Zone des Seins und Zone des Nicht-Seins in den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos
4.1 Einführung
Seit Jean-Paul Sartre hat es keinen europäischen Denker mehr mit einem politischen und sozialen Engagement für den globalen Süden gegeben wie Boaventura de Sousa Santos. De Sousa Santos übertrifft Sartre jedoch insofern, als letzterer nie von den Epistemologien des Südens beeinflusst war oder diese ernst nahm. Sartre war sein Leben lang Existentialist, ohne seine eurozentrischen Vorurteile zu überdenken oder sich vom Denken des Südens beeinflussen zu lassen.
Im Gegensatz dazu hat Boaventura de Sousa Santos das gemeinsame und den globalen Süden miteinbeziehende Denken zur Priorität für die Wissensproduktion in den Sozialwissenschaften gemacht. De Sousa Santos teilt den Grundsatz, dass „das Verständnis der Welt […] bei Weitem über das westliche Verständnis der Welt hinaus[geht]“.1
Seine Soziologie ist ein Bruch mit dem eurozentrischen Universalismus, indem sie die Schaffung einer Epistemologie des Südens durch eine Wissensökologie fordert, die alles von sozialwissenschaftlichem Wissen bis hin zu anderen Epistemologien und Wissensformen, die vom Süden aus hervorgebracht werden, umfasst. Die Wissensökologie ist ein grundlegendes epistemisches Prinzip in den Werken von de Sousa Santos, das den dialogischen Ausgangspunkt darstellt, der ein Entkommen aus dem eurozentrischen monokulturalistischen Monolog ermöglicht.
In diesem Beitrag möchte ich die Bedeutung und die fruchtbare Begegnung der Werke von de Sousa Santos und Fanon hervorheben, um die mit dem Rassismusbegriff verbundenen Komplexitäten zu verstehen.
4.2 Der Fanonsche Rassismusbegriff
Für Fanon ist der Rassismus eine globale Machthierarchie von Superiorität und Inferiorität entlang der Grenze des Menschseins, die über Jahrhunderte durch das „moderne/koloniale kapitalistische/patriarchalische imperialistische/westzentrische“ Weltsystem politisch produziert und reproduziert wurde.2 Menschen, die sich oberhalb der Grenze des Menschseins befinden, werden in ihrem Menschsein als Menschen mit Rechten und Zugang zu Subjektivität und Menschen-/Bürger-/Zivil-/Arbeitsrechten gesellschaftlich anerkannt. Menschen unterhalb der Grenze des Menschseins werden als untermenschlich oder nicht-menschlich betrachtet, das heißt ihr Menschsein wird in Frage gestellt und somit negiert.3 Es gibt viele wichtige Punkte, die bei dieser Definition hervorzuheben sind.
Erstens erlaubt uns die Fanonsche Definition von Rassismus, verschiedene Formen des Rassismus zu begreifen und die Reduktionismen vieler Definitionen zu vermeiden. In Abhängigkeit von der jeweiligen kolonialen Geschichte in verschiedenen Regionen der Welt kann die Machthierarchie von Superiorität/Inferiorität entlang der Grenze des Menschseins mit verschiedenen rassialistischen Kennzeichen geschaffen werden. Rassismus kann durch farbliche, ethnische, sprachliche, kulturelle oder religiöse Identität gekennzeichnet sein. Obwohl der Farbrassismus in vielen Teilen der Welt vorherrschend gewesen ist, ist er nicht die einzige und ausschließliche Form des Rassismus.
Oft missverstehen wir die spezielle Form der Kennzeichnung von Rassismus in einer Region der Welt als die ausschließliche, universale Form der Kennzeichnung von Rassismus auf der ganzen Welt. Dies hat zu einer Fülle von theoretischen und begrifflichen Problemen geführt. Wenn wir die spezielle Form des Rassismus, die sich eine Region oder ein Land der Welt zu Eigen macht, mit der universalen Definition von Rassismus zusammenfallen lassen, verlieren wir die Vielfalt der Rassismen aus den Augen, die in anderen Regionen nicht notwendigerweise auf dieselbe Weise gekennzeichnet sind. So kommen wir zu dem falschen Schluss, dass es in anderen Teilen der Welt keinen Rassismus gibt, wenn die Form der Kennzeichnung des Rassismus in einer bestimmten Region oder einem bestimmten Land nicht mit der Form der Kennzeichnung in einer anderen Region oder einem anderen Land übereinstimmt.
Rassismus entspricht einer Hierarchie der Superiorität/Inferiorität entlang der Grenze des Menschseins. Diese Hierarchie kann mit verschiedenen Kennzeichen geschaffen/gekennzeichnet werden. Verwestlichte Eliten in der Dritten Welt (Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner) reproduzieren rassistische Praktiken gegenüber sozial „inferiorisierten“ ethnischen/rassischen Gruppen, wobei die Inferiorisierung je nach lokaler/kolonialer Geschichte über religiöse, ethnische, kulturelle oder farbliche Grenzen definiert oder gekennzeichnet werden kann.
In der irischen Kolonialgeschichte schufen die Briten ihre rassialistische Superiorität gegenüber den Iren nicht durch Kennzeichen der Hautfarbe, sondern durch die religiöse Identität. Was auf den ersten Blick wie ein religiöser Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken aussah, war in Wirklichkeit eine rassialistische/koloniale Beherrschung.
Das Gleiche gilt heute für die Islamophobie in Europa und den USA. Die religiöse Identität der Muslime stellt heute eines der hervorstechenden Kennzeichen für Inferiorität unterhalb der Grenze des Menschseins dar. Ich sage „eines der Kennzeichen“, denn in diesen beiden Regionen der Welt ist der Farbrassismus nach wie vor sehr wichtig und auf komplexe Weise mit dem religiösen Rassismus verwoben.
Während jedoch in vielen Regionen der Welt die ethnisch-rassische Hierarchie der Superiorität/Inferiorität durch die Hautfarbe gekennzeichnet wird, wird sie in anderen Regionen durch ethnische und sprachliche Praktiken oder religiöse und kulturelle Identität geschaffen. Die Rassialisierung erfolgt durch die Kennzeichnung von Körpern mit Identitäten, die als Symbole für Superiorität oder Inferiorität gelten. Einige Körper werden als superior und andere als inferior rassialisiert.
Der wesentliche Punkt für Fanon ist, dass diese Subjekte, die sich auf der superioren Seite der Grenze des Menschseins befinden, in der von ihm so genannten „Zone des Seins“ leben, während die Subjekte/Untertanen, die sich auf der inferioren Seite dieser Grenze befinden, in der „Zone des Nicht-Seins“ leben.4 Dabei handelt es sich nicht um geografische Begriffe, sondern um Positionen in rassischen/ethnischen Hierarchien.
4.3 Differenzierte Intersektionalität:
Zone des Seins und Zone des Nicht-Seins
In einer kolonialen/kapitalistischen/imperialen Welt stellt die Rasse die transversale Trennlinie dar, die sich durch Beziehungen der klassistischen, nationalen, sexuellen und geschlechtlichen Unterdrückung auf globaler Ebene hindurchzieht. Dies ist als „Kolonialität“ oder Rasse als Infrastruktur bekannt geworden.5
Die „Intersektionalität“ oder „Verflechtung“ der Machtbeziehungen von Rasse, Klasse, Sexualität und Geschlecht, ein von schwarzen Feministinnen entwickeltes Konzept6, tritt in beiden von Fanon beschriebenen Zonen der Welt auf. Die gelebte Erfahrung der verschiedenen Unterdrückungen und die besondere Art und Weise, wie die Intersektionalität auftritt, unterscheidet sich in der Zone des Seins jedoch von der in der Zone des Nicht-Seins. Dies hängt mit den Unterschieden in der Materialität der vom System eingesetzten Beherrschung zusammen.
In der Zone des Seins erfahren die Subjekte aus Gründen rassialistischer Superiorisierung keine rassialistische Unterdrückung, sondern ein rassialistisches Privileg. Wie später erörtert wird, hat dies grundlegende Auswirkungen darauf, wie sie mit klassistischer, sexueller und geschlechtlicher Unterdrückung umgehen.
In der Zone des Nicht-Seins erfahren die Subjekte aus Gründen rassialistischer Inferiorisierung rassialistische Unterdrückung anstelle von rassialistischem Privileg. Daher ist die Unterdrückung von Klasse, Sexualität und Geschlecht, die es in der Zone des Nicht-Seins gibt, qualitativ anders und verheerender als die Unterdrückungen, die es in der Zone des Seins gibt.
Der Punkt, der hervorgehoben werden sollte, ist, dass es einen qualitativen Unterschied gibt zwischen der Intersektionalität/Verflechtung von Unterdrückungen, die in der Zone des Seins und der Zone des Nicht-Seins im „modernen/kolonialen christo-/westzentrischen patriarchalischen/kapitalistischen“ Weltsystem bestehen.7 Doch während in der Zone des Seins die Unterdrückungen von Klasse, Geschlecht und Sexualität durch das rassialistische Privileg abgeschwächt werden, werden diese Unterdrückungen in der Zone des Nicht-Seins durch die rassialistische Unterdrückung verstärkt.
Für Fanon ist keine dieser beiden Zonen homogen. Beide Zonen sind heterogene Räume.
Innerhalb der Zone des Seins besteht ein ständiger Konflikt zwischen dem, was die Hegelsche Philosophie als Dialektik der Anerkennung zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“ charakterisiert. In der Dialektik zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“ innerhalb der Zone des Seins gibt es Konflikte, die aber keine rassialistischen Konflikte sind, weil das Menschsein des unterdrückten Anderen vom Unterdrücker, dem „Ich“, anerkannt wird. Alle Subjekte, die oberhalb der Grenze des Menschseins leben, auch jene unterdrückten, werden als superiore Wesen verübermenscht (hyper-humanized).
Das „Ich“ in einem patriarchalischen/kapitalistischen/imperialen System sind die westlichen, heterosexuellen, männlichen, metropolitanen, kapitalistischen Eliten und die verwestlichten heterosexuellen männlichen Eliten in der Peripherie der Weltwirtschaft.
Die „Anderen“ sind die westliche Bevölkerung der metropolitanen Zentren oder die verwestlichten Menschen in den Peripherien, deren Menschsein zwar anerkannt wird, die in ihren jeweiligen Regionen und Ländern aufgrund von Klasse, Sexualität oder Geschlecht aber gleichzeitig nicht-rassialistische Unterdrückungen durch das imperiale „Ich“ erfahren.
Die Zone des Seins und die Zone des Nicht-Seins sind keine spezifischen geografischen Orte, sondern sie drücken eine Positionalität in rassialistischen Machtbeziehungen aus, die auf globaler Ebene zwischen Zentren und Peripherien, aber auch auf lokaler und nationaler Ebene gegenüber verschiedenen rassialistisch inferiorisierten Gruppen überall auf der Welt zum Vorschein kommt. Zonen des Seins und Nicht-Seins gibt es auf globaler Ebene zwischen verwestlichten Zentren und nicht-westlichen Peripherien (globale Kolonialität), Zonen des Seins und Nicht-Seins gibt es aber auch innerhalb der Peripherien (interner Kolonialismus).
Den internen Kolonialismus gibt es sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie. Die Zone des Nicht-Seins innerhalb eines (zentralen oder peripheren) Landes wäre die Zone des internen Kolonialismus. In der Zone des Nicht-Seins werden alle Subjekte zu inferioren Wesen entmenschlicht.
Genau hier hilft die dekoloniale kritische Theorie von Boaventura de Sousa Santos8 dabei, den Unterschied in der Materialität der Beherrschung zwischen der Zone des Seins und der Zone des Nicht-Seins klarzustellen.
4.4 Fanonsche Zonen und die abyssale Linie von de Sousa Santos
Für de Sousa Santos9 gibt es in der Moderne eine abyssale Linie zwischen den Menschen oberhalb und den Menschen unterhalb dieser Linie. Wenn wir diese Linie als die Fanonsche Grenze des Menschseins übersetzen und denjenigen, die sich oberhalb der abyssalen Linie befinden, die Zone des Seins und denjenigen, die sich unterhalb dieser Linie befinden, die Zone des Nicht-Seins zuweisen, können wir unser Verständnis der Moderne/Modernität und ihres kolonialen/rassialistischen/patriarchalischen/imperialen/kapitalistischen Weltsystems der Unterdrückungen, in dem wir leben, erweitern.
Für de Sousa Santos besteht die Art und Weise, wie das System in der Zone des Seins (oberhalb der abyssalen Linie) mit Konflikten umgeht, in dem, was er Mechanismen der Regulierung und Emanzipation nennt. Dabei gibt es Kennzeichen für Arbeits-/Bürger-/Frauen-/Menschenrechte, Anstandsbeziehungen, Verhandlungsräume und politische Maßnahmen, die dem unterdrückten „Anderen“ in seinem Konflikt mit dem Unterdrücker, dem „Ich“, innerhalb der Zone des Seins anerkannt und gewährt werden.
Emanzipation bezieht sich auf Konzepte von Freiheit, Autonomie und Gleichheit, die Teil der diskursiven, institutionellen und rechtlichen Ziele der Konfliktbewältigung in der Zone des Seins sind. Die Tendenz geht dahin, dass Konflikte in der Zone des Seins durch gewaltfreie Methoden materiell bewältigt werden. Gewalt ist immer eine Ausnahme und auf sie wird nur in außergewöhnlichen Momenten zurückgegriffen. Damit wird nicht geleugnet, dass es in der Zone des Seins nicht auch gewaltsame Momente gibt. Sie stellen jedoch eher die Ausnahme als die Regel dar.
Im Gegensatz dazu werden, wie de Sousa Santos feststellt,in der Zone des Nicht-Seins unterhalb der abyssalen Linie, in der die Bevölkerungen in dem Sinne entmenschlicht sind, dass sie als unterhalb der Grenze des Menschseins betrachtet werden, die Methoden, die das heterosexuelle/männliche/kapitalistische/imperiale „Ich“ und sein institutionelles System zur Bewältigung und Verwaltung von Konflikten anwenden, durch Gewalt sowie offene und unverhohlene Aneignung/Enteignung bestimmt.
Die Tendenz geht dahin, dass Konflikte in der Zone des Nicht-Seins durch fortwährende Gewalt ausgetragen werden und nur in außergewöhnlichen Momenten auf friedliche Methoden der Regulierung und Emanzipation zurückgegriffen wird. Da das Menschsein der in die Zone des Nicht-Seins klassifizierten Menschen nicht anerkannt wird und sie als Nicht- oder Unter-Menschen behandelt werden, das heißt ohne Rechtsnormen und Anstand, werden Gewaltakte, Verletzungen und Aneignung/Enteignung zugelassen, die in der Zone des Seins inakzeptabel wären.
Für de Sousa Santos sind beide Zonen Teil des Projekts der kolonialen Moderne.
Für Fanon andererseits bricht die Dialektik der gegenseitigen Anerkennung des „Ich“ und des „Anderen“, die es in der Zone des Seins gibt, in der Zone des Nicht-Seins zusammen, da in ihr das Menschsein des Anderen nicht anerkannt wird. Kurzum, die Materialität der Beherrschung ist in der Zone des Seins anders als in der Zone des Nicht-Seins. In der Zone des Seins haben wir Formen der Konfliktbewältigung mit immerwährendem Frieden und außergewöhnlichen Momenten des Krieges, während wir in der Zone des Nicht-Seins einen fortwährenden Krieg mit außergewöhnlichen Momenten des Friedens haben.
4.5 Intersektionalität und Stratifikation in den durch die abyssale Linie gekennzeichneten Zonen
Die Unterdrückungen von Klasse, Geschlecht und Sexualität, wie sie innerhalb der Zone des Seins und innerhalb der Zone des Nicht-Seins erfahren werden, sind nicht dieselben.
Da die Konflikte mit den herrschenden Klassen und den herrschenden Eliten in der Zone des Seins von Natur aus vor dem Hintergrund eines rassialistischen Privilegs erfahren werden, teilt der unterdrückte „andere Seiende“ in den Klassen-, Geschlechter- und Sexualkonflikten die Privilegien der imperialen Rechte, der emanzipatorischen Diskurse der Aufklärung und der Prozesse der Verhandlung oder Konfliktlösung. So werden in der Zone des Seins die mannigfaltigen Unterdrückungen durch das rassialistische Privileg auf abgeschwächte Weise erfahren.
Da die Klassen-, Geschlechter- und Sexualkonflikte durch die rassialistische Unterdrückung in der Zone des Nicht-Seins verstärkt werden, werden die dortigen Konflikte im Gegensatz dazu mit gewaltsamen Methoden und fortwährender Aneignung/Enteignung ausgetragen und bewältigt. Die Unterdrückung aufgrund von Klasse, Sexualität und Geschlecht, die von dem „anderen Nicht-Seienden“ erfahren wird, wird durch die Artikulation dieser Unterdrückung vor dem Hintergrund der rassialistischen Unterdrückung verschärft.
Während zum Beispiel Arbeiter, die einen oder zwei Dollar pro Tag verdienen, wobei sie zehn oder vierzehn Stunden am Tag arbeiten, in der Zone des Nicht-Seins ihr Leben riskieren, wenn sie versuchen, eine Gewerkschaft zu organisieren, genießen Arbeiter in der Zone des Seins Arbeitsrechte, höhere Stundenlöhne und bessere Arbeitsbedingungen. Obwohl eine Arbeiterin in einer Maquiladora in Ciudad Juarez, die zwei Dollar am Tag verdient, formal eine Lohnarbeiterin ist, hat ihre Lebenserfahrung nichts mit der einer Lohnarbeiterin in der Boeing Company in Seattle zu tun, die hundert Dollar in einer Stunde verdient.
Das gleiche Prinzip gilt für die Unterdrückung aufgrund von Geschlecht und Sexualität. Westliche Frauen und westliche Schwule/Lesben haben Zugang zu Ressourcen, Reichtum, Rechten und Macht, der unverhältnismäßig größer ist als der von unterdrückten nicht-westlichen Frauen oder Schwulen/Lesben in der Zone des Nicht-Seins. Tatsächlich haben westliche Frauen, obwohl sie eine demografische Minderheit in der Welt darstellen, trotz der Geschlechterunterdrückung in der Zone des Seins mehr Macht, Ressourcen und Reichtum als die Mehrheit der Männer in der Welt, die nicht-westlicher Herkunft sind und in der Zone des Nicht-Seins des gegenwärtigen Systems leben.
In der Ordnung der westlich-zentrierten imperialen Verhältnisse ist es nicht dasselbe, ein „anderer Mensch“ in der Zone des Seins zu sein, wie ein „anderer Nicht-Mensch“ in der Zone des Nicht-Seins.
Für Fanon und de Sousa Santos ist die Zone des Seins die imperiale Welt, die nicht nur die imperialen Eliten, sondern auch deren unterdrückte westliche Subjekte oder verwestlichte Subjekte (Eliten in der Dritten Welt) mit einschließt, während die Zone des Nicht-Seins die koloniale/neokoloniale Welt mit ihren unterdrückten nicht-westlichen Subjekten darstellt.
Aber auch die Zone des Nicht-Seins ist heterogen und stratifiziert. Das bedeutet, dass in der Zone des Nicht-Seins jenseits der Unterdrückung, die die Subjekte durch die privilegierten Subjekte in der Zone des Seins erfahren, zusätzlich Unterdrückungen bestehen, die innerhalb der Zone des Nicht-Seins zwischen Subjekten ausgeübt werden, die derselben Zone angehören und ebenfalls stratifiziert sind.
Ein nicht-westlicher, heterosexueller Mann aus der Zone des Nicht-Seins ist gegenüber nicht-westlichen heterosexuellen Frauen und/oder Schwulen/Lesben innerhalb der Zone des Nicht-Seins privilegiert. Trotz der Tatsache, dass der nicht-westliche heterosexuelle Mann im Verhältnis zur Zone des Seins ein unterdrücktes Subjekt in der Zone des Nicht-Seins ist, unterdrückt er die Frau und/oder einen Schwulen/eine Lesbe in der Zone des Nicht-Seins. Das Problem ist, dass die nicht-westliche Frau und nicht-westliche Schwule/Lesben in der Zone des Nicht-Seins nicht nur von westlichen Menschen unterdrückt werden, die die Zone des Seins bewohnen, sondern auch von anderen Subjekten, die der Zone des Nicht-Seins angehören.
Dies hängt mit den mannigfaltigen Unterdrückungen zusammen, die schwarze Feministinnen stets betonen. Dies bedeutet eine doppelte, dreifache oder vierfache Unterdrückung für unterdrückte nicht-westliche Subjekte innerhalb der Zone des Nicht-Seins, die in keinem Vergleich zu jenen unterdrückten westlichen Subjekten innerhalb der Zone des Seins mit dem Zugang zu Arbeits-/Bürger-/Menschenrechten, Normen von Anstand und emanzipatorischen Diskursen steht, die von jenen unterdrückten westlichen Subjekten innerhalb der Zone des Seins anerkannt und gelebt werden.
Diese Konzeptualisierung ist von entscheidender Bedeutung, um städtische Gebiete heute zu verstehen. Städte gehören zu den wichtigsten Räume, in denen sich Rassismus und seine Materialität der Beherrschung, Gewalt und Enteignung manifestieren. Obwohl es sich bei der Zone des Seins und der Zone des Nicht-Seins nicht um geografische Orte, sondern um Positionen in globalen rassialistischen/ethnischen Machthierarchien handelt, haben sie räumliche Erscheinungsformen.
Es gibt städtische Räume, die zu den Zonen des Nicht-Seins gehören, in denen sich die Materialität der Beherrschung in Gewalt und Enteignung äußert. In diesen Räumen sind die institutionellen Praktiken rassistisch, weil sie gewaltsam sind und zur Enteignung und zum vorzeitigen Tod der Bevölkerung führen. Die Frage des vorzeitigen Todes kann durch einen plötzlichen und unerwarteten Tod aufgrund von Polizeibrutalität oder durch eine Krankheit ausgelöst werden, die dadurch entsteht, dass man dem Müll der Stadt aufgrund von ungesunden oder vergifteten Lebensmitteln/Wasserbeständen/Gebäuden/Gemeinschaften durch Verschmutzung, Fast Food, hohe Strahlungswerte und so weiter ausgesetzt ist. Sie sind von den Dienstleistungen der Stadt in Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Verkehrswesen ausgeschlossen.
Im Gegensatz dazu gibt es Räume, die zur Zone des Seins gehören und die ökologische „sichere Häfen“ sind, weil die Materialität der Beherrschung durch Methoden der Regulierung und Emanzipation erfolgt. Gemeinschaften in der Zone des Seins erfahren Polizeischutz anstelle von Polizeibrutalität, Schutz vor dem Müll und den giftigen Stoffen der Stadt und Zugang zu allen städtischen Dienstleistungen, einschließlich hochwertiger Bildung, Verkehrswesen und Gesundheitsversorgung.
Kurzum überschneiden sich die Räume in der Stadt, die über „symbolisches Kapital“10 verfügen, und die Räume mit „symbolischem Misskredit“ mit den rassistischen Machtverhältnissen von Zonen des Seins und Zonen des Nicht-Seins. Das symbolische Kapital, das heißt das Kapital von Prestige und Ehre, wird von den Bewohnern der städtischen Räume, die sich in den Zonen des Seins befinden, besessen und von den Bewohnern der städtischen Räume, die sich in der Zone des Nicht-Seins befinden, enteignet.
4.6 Koloniale Epistemologie, Dekolonisierung des Wissens und die Kritik des radikalen Anti-Essentialismus
Welche Bedeutung haben die Zone des Seins und die Zone des Nicht-Seins für die Erörterung der epistemischen Dekolonisierung im Kampf gegen den Eurozentrismus?
Epistemische Dekolonisierung impliziert eine Entkopplung (delinking) vom Eurozentrismus. Die Frage ist jedoch: Entkopplung wovon?
Was wir heute als kritische Theorie oder kritisches Denken kennen, ist eine Gesellschaftstheorie, die aus der sozialen und historischen Erfahrung des „Anderen“, der innerhalb der Zone des Seins unterdrückt wird, hervorgegangen ist. Marxismus, kritische Theorie, Poststrukturalismus, Psychoanalyse und Feminismus sind Modalitäten des kritischen Denkens, die aus der epistemischen Position des „Anderen“ innerhalb der Zone des Seins hervorgegangen sind.
Die rassialistische Inferiorität der Zone des Nicht-Seins tritt nicht nur in Bezug auf Prozesse der Beherrschung und Ausbeutung in ökonomischen, politischen und kulturellen Machtverhältnissen auf, sondern auch in epistemologischen Prozessen.
Epistemischer Rassismus/Sexismus bezieht sich auf eine Hierarchie kolonialer Beherrschung, in der Wissen, das von westlichen männlichen Subjekten (sowohl imperialen als auch unterdrückten) innerhalb der Zone des Seins hervorgebracht wird, a priori gegenüber dem Wissen, das von nicht-westlichen kolonialen Subjekten innerhalb der Zone des Nicht-Seins hervorgebracht wird, als superior angesehen wird. Die Behauptung lautet, dass Wissen, das von Subjekten hervorgebracht wird, die der Zone des Seins angehören, sei es vom rechten Standpunkt des imperialen „Ichs“ oder vom linken Standpunkt des verwestlichten unterdrückten „Anderen“ innerhalb der Zone des Seins aus, für alle Kontexte und Situationen in der Welt automatisch als universal gültig angesehen wird. Dies führt zu einer imperialen/kolonialen Epistemologie sowohl der Rechten als auch der Linken innerhalb der Zone des Seins, die die Theorien aus der Zone des Nicht-Seins nicht ernst nimmt und ihre theoretischen Schemata auferlegt, die von Realitäten ausgehen, die sich von den Situationen der unterdrückten Anderen in der Zone des Nicht-Seins stark unterscheiden.
Die kritische Theorie, die aus den sozialen Konflikten hervorgegangen ist, die die unterdrückten „Anderen“ innerhalb der Zone des Seins mit Zugang zu Prozessen der Regulierung und Emanzipation erfahren, wo rassialistische Beherrschung als Privileg und nicht als Unterdrückung erlebt wird, wird als konzeptuelles Kriterium für das Verständnis der sozialgeschichtlichen Erfahrungen jener Subjekte herangezogen, die fortwährende Gewalt und Aneignung/Enteignung erfahren, die durch rassialistische Konflikte in der Zone des Nicht-Seins hervorgerufen wurden.
Das Problem ist, dass die kritische Theorie, die aus der Zone des Seins hervorgegangen ist, die sozialen Konflikte und kolonialen Besonderheiten der Unterdrückungen, die in der Zone des Nicht-Seins erfahren werden, nicht berücksichtigt. Und wenn sie diese berücksichtigt, dann aus der Perspektive der sozialgeschichtlichen Erfahrung der Unterdrückten in der Zone des Seins. Die Auferlegung dieser kritischen Theorie aus der Zone des Seins auf die Zone des Nicht-Seins schafft eine von der Linken hervorgebrachte Kolonialität des Wissens.
Die kritische Theorie der Linken, die aus der Geo- und Körperpolitik des Wissens über den „Anderen“ in der Zone des Seins hervorgegangen ist, reicht weder aus, um die gelebten Probleme zu begreifen, noch, um zu verstehen, auf welche Weise die Prozesse der Gewalt und der Aneignung/Enteignung von Beherrschung und Ausbeutung in der Zone des Nicht-Seins zu artikulieren sind. Wenn die kolonialen Subjekte, die sich in der Zone des Nicht-Seins aufhalten, unkritisch und ausschließlich eine Gesellschaftstheorie übernehmen, die aus der Erfahrung des „Anderen“, der in der Zone des Seins unterdrückt worden ist, hervorgegangen ist, ohne die kritische Theorie ernst zu nehmen, die aus der sozialen/historischen Erfahrung des „anderen Nicht-Seienden“ in der Zone des Nicht-Seins hervorgegangen ist, sind sie einer mentalen Kolonisation ausgesetzt, die der verwestlichten Linken zuzurechnen ist.
Die kritischen Theorien der verwestlichten Linken in der Zone des Seins sind von wenigen Ausnahmen abgesehen blind für die gelebten Probleme in der Zone des Nicht-Seins und für den qualitativen Unterschied zwischen der erfahrenen Unterdrückung in der Zone des Seins im Gegensatz zu der in der Zone des Nicht-Seins. Der epistemische Rassismus/Sexismus in dieser kritischen Theorie geht so weit, dass der Anspruch erhoben wird, dass diese vom globalen Norden hervorgebrachte Theorie in gleicher Weise universal für den globalen Süden gelten sollte. Aber die Theorien, die von den „Anderen“, die in der Zone des Seins unterdrückt werden, hervorgebracht werden, neigen dazu, gegenüber der sozialen/historischen Erfahrung derjenigen des globalen Südens, die in der Zone des Nicht-Seins leben, blind zu sein. Diese Blindheit führt zur Unsichtbarkeit der in der Zone des Nicht-Seins gelebten Erfahrung von Beherrschung und Ausbeutung, wie zum Beispiel der fortwährenden Gewalt, die von der aus der Zone des Seins hervorgebrachten kritischen Theorie ignoriert oder untertheoretisiert (subtheorized) wird.
Eine wichtige Konsequenz aus dieser Erörterung ist daher, dass das Projekt der epistemischen Dekolonisierung eine Entkopplung sowohl von der Theorie der Rechten als auch von der Theorie der Linken impliziert, die aus der sozialen Erfahrung derjenigen in der Zone des Seins hervorgebracht wird, die blind gegenüber der sozialen Erfahrung derjenigen aus der Zone des Nicht-Seins sind. Aber Dekolonisierung muss von einer dekolonialen kritischen Theorie ausgehen, die die von den aus der Zone des Seins stammenden nordzentrischen kritischen Theorien verworfenen und unsichtbar gemachten Erfahrungen sichtbar macht.
Auf der politischen Ebene ist es so, dass kritische Theorien, die aus der Geo- und Körperpolitik des Wissens derjenigen hervorgehen, die in der Zone des Nicht-Seins die Materialität der Beherrschung erfahren, die durch Methoden der Gewalt und Aneignung/Enteignung gekennzeichnet ist, nicht so bekannt sind und als inferior gegenüber den kritischen Theorien angesehen werden, die von der verwestlichten Linken in der Zone des Seins hervorgebracht werden.
Das Problem ist nicht nur eines der epistemischen Kolonisation, sondern auch eines des politischen Missverstehens. Die politische Herausforderung besteht darin, Koalitionen und politische Bündnisse zwischen unterdrückten Subjekten als „Andere“ in der Zone des Seins und unterdrückten Subjekten in der Zone des Nicht-Seins gegen das westliche/kapitalistische/männliche/heterosexuelle/militärische „Ich“ zu bilden. Der Mangel an Kommunikation und der Umstand, dass die Unterdrückten in der Zone des Seins die Situation, die in der Zone des Nicht-Seins erlebt wird, missverstehen, führt zu einer ausweglosen Situation, um politische Bündnisse zu erreichen.
Wie kann eine Politik der Solidarität einen Weg entwickeln, der in beide Richtungen verlaufen kann und nicht ein einseitiges, paternalistisches, koloniales, rassistisches Handeln der verwestlichten Linken gegenüber den rassialistisch unterdrückten Menschen in der Zone des Nicht-Seins nach sich zieht?
Wenn die unterdrückten Menschen in der Zone des Seins eine kritische Theorie hervorbringen, die sie als die einzig gültige und exklusive betrachten, um die Welt zu verstehen, zu kritisieren und zu transformieren, und dabei andere Wege der kritischen Theoriebildung, die aus der Erfahrung der Zone des Nicht-Seins hervorgehen, unsichtbar und inferior machen, dann gibt es keine Bedingungen für die Möglichkeit eines politischen Bündnisses zu gleichen Bedingungen.
Die Zukunft liegt im Aufbau politischer Projekte, die epistemisch pluriversal und nicht universal sind, in denen es Raum für kritische epistemische Diversität gibt. Dazu müssen die Unterdrückten in der Zone des Seins die kritischen Theorien und das Wissen aus der Zone des Nicht-Seins ernst nehmen und daher in der Lage sein, politische Bündnisse gegen das imperiale „Ich“ in der Zone des Seins aufzubauen. Dies impliziert eine Dekolonisierung der Subjektivität des „Anderen“ in der Zone des Seins.
Die Dekolonisierung in der Zone des Seins ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Dekolonisierung in der Zone des Nicht-Seins.
Hier schlägt Boaventura de Sousa Santos ein weiteres Schlüsselkonzept vor: Interkulturelle Übersetzung.11 Interkulturelle Übersetzung ist von grundlegender Bedeutung, um Brücken zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen zu bauen. Ohne Übersetzung ist es nicht möglich, Unterschiede zu verstehen oder zu respektieren. Es ist nicht so, dass es bei Übersetzungsprozessen eine absolute Kommensurabilität gibt. Es gibt viele unübersetzbare Dinge, die inkommensurabel sind. Dies diskreditiert jedoch nicht die Räume der Übersetzung, der Verhandlung und des Respekts, die es ermöglichen, trotz der Unterschiedlichkeit der Situationen und politischen Projekte gemeinsam politisch zu handeln.
Interkulturelle Übersetzung ist aber nicht nur in unserer politischen Arbeit zu gebrauchen, sondern auch in unserer intellektuellen Arbeit. Wie de Sousa Santos12 sagt, ergänzt die Interkulturelle Übersetzung die Soziologie der Abwesenheiten und die Soziologie der Emergenzen, um die Anzahl und Mannigfaltigkeit der verfügbaren Erfahrungen zu bereichern. Letzteres ist von grundlegender Bedeutung, um über Methoden der Verstehbarkeit, Kohärenz und Artikulation zu verfügen.
Die Interkulturelle Übersetzung stellt im Werk von de Sousa Santos einen grundlegenden methodologischen Mechanismus dar, um angesichts der Zunahme möglicher und sichtbarer Erfahrungen, die die Soziologie der Abwesenheiten und die Soziologie der Emergenzen hervorbringen, für Verstehbarkeit und Kohärenz zu sorgen.
Die gleichen dekolonialen Methoden können jedoch nicht auf die gleiche Weise in der Zone des Seins und der Zone des Nicht-Seins angewandt werden, wenn wir vermeiden wollen, in eine andere Form des Kolonialismus seitens der Linken zu verfallen. In der Zone des Nicht-Seins ist die Überhöhung und der Aufbau starker Identitäten und Epistemologien mit starken Metanarrativen für den Prozess der Rekonstruktion und Dekolonisierung notwendig. Der Wiederaufbau starker Identitäten und Epistemologien ist eine Voraussetzung dafür, in der Zone des Nicht-Seins das wieder aufzubauen, was die Kolonialität durch die jahrhundertelange europäische koloniale Expansion zerstört und zur Inferiorität herabgesetzt hat.
Viele Postmodernisten, Poststrukturalisten und Marxisten wenden die Methode des radikalen Anti-Essentialismus in reaktionärer Weise gegen Indigene, Ureinwohner, Aborigines, Afrostämmige, Immigranten des Südens, nicht-westliche Bürger und andere koloniale Subjekte/Untertanen an, die dekoloniale Metanarrative aus der Zone des Nicht-Seins hervorbringen. Was die verwestlichte Linke mit ihrem radikalen Anti-Essentialismus tut – anstatt die Vorschläge, Visionen und Vorstellungen der kolonialen Subjekte/Untertanen zu übersetzen -, ist, sie zu diskreditieren. Die anti-essentialistischen Methoden der verwestlichten Linken machen sich letztlich zu Komplizen des historischen kolonialen Rassismus, der das von kolonialen Subjekten/Untertanen hervorgebrachte Wissen und ihre Epistemologien inferiorisiert.
Nach Jahrhunderten der Zerstörung von Epistemologien, Wissen und Identitäten durchläuft die Dekolonisierung in der Zone des Nicht-Seins einen notwendigen Prozess der Rekonstruktion ihres eigenen Denkens und ihrer eigenen Identitäten. Die verwestlichte Linke hat Schwierigkeiten, diese Prozesse zu verstehen. Der radikale Anti-Essentialismus der verwestlichten Linken ist inzwischen zu einem Instrument des kolonialen Verschweigens, der epistemologischen Inferiorität und der politischen Unterschätzung der kritischen Stimmen geworden, die kritisches Denken aus der Zone des Nicht-Seins hervorbringen.
Dies ist darauf zurückzuführen, dass in der Zone des Seins das Gegenteil passiert ist – das heißt, dass Epistemologien und Identitäten als überlegen überhöht worden sind. Daher ist der radikale Anti-Essentialismus in der Zone des Seins von entscheidender Bedeutung, um überhöhte Egos, Identitäten und als rassialistisch-superior gedachte Epistemologien zu dekolonisieren.
Aber wenn er auf die Zone des Nicht-Seins angewendet wird, wo Identitäten und Epistemologien seit Jahrhunderten als rassialistisch-inferior angesehen werden, wird der radikale Anti-Essentialismus zu einem kolonialen Werkzeug, um ihre Stimmen zum Schweigen zu bringen und ihre Identität und ihre epistemischen dekolonialen Rekonstruktionen zu behindern.
Das Werk von Boaventura de Sousa Santos ist ein wichtiges Gegenmittel gegen diesen radikalen Anti-Essentialismus. Sein Anti-Essentialismus geht einher mit großem Respekt vor den Kulturen und Epistemologien des Südens, aber auch mit einer gewissen Vorsicht vor ihnen. Dies zeigt sich auch in seiner Forderung nach einer Ökologie von Wissen, Anerkennung mannigfaltiger Zeitlichkeiten, Trans-Skalen und Produktivitäten. Für de Sousa Santos beinhaltet die epistemische Diversität einen Dialog der Wissensbestände, der die Einbeziehung von Gedanken und Erfahrungen nicht-westlicher Kulturen als Ausgangspunkt für die Rückgewinnung der von der westlichen Vernunft verworfenen Erfahrungen ermöglicht. Daher vertritt er einen gemäßigten Anti-Essentialismus.
Radikale Dekonstruktion, De-Essentialisierung und De-Totalisierung sind grundlegende Methoden der Dekolonisierung in der Zone des Seins, die immer dann, wenn sie nicht extrapoliert werden, um das kritische Denken der kolonisierten Subjekte zu diskreditieren, einen wichtigen Schritt für imperiale Subjekte darstellen, um einen dekolonialen Prozess zu beginnen. Da die Identitäten und Epistemologien innerhalb der Zone des Seins historisch gesehen vom Westen als superior überhöht wurden, wird der radikale Anti-Essentialismus zu einer wichtigen dekolonialen Strategie für die Unterdrückten in der Zone des Seins. Aber dies ist nur ein erster Schritt im Prozess der Dekolonisierung der Zone des Seins. Die Dekolonisierung des Westens und der Privilegien der „Weißheit“ ist etwas, das viele andere Dinge mit sich bringt. Die privilegierte Positionalität eines westlichen „weißen“ Subjekts zu dekolonisieren, bedeutet zum Beispiel unter anderem, für folgende Forderungen zu kämpfen:
- Verlust von Privilegien (soziale, politische, ökonomische, epistemologische usw.), mit denen die kolonialen Subjekte auf der Suche nach egalitären/gleichen Beziehungen konfrontiert sind.
- Transfer von materiellen und symbolischen Ressourcen aus der Zone des Seins in die Zone des Nicht-Seins.
- Radikaler Widerstand gegen die imperialen/militärischen Aggressionen und die Polizeigewalt in der Zone des Nicht-Seins.
- Radikaler Antirassismus.
- Ernstnehmen des kritischen Denkens, das vom und aus dem globalen Süden kommt.
Es gibt viele andere Forderungen, die heute in einer dekolonisierenden Richtung für westliche/„weiße“ Subjekte erhoben werden können. Um dies zu bewältigen, müssen wir jedoch eine Welt mit einer neuen Machtstruktur schaffen, in der der Westen die Beherrschung oder Ausbeutung des Rests der Welt beendet.
Die Frage „Was bedeutet die Dekolonisierung der verwestlichten Subjekte?“ steht jedoch in Wirklichkeit erst am Anfang der Suche nach Antworten. Sie stellt eine Herausforderung dar, und noch immer gibt es keine klare Vorstellung davon. Die dekoloniale Soziologie von Boaventura de Sousa Santos ist ein grundlegender Schritt in diese Richtung.
Literatur
Bourdieu, Pierre, Entwurf einer Theorie der Praxis, Übers. Cordula Pialoux & Bernd Schwibs, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2022; französisches Original: Pierre Bourdieu, Esquisse d’une théorie de la pratique. Précédé de Trois études d’ethnologie kabyle, Librairie Droz, Genf, 1972.
Crenshaw, Kimberlé, „Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color“, in: Stanford Law Review, 43, 1991, S. 1241-1279.
Davis, Angela Y., Rassismus und Sexismus, Schwarze Frauen und Klassenkampf in den USA, Übers. Erika Stöppler, Elefanten Press, Berlin, 1982; englisches Original: Angela Y. Davis, Women, Race and Class, Random House, New York, 1981.
Fanon, Frantz, Schwarze Haut, weiße Masken, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980; französisches Original: Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Les Éditions du Seuil, Paris, 1952.
Grosfoguel, Ramón, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.
de Sousa Santos, Boaventura, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).
1Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).
2Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.
3Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980; französisches Original: Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Les Éditions du Seuil, Paris, 1952.
4Ebenda.
5Ebenda.
6Kimberlé Crenshaw, „Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color“, in: Stanford Law Review, 43, 1991, S. 1241-1279. Angela Y. Davis, Rassismus und Sexismus, Schwarze Frauen und Klassenkampf in den USA, Übers. Erika Stöppler, Elefanten Press, Berlin, 1982; englisches Original: Angela Y. Davis, Women, Race and Class, Random House, New York, 1981.
7Ramón Grosfoguel, „Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität“, in diesem Band: Ramón Grosfoguel, Horizonte dekolonialen Denkens. Über Rassismus, Islamophobie, Dekolonisierung und Transmoderne, Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf (Hrsg. & Übers.), tredition, Hamburg, 2024, S. 155-215; englisches Original: Ramón Grosfoguel, „Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking, and Global Coloniality“, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World, 1, 2011.
8Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).
9Ebenda.
10Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Übers. Cordula Pialoux & Bernd Schwibs, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2022; französisches Original: Pierre Bourdieu, Esquisse d’une théorie de la pratique. Précédé de Trois études d’ethnologie kabyle, Librairie Droz, Genf, 1972.
11Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Übers. Felix Schüring, Unrast, Münster, 2018; englisches Original: Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide, Routledge, New York, 2016 (1. Auflage: Paradigm Publishers, Boulder, Colorado, 2014).
12Ebenda.