeln aber nicht nur eine geteilte theoretische und philosophische Untersuchung wider, sondern auch eine paradigmatische Lebensweise, was von noch größerer Bedeutung ist. Die westlichen Denker beziehen sich auf eine Tradition und Gemeinschaft, die es als gelebte Realität nie gegeben hat, sondern allenfalls als Ideal einer bloß intellektuellen Tradition. Die islamische Tradition, auf die sich das Projekt der Wiedergewinnung moralischer Ressourcen beziehen kann, verbindet hingegen theoretische und philosophische mit soziologischen, anthropologischen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Phänomenen, die in der islamischen Geschichte als paradigmatische Überzeugungen und Praktiken entstanden sind.
Hallaq beschreibt diese Lebensweise auch als paradigmatische islamische Gouvernanz, um einen qualitativen Unterschied zwischen einem Leben in, unter und mit dem modernen Staat einerseits und einem Leben in, unter und mit der vormodernen Scharia andererseits zu kennzeichnen. Beide Daseinsweisen verfügen zwar über eine ähnliche hegemoniale Reichweite, unterscheiden sich aber auf dramatische Weise in nahezu allen anderen Hinsichten.
1.3.3 Begriff des Paradigmas
Der Begriff des Paradigmas dient dazu, die beiden Phänomene miteinander vergleichen zu können, indem jeweils entsprechende systemische Eigenschaften und »Triebkräfte«, welche die »Ordnung der Dinge« bestimmen, identifiziert werden. Hallaq schließt dabei an Carl Schmitt, Thomas S. Kuhn und Michel Foucault an.
Hallaq wählt als Ausgangspunkt für die Bestimmung des Begriffs des Paradigmas den von Carl Schmitt geprägten Begriff des Zentralgebiets. Schmitt schreibt in Der Begriff des Politischen:
Ist ein Gebiet einmal zum Zentralgebiet geworden, so werden die Probleme der anderen Gebiete von dort aus gelöst und gelten nur noch als Probleme zweiten Ranges, deren Lösung sich von selbst ergibt, wenn nur die Probleme des Zentralgebiets gelöst sind.
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, München und Leipzig, 1932, S. 72.
Als Beispiel wählt Schmitt die europäische Vorstellung des Fortschritts, die zeitweilig paradigmatisch im Sinne von Hallaq war. Schmitt fährt also fort:
Ich darf das an einem Beispiel deutlich machen. Die Vorstellung eines Fortschritts z. B., einer Besserung und Vervollkommnung, modern gesprochen einer Rationalisierung, wurde im 18. Jahrhundert herrschend, und zwar in einer Zeit humanitär-moralischen Glaubens. Fortschritt bedeutete infolgedessen vor allem Fortschritt in der Aufklärung, Fortschritt in Bildung, Selbstbeherrschung und Erziehung, moralische Vervollkommnung. In einer Zeit ökonomischen oder technischen Denkens wird der Fortschritt stillschweigend und selbstverständlich als ökonomischer oder technischer Fortschritt gedacht, und der humanitär-moralische Fortschritt erscheint, soweit er überhaupt noch interessiert, als Nebenprodukt des ökonomischen Fortschritts.
Ebenda, S. 72.
Schmitt unterscheidet in der europäischen Geschichte vier große Stufen mit jeweils anderem Zentralgebiet: vom Theologischen, zum Metaphysischen, zum Humanitär-Moralischen und schließlich zum Ökonomischen. Das jeweilige Zentralgebiet bestimmt alle anderen Gebiete, was Schmitt folgendermaßen erläutert:
Alle Begriffe und Vorstellungen der geistigen Sphäre: Gott, Freiheit, Fortschritt, die anthropologischen Vorstellungen von der menschlichen Natur, was Öffentlichkeit ist, rational und Rationalisierung, schließlich sowohl der Begriff der Natur wie der Begriff der Kultur selbst, alles erhält seinen konkreten geschichtlichen Inhalt von der Lage des Zentralgebietes und ist nur von dort aus zu begreifen.
Ebenda, S. 73.
Die Aufklärung liefert Hallaq zufolge ein weiteres Beispiel eines Paradigmas. Trotz aller Unterschiede im Einzelnen stellt die Aufklärung ein Paradigma dar, eine Menge von geteilten Annahmen und Voraussetzungen, die ihr eine gewisse Einheit verleihen. Den Kern des Projekts der Aufklärung erkennt Hallaq in der Auflösung aller traditionellen Formen von Moral und Glauben durch eine kritische oder rationale Moralität. Die von allen äußeren Schranken befreite Vernunft sollte so den Grund für den Aufbau einer universellen Zivilisation legen. Darauf beruht sowohl der Liberalismus samt seinen Abkömmlingen Marxismus und Sozialismus als auch der neue Konservativismus. Dieses Projekt bildete das Zentralgebiet, durch das alle großen Probleme gelöst werden sollten. Und es bestimmt die europäische Kultur und Lebensweise bis heute in erheblichem Maße.
Hallaq stellt über den Begriff des Paradigmas zusammenfassend fest:
In unserem Verständnis des Paradigmas handelt es sich um ein System von Wissen und Praxis, dessen konstitutiven Bereiche eine bestimmte Struktur von Begriffen teilen, die sie von anderen Systemen der gleichen Art qualitativ unterscheiden. Während es zutrifft, dass die Probleme im Zentralgebiet Priorität gewinnen und die anderen Gebiete diesen Prioritäten unterordnen, so funktionieren alle diese Gebiete innerhalb eines Wissenssystems, das die Prioritäten innerhalb der peripheren Gebiete selbst prägt. (8)
Paradigmen stellen Felder von »Kräfteverhältnissen« dar, die widerstreitende und konkurrierende Diskurse und Strategien umfassen. Machtkämpfe entscheiden darüber, welches Gebiet die Vorherrschaft gewinnt und zum Zentralgebiet wird. Ein Zentralgebiet bleibt solange zentral, als die Kräfteverhältnisse den entsprechenden Konzepten und Werten erlauben, die Spielregeln und Machtverhältnisse innerhalb des Systems zu diktieren.
Gelingt es einer subversiven Kraft, das bestehende Paradigma umzustürzen und an dessen Stelle zu treten, wird sich das ehemalige Zentralgebiet in die subversiven Kräfte einreihen oder ganz verschwinden. Dieser Paradigmenwechsel wird von der modernen Geschichte mannigfaltig bezeugt, angefangen mit der Schaffung einer Unterscheidung zwischen Tatsache und Wert und endend mit dem modernen bürokratischen Staat, modernen Kapitalismus und Nationalismus. Es kann daher von einem Paradigma des modernen Staates gesprochen werden.
Hallaq fährt nun damit fort, das Paradigma der islamischen Gouvernanz in Grundzügen zu skizzieren. Eine ausführliche Darstellung ist späteren Kapiteln vorbehalten.
1.3.4 Paradigma und islamische Gouvernanz
Das Paradigma der islamischen Gouvernanz ist von der Scharia bestimmt. Die Scharia wird durch ein moralisches Recht repräsentiert und konstituiert. Daraus ergibt sich ihre Bedeutung als moralische Ressource für das moderne Projekt, in Analogie zu Aristoteles und Thomas von Aquin im Entwurf von MacIntyre. Die paradigmatische Stellung der Scharia geht darauf zurück, dass sie ein moralisches Gefüge ist, in welchem dem Recht (im modernen Sinn) lediglich der Status eines Werkzeugs zukommt, das der Moral untergeordnet ist. Das Recht ist kein Zweck an sich, sondern Mittel im Dienst der Moral.
Die Scharia bildete das Zentralgebiet, nach dessen Maßgabe die anderen Gebiete beurteilt wurden und dessen Lösungen weitgehend die Lösungen der anderen Gebiete bestimmten. Das gilt für die Bestimmung der Prioritäten sowohl für die intellektuellen Bereiche wie etwa Bildung, Linguistik, Hermeneutik, Logik und Epistemologie wie auch für die praktischen Bereiche der Ökonomie und Politik. Das wirtschaftliche und politische Leben wurde dadurch nicht nur von technischen Regeln, sondern auch von einer umfassenden Ethik auf der Grundlage der Scharia zutiefst geprägt.
Das heißt freilich nicht, dass das Leben ideal gewesen wäre, sondern dass es bei allen Unzulänglichkeiten und Regelverstößen an den Zielen der Scharia als vorherrschendem moralischen Paradigma ausgerichtet war. Das individuelle wie gesellschaftliche Leben stand im Zeichen des Strebens nach der Erfüllung des moralischen Zwecks: dschihād (wörtl.: Streben). Das ist der wahre Gehalt dieses tiefen und oft so falsch verstandenen islamischen Begriffs. Es wäre daher ein grobes Missverständnis, das Anliegen einer Wiederbelebung der Scharia als moralischer Ressource mit dem rückwärtsgewandten Trachten nach der Restauration bestimmter Verhältnisse der Vergangenheit zu verwechseln.
Um solchen Missverständnissen vorzubeugen, hält Hallaq es für erforderlich, zwei Fragen zu beantworten. Erstens: Welche Bestandteile einer nun institutionell toten Scharia können als derartige moralische Ressourcen identifiziert werden? Zweitens: Wie kann eine solche Identifikation dem Vorwurf der Nostalgie entgehen?
Die erste Frage verlangt eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem modernen muslimischen Subjekt und der Scharia als einem Ordnungsgefüge, das zugleich moralisch, rechtlich, kulturell und zutiefst psychologisch ist. Das Projekt der Säkularisierung, das auf das Auseinanderbrechen dieses Gefüges zielte, hat sich als weitgehend erfolglos erwiesen und im Endeffekt sogar als Gegenreaktion den Aufstieg des Islamismus befördert. Bei aller Politisierung ist der Islamismus als gesellschaftliche Erscheinung mehr als eine Ablehnung der herrschenden Politik. Er ist auch Ausdruck einer moralischen Bewegung, die soziale Ungerechtigkeit, politische Korruption und die Vorherrschaft des Westens in moralischen Begriffen kritisiert.
Die heutigen Muslime beziehen sich, auch aufgrund der Einsicht in das Scheitern der Anwendung vor allem aus dem Westen importierter Modelle, auf ihre eigene Geschichte als Quelle moralischer Ressourcen, um den Herausforderungen des modernen Projekts zu begegnen. So gewinnt das Paradigma der islamischen Gouvernanz seine aktuelle Bedeutung. Es geht dabei eben nicht um die bloße Wiederherstellung der Scharia in der vermeintlichen Gestalt ihrer traditionellen Formen und Institutionen, sondern vielmehr um die Einsetzung der Scharia als Zentralgebiet des Moralischen in gleichzeitigem Widerstreit und Ergänzung zu konkurrierenden Paradigmen wie etwa dem der europäischen Aufklärung, die sich als unfähig erwiesen hat, auch nur die eigenen Probleme zu lösen.
Obgleich die Scharia in institutioneller Gestalt nahezu vollständig abgestorben und vielfach durch westliche Institutionen ersetzt worden ist, hat sie doch im Bewusstsein der Muslime weithin überlebt. Es ist unübersehbar, dass die Säulen des Islam keineswegs abgestorben sind. Die Scharia lebt fort in der alltäglichen Praxis der Muslime wie auch als Anspruch und Erinnerung des Strebens nach der Erfüllung des moralischen Ziels. Sie ist lebendig als moralische Ressource.
Die Säulen des Islam bestimmen weiterhin, was es heißt, Muslim zu sein. Daher rückt Hallaq ins Zentrum seiner Betrachtung dieser moralischen Ressourcen die »Technologien des Selbst« (Foucault), die in den Diskursen und Praktiken der Säulen in reichem Maße bereitgestellt werden.
Hallaq erläutert:
Der Bezug auf die Technologien des Selbst bedeutet daher keineswegs eine Wiederherstellung von vormodernen scharʿi-Institutionen, Praktiken oder gar Erziehung. Es handelt sich um ein moralisches Projekt ersten Ranges, einen Versuch, sich im Streben nach moralischer Orientierung auf das historische Selbst zurückzubeziehen. Es ist ein Projekt der moralischen Kritik, der moralischen Reflexion und der moralischen Substitution, d.h. es ist ein Projekt, das darauf zielt, moralischen Raum für das muslimische Subjekt in der modernen Welt zu finden, ein Subjekt, das von der Modernität nicht weniger desillusioniert wurde als seine oder ihre westliche Entsprechung. Die Wiederherstellung der islamischen moralischen Ressourcen ist deshalb so sehr ein modernes Projekt wie die Modernität selbst. Und als ein modernes Projekt ist sie auch zutiefst postmodern. Postmodernität, das sei klar gesagt, geht davon aus und erstrebt zugleich, die Modernität zu übersteigen, aber Modernität gleichwohl. (13-14)
1.3.5 Nostalgie und Fortschrittsideologie
Dieses Projekt der Suche nach moralischen Ressourcen wird dennoch, insbesondere von Anhängern der westlichen liberalen Tradition, zweifellos den Vorwurf ernten, nostalgisch und rückwärtsgewandt zu sein und daher keinen Platz in der modernen Welt zu verdienen. Dem ist zu erwidern, dass dieser Vorwurf auf einem Missverständnis und einer unhaltbaren Voraussetzung beruht.
Das Missverständnis besteht in der Unterstellung, es ginge darum, das Rad der Zeit zurückzudrehen und vergangene Verhältnisse wiederherzustellen. Das wäre in der Tat fruchtlose Nostalgie. Die Suche nach moralischen Ressourcen in einer Situation, in der sich die Probleme häufen, Lösungen äußerst rar und moralische Quellen – insbesondere in der westlichen Kultur – nahezu ausgetrocknet sind, zielt hingegen darauf ab, den Herausforderungen der Gegenwart durch die Wiederbelebung der übergreifenden und umfassenden Werte zu begegnen, die den Islam und seine Lebensweise paradigmatisch bestimmen. Wer von vornherein ausschließt, aus der Geschichte und von anderen lernen zu können, schätzt entweder seine eigene Lernfähigkeit sehr gering oder ergeht sich in narzisstischem Hochmut, der durch den Glauben an die eigene Überlegenheit kraft unübertrefflichen Fortschritts verblendet.
Damit wären wir bei der unhaltbaren Voraussetzung des Vorwurfes der Nostalgie. Denn dieser setzt die Doktrin des modernen Fortschritts voraus, die sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar erweist. Der Glaube an den Fortschritt ist im europäischen Denken selbst längst erschüttert, und dennoch behält die Ideologie des Fortschritts ihre fesselnde Kraft. Das dürfte ihrer engen Verzahnung mit dem Aufstieg des Kapitalismus einerseits sowie des Westens zur Herrschaft über die Welt andererseits und ihrer legitimatorischen Funktion geschuldet sein, auf die auch heute keinesfalls verzichtet werden kann. Die eigene Gegenwart wird absolut gesetzt und allem anderen gegenüber für überlegen deklariert, so dass jeder historisch begründete Anspruch, welcher der einsinnigen Herrschaft dieses Fortschritts zuwiderläuft, von vornherein als ungültig und überholt abgewiesen werden kann.
Diese Ideologie erhebt sich damit selbst zur einzig möglichen Quelle für Ressourcen zur Problemlösung. Im Auge des Fortschritts werden alle Problem zu technischen Problemen, für die es immer neue technische Lösungen zu schaffen gilt. Da dies auch für die durch diesen Prozess selbst geschaffenen Probleme gilt, ist die Selbstzentrierung perfekt. Die zerstörerischen Folgen dieses Prozesses mögen sich als noch so katastrophal erweisen, so gibt es dennoch nie einen Grund, aus dem in sich geschlossenen Kreis des Fortschritts herauszutreten. Wer und was sich darin nicht einfangen lässt, gilt als reaktionär, irrational und fundamentalistisch. Gegenüber genuin moralischen Fragen ist diese Ideologie entgegen ihrem eigenen Anspruch blind, denn Moral und Verantwortung wurden längst in wissenschaftliche Erkenntnis und technisch-instrumentelle Manipulation im Dienst des unvermeidlichen Fortschritts verflüchtigt.
Hallaq bemerkt dazu:
Die Doktrin des Fortschritts hat daher weder Grundlage noch Bezug, außer jeweils in und auf sich selbst. Sie ist ihre eigene Quelle der Autorität, und in diesem Sinne ist sie ein Gott. Da er rational autonom ist, wie ja uns allen unterstellt wird, hat dieser Gott durch Wissenschaft und Vernunft bestimmt, dass den großen Fragen der Vergangenheit kein Gehör geschenkt werden kann, da sie überholt und für die Fortschritte der modernen Zivilisation, modernen Wissenschaft und Vernunft irrelevant sind, wobei letztere selbstverständlich universell sind. (16)
Die Doktrin des Fortschritts entspringt der modernen Geschichtsphilosophie. Die Aufklärung verleiht der Geschichte eine neue Struktur, die alle menschliche Erfahrung vom Urbeginn der Zeit an in einen linearen Prozess einspannt. Diese Struktur wird vom liberalen universalistischen Postulat determiniert, dass die geschichtlichen Erfahrungen aller Gesellschaften und Kulturen, von dem einen Geist getrieben, dem einen Zweck der fortschreitenden Vervollkommnung dienen.
Im Gegensatz zu vielen Kulturen, in denen die Geschichte komplex und vielschichtig im Sinne einer Eschatologie strukturiert ist, welche die Menschen mit sinnhaften Erzählungen versorgt, die moralische Entscheidungen zur Wahl stellen, besitzt die moderne Zeit eine einsinnige und homogene Struktur, die von Anbeginn an teleologisch auf den Gipfel des menschlichen Fortschritts in Gestalt der westlichen Moderne festgelegt ist. Indem alles vergangene und gegenwärtige Geschehen einschließlich Leid und Übel dadurch als notwendige Bedingung des Fortschritts und somit als vorherbestimmt erscheint, wird damit auch eine säkularisierte Theodizee geboten. Umgekehrt ist alles, was sich diesem unvermeidlichen Lauf widersetzt, zum unwiderruflichen Untergang verdammt. Nicht anders konnte das Schicksal jeder Kultur außerhalb der modernen europäischen verlaufen. Dieser Eurozentrismus durchzieht das gesamte moderne europäische Denken. Hegel wollte bezeichnenderweise gar die Erfüllung der Geschichte des Geistes im modernen Staat, namentlich dem preußischen, erkennen, der ihm als die endlich verwirklichte objektive Gestalt des absoluten Geistes erschien.
Hallaq beschließt dieses Kapitel mit folgenden Worten:
Mit dem Vorstehenden im Geiste fahren wir nun unter der Annahme fort, dass es legitim ist, jedes Zentralgebiet des Moralischen, aus Vergangenheit oder Gegenwart, in Anspruch zu nehmen, das uns eine Ressource der moralischen Wiederherstellung zu liefern vermag. Während die Vergangenheit materiell und institutionell abgestorben ist, sind es ihre moralischen Prinzipien nicht. Daher ist die Inanspruchnahme des Paradigmas der islamischen Gouvernanz ein ebenso plausibles und legitimes Projekt wie die Inanspruchnahme von Aristoteles, Thomas von Aquin oder Kant. Diese Inanspruchnahme wird uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen. (18)