2 Dekolonisierung westlicher Uni‑versalismen: Dekoloniale Pluri-versalismen von Aimé Césaire bis zu den Zapatisten

Autor: Yusuf Kuhn -
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 34

Dieser Essay erörtert den Begriff des „Universalen“ innerhalb der westlichen philosophischen Tradition und schlägt vermittels des Denkens von Aimé Césaire, Enrique Dussel und den Zapatisten eine andere, mehr dekoloniale Weise des Denkens von Universalität vor. Der erste Teil untersucht den Begriff des „Universalen“ von René Descartes bis Karl Marx, während sich der zweite Teil auf Aimé Césaires aus einer afro-karibischen dekolonialen Perspektive eingebrachten Fassung dieses Begriffs konzentriert. Der dritte Teil analysiert den von Enrique Dussel vorgeschlagenen Begriff der Transmoderne, und der vierte Teil erörtert den Unterschied zwischen Postmoderne und Transmoderne am Beispiel des von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vorgebrachten postmodernen Verständnisses von Hegemonie sowie des von den Zapatisten in La otra campaña (Die Andere Kampagne) vorgebrachten transmodernen Verständnisses von Politik. Zum Abschluss erörtere ich die Auswirkungen all dieser Überlegungen im Hinblick auf die Debatte in der Linken über die Vorhutpartei (vanguard party) versus die Nachhutbewegung (rearguard movement).

2.1 Westlicher Universalismus: Von Descartes bis Marx

Im Westen gibt es eine lange Tradition des Denkens über das Universale. René Descartes, der Begründer der modernen Philosophie mit seinem Motto „Ich denke, also bin ich“, fasste das Universale als ein ewiges Wissen jenseits von Zeit und Raum auf, das heißt, es kommt einem Blick mit dem Auge Gottes gleich (equivalent to a God’s-eye view). Im Kampf gegen die hegemoniale christliche Theologie jenes Zeitalters (Mitte des 17. Jahrhunderts), die ich hier im Anschluss an Walter Mignolo als Theo-Politik des Wissens (theo-politics of knowledge) bezeichne,1 platzierte Descartes das Ich (ego) am Grund des Wissens in eine Stellung, die zuvor dem „christlichen Gott“ vorbehalten war. Alle Attribute dieses „christlichen Gottes“ wurden somit in das „Subjekt“, das Ego verlegt.

Um die Möglichkeit eines Wissens jenseits von Zeit und Raum, aus den Augen Gottes, beanspruchen zu können, war es grundlegend, das Subjekt von allen Körpern und Orten loszulösen, das heißt, das Subjekt von allen räumlichen oder zeitlichen Bestimmungen zu entleeren. So war dieser Dualismus zwischen dem Subjekt und allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen also eine grundlegende konstitutive Achse des Cartesianismus. Es war dieser Dualismus, der es Descartes ermöglichte, das Subjekt einem „Nicht-Raum“ und einer „Nicht-Zeit“ zuzuweisen und damit den Anspruch zu erheben, jenseits aller räumlich-zeitlichen Grenzen der Kartographie der globalen Macht zu sprechen.

Um das individuelle Subjekt am Grund allen Wissens platzieren zu können, stattete es der innere Monolog des Subjekts ohne jede dialogische Beziehung zu anderen Menschen mit der Befähigung aus, den Zugang zur Wahrheit in ihrer Form sui generis zu beanspruchen, das heißt, als selbsterzeugt, isoliert von sozialen Beziehungen zu anderen Menschen. Der Mythos der Selbstproduktion der Wahrheit durch das isolierte Subjekt ist ein konstitutiver Teil des Mythos der Moderne, des Mythos eines selbsterzeugten und isolierten Europas, das sich aus sich selbst heraus entwickelt, ohne von sonst irgendjemandem auf der Erde abhängig zu sein.

Wir sehen also, dass ebenso wie der Dualismus auch der Solipsismus konstitutiv für die cartesianische Philosophie ist. Ohne Solipsismus kann es keinen Mythos eines Subjekts mit uni­versaler Rationalität geben, das sich selbst als solches bestätigt. Wir sehen hier den Beginn der Ego-Politik des Wissens (ego-politics of knowledge),2 die nichts weniger ist als eine Säkularisierung der christlichen Kosmologie der Theo-Politik des Wissens. In der Ego-Politik des Wissens wird das Subjekt der Äußerung (subject of enunciation) ausgelöscht, versteckt, getarnt durch das, was Santiago Castro-Gómez Nullpunkt-Philosophie (zero-point philosophy) genannt hat.3 Letztere steht für den Standpunkt, der sich als Standpunkt verbirgt, oder, anders ausgedrückt, für den Standpunkt, der davon ausgeht, keinen Standpunkt zu haben.

Wir haben es also mit einer Philosophie zu tun, in der das epistemische Subjekt keine Sexualität, kein Geschlecht, keine Ethnizität, keine Rasse, keine Klasse, keine Spiritualität, keine Sprache und keine epistemische Verortung innerhalb von Machtverhältnissen hat, und mit einem Subjekt, das die Wahrheit aus einem inneren Monolog mit sich selbst hervorbringt, ohne Beziehung zu jemandem außerhalb von ihm. Das heißt, wir haben es mit einer tauben Philosophie zu tun, einer Philosophie ohne Gesicht, die keine Schwerkraft spürt. Dieses gesichtslose Subjekt schwebt durch den Himmel, ohne durch irgendetwas oder irgendjemanden bestimmt zu sein.

Enrique Dussel hat uns bei mehreren Gelegenheiten daran erinnert, dass dem cartesianischen „ego cogito“ des „Ich denke, also bin ich“ 150 Jahre des imperialen „ego conquiro“ des „Ich erobere, also bin ich“ vorausgehen.4 Wir sollten uns ins Gedächtnis rufen, dass Descartes seine Philosophie in Amsterdam genau zu dem Zeitpunkt in der Mitte des 17. Jahrhunderts entwarf, als Holland zum Zentrum des Weltsystems wurde. Dussel will uns damit sagen, dass die politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Bedingungen der Möglichkeit für ein Subjekt, das sich hochmütig anmaßt, so zu sprechen, als sei es das Auge Gottes, ein Subjekt ist, dessen geopolitischer Standort durch seine Existenz als Kolonisator/Eroberer (colonizer/conqueror), das heißt als Imperiales Sein/Wesen (Imperial Being), bestimmt ist.

Der dualistische und solipsistische Mythos eines selbsterzeugten Subjekts ohne räumlich-zeitliche Verortung innerhalb globaler Machtverhältnisse eröffnet daher den epistemologischen Mythos der eurozentrierten Moderne. Dies bezieht sich auf den Mythos eines selbsterzeugten Subjekts, das mittels eines Monologs Zugang zu einer universalen Wahrheit jenseits von Raum und Zeit hat; das heißt, durch eine Taubheit gegenüber der Welt und durch die Auslöschung des Gesichts des Subjekts der Äußerung, was so viel bedeutet wie eine Blindheit gegenüber seiner eigenen räumlichen und körperlichen Verortung innerhalb der Kartographie der globalen Macht.

Dieser cartesianische Solipsismus sollte zwar von der westlichen Philosophie selbst in Frage gestellt werden. Was jedoch als dauerhafterer Einfluss des Cartesianismus bis in die Gegenwart bestehen bleiben sollte, ist die gesichtslose Nullpunkt-Philosophie, die von den Humanwissenschaften ab dem 19. Jahrhundert als Epistemologie der axiologischen Neutralität und empirischen Objektivität des Subjekts, das wissenschaftliche Erkenntnis hervorbringt, aufgegriffen werden sollte.

Obwohl einige Strömungen wie die Psychoanalyse und der Marxismus diese Prämissen in Frage gestellt haben, neigen Marxisten und Psychoanalytiker immer noch dazu, Wissen vom Nullpunkt aus hervorzubringen, das heißt, ohne den Ort zu hinterfragen, von dem aus sie sprechen und dieses Wissen hervorbringen. Dies ist für unsere Zwecke von grundlegender Bedeutung, denn der Begriff der Universalität, den die westliche Philosophie von Descartes an prägen sollte, sollte ein abstrakter Universalismus sein. Abstrakt im doppelten Sinne:

1) Universalismus-Typ 1: Der erste im Sinne von Äußerungen (utterances), einem Wissen, das von jeder räumlich-zeitlichen Bestimmung losgelöst ist und den Anspruch erhebt, ewig zu sein.

2) Universalismus-Typ 2: Der zweite im epistemischen Sinne eines Subjekts der Äußerung (subject of enunciation), das losgelöst und entleert ist von Körper und Inhalt sowie von seiner Verortung innerhalb der Kartographie der globalen Macht, von der aus es Wissen hervorbringt.

Die Abspaltung des Subjekts von Körper und Raum erlaubt Descartes infolgedessen, Wissen mit einem Wahrheitsanspruch hervorzubringen, das für alle Menschen auf der Erde universal gültig ist. Der erste Typ des abstrakten Universalismus (der der Äußerungen) ist nur möglich, wenn man den zweiten (den des Subjekts der Äußerung) voraussetzt. Der erste Sinn des abstrakten Universalismus, der eines Universalismus, der auf einem Wissen mit Anspruch auf räumlich-zeitliche Universalität beruht, auf Äußerungen, die von jeglicher Räumlichkeit und Zeitlichkeit „losgelöst“ (abstracted) sind, wurde in eben dieser westlichen Kosmologie und Philosophie zwar hinterfragt. Aber der zweite Sinn des abstrakten Universalismus, der epistemische Sinn eines Subjekts der Äußerung, das in räumlich-zeitlicher Hinsicht gesichtslos und ortlos ist, der Universalismus der Ego-Politik des Wissens, hat sich vermittels des Nullpunkts der westlichen Wissenschaft bis in unsere Zeit behauptet – selbst bei denjenigen, die Descartes kritisiert haben -, und dies stellt eine der schädlichsten Hinterlassenschaften des Cartesianismus dar.

In der Kritik der reinen Vernunft5 versuchte Immanuel Kant, der ein Jahrhundert nach Descartes (im 18. Jahrhundert) schrieb, einige der Dilemmata des cartesianischen Universalismus aufzulösen, indem er die Kategorien von Raum und Zeit zu inhärenten Kategorien des Geistes der „Männer“ (men) und damit zu universalen, apriorischen Kategorien allen Wissens machte. Das transzendentale kantische Subjekt kann kein Wissen außerhalb der Kategorien von Zeit und Raum hervorbringen, wie es der Cartesianismus behauptet, weil diese Kategorien bereits im Geist aller Menschen vorhanden sind. Für Kant sind dies die Bedingungen der Möglichkeit einer universalistischen Intersubjektivität, in der alle Menschen eine Form des Wissens als wahr und universal anerkennen würden.

Im Gegensatz zu Descartes hat die menschliche Erkenntnis für Kant Grenzen und kann „das Ding an sich“ nicht erkennen. Indem er die cartesianische Tradition reformiert und fortsetzt, sieht Kant in den inhärenten apriorischen Kategorien, die dem Geist aller Menschen gemein sind, jedoch die Möglichkeit, das Chaos der empirischen Welt so zu organisieren, dass ein Wissen hervorgebracht werden kann, das intersubjektiv als wahr und universal anerkannt wird.

Es ist zudem wichtig, darauf hinzuweisen, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Eurozentrismus, der bei Descartes implizit bleibt, explizit macht. In Kants Werk ist die transzendentale Vernunft keine Eigenschaft all jener Wesen, die wir aus einer dekolonisierenden, antirassistischen und antisexistischen Perspektive zu den menschlichen Wesen zählen würden. Für Kant gehört die transzendentale Vernunft grundsätzlich zu denen, die als „Männer“ gelten. Wenn wir uns seine anthropologischen Werke vornehmen, können wir sehen, dass für Kant die transzendentale Vernunft überwiegend männlich, weiß und europäisch ist.6 Afrikanische, indigene asiatische und südeuropäische (spanische, italienische und portugiesische) Männer und alle Frauen (einschließlich Europäerinnen) haben nicht den gleichen Zugang zur „Vernunft“.7 Die Geographie der Vernunft ändert sich mit Kant, da er aus dem Deutschland des 18. Jahrhunderts zu genau dem Zeitpunkt schreibt, zu dem andere Imperien in Nordwesteuropa (einschließlich Frankreich, Deutschland und England) Holland verdrängen und in Konkurrenz zueinander den neuen Kern des Weltsystems ausbilden.

Kant hält den cartesianischen Geist-Körper-Dualismus und Solipsismus aufrecht, allerdings in einer reformierten und aktualisierten Form. Er stellt den ersten Typ des abstrakten cartesianischen Universalismus (den der Äußerungen) in Frage, das heißt die Möglichkeit der ewigen Erkenntnis des Dings an sich, jenseits aller räumlich-zeitlichen Kategorien. Aber er erhält und vertieft den zweiten Typ des abstrakten cartesianischen Universalismus, den epistemologischen Typ, in dem wir bei der Explizitmachung dessen, was bei Descartes implizit war, das Privileg des „europäischen Mannes“ in der Produktion universalen Wissens sehen. Das heißt, dass auf der Ebene des Subjekts der Äußerung ein Partikulares das Universale für den Rest des Planeten festlegt. Wenn Kant seinen Kosmopolitismus vorschlägt, handelt es sich daher in Wirklichkeit um einen europäischen Provinzialismus, der als universalistischer Kosmopolitismus getarnt und dem Rest der Welt als imperialer Entwurf verkauft wird.8

In den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts revolutioniert Hegel die westliche Philosophie auf bedeutende Weise. Sowohl in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte9 als auch in der Enzyklopädie10 stellt er den Solipsismus in Frage, um das Subjekt der Äußerung in seinem historisch-universalen Kontext zu verorten. Und in der Phänomenologie11 überwindet er den Dualismus, indem er die Identität von Subjekt und Objekt vorschlägt. Hegel erreicht dies, indem er den kantischen Transzendentalismus auf zweierlei Weise in Frage stellt: 1) anstelle der inhärenten Kategorien historisiert Hegel die philosophischen Kategorien,12 und 2) anstelle des kantischen Dualismus in Bezug auf die Unmöglichkeit, das Ding an sich zu erkennen, ist für Hegel das Wahre das Ganze, das heißt der Prozess der dialektischen Bewegung des Denkens selbst, der die wirkliche Bewegung des Dings an sich erfasst.13

Für Hegel verläuft die Bewegung des Denkens vom Abstrakten zum Konkreten. Die Entwicklung der Kategorien verläuft parallel zur Universalgeschichte, da letztere ein Ausdruck der ersteren ist. Kategorien oder Begriffe werden aus den Vermittlungen, Widersprüchen und Negationen des Denkens abgeleitet und führen von abstrakten Universalien zu konkreten Universalien. Mit der Negation der Kategorien meint Hegel nicht ihr Verschwinden, sondern lediglich ihre Aufhebung, das heißt, dass einfache Kategorien als Bestimmungen komplexerer Kategorien aufrechterhalten werden. Durch diese Bewegung behauptet Hegel, zu einem absoluten Wissen zu gelangen, das jenseits von Zeit und Raum gültig ist. Unter abstraktem Universalismus versteht Hegel einfache Kategorien, das heißt solche ohne Bestimmungen, die in sich selbst keine anderen Kategorien enthalten. Einfache Kategorien, abstrakte Universalien, sind Hegels Ausgangspunkt der Wissensproduktion.

Das konkrete Universale stellt für Hegel jene komplexen Kategorien dar, die, einmal gedacht, verschiedene Negationen und Vermittlungen durchlaufen haben und reich an mannigfaltigen Bestimmungen sind.14 Unter mannigfaltigen Bestimmungen versteht Hegel jene komplexen Kategorien, die durch Aufhebung (aber nicht durch Verschwinden) die einfachsten Kategorien enthalten, nachdem letztere durch einen dialektischen Prozess des Denkens negiert worden sind. Die Hegelsche dialektische Methode ist ein epistemischer Mechanismus, der alle Alterität und Differenz aufhebt und in einen Teil des Gleichen verwandelt, bis er zum absoluten Wissen gelangt, das „das Wissen allen Wissens“ wäre und mit dem Ende der Geschichte zusammenfiele, und zwar aus dem Grund, dass von diesem Punkt an auf der Ebene des Denkens und der menschlichen Geschichte nichts Neues mehr hervorgebracht werden könnte.

Mit dem Anspruch auf absolutes Wissen gelangt Hegel schließlich zu dem Punkt, seine Innovation auf der Ebene des Universalismus vom Typ 1, dem der Äußerungen, zu verraten, da, statt seine Historisierung der Kategorien und Äußerungen fortzuführen, das absolute Wissen als eine neue Art von cartesianischem Universalismus dient, der für die gesamte Menschheit und für alle Zeiten und Räume wahr ist. Der Unterschied zwischen Descartes und Hegel besteht also darin, dass für ersteren der ewige Universalismus apriorisch ist, während für letzteren das ewige Universale nur durch eine aposteriorische historische Rekonstruktion des allgemeinen Geists durch die gesamte Geschichte der Menschheit möglich wäre.

Aber mit „Menschheit“ meint Hegel nicht alle Menschen. Er sah sich selbst als Philosoph der Philosophen, als Philosoph des Endes der Geschichte. In Kontinuität mit dem epistemischen Rassismus der westlichen Philosophen, die ihm vorausgegangen waren, verstand Hegel den allgemeinen Geist, die Vernunft, als sich von Osten nach Westen bewegend.15 Der Osten ist die stagnierende Vergangenheit, der Westen ist die Gegenwart, die den allgemeinen Geist entwickelt hat, und das weiße Amerika ist die Zukunft. Wenn Asien eine inferiore Stufe des allgemeinen Geistes darstellte, bilden Afrika und die indigene Welt nicht einmal einen Teil davon, und Frauen wurden nicht einmal erwähnt, außer wenn von Ehe und Familie die Rede ist.

Für Hegel konnte das absolute Wissen, das ein konkretes Universales in dem Sinne darstellt, dass es aus mannigfaltigen Bestimmungen resultiert, nur von weißen, christlichen, heterosexuellen, europäischen Männern erreicht werden, und die Mannigfaltigkeit der Bestimmungen des absoluten Wissens wird dadurch in das Innere der westlichen Kosmologie/Philosophie aufgehoben. Im Hegelschen absoluten Wissen bleibt nichts außerhalb in einer Position der Alterität. Infolgedessen bleibt bei Hegel der cartesianische und kantische epistemologische Rassismus des abstrakten epistemischen Universalismus (Typ 2), in dem das Universale auf der Grundlage des Partikularen (des westlichen Mannes) bestimmt wird, intakt. Andere Philosophien, wie die des Ostens, werden als inferior betrachtet, und im Falle der indigenen und afrikanischen Philosophien sind sie nicht einmal des Namens Philosophie würdig, da der allgemeine Geist diese geografischen Zonen nie durchschritten hat.

Karl Marx, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb, nahm wichtige Modifikationen an dieser Tradition des westlichen philosophischen Denkens vor. Ich werde mich hier auf die beiden diskutierten Universalismus-Typen beschränken. Marx kritisiert die Hegelsche Dialektik für ihren Idealismus und den Feuerbachschen Materialismus für seinen Mechanizismus/Reduktionismus, das heißt für seinen Mangel an Dialektik angesichts der menschlichen Praxis, die Natur und sich selbst zu transformieren.

Für Marx ist die Hegelsche Bewegung vom Abstrakten zum Konkreten nicht einfach eine Bewegung von philosophischen Kategorien, sondern vielmehr eine der Kategorien der politischen Ökonomie.16 Im Gegensatz zu Hegel haben für Marx die Bestimmungen der politischen Ökonomie über das soziale Leben der Menschen Vorrang vor den begrifflichen Bestimmungen. Die Hegelsche Erhebung vom Abstrakten zum Konkreten wird daher bei Marx als eine Bewegung des Denkens innerhalb der politisch-ökonomischen Kategorien seiner Epoche verstanden. Obwohl seine Definition des Abstrakten und des Konkreten derjenigen Hegels sehr ähnlich ist, in der das Konkrete reich an mannigfaltigen Bestimmungen ist, unterscheidet sich Marx von Hegel durch den Vorrang, den er den Kategorien der politischen Ökonomie einräumt, und dadurch, dass er eine Bewegung vor der Erhebung vom Abstrakten zum Konkreten postuliert, die Hegel nicht berücksichtigt. Es handelt sich dabei um die Bewegung vom Konkreten zum Abstrakten, das heißt, von der Sinneswahrnehmung und der empirischen Realität, die innerhalb eines Moments der Entwicklungsgeschichte der politischen Ökonomie und des Klassenkampfes liegen, hin zu abstrakteren Kategorien.17

Ebenso wie Hegel historisiert Marx diese Kategorien. Das, was bei Hegel als Ausgangspunkt dient, nämlich die abstraktesten universalen Kategorien, aus denen die Wirklichkeit abgeleitet wird, wird bei Marx jedoch zu Ankunftspunkten. In der materialistischen Wende von Marx sind die abstraktesten Kategorien diejenigen, die durch einen sehr komplexen historisch-sozialen Prozess des Denkens hervorgebracht werden. Daher bewegt sich für Marx die Bewegung des Denkens zunächst vom Konkreten zum Abstrakten, um einfache und abstrakte Kategorien hervorzubringen, nur um anschließend vom Abstrakten zum Konkreten zurückzukehren, um komplexe Kategorien hervorzubringen.

Hegel sah die zweite Bewegung (vom Abstrakten zum Konkreten, von einfachen Begriffen zu komplexen), aber infolge seines Idealismus war er blind für die erste Bewegung (vom Konkreten zum Abstrakten, von leeren Begriffen zu einfacheren). Die Kategorie der Arbeit ist zum Beispiel eine einfache, die in einem bestimmten Moment der menschlichen Geschichte auftaucht, wenn die Arbeit gesellschaftlich von ihrer konkreten Mannigfaltigkeit losgelöst wird. Gemäß Marx geschieht dies erst im kapitalistischen System, wenn die Handelsbeziehungen in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen überwiegen. Das ökonomische Denken kann diese Kategorie als einfachen und abstrakten Begriff erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung der menschlichen Geschichte schaffen. Zuvor bezog man sich, wenn man von Arbeit sprach, auf die konkrete, vom Menschen verrichtete Arbeit: Schuster, Näherin, Bauer, usw. Erst wenn diese verschiedenen Tätigkeiten gesellschaftlich nach ihrem Tauschwert (der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit für die Produktion einer Ware) und nicht nach dem Gebrauchswert (der mit der Produktion verbundenen Art von qualitativer Arbeit) bemessen werden, wird die Entstehung der Kategorie „Arbeit“ als abstrakter, von der konkreten Arbeit unabhängiger Begriff gesellschaftlich möglich.

Das heißt, für Marx entspringt das Denken nicht aus den Köpfen der Menschen in einem bestimmten Moment der Entwicklung des Geistes, wie es bei Hegel der Fall zu sein scheint, sondern geht stattdessen aus der bestimmten, konkreten, historisch-sozialen Situation der Entwicklung der politischen Ökonomie hervor. Auf epistemische Weise verortet Marx die Wissensproduktion also nicht als Ergebnis der Entwicklung des Geistes in einer Epoche, sondern als Ergebnis der materiellen Entwicklung der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte („Produktionsweise“).

Dieses Gründen der Geschichte des Hegelschen Geistes in der Geschichte der politischen Ökonomie und ihrer Beziehung zum Denken einer Epoche ist es, was Marx dazu veranlasst, der Hegelschen Dialektik eine materialistische Wende zu geben. Infolgedessen sollte Marx den Klassencharakter der politischen, theoretischen und philosophischen Perspektive hervorheben. Der Standpunkt des Proletariats sollte für Marx der epistemologische Ausgangspunkt für eine Kritik dessen sein, was er als bürgerliche politische Ökonomie betrachtete. Dies stellte einen wichtigen Bruch mit der westlichen philosophischen Tradition in Bezug auf diese beiden Universalismus-Typen dar.

Bei Typ 1, dem Universalismus der Äußerungen, verortete Marx diese Äußerungen wie Hegel in ihrem historischen Kontext. Im Gegensatz zu Hegel war dieser historische Kontext nicht mehr der des allgemeinen Geistes, sondern die Entwicklung der politischen Ökonomie, der Produktionsweise und des entsprechenden Klassenkampfes. Die Produktionsbedingungen nehmen in allen geschichtlichen Epochen den Vorrang über das Bewusstsein ein, immer noch eine abstrakte universale Äußerung, aber eine, in der die Operation der Bestimmung „in letzter Instanz“18 der ökonomischen Prozesse in jeder Epoche unterschiedlich sein wird. Wir haben es hier mit einer abstrakten Universalie zu tun, die mit dem politisch-ökonomischen Inhalt jeder historischen Epoche gefüllt und dadurch konkret wird.

In Typ 2, dem abstrakten epistemischen Universalismus des Subjekts der Äußerung, verortet Marx die Position, von der aus die Subjekte denken, im Verhältnis zu Klassen und dem Klassenkampf. Gegen die Tradition, die von Descartes bis Hegel reicht, verortet Marx seine Geopolitik des Wissens also im Verhältnis zu sozialen Klassen. Marx denkt von der historisch-sozialen Situation des europäischen Proletariats aus, und auf der Grundlage dieser Perspektive schlägt er einen globalen/universalen Entwurf als Lösung für die Probleme der gesamten Menschheit vor: den Kommunismus.

Was Marx mit der westlichen bürgerlichen philosophischen Tradition gemein hat, ist, dass sein Universalismus, obwohl er von einem bestimmten Ort ausgeht – in diesem Fall dem Proletariat -, die Tatsache nicht problematisiert, dass dieses Subjekt europäisch, männlich, heterosexuell, weiß, jüdisch-christlich usw. ist. Marx’ Proletariat ist ein konflikthaftes Subjekt innerhalb Europas, das es ihm nicht erlaubt, außerhalb der eurozentrischen Grenzen des westlichen Denkens zu denken. Weder die kosmologische und epistemologische Diversalität noch die Mannigfaltigkeit der sexuellen, geschlechtlichen, rassischen und religiösen Machtverhältnisse werden in seinem Denken berücksichtigt oder epistemisch verortet.

Genau wie die westlichen Denker, die ihm vorausgingen, beteiligt sich Marx am epistemischen Rassismus, in dem es nur eine einzige Epistemologie mit Zugang zur Universalität gibt: die westliche Tradition. Bei Marx, im epistemischen Universalismus des zweiten Typs, bleibt das Subjekt der Äußerung verborgen, getarnt, versteckt unter einer neuen abstrakten Universalie, die nicht mehr „der Mann“, „das transzendentale Subjekt“, „das Ego“ ist, sondern „das Proletariat“ und sein universales politisches Projekt, „Kommunismus“. Das kommunistische Projekt des 20. Jahrhunderts war also, wenn auch von links, ein weiterer westlicher globaler imperialer/kolonialer Entwurf, der unter dem Sowjetimperium versuchte, sein universales Abstraktum des „Kommunismus“ als „die Lösung“ für globale Probleme in den Rest der Welt zu exportieren.

Marx reproduziert einen epistemischen Rassismus ähnlich dem von Hegel, der es ihm nicht erlaubt, außereuropäischen Völkern und Gesellschaften entweder zeitliche Gleichzeitigkeit oder die Fähigkeit zuzugestehen, Gedanken hervorzubringen, die es wert sind, als Teil des philosophischen Erbes der Menschheit oder der Weltgeschichte betrachtet zu werden. Für Marx waren die außereuropäischen Völker und Gesellschaften primitiv, rückständig, das heißt, Europas Vergangenheit. Sie hatten weder die Entwicklung der Produktivkräfte noch das Niveau der sozialen Evolution der europäischen Zivilisation erreicht. Im Namen ihrer Zivilisierung und Befreiung aus der ahistorischen Stagnation vorkapitalistischer Produktionsweisen sollte Marx daher die britische Invasion Indiens im 18. Jahrhundert und die Invasion der Vereinigten Staaten in Nordmexiko im 19. Jahrhundert befürworten.

Für Marx war die „asiatische Produktionsweise“ der orientalistische Begriff, mit dem er die nicht-westlichen Gesellschaften charakterisierte. Diese „asiatische Produktionsweise“ zeichnete sich durch ihre Unfähigkeit zur Veränderung und Transformation aus, das heißt durch ihre stets unendliche und ewige zeitliche Reproduktion. Marx hatte Teil an der Linearität der Zeit, die für das westliche evolutionistische Denken charakteristisch ist. Der Kapitalismus war ein weiter fortgeschrittenes System, und im Gefolge der Rhetorik der Errettung der eurozentrischen Modernität19 war es für die außereuropäischen Völker besser, ihren evolutionären Prozess hin zum Kapitalismus durch imperiale Invasionen zu beschleunigen, als weiterhin in antiquierten Formen der gesellschaftlichen Produktion zu stagnieren.

Dieser ökonomistische Evolutionismus sollte die Marxisten des 20. Jahrhunderts in eine Sackgasse führen. Das marxistische Denken, obwohl es von der Linken ausging, blieb letztlich in denselben Problemen des Eurozentrismus und des Kolonialismus verfangen, die die eurozentrischen Denker der Rechten gefangen hielten.

An dieser Stelle möchte ich zwei entscheidende Punkte hervorheben:

1) Jeder Kosmopolitismus oder jedes globale Projekt, das auf den abstrakten Universalismus des zweiten Typs gegründet wird, das heißt auf den epistemologischen Universalismus der Ego-Politik des Wissens, wird nicht vermeiden können, ein weiterer globaler imperialer/kolonialer Entwurf zu werden. Wenn die universale Wahrheit auf die Epistemologie eines bestimmten Territoriums oder Körpers (sei er westlich, christlich oder islamisch) und auf den Ausschluss anderer gegründet wird, dann wird der Kosmopolitismus oder das globale Projekt, das auf diese abstrakte universalistische Epistemologie gegründet wird, schon seinem Wesen nach imperialistisch/kolonial sein.

2) Der abstrakte epistemische Universalismus in der modernen/kolonialen westlichen philosophischen Tradition ist ein intrinsischer Bestandteil des epistemologischen Rassismus. Mit anderen Worten: Der epistemische Rassismus ist der modernen westlichen Philosophie inhärent. Wenn universale Vernunft und Wahrheit nur von einem weißen, europäischen, männlichen, heterosexuellen Subjekt hervorgebracht werden können und wenn die einzige Denktradition mit dieser Fähigkeit zur Universalität und mit Zugang zur Wahrheit die westliche Tradition ist (die alles nicht-westliche Wissen inferiorisiert), dann kann es keinen abstrakten Universalismus ohne epistemischen Rassismus geben. Epistemologischer Rassismus ist intrinsischer Bestandteil eines westlichen „abstrakten Universalismus“, der verschleiert, wer spricht und von wo aus gesprochen wird.

Die Frage ist also: Wie können wir dem Dilemma zwischen isolierten provinziellen Partikularismen und abstrakten Universalismen, die als „kosmopolitisch“ getarnt, aber ebenso provinziell sind, entkommen? Wie können wir den westlichen Universalismus dekolonisieren?

2.2 Aimé Césaire und ein „anderer“ Universalismus

Um der Misere der Ego-Politik des Wissens zu entkommen, ist es absolut notwendig, die Geographie der Vernunft in Richtung einer „anderen“ Geopolitik und Ego-Politik des Wissens zu verschieben. Hier werden wir die Geographie der Vernunft von den westlichen Philosophen zum afro-karibischen Denker Aimé Césaire verschieben, der von der Insel Martinique stammt und der Lehrer von Frantz Fanon war. Césaire ist einer der wichtigsten dekolonialen Denker, und sein immenser Beitrag bildet den Ausgangspunkt für eine Ära der „Césaireschen Dekolonialen Wissenschaften“ im Gegensatz zu den „Cartesianischen Kolonialen Wissenschaften“.20

Ich werde mich hier auf einen unerforschten Bereich in der Literatur über Césaires Denken konzentrieren: sein einzigartiger und origineller dekolonialer Begriff der „Universalität“.21 In seinem Rücktrittsschreiben an die Französische Kommunistische Partei Mitte der 1950er Jahre, das an den damaligen Generalsekretär Maurice Thorez gerichtet war, greift Césaire den abstrakten Universalismus des eurozentrischen marxistischen Denkens an. Césaire schreibt dazu Folgendes:

Provinzialismus? Ganz und gar nicht. Ich werde mich nicht auf einen engen Partikularismus beschränken. Aber ich beabsichtige auch nicht, mich in einem entkörperlichten Universalismus zu verlieren. Es gibt zwei Möglichkeiten, sich zu verlieren: durch die eingemauerte Absonderung im Partikularen oder durch die Auflösung im „Universalen“. Meine Vorstellung vom Universalen ist die eines Universalen, das reich an allem ist, was partikular ist, reich an allen Partikularien, die Vertiefung und Koexistenz aller Partikularien.22

Der Eurozentrismus hat sich auf dem Weg des entkörperlichten Universalismus, der alles Partikulare in das Universale auflöst, verloren. Der Begriff „entkörperlicht“ (décharné) ist hier entscheidend. Für Césaire ist der abstrakte Universalismus derjenige, der sich aus einem hegemonialen Partikularismus heraus als imperialer globaler Entwurf für die gesamte Welt zu etablieren sucht, und der, indem er sich als „entkörperlicht“ präsentiert, den epistemischen Ort der Äußerung verschleiert. Diese epistemische Bewegung, die für die eurozentrischen Epistemologien des „Nullpunkts“ und der „Ego-Politik des Wissens“ typisch ist, war für koloniale Projekte von zentraler Bedeutung. Mit dieser Kritik legt Césaire, ausgehend von der Erinnerung an die Sklaverei und der Erfahrung der Körperpolitik des Wissens eines französisch-karibischen schwarzen Subjekts/Untertans, die weiße westliche Geo- und Körperpolitik des Wissens, die sich unter dem „entkörperlichten“ abstrakten Universalismus der Ego-Politik des Wissens verbirgt, offen und macht sie sichtbar.

Der universalistische Republikanismus des französischen Empires war einer der wichtigsten Vertreter des abstrakten Universalismus in seinem Bestreben, alle Partikularien unter der Hegemonie einer einzigen Partikularität, in diesem Fall des weißen westlichen Mannes, zu subsumieren, sie zu verwässern und zu assimilieren. Es ist dieser Universalismus, den ein großer Teil der weißen, kreolischen Eliten in Lateinamerika in Nachahmung des französischen imperialen Republikanismus in Diskursen über die „Nation“ reproduziert hat, die afrikanische und indigene Partikularitäten in einer abstrakten, universalen „Nation“ auflösen, die die Partikularität des europäischen Erbes der weißen Kreolen gegenüber allen anderen privilegiert. Aber wir sehen die Reproduktion dieses kolonialen, eurozentrischen Universalismus nicht nur in Diskursen der Rechten, sondern auch in gegenwärtigen marxistischen und postmarxistischen Strömungen, wie weiter unten erörtert wird.

Gegen dieses Projekt eines abstrakten, rassistischen, imperialen Universalismus und gegen die Dritte-Welt-Fundamentalismen bekräftigt Césaires Dekolonisation, die sich auf die afro-karibische Erfahrung stützt, keinen engen und geschlossenen Partikularismus, der zu einem segregationistischen Provinzialismus oder Fundamentalismus führt, der sich in seiner eigenen Partikularität verschließt. Für Césaire bedeutet Dekolonisation vielmehr die Bekräftigung eines konkreten Universalen, in das alle Partikularien eingebettet sind. Während der abstrakte Universalismus vertikale Beziehungen zwischen den Völkern herstellt, ist der konkrete Universalismus von Césaire in den Beziehungen, die er zwischen den Partikularitäten herstellt, notwendigerweise horizontal. Hier bekommt die Idee des konkreten Universalismus eine ganz andere Bedeutung als bei Hegel und Marx.

Während sich der konkrete Universalismus bei Hegel und Marx auf jene Begriffe bezog, die reich an mannigfaltigen Bestimmungen sind, aber innerhalb einer einzigen Kosmologie und einer einzigen Episteme (in diesem Fall der westlichen), in der die Bewegung der Dialektik alle Alterität zum Gleichen zermalmt, ist für Césaire das konkrete Universale das, was sich aus mannigfaltigen kosmologischen und epistemologischen Bestimmungen ergibt (im Gegensatz zu einem Uni-versum (uni-verse)).

Der Césairesche konkrete Universalismus ist das Ergebnis eines horizontalen Prozesses des kritischen Dialogs zwischen Völkern, die einander als Gleiche begegnen. Der abstrakte Universalismus ist von Natur aus autoritär und rassistisch, während Césaires konkreter Universalismus hochgradig demokratisch ist.

Césaires philosophische Intuition, die durch eine afro-karibische Geo- und Körperpolitik des Wissens gedacht wird, ist eine Quelle der Inspiration für die Formulierung praktischer Auswege aus den Dilemmata der Ausbeutung und Beherrschung im gegenwärtigen Weltsystem jenseits des eurozentrischen Fundamentalismus und der Dritte-Welt-Fundamentalismen. Inspiriert von den philosophischen Intuitionen Césaires werde ich versuchen, folgende Fragen zu beantworten: Was würde heute ein Césairesches konkret-universalistisches Projekt der Dekolonisation darstellen? Was sind die politischen Implikationen dieses Projekts? Wie können diese philosophischen Intuitionen Césaires in einem Projekt zur radikalen Transformation der kolonialen Machtmatrix dieses „europäischen/euro-nordamerikanischen kapitalistischen/patriarchalen modernen/kolonialen Weltsystems“23 konkretisiert werden?

2.3 Die Transmoderne als utopisches Dekolonisations-Projekt

Ein horizontaler, befreiender Dialog im Gegensatz zu einem vertikalen, westlichen Monolog erfordert die Dekolonisation globaler Machtverhältnisse. Wir können nicht von einem Habermas’schen Konsens24 oder horizontalen Verhältnissen der Gleichheit zwischen Kulturen und Völkern ausgehen, wenn diese auf globaler Ebene in die beiden Pole der kolonialen Differenz aufgespalten sind. Nichtsdestotrotz können wir beginnen, uns „alter-ative“ Welten jenseits des Dilemmas von eurozentrischem Fundamentalismus versus Dritte-Welt-Fundamentalismen vorzustellen.

Ich werde mich hier auf den Begriff der Transmoderne konzentrieren, wie er von dem lateinamerikanischen Philosophen Enrique Dussel entwickelt wurde. Seine besondere Verwendung dieses Begriffs ist ein utopisches Projekt, das die eurozentrische Version der Moderne überwinden soll. Im Gegensatz zum Projekt von Habermas, der es als seine zentrale Aufgabe ansieht, das unvollendete und unvollständige Projekt der Moderne zu vollenden, ist Dussels Transmoderne ein Projekt, das in einem langen Prozess versucht, das unvollendete Projekt der Dekolonisation zu vollenden. Die Transmoderne würde die Konkretisierung des konkreten Universalismus, zu dessen Konstruktion uns Césaires philosophische Intuition einlädt, auf der Ebene eines politischen Projekts darstellen.

Anstelle einer Moderne, die in Europa/Euro-Nordamerika zentriert und dem Rest der Welt als imperialer/kolonialer globaler Entwurf aufgezwungen wird, plädiert Dussel für eine Mannigfaltigkeit kritischer, dekolonisierender Perspektiven gegen und jenseits der eurozentrierten Moderne ausgehend von den verschiedenen epistemischen Orten der kolonisierten Völker der Welt. So wie es kein absolutes Außen dieses Weltsystems gibt, gibt es auch kein absolutes Innen. Alternative Epistemologien können das bieten, was der karibische Kulturkritiker Édouard Glissant als eine „Diversalität“ von Antworten auf die Probleme der gegenwärtig existierenden Moderne vorschlägt.25

Die Philosophie der Befreiung kann nur von den kritischen Denkern einer jeden Kultur im Dialog mit anderen Kulturen kommen. Frauenbefreiung, Demokratie, Bürgerrechte und jene Formen ökonomischer Organisation, die Alternativen zum gegenwärtigen System darstellen, können nur aus den kreativen Antworten lokaler ethisch-epistemischer Projekte hervorgehen. Wie eine Reihe von Dritte-Welt-Frauen betont haben, können westliche Frauen ihr Verständnis von Befreiung nicht den Frauen aus der islamischen oder indigenen Welt aufzwingen.26 Genauso wenig können westliche Männer ihr Verständnis von Demokratie außereuropäischen Völkern aufzwingen. Dies ist kein Aufruf, nach fundamentalistischen oder nationalistischen Lösungen für die globale Kolonialität der Macht zu suchen. Es ist ein Aufruf, in der epistemischen Diversalität und Transmoderne eine Strategie oder einen epistemischen Mechanismus für eine dekolonisierte, transmoderne Welt zu suchen, die uns sowohl über den eurozentrischen Erste-Welt- als auch den eurozentrischen Dritte-Welt-Fundamentalismus hinausführt.

In den letzten mehr als 500 Jahren des „europäischen/euro-nordamerikanischen kapitalistischen/patriarchalischen modernen/kolonialen Weltsystems“ haben wir einen Weg beschritten von „konvertiere zum Christentum oder ich töte dich“ im 16. Jahrhundert über „zivilisiere dich oder ich töte dich“ im 18. und 19. Jahrhundert zu „entwickle dich oder ich töte dich“ im 20. Jahrhundert und in jüngster Zeit zu „demokratisiere dich oder ich töte dich“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Wir haben noch nie erlebt, dass indigene, islamische oder afrikanische Formen der Demokratie von Seiten einer systematischen und konsequenten westlichen Politik respektiert oder anerkannt wurden. Formen der demokratischen Alterität werden von vornherein abgelehnt. Die westliche liberale Form ist die einzige, die als legitim angesehen und akzeptiert wird, sofern sie nicht gegen die hegemonialen westlichen Interessen verstößt. Wenn die außereuropäischen Bevölkerungen die Bedingungen der liberalen Demokratie nicht akzeptieren, wird sie ihnen im Namen des Fortschritts und der Zivilisation mit Gewalt aufgezwungen. Die Demokratie muss in einer transmodernen Form neu konzeptualisiert werden, um sich von ihrer westlichen, liberalen Form, das heißt von der rassialisierten und kapitalistischen Form der westlichen Demokratie zu dekolonisieren.

Indem er Emmanuel Levinas’ Begriff der Exteriorität radikalisiert, sieht Dussel das epistemische Potenzial jener relativ externen Räume, die nicht vollständig von der europäischen Moderne kolonisiert wurden. Diese äußeren Räume sind weder rein noch absolut, sondern sie wurden von der Modernität/​Kolonialität des Weltsystems hervorgebracht und beeinflusst. Aus der Geo- und Körperpolitik des Wissens dieser Exteriorität oder relativen Marginalität erwächst das dekoloniale Denken als Kritik der Moderne, hin zu einer transmodernen, pluriversalen, dekolonisierten Welt mannigfaltiger und diverser ethisch-politischer Projekte, in denen es eine wahrhaft gleichberechtigte und horizontale Kommunikation und einen Dialog zwischen den Völkern der Welt geben kann, der über die für das eurozentrische Weltsystem charakteristischen Logiken und Praktiken der Beherrschung und Ausbeutung hinausgeht. Um dieses utopische Projekt zu verwirklichen, ist es jedoch von grundlegender Bedeutung, das System der Beherrschung und Ausbeutung der kolonialen Machtmatrix innerhalb des gegenwärtigen „europäischen/euro-nordamerikanischen kapitalistischen/patriarchalischen modernen/kolonialen Weltsystems“ zu transformieren.27

2.4 Post-Moderne versus Trans-Moderne?

Nichts von dem, was ich bis hierher gesagt habe, hat etwas mit der postmodernistischen Perspektive zu tun. Die transmoderne Position ist nicht das Äquivalent zur postmodernistischen Kritik. Die Postmoderne ist eine eurozentrische Kritik des Eurozentrismus und reproduziert infolgedessen alle Probleme der Moderne/Kolonialität. Wir werden das Beispiel des Postmodernismus von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe nehmen und diese Perspektive mit der des Zapatismus kontrastieren.28

Für Laclau und Mouffe konstituieren sich die Prozesse der Hegemoniebildung, wenn ein partikulares Subjekt zum leeren Signifikanten wird, durch den alle Partikularen identifiziert und mit Bedeutung versehen werden, indem sie untereinander Äquivalenzketten bilden und gleichzeitig Differenzketten gegen einen gemeinsamen Feind schaffen. Dieser gegenhegemoniale Machtblock wird immer von einem Partikularen hegemonisiert, das zum Repräsentanten aller Formen der Unterdrückung gegen einen gemeinsamen Feind wird, das aber nicht jede Partikularität in sich selbst aufnimmt, sondern sie in das abstrakte Universale des leeren Signifikanten auflöst, der das partikulare Subjekt repräsentiert, das sich in Äquivalenzketten unter den Unterdrückten artikuliert. Daher ist der Ruf „Viva Perón“ ein Beispiel für einen hegemonialen Prozess.29 Dieser Ausruf „Viva Perón“, mit dem sich alle Unterdrückten miteinander identifizieren, löst alle partikularen Forderungen in ein abstraktes Universales auf, in diesem Fall die Privilegierung der peronistischen Bewegung durch ihren Signifikanten „Perón“, der den Block der Volksmacht gegen den gemeinsamen Feind hegemonisiert.

Das Problem mit der Position von Laclau und Mouffe ist, dass sie sich keine anderen Formen des Universalismus vorstellen können, die über den abstrakten, eurozentrischen Universalismus hinausgehen, in dem ein Partikulares sich als repräsentativ für alle Partikularitäten darstellt, ohne sie in ihrer Fülle zu berücksichtigen, wodurch sich ihre Partikularität auflöst und verhindert wird, dass das neue Universale durch die Aushandlung zwischen den Partikularen entsteht. Natürlich gibt es für sie eine Grenze für die Berücksichtigung der Differenz: die epistemologische Alterität. Die epistemische Alterität der außereuropäischen Völker wird in ihrer Arbeit nicht berücksichtigt. Sie erkennen nur die Unterschiede innerhalb des Bedeutungshorizonts der westlichen Kosmologie und Epistemologie an. Für Laclau und Mouffe gibt es kein Außen – nicht einmal ein relatives Außen – des westlichen Denkens.

Kontrastieren wir diese Form des Universalismus mit derjenigen, die von den Zapatisten und La otra campaña (Die Andere Kampagne) vorgeschlagen wird: Es ist wichtig klarzustellen, dass ich hier nicht das Scheitern oder den Erfolg einer politischen Vision vorwegnehme, da im politischen Kampf nichts garantiert ist. Sie kann gewinnen oder verlieren, aber was ich hier hervorheben möchte, ist ein anderes Verständnis von Politik.

Die Zapatisten kommen nicht mit einem vorgefertigten Programm zu den Menschen, wie es bei den meisten, wenn nicht gar allen politischen Parteien von rechts bis links der Fall ist, sondern sie gehen von der Einstellung der Tojolabal-Indigenen aus, „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ (andar preguntando). Dieses „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ schlägt eine andere Art und Weise vor, Politik zu machen, ganz anders als das „zu gehen und dabei zu predigen“ (andar predicando) der jüdisch-christlichen, westlichen Kosmologie, die gleichermaßen von Marxisten, Konservativen und Liberalen reproduziert wird. Das „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ ist mit dem tojolabischen Verständnis von Demokratie als „zu befehlen und dabei zu gehorchen“ (mandar obedeciendo) verbunden, in dem „diejenigen, die befehlen, gehorchen, und diejenigen, die gehorchen, befehlen“ (el que manda obedece y el que obedece manda), was sich sehr von der westlichen Demokratie unterscheidet, in der „diejenigen, die befehlen, nicht gehorchen, und diejenigen, die gehorchen, nicht befehlen“ (el que manda no obedece y el que obedece no manda).

Ausgehend von dieser „anderen“ Kosmologie beginnen die Zapatisten mit ihrem „Tojolabal-Marxismus“ eine „andere Kampagne“, die vom „Nachhutdenken“ (rearguardism) ausgeht, das sich „fragend und zuhörend“ (preguntando y escuchando) vorwärts bewegt, anstelle eines „Vorhutdenkens“ (vanguardism), das „predigt und überzeugt“ (predicando y convenciendo).30 Die Idee oder Hoffnung der La otra campaña (Die Andere Kampagne) war, dass es nach einem langen kritischen transmodernen Dialog mit dem gesamten mexikanischen Volk möglich sein wird, ein Programm für den Kampf zu erstellen, ein universales Konkretes (im Sinne Césaires), das die partikularen Forderungen aller Subjekte und Epistemen aller unterdrückten Mexikaner in sich trägt.

Die Zapatisten gehen nicht von einem abstrakten Universalen aus (Sozialismus, Kommunismus, Demokratie, die Nation, als fließende oder leere Signifikanten), um dann allen Mexikanern die Richtigkeit dieser Ansicht zu predigen und sie davon zu überzeugen. Vielmehr gehen sie von der Idee des „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ aus, in der das Kampfprogramm ein konkretes Universales ist, das als Ergebnis, niemals als Ausgangspunkt, eines kritischen transmodernen Dialogs hervorgebracht wird, der die epistemische Diversalität und die partikularen Forderungen aller unterdrückten Menschen in Mexiko in sich aufnimmt.

Man beachte, dass es sich um ein anderes Universales handelt, oder wie Walter Mignolo31 sagen würde, ein Pluriversales, das sich sehr von jenen abstrakten Universalen des „leeren Signifikanten“ unterscheidet, der die hegemonialen Prozesse von Laclau und Mouffe, Gramscis „Subalterne“ oder Hardt und Negris „Multitude“ charakterisiert. Die Dekolonisation des eurozentrischen, westlichen Verständnisses von Universalität ist eine zentrale Aufgabe, um das zapatistische Motto zu ermöglichen, „eine Welt, in die andere Welten passen“ (un mundo donde quepan otros mundos), zu gestalten.

2.5 Vorhutpartei versus Nachhutbewegung

Diese Diskussion hat grundlegende Auswirkungen auf die gegenwärtigen Debatten in der Linken. Die leninistische Partei geht von einem messianisch-christlichen Verständnis der Kosmologie aus. Wenn Lenin sagt, dass es „ohne revolutionäre Theorie […] keine revolutionäre Bewegung“32 gibt, dann nimmt er sich Karl Kautsky zum Vorbild. Lenin zitiert Kautsky, um zu sagen, dass die Arbeiter nicht in der Lage waren, Klassenbewusstsein und revolutionäre Theorie zu entwickeln, weil sie nicht die Fähigkeit besaßen, spontan ihre eigene Theorie oder ihr Klassenbewusstsein zu entwickeln. Folglich können diese ihnen nur von außen übermittelt werden, das heißt, indem man sie ihnen predigt. Und wer ist es, der diese Theorie aufstellt und sie predigt? Für Lenin, der Kautsky folgt, können nur bürgerliche Intellektuelle, die sich kritisch mit ihrer eigenen Klassenposition auseinandersetzen, das Bewusstsein und die Theorie hervorbringen, die das Proletariat braucht, um sich zu emanzipieren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Vorhutpartei.

Dies ist eine weitere alte Debatte, die unter dekolonialen Gesichtspunkten neu überdacht werden muss. Bei Lenin sehen wir via Kautsky, wie die alte koloniale Episteme reproduziert wird, in dem die Theorie von weißen, bürgerlichen, patriarchalischen, westlichen Eliten hervorgebracht wird und die Massen passive Wesen sind, Objekte und nicht Subjekte der Theorie. Hinter einem vermeintlichen Säkularismus reproduziert diese Perspektive den jüdisch-christlichen Messianismus, der in einem säkularen, linken marxistischen Diskurs verkörpert wird. Der Unterschied zwischen Lenin und Kautsky liegt in der Art des Messianismus. Lenin reproduziert in einer sehr groben Weise den christlichen Messianismus, während Kautsky den jüdischen Messianismus reproduziert.

Im jüdischen Messianismus ist, da der Messias nie gekommen ist, die Botschaft wichtiger als der Bote. Im christlichen Messianismus hingegen ist der Bote wichtiger als die Botschaft, da man glaubt, dass der Messias nicht nur gekommen, sondern auch auferstanden ist und noch lebt. Im jüdischen Messianismus verkünden die Propheten die Ankunft des Messias und das Ende der irdischen Reiche. Im christlichen Messianismus ist der Messias da, und die Aufgabe besteht nicht so sehr darin, seine Worte in Frage zu stellen, sondern vielmehr darin, sich der Wahrheit (der Heiligen Botschaft) des Messias bedingungslos hinzugeben. Von diesem leninistisch-christlichen Messianismus kommen wir zu Stalin, einem zum Bolschewismus konvertierten christlichen Seminaristen. Stalin ist das Resultat von Lenin.

Was geschieht, wenn die Politik die jüdisch-christliche Kosmologie zugunsten anderer Kosmologien aufgibt? Ohne die Möglichkeit anderer Messianismen zu leugnen, erscheint die dekoloniale Wende bei den Zapatisten in einer „anderen“ Form des Machens von Politik, die, ausgehend von indigenen Kosmologien aus Südmexiko, alternative Formen der politischen Praxis mit einbringt. Die Zapatisten gehen vom „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ aus und schlagen von dort aus eine „Nachhutbewegung“ vor, die dazu beiträgt, eine breite Bewegung auf der Grundlage der „Verdammten dieser Erde“ ganz Mexikos zusammenzubringen. Das „zu gehen und dabei Fragen zu stellen“ führt zu dem, was die Zapatisten eine „Nachhutbewegung“ nennen, ganz im Gegensatz zum „zu gehen und dabei zu predigen“ des Leninismus, aus dem die „Vorhutpartei“ hervorgeht.

Die Vorhutpartei geht von einem von vornherein festgelegten, apriorischen Programm aus, das sich durch seine Charakterisierung als „wissenschaftlich“ selbst als „wahr“ definiert. Aus dieser Prämisse folgt eine missionarische Politik des Predigens, um die Massen von der Wahrheit des Programms der Vorhutpartei zu überzeugen und sie zu rekrutieren. Ganz anders ist die post-messianische Politik der Zapatisten, die stattdessen vom „Fragen zu stellen und zuzuhören“ ausgeht und in der die „Nachhut“-Bewegung zum Vehikel eines kritischen, transmodernen Dialogs wird, der epistemisch diversal und folglich dekolonial ist.

2.6 Fazit

Das Ziel dieses Artikels ist es, die Grenzen des westlich-männlichen Begriffs des „Uni-versalen“ aufzuzeigen und einen anderen Begriff des „Universalen“ vorzustellen, der aus einer anderen Geo- und Körperpolitik des Wissens hervorgeht. Während die westlich-männliche philosophische Tradition eine „uni-versale“ Auffassung heranzieht, die imperialistisch und autoritär ist, gibt es kritische Auffassungen, die „pluri-versal“ oder „multi-versal“ sind, die vom globalen Süden aus entwickelt wurden und eine wahrhaft demokratische, dekoloniale Alternative zu ersterer darstellen. Ich habe versucht zu argumentieren, dass die westlich-männliche philosophische Tradition einen Begriff der „Universalität“ gebraucht, der seinem Wesen nach epistemisch sexistisch und rassistisch ist. Ich habe zudem versucht zu zeigen, wie Césaire, Dussel und die Zapatisten Beispiele für eine andere Art sind, über das „Universale“ nachzudenken, die offen sind für epistemische Diversität und inter-epistemische Dialoge.

Der Aufruf zu epistemischer Diversität ist hier kein „epistemischer liberaler Multikulturalismus“, in dem jede subalternisierte epistemische Identität vertreten ist und das epistemische rassistische/sexistische Privileg westlicher Männer unangetastet bleibt. Im Gegenteil, dies ist ein Aufruf zur Überwindung des Provinzialismus der westlich-männlichen Epistemologie und der Unsichtbarkeit, die sie für die sozial-historische Erfahrung von Subjekten/Untertanen erzeugt, die geschlechtlicher, sexueller und rassistischer Unterdrückung ausgesetzt waren. Es geht hier darum, ein umfassenderes und rigoroseres kritisches Denken jenseits des epistemischen Rassismus/Sexismus zu entwickeln. Um jedoch über ein rigoroseres Konzept von Menschenwürde, Demokratie, Frauenbefreiung usw. zu verfügen, müssen wir die hegemoniale Versuchung überwinden, diese Begriffe auf eine westzentrische, provinzielle Weise zu definieren. Letzteres ist die Epistemologie, die zu imperialistischem, patriarchalischem und kolonialem Paternalismus führt, bei dem ein einziger (der westliche Mann) definiert, was für den Rest (Frauen, Dritte-Welt-Völker, Schwule/Lesben usw.) gut ist.

Die Überwindung dieses Schemas würde bedeuten, das kritische Denken ernst zu nehmen, das von anderen Genealogien des Denkens hervorgebracht wurde, die historisch subalternisiert und als dem Westen unterlegen betrachtet wurden. Dies ist weder ein Relativismus im Sinne von „alles ist möglich“ noch ein epistemischer Populismus, bei dem alles, was von einem „subalternen“ Subjekt/Untertan gesagt wird, bereits mit „kritischem Denken“ gleichzusetzen ist. Wenn ich nicht zu einer „nicht-westlichen“ Denktradition gehöre oder nichts über sie weiß, brauche ich ein Mindestmaß an Rationalität, um zu entscheiden, mit wem ich kritische inter-epistemische Dialoge führen will. Das Kriterium ist für mich politisch. Um Dialoge und Koalitionen aufzubauen, müssen wir nach Bündnissen und inter-epistemischen Gesprächen mit jenen Subjekten/Untertanen suchen, die in ihren epistemisch-ethisch-politischen Projekten eine Kombination von zwei oder mehr der folgenden Arten „negativer Universalität“ vereinen: antipatriarchalisch, antikapitalistisch, antikolonial und antiimperialistisch. Diese „negative Universalität“ führt in der muslimischen Welt zu Gesprächen mit islamischen Feministinnen und nicht mit al-Qaida, in der Aymara-Welt mit Evo Morales und nicht mit Victor Hugo Cárdenas, in der afroamerikanischen Welt mit Angela Davis und nicht mit Condoleeza Rice oder in der westlichen Welt mit Boaventura de Sousa Santos und nicht mit Nicolas Sarkozy.

Da nicht jedes/r „subalternisierte“ Subjekt/Untertan oder jeder Denker aus einer „inferiorisierten“ Epistemologie bereits ein kritischer Denker ist, sollte „epistemischer Populismus“ abgelehnt werden. Der Erfolg des Systems besteht gerade darin, diejenigen, die sozial unten sind, dazu zu bringen, epistemisch zu denken wie diejenigen, die sozial oben sind. Wir können also nicht den sozialen Standort als das einzige Kriterium verwenden. Der epistemologische Ort ist hier entscheidend. Ich plädiere dafür, das kritische Denken der „subalternisierten“ Subjekte/​Untertanen von unten als Ausgangspunkt für eine radikale Kritik an den hegemonialen Macht- und Wissensstrukturen ernst zu nehmen. Der Westen hat kein Monopol auf kritisches Denken. Die „verwestlichte Linke“ verfällt in eine Kolonialität des Wissens von links, die ebenso epistemisch rassistisch und sexistisch ist wie die verwestlichten rechten Diskurse.

Es gibt kritische Denker aus anderen Denktraditionen, die ernst genommen werden müssen, nicht wegen eines „liberalen Multikulturalismus“ oder einer partikularistischen „Identitätspo­li­tik“, sondern wegen ihrer wichtigen Beiträge zu einem besseren Verständnis der Macht- und Wissensstrukturen des Systems, in dem wir seit mehr als 500 Jahren leben. Sie zu ignorieren oder nicht ernst zu nehmen, ist ein Verlust für die Kämpfe um eine menschlichere Zukunft. Was wir vermeiden müssen, ist die Art von „positiver Universalität“ in Bezug auf Lösungen, bei der man für alle anderen definiert, was „die Lösung“ ist (Sozialismus, Kommunismus, radikale Demokratie usw.). Wir brauchen eine „negative Universalität“, um Freunde und Feinde zu identifizieren, aber wir sollten keine „positive Universalität“ in Bezug auf Lösungen haben.

Es wird so viele Lösungen geben, wie es ethisch-epistemisch-politische Projekte in der Welt gibt. Wie die Probleme des Patriarchats, des Kapitalismus, des Imperialismus und der Kolonialität zu lösen sind, sollte offen sein für die verschiedenen lokalen imperialen/kolonialen Geschichten, die verschiedenen epistemischen Perspektiven und die verschiedenen Kontexte, mit denen die Widerstandsbewegungen konfrontiert sind. Wichtig ist, dass wir alle für eine egalitärere, demokratische, transmoderne Welt jenseits von Kapitalismus, Patriarchat, Imperialismus und Kolonialismus kämpfen. „Positive Universalität“ würde bedeuten, den in diesem Artikel diskutierten problematischen westzentrischen Begriff der „Universalität“ erneut von links zu reproduzieren. Das „pluri“ im Gegensatz zum „uni“ bedeutet nicht, alles zu unterstützen, was ein subalternes/r Subjekt/Untertan von unten sagt, sondern ist ein Aufruf, kritisches dekoloniales Wissen hervorzubringen, das rigoros, umfassend, weltumspannend und nicht-provinziell ist.

 

 Literatur

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1Walter Mignolo, The Idea of Latin America, Malden/Blackwell, Oxford/Mass., 2005.

2Ebenda.

3Santiago Castro-Gómez, La poscolonialidad explicada a los niños, Editorial Universidad del Cauca, Popayán, 2005.

4Enrique Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen: ein Projekt der Transmoderne, Patmos, Düsseldorf, 1993; spanisches Original: Enrique Dussel, 1492: El encubrimiento del Otro. Hacia el origen del „mito de la Modernidad“, Facultad de Humanidades y Ciencias de la Educación, La Paz, 1992.

5Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Meiner Verlag, Hamburg, 1998.

6Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Reclam, Stuttgart, 1983.

7Emmanuel Eze, „The Color of Reason. The Idea of ‚Race‛ in Kant’s Anthropology“, in: Emmanuel Eze (Hrsg.), Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader, Oxford, 1997, S. 103-140.

8Ebenda.

9Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam, Ditzingen, 1989.

10Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1986.

11Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Meiner, Hamburg, 1988.

12Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam, Ditzingen, 1989.

13Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Meiner, Hamburg, 1988.

14Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1986. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam, Ditzingen, 1989.

15Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam, Ditzingen, 1989.

16Karl Marx, „Grundrisse der Politik der politischen Ökonomie“, in: Marx-Engels-Werkausgabe, Dietz, 42, Berlin, 1983, S. 19-875.

17Ebenda.

18Anm. d. Übers.: „In letzter Instanz“ ist eine von Engels geprägte Wendung. So schreibt Engels in einem Brief an W. Borgius am 25. Januar 1894: „Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.“ (Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, 39, Dietz, Berlin, 1968; Kursivierung durch den Übers.)

19Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

20Nelson Maldonado-Torres, „Césaire’s Gift and the Decolonial Turn“, in: Radical Philosophy Review, 9, 2006, S. 111-137.

21Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Übers. Monika Kind, Klaus Wagenbach, Berlin, 1968; französisches Original: Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, Réclame, Paris, 1950.

22Aimé Césaire, Lettre à Maurice Thorez, Présence Africaine, Paris, 1956.

23Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.

24Jürgen Habermas, Die Moderne, ein unvollendetes Projekt, Reclam, Leipzig, 1994.

25Édouard Glissant, Poetics of Relation, Übers. Betsy Wing, University of Michigan Press, Ann Arbor, 1997.

26Chandra T. Mohanty, Feminism Without Borders: Decolonizing Theory, Practicing Solidarity, Duke University Press, Durham, 2003. Asma Lamrabet, Women in the Qur’an: An Emancipatory Reading, Kube Publishing Ltd, Markfield, 2016.

27Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.

28Ernesto Laclau & Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Passagen Verlag, Wien, 2012; englisches Original: Ernesto Laclau & Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, Verso, London, 1985.

29Ernesto Laclau, Die populistische Vernunft, Passagen Verlag, Wien, 2022; englisches Original: Ernesto Laclau, On Populist Reason, Verso, London, 2005.

30EZLN, Crónicas intergalácticas: primer encuentro intercontinental por la humanidad y contra el neoliberalismo, Mexico, Chiapas, 1996.

31Walter Mignolo, Local Histories/Global Design: Coloniality, Border Thinking and Subaltern Knowledge, Princeton University Press, Princeton, 2000.

32Wladimir Iljitsch Lenin, „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung (1902)“, in: Werke, 5, Dietz, Berlin, 2009, S. 355-549.