Hallaq bezieht sich dabei auf einen Text von Charles Taylor, aus dem er einen kleinen Ausschnitt zitiert, dessen lehrreicher Kontext hier zur Vertiefung etwas ausführlicher zitiert sei:
Das gewandelte Verständnis der eigentlichen Natur des moralischen Diskurses und des moralischen Denkens - wie z. B. das Prinzip, daß kein »Sollen« aus einem »Sein« abgeleitet werden darf - verdankt sich substantiellen Veränderungen in der Auffassung des Moralischen. Die neue metaethische Perspektive mag in der Tat von neuen wissenschaftlichen Theorien in ihrer Entwicklung unterstützt worden sein, aber ebenso offenkundig ist auch die Art und Weise des Einflusses in umgekehrter Richtung. Es kann als gesichertes Wissen betrachtet werden, daß ein wichtiges Motiv für die bereitwillige Annahme des Mechanismus im 17. Jahrhundert theologischer Natur war. Eine bedeutende Tradition des Denkens der christlichen Welt, die Gottes Souveränität betonte und zu Argwohn gegenüber griechischen Vorstellungen einer festgefügten kosmologischen Ordnung neigte, nahm nur allzu bereitwillig den Mechanismus des 17. Jahrhunderts auf, um gegen die übermäßigen, als neu-heidnisch angesehenen Exzesse des Animismus der Hochrenaissance vorgehen zu können - das sehen wir etwa bei Bruno. Vergleichbar war Mersennes Motivation, der eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des neuen wissenschaftlichen Weltbildes spielte.
Zu dieser Zeit war der wechselseitige Einfluß von Wissenschaft und Moral erheblich ausgeprägter als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte unserer Zivilisation. Es ist jedoch unzutreffend, einen einseitigen Begründungszusammenhang anzunehmen und Veränderungen der moralischen Auffassung lediglich als Folge von wissenschaftlichen Entdeckungen zu betrachten.
Hinter der Tatsache/Wert-Dichotomie, wie man sie etwa bei Hume feststellen kann und die ein vorherrschendes Thema unserer Zeit wird, steht ein neuartiges Verständnis und eine neue Bewertung von Freiheit und Würde.
Hallaq zitiert nur diesen Satz. Ich möchte dies kurz skizzieren.
MacIntyre
Charles Taylor bezieht sich hier auf: Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory, University of Notre Dame Press, 3rd ed., Notre Dame, Indiana, 2007 (Erste Auflage 1981); deutsche Übersetzung von Wolfgang Rhiel: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995 (Erste Auflage 1987). Siehe dazu auch das Kapitel Moral nach der Tugend: Vernunft und Tradition, S. 273 ff. verweist auf die theologischen Ursprünge der Tatsache/Wert-Dichotomie. Diese müssen meiner Meinung nach als Element des christlichen Denkens, wie ich es bereits erwähnt habe, interpretiert werden. Die Synthese des christlichen mit dem griechischen Denken war in Wirklichkeit immer unbefriedigend. Für eine Reihe von christlichen Theologen war die Idee eines festgefügten und wohlgeordneten Kosmos, dessen Rechtfertigungsprinzip in ihm selbst enthalten ist, inkompatibel mit der Souveränität Gottes. Man denke zum Beispiel an die Auflehnung des Nominalismus gegen den Thomismus. Die Streitfrage betraf die Beziehung von Vernunft und Wille bei Gott. Ist Gott durch seine eigene Schöpfung gezwungen, ein Gutes zu wollen, das so beschaffen ist, als sei es in ihr bereits enthalten? Ockham und andere vertreten eine mehr voluntaristische Sicht der göttlichen Macht, denn jede geringere Annahme wäre geeignet, Gott herabzusetzen. Die Reformatoren nahmen in diesem Sinne theologisch Partei, auch wenn sie sich nicht immer die gleichen Formulierungen zu eigen machten. In der christlichen Welt setzt sich dann der Kampf Thomas versus Ockham in immer neuen Spielarten fort, in Form der Auseinandersetzung zwischen Jesuiten und Jansenisten bis in unsere Tage.
Die Kompatibilität des mechanistischen Weltbildes mit der Ockhamschen Position ist nun leicht ersichtlich, denn hier handelt es sich tatsächlich um eine völlig neutrale Sicht der kosmologischen Ordnung, die nur darauf wartet, ihre Zweckbestimmung durch göttlichen Befehl verliehen zu bekommen. Die Tatsache/Wert-Spaltung ist ursprünglich eine theologische These und Gott ist zuerst ihr alleiniger Nutznießer. Gerade auf dieser Entwicklungsstufe ist die religiöse Motivation dieser Anschauung evident, sie dient der Verteidigung der göttlichen Wahlfreiheit.
Diese Konzeption von Freiheit wird im Laufe der Zeit zunehmend auf den Menschen übertragen. Die uns vorgegebenen Zwecke sind nun nicht mehr durch die Natur der kosmologischen Ordnung, in die wir eingebunden sind, verbürgt, sondern eher durch die Natur unserer Verstandeskräfte. Diese verlangen, daß wir die Welt qua Objektivierung kontrollieren und sie den Anforderungen einer instrumentellen Vernunft unterwerfen. Die Instrumentalisierung der uns umgebenden Welt erfolgt gemäß in uns selbst gegebener Zwecke. Die Zwecke des Lebens sind Selbsterhaltung und das, was man später das Streben nach Glück nannte; beide sind als solche durch die Natur vorgegeben. Die Würde dieses Bestrebens besteht darin, daß es sich nicht in einer blinden, zügellosen oder undisziplinierten Art und Weise vollzieht, sondern unter der Kontrolle einer vorausblickenden, kalkulierenden Vernunft.
Die Folgen sind nur allzu gut bekannt: Vernunft wird nicht mehr substantiell definiert, etwa im Bezugsrahmen einer kosmologischen Ordnung, sondern formal; das Denken soll sich an Verfahren orientieren, speziell solchen, die eine Übereinstimmung von Mitteln und Zwecken einschließen. Die Vormachtstellung der Vernunft wird daher neu interpretiert und bezieht sich nun nicht mehr auf eine Lebensführung gemäß der Vorstellung einer festgefügten Ordnung, sondern vielmehr auf die Kontrolle der Bedürfnisse durch die Imperative der instrumentellen Vernunft. Freiheit besteht folglich in der Lösung von jeglichen äußeren Mächten und in der ausschließlichen Anwendung von Verfahren der subjektiven Vernunft. Der Begriff der menschlichen Würde unterliegt ebenfalls einem Bedeutungswandel; es besteht keine Verpflichtung auf eine kosmologische Ordnung mehr, sondern es ist der Status des Subjekts als souveränes Vernunftwesen, der zu rationaler Kontrolle verpflichtet. Dies ist nicht einer Ordnung der Dinge geschuldet, sondern der eigenen Würde.
[...]
Wir haben bis jetzt gesehen, daß die moderne metaethische Dichotomie von Tatsache und Wert nicht als zeitlose Wahrheit betrachtet werden kann, wie z. B. die Entdeckung des Gravitationsgesetzes oder der Blutzirkulation. Sie macht lediglich im Rahmen einer bestimmten ethischen Auffassung einen Sinn. Für einen Aristoteliker ist die strikte Trennung von faktischen und evaluativen Fragen jedoch sinnlos. Befürworter der Trennung werden an dieser Stelle sicher entgegnen, daß dies gerade Aristoteles’ Fehleinschätzung zeige und daß seine Theorie durch den wissenschaftlichen Fortschritt widerlegt sei. Meine bisherige Argumentation war jedoch gerade darauf abgestellt, von dieser Betrachtungsweise Abstand zu nehmen. Der wissenschaftliche Fortschritt hat die aristotelische Physik und Biologie widerlegt, aber er schließt eine Betrachtung des Moralischen in teleologischen Begriffen oder ähnliche Konzeptionen keineswegs aus. Die (natur-)wissenschaftliche Neuorientierung reicht als Begründung für den Perspektivenwechsel in der Ethik nicht aus. Die Aufspaltung muß eher als Bestandteil des neuen Verständnisses von Freiheit und moralischem Handeln betrachtet werden. Das autonome Subjekt und die neutrale Welt der Natur, die darauf wartet, ihre Gesetze vorgeschrieben zu bekommen, entsprechen einander. Das Subjekt muß, wenn es seine Möglichkeiten als freier Urheber von Würde und rationaler Beherrschung realisieren will, dieses Merkmal der Neutralität der Welt begreifen. Aber damit ließen wir uns von den Befürwortern der Tatsache/Wert-Dichotomie gewaltig hinters Licht führen. Was als kontextunabhängige metaethische Konstruktion angenommen wird - nämlich die Regeln des Argumentierens für alle möglichen moralischen Standpunkte festzulegen -, entpuppt sich lediglich als bevorzugte Interpretation einer Idealvorstellung unter anderen. Argumentationsstrukturen dieser Art sind hinlänglich bekannt. Sie bestehen darin, die scheinbar unabhängige Gültigkeit bestimmter metaethischer Annahmen zu entlarven, was in Wirklichkeit die Regeln des Diskurses im Interesse einer einzigen Position festlegt, indem sie konkurrierende Ansätze für inkohärent erklären.
Man kann jedoch noch einen Schritt weitergehen und - mit allen Mitteln einer Phänomenologie des Moralischen - nachweisen, daß die hier kritisierte metaethische Position nicht nur voreingenommen, sondern auch falsch ist.
Charles Taylor, Die Motive einer Verfahrensethik, in: Wolfgang Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt am Main, 1986, S. 101-135, hier S. 104-109.
Dies soll vorerst zur tieferen Einstimmung in das Thema der Spaltung von Sein und Sollen genügen. Es wird ohnehin im weiteren Verlauf auf die darin angesprochenen Fragen näher einzugehen sein. Nun wollen wir uns der neben der Trennung von Werten und Tatsachen von Hallaq eingangs angeführten Problematik zuwenden, nämlich der Frage der Moralbegründung.
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