9 Enrique Dussel: Ein Denker der Befreiung

Autor: Yusuf Kuhn -
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 15

Dussel ist ein Pionier des „unbekannten Marx“, da er sowohl veröffentlichte als auch unveröffentlichte Werke in den Archiven von Berlin und Amsterdam studierte.1

9.1 Enrique Dussel: der Hegel und Marx des globalen Südens?

Philosophisch gesehen ist Enrique Dussel der Hegel des globalen Südens.2 Dussel mochte diese Analogie jedoch nicht und bat uns stets höflich darum, sie aus mehreren Gründen nicht zu verwenden. Erstens, wegen seiner Bescheidenheit. Zweitens, weil die Analogie falsch war, da Hegel den Gipfel des Eurozentrismus darstellt, während Dussels Werk genau gegen einen solchen Ansatz gerichtet ist. Dennoch greifen wir auf diesen Vergleich zurück, damit ein eurozentrisches Publikum, das Dussels Werk nicht kennt, aber mit der europäischen und nordamerikanischen Philosophie vertraut ist, die Tragweite seines Denkens verstehen kann.

Eurozentrische Philosophen, ob aus Europa, Lateinamerika, Afrika, Asien oder anderen Regionen, sehen in Hegel den Denker, dem die große Synthese der eurozentrischen Philosophie, Weltgeschichte, Ethik und Politik gelungen ist. In der Nachfolge Hegels bis Habermas beziehen sich eurozentrische Philosophen auf ihn, entweder um ihn zu kritisieren, um die eurozentrische Perspektive zu vervollkommnen, oder um ihn so anzunehmen, wie er ist.

Aus unserer Sicht ist Dussel unser Hegel, weil ihm die große Synthese des dekolonialen Denkens des globalen Südens gelungen ist. Er schuf eine philosophische Vision, die von der Erfahrung der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen des globalen Südens ausging, das heißt von der Exteriorität oder dem „Nicht-Sein“ jenseits des ontologischen Seins der modernen Welt. Von diesem Ort der Äußerung (lugar de enunciación) aus begründete Dussel ein umfassendes philosophisches „System“, das eine Ontologie, eine Metaphysik, eine Ethik, eine Philosophie, eine Methode (die Analektik) sowie eine Politik, Pädagogik, Erotik und Theologie, samt einer Ökonomie, und alsbald, posthum, eine Ästhetik der Befreiung umfasst.

Aber Dussel hat auch eine Weltgeschichte nachgezeichnet, die im Gegensatz zu Hegel weder helleno- noch eurozentrisch ist, was eine gewaltige Anstrengung abverlangte, die sich in Werken niederschlug wie Hipótesis para el estudio de Latinoamérica en la historia universal und Política de la Liberación. Historia mundial y crítica.3

Die Calibane4 des Planeten, wo auch immer sie sich befinden, finden in Dussel eine Quelle des kritischen Denkens, die einen Wendepunkt in der kritischen und dekolonialen Tradition des globalen Südens markiert hat, so wie Hegel in der eurozentrischen Tradition des globalen Nordens. Das ist wichtig, denn wir müssen nicht alles rekonstruieren, was Dussel getan hat, aber wir können von ihm ausgehen, so wie die Eurozentristen von Hegel ausgegangen sind. Daher müssen der globale Süden und das globale dekoloniale Denken von der großen Synthese und dem offenen philosophischen System ausgehen, das Dussel geschaffen hat.

Dussel kann zudem als der Marx unserer Zeit betrachtet werden. Es ist bekannt, dass er sich bei seinen Studien vom Geist der Marx’schen Methodologie leiten ließ, nicht von der der Marxisten. Dussel widmete zehn Jahre seines Lebens, was achtzehn Universitätssemestern entspricht, dem Studium der Marx’schen Werke. Dussel verstand sich jedoch nicht als Marxist, sondern als Anhänger des Marx’schen Denkens. Diese Unterscheidung ist von entscheidender Bedeutung, da der Marxismus des 20. Jahrhunderts zum größten Teil eurozentrisch ist, mit Ausnahme des Marxismus des globalen Südens, wie der schwarze oder lateinamerikanische Marxismus, etwa von José Carlos Mariátegui, Cedric Robinson oder Oliver Cox und anderen.

Die im 20. Jahrhundert vorherrschende Lesart von Marx war die sowjetische und westliche, was zu einem weißen und eurozentrischen Marxismus führte, der viele Probleme reproduzierte. Leider hatten die marxistischen Intellektuellen keinen Zugang zu Marx’ gesamtem Werk. Tatsächlich sind bis zum heutigen Tag viele Bände unveröffentlicht geblieben. Dussel ist daher ein Pionier des „unbekannten Marx“, denn er studierte sowohl veröffentlichte als auch unveröffentlichte Werke in den Archiven von Berlin und Amsterdam, was ihm einen einzigartigen Einblick in das Werk des deutschen Denkers verschaffte. Infolgedessen sehen viele Marxisten des 20. und 21. Jahrhunderts in Dussel die einzige Person, die das Gesamtwerk von Marx gelesen hat, ein enormes Unterfangen, das sich in fünf seinem Werk gewidmeten Bänden niedergeschlagen hat.5 In diesen Bänden leistete Dussel einen wichtigen Beitrag, indem er uns einen Marx vorstellte, der sich in einem ständigen Wandlungsprozess befindet und sich von dem statischen und dogmatischen Marx des Stalinismus unterscheidet. Dussels Marx ist ein Denker, der in den letzten Jahren seines Lebens mehrere äußerst wichtige dekoloniale Wendungen vollzogen hat, die vielen renommierten Marxisten unbekannt waren.

Vor diesem Hintergrund brachte Dussel das Werk von Marx auf den aktuellen Stand. Werke wie Ética de la Liberación en la Edad de la Globalización y de la Exclusión6, die drei Bände Política de la Liberación7 und die fünf Bände über Marx8 spiegeln unter anderen Werken den Geist der Marx’schen Methodologie wider. Dieser Punkt wird oft aus den Augen verloren, da Dussel Marx nicht ständig zitiert, obgleich er dies in seinen Vorlesungen, Kursen und Seminaren tat. Es ist indes wichtig zu verstehen, dass sein Ansatz nicht dogmatisch an der Methodologie von Marx festhält, sondern vielmehr einen Einblick in die Arbeitsweise von Marx gibt, die sich von der besagten Methodologie unterscheidet.

Es ist ferner wichtig, Dussel als führenden Befreiungstheologen anzuerkennen, da die Kritik des Fetischismus eine der Grundlagen dieser Theologie ist. Dussel schaffte es, im Bereich der Philosophie und der Theologie zu arbeiten, wobei er die Verflechtung beider Epistemen aufrechterhielt, aber immer eine gewisse Autonomie bewahrte. Das bedeutet, dass Dussel, wenn er über Befreiungstheologie schrieb, sich trotz seiner Verwurzelung in der prophetischen und messianischen Weltsicht nicht auf die Theologie beschränkte, sondern offen war für vielfältige und heterogene Wissensbereiche.

Die prophetische Tradition der Kritik an Pharaonen, Herrschern und Königen war für Dussel von grundlegender Bedeutung. In Anlehnung an Marx vertrat er stets die Auffassung, dass politische Kritik voraussetzt, Atheist der irdischen Götter zu sein. Für ihn verhindert die Sakralisierung und Fetischisierung dieser falschen Götter die Heranbildung eines kritischen Denkens. Radikale Kritik ergibt sich daher aus der Übernahme einer atheistischen Haltung gegenüber den irdischen Mächten: dem Kapital.

Eine weitere zentrale Kategorie in Dussels Werk, die an das Denken von Marx anknüpft, ist die der „Exteriorität“. Im Gegensatz zur marxistischen Tradition des 20. Jahrhunderts, die die Kategorie der „Totalität“ als zentral für Marx’ Denken ansah, vertrat Dussel die Auffassung, dass die Kategorie der „Exteriorität“ die wichtigste sei.

Das bedeutet, dass Dussel sich nicht nur mit der Lektüre von Marx’ unveröffentlichtem Material beschäftigte, sondern dass sein Hintergrund Theologie, politische Ökonomie, Weltgeschichte, Weltphilosophie – europäische, chinesische, lateinamerikanische, indigene, afrikanische, indische und viele weitere – umfasste, was es ihm ermöglichte, in einem Marx’schen Satz Aspekte wahrzunehmen, die sich der allgemeinen Wahrnehmung entzogen. Während einige von uns zwei Themen in einem Satz ausmachen, konnte er sieben erkennen, was ihn in die Lage versetzte, eine höchst originelle Interpretation von Marx vorzunehmen, die im Einklang mit dem Geist von Marx selbst stand.

In der eurozentrischen marxistischen Tradition werden die theologischen Aspekte der Marx’schen Werke oft unterschlagen, da diese moderne Tradition zwischen dem Säkularen und dem Religiösen hin- und hergerissen ist. Auch die weltgeschichtlichen Elemente werden vernachlässigt. Dussel verortet Marx jedoch in der semitischen Tradition9 und stellt damit die vom eurozentrischen Marxismus des 20. Jahrhunderts propagierte Darstellung des kartesischen Marx in Frage, die Marx als einen Autor begreift, der nicht nur von einem „Nicht-Ort“ aus denkt, sondern auch mechanistisch und szientistisch ist. Dussel zufolge ist Marx hingegen in Zeit und Raum verortet und geht von einer bestimmten Weltsicht aus. In diesem Sinne lieferte Marx’ semitische Sichtweise, so Dussel, ihm Kategorien, einige davon theologischen Ursprungs, die ihm eine radikale Kritik an der Welt seiner Zeit ermöglichten.

9.2 Sein Verhältnis zur Akademie, kritisches Denken und politisches Engagement

Wir hatten die Gelegenheit, Dussel in Aktion zu erleben. Die Tatsache, dass die meisten Veranstaltungen des „Netzwerks“ Modernität/Kolonialität von uns organisiert wurden, erlaubt es uns, einige Erfahrungen aus erster Hand zu berichten.10

Dussel war nicht nur ein großer Intellektueller, sondern auch ein Mensch, der sich der Befreiung der Völker zutiefst verpflichtet fühlte. Was er schrieb und ausdrückte, war die Formalisierung seiner konkreten Praxis. Wir reisten gemeinsam in verschiedene Teile der Welt und konnten unsere Erfahrungen sehr eng miteinander teilen. Persönlich waren wir bei der Auswahl der Orte, an die wir ihn einluden, immer sehr vorsichtig, da wir seine Zeit nicht missbrauchen wollten. Wir haben ihn immer dorthin eingeladen, wo seine Teilnahme sinnvoll war und wo er auch durch die antiimperialistische, antikoloniale, antirassistische und antisexistische Erfahrung der politischen und sozialen Bewegungen bereichert werden konnte. Deshalb pflegte er zu sagen: „Wohin immer Ramón mich einlädt, gehe ich hin.“ In diesem Sinne wählten wir Orte von sowohl intellektueller als auch politischer Bedeutung, da es letztere Einladungen waren, die Dussel am meisten interessierten. Wir luden ihn nicht nur ein, um über die Befreiung der Welt nachzudenken, sondern auch politisch in ihre Umgestaltung und Befreiung zu intervenieren.

Wir bereisten gemeinsam viele Länder Lateinamerikas, unter anderem mehrmals Venezuela, sowie mehrere Länder Afrikas, unter anderem Marokko und Südafrika, und mehrere Länder Europas. Wir haben immer mit antiimperialistischen Volksbewegungen zusammengearbeitet, die auf der Straße gegen imperialistische, kolonialistische, rassistische, sexistische und eurozentrische Herrschaft kämpfen, darunter die Bewegung der Indigènes de la République (Indigene/Eingeborene der Republik) in Frankreich. Wir luden Dussel auch ein, an Veranstaltungen und Treffen des „Dekolonialen Europas“ teilzunehmen, zusammen mit muslimischen, karibischen und afrikanischstämmigen Mitstreitern in Europa, in Ländern wie Deutschland, Frankreich, England, Spanien und anderen.

Bei der Organisation vieler Veranstaltungen des Netzwerks Modernität/Kolonialität sind wir Denkern wie Aníbal Quijano begegnet, der eine moderne und eurozentrische Logik in Bezug auf die Debatte zwischen dem Säkularen und dem Religiösen, das heißt zwischen der modernen Wissenschaft und der modernen Religion, reproduzierte, was aus einer dekolonialen Perspektive ein tiefgreifendes Problem darstellt.

Was wir „säkular“ nennen, setzt die theologische Weltsicht des Christentums als Sinnhorizont voraus. Die vorherrschende Theologie des modernen/kolonialen Christentums gibt sich als „säkular“ und wissenschaftlich aus und erzeugt einen höchst problematischen Dualismus zwischen Mensch und Natur, was bedeutet, dass die provinzielle Geschichte des mittelalterlichen europäischen Christentums, in dem die Entfaltung von Wissenschaft aufgrund der Unvereinbarkeit von Spiritualität und Wissenschaft nicht zugelassen war, als universelle Geschichte angenommen wird. Die Dualismen des Christentums verhinderten die Entwicklung der Wissenschaft, da sie als Bedrohung für die Dogmen der Kirche empfunden wurde. Wissenschaftler, die mit den als dämonisch angesehenen Kräften der Natur experimentierten, wurden zum Scheiterhaufen verurteilt. Dieser Dualismus stürzte Europa für viele Jahrhunderte in den Obskurantismus. Im Rest der Welt hingegen waren Wissenschaft und Spiritualität dank einer ganzheitlichen kosmologischen Sicht auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur miteinander vereinbar. Im Gegensatz zum Christentum ermöglichte dies der Wissenschaft, sich in Übereinstimmung mit der Spiritualität zu entwickeln.

In diesem Zusammenhang warf Quijano die Frage auf, warum wir diesen „Pfaffen“ (curita), womit er Dussel meinte, zu diesen Veranstaltungen einladen. Mit anderen Worten, er wollte nicht, dass wir Dussel einladen, weil er angeblich nur ein Theologe sei und nichts zum dekolonialen Denken beizutragen habe. Als wir ihn jedoch fragten, was er von Dussel gelesen hatte, stellte sich heraus, dass er gar nichts gelesen hatte, aus rein eurozentrischen und modernen Vorurteilen heraus. Er hatte in den 1970er Jahren ein oder zwei Texte im Zusammenhang mit der Befreiungstheologie gelesen und damit Dussels Werk als Ganzes abgetan, als sei er eine Person, die keinen Respekt und keine Aufmerksamkeit verdiene.

Als Dussel seine Arbeit vorstellte, diskreditierte Quijano alles, was er sagte. Wir waren immer wieder erstaunt über Dussels Bescheidenheit gegenüber Quijanos arrogantem Tonfall, obwohl sie etwa gleich alt waren und Dussel viel mehr Veröffentlichungen vorzuweisen hatte, vor allem über Marx. Dussel antwortete Quijano stets mit Geduld und Respekt, mit soliden Argumenten und Wertschätzung.

Ein Beispiel dafür ist die Meinungsverschiedenheit in ihren Positionen zur Kategorie der „Totalität“. Für Quijano ist alles Totalität und nichts außerhalb davon, auch wenn er eine Vision der „Totalität mit Heterogenität“ und nicht eine eurozentrische Vision der „Totalität mit Homogenität“ vertrat. Dussel hingegen beanspruchte die Kategorie der „Exteriorität“, insbesondere die Exteriorität der menschlichen Subjektivität, eine Position, die Quijano mit Skepsis betrachtete. Quijano erkannte keine anderen Epistemologien als die europäische an, indem er alles als Teil desselben Systems betrachtete. Er erkannte also weder das Potenzial noch die Möglichkeit eines Denkens, das ausgehend von der relativen Exteriorität der Totalität des Systems hervorgebracht wird.

1998 organisierten wir an der State University of New York in Binghamton eine Konferenz zum Thema „Historical Capitalism, Coloniality of Power, and Transmodernity“ (Historischer Kapitalismus, Kolonialität der Macht und Transmoderne).11 Als Gast war auch Bolívar Echeverría eingeladen. Als Professor am Fachbereich Soziologie und Mitglied des Fernand Braudel Center kam Immanuel Wallerstein, der Direktor des Zentrums, eines Tages auf uns zu und fragte, warum Bolívar sich darüber beschwert habe, dass Dussel eingeladen ist. Er bat uns darum, mit ihm zu sprechen, da Bolívar behauptete, Dussel sei kein seriöser Mensch. Im Gespräch bezeichnete Bolívar Dussel ebenso als „theologischen Pfaffen“ (curita teólogo) mit keinerlei relevanten Beiträgen für Marxisten. Auf die Frage, ob er Dussels Werk über Marx, das 1998 in fünf Bänden erschienen ist, gelesen habe, gestand er ein, dass er dies nicht getan habe; er habe nicht einmal die Philosophie der Befreiung12 von 1977 gelesen. Seine Ablehnung beruhte wieder einmal auf säkularistischen, modernen und eurozentrischen Vorurteilen. Wir wiesen daher darauf hin, dass solche Argumente uns nicht davon überzeugen konnten, Dussel nicht einzuladen, da er in vielen Wissensbereichen von großer Bedeutung ist und eine grundlegende Referenz für den Süd-Süd-Dialog darstellt.

Wir haben diese Erfahrungen noch nie geteilt, um Konflikte zu vermeiden, aber jetzt fühlen wir uns frei, dies zu tun. Es ist an der Zeit, zu sagen, dass Dussel in der akademischen Welt schlecht behandelt, verfolgt und ausgeschlossen wurde, was eine Schande für den globalen Süden darstellt.

Bei einer Gelegenheit begleiteten wir Dussel zu einem Seminar in Guadalajara, das von der Philosophischen Vereinigung Mexikos organisiert wurde. Wir waren sehr erstaunt darüber, dass Dussel beim Betreten der Lobby des Gebäudes, in dem viele der großen mexikanischen Philosophen versammelt waren, von niemandem begrüßt wurde und alle ihm den Rücken zuwandten. Niemand reagierte auf seine Begrüßung, was wir äußerst schockierend fanden. Von dort aus liefen wir mehr als zwanzig Minuten, bis wir in der hintersten Ecke ankamen, wo sich der Kursraum für die Veranstaltung mit Dussel befand. Wir gingen durch viele Gänge mit fast leeren Kursräumen, bis wir Dussels Raum erreichten, der voll war mit Menschen, die sogar auf die Fensterbänke kletterten, um ihm zuzuhören, wie er über die Philosophie der Befreiung sprach.

Etwas Ähnliches geschah 2019, als Dussel an einer Veranstaltung der Universität Saint Denis in Paris teilnahm. Bei dieser Veranstaltung sprach Alain Badiou, der anschließend die Veranstaltung verließ, dann sprach Jacques Rancière und verließ sie ebenfalls, und schließlich tat Étienne Balibar es ihnen gleich. Dussel kam spät an die Reihe, und es waren keine französischen Philosophen mehr anwesend, obwohl er sich intensiv auf die Debatte mit ihnen vorbereitet hatte. Als er sah, dass kein Philosoph geblieben war und es keine Debatte geben würde, brachte er zu Beginn seines Beitrags seine Enttäuschung zum Ausdruck. Er kritisierte die Veranstaltung und die arrogante Haltung der französischen Philosophen.

Sechs Monate später organisierten wir ebenfalls in Paris eine Veranstaltung zur Frage des Dekolonialen am Institut des hautes études de l’Amérique latine (Institut für Höhere Lateinamerikastudien). Dussel war sehr daran interessiert, mit Balibar zu diskutieren. Also luden wir ihn ein. Obwohl er aus Zeitmangel zunächst zögerte, willigte er dennoch ein, Dussels Vortrag zu kommentieren. Bei dieser Gelegenheit hielt Dussel einen Hauptvortrag über die Weltgeschichte der Politik, von Mesopotamien vor 5000 Jahren über China, Indien, Ägypten und so weiter. Die Zuhörerschaft war verblüfft. Als Balibar mit seinem Kommentar an der Reihe war, waren wir verdutzt, denn wir wurden Zeugen der personifizierten eurozentrischen Arroganz und Hybris. Sein Eurozentrismus war so offensichtlich, dass wir uns fragten, ob er sich seiner Grenzen bewusst war. Anstatt aufrichtig über seine Zweifel und Fragen zu sprechen, da er mit der außereuropäischen Philosophie nicht vertraut war, äußerte Balibar als erstes: „Ich bin sehr misstrauisch gegenüber Leuten, die von Eurozentrismus sprechen“, und er fuhr fort, diejenigen, die diesen Begriff verwendeten, ohne Grundlage zu kritisieren. Seine Reaktion ließ uns alle konsterniert zurück, und für uns stellte es einen Wendepunkt dar.13

Dussel bewies während seines gesamten akademischen Lebens eine beeindruckende Geduld und Beharrlichkeit, trotz der Gewalt, die er in diesen Einrichtungen erlebte. Er ließ sich durch diese Situationen nie von seinem Weg abbringen. Er ging mit Enthusiasmus, Disziplin und einer tiefen Liebe zu der Menschheit, den Völkern und der Befreiung voran.

Sein ethisch-politisches Engagement zeigte Dussel auch in den kompliziertesten Momenten in Venezuela14, Kuba und hinsichtlich der vielen anderen unterdrückten und ausgeschlossenen Völker des globalen Südens.

So war die Wirkung der Dekolonialen Schulen in Südafrika enorm und führte zur Bewegung Rhodes Must Fall: Decolonize the University (Rhodes muss gestürzt werden: Dekolonisiert die Universität). Jene Studenten, die an den Kursen teilnahmen, die wir mit Dussel und Nelson Maldonado-Torres unterrichteten, bildeten eine dekoloniale südafrikanische Nationalbewegung, die das Universitätssystem lahmlegte, um es zu dekolonisieren. Obwohl sie stark unterdrückt wurde, hinterließ sie ein wichtiges Erbe, da alle Universitäten in Südafrika nun ernsthaft über die Dekolonisierung der Lehrpläne nachdenken.

9.3 Demut als Bedingung der Möglichkeit des kritischen Denkens

Wir haben oft beobachtet, dass Dussel mit Menschen interagierte, unabhängig von ihrem Titel oder Hintergrund. Wenn sie ihn auf Fehler hinwiesen oder Korrekturen vorschlugen, hörte er zu, machte sich Notizen und überprüfte seinen Standpunkt.

Dussel wachte jeden Morgen mit den Ohren eines Schülers auf. Obwohl er 88 Jahre alt war, dachte er weiter nach, überlegte er und überarbeitete sein Werk. Im Allgemeinen neigen Akademiker mit anerkannten Werken dazu, negativ auf Kritik zu reagieren, aber Dussel überarbeitete und aktualisierte sein Werk unentwegt. Demnächst werden bei AKAL 15 Bände unter dem Titel „Colección Enrique Dussel“ erscheinen, die den „letzten Dussel“ (último Dussel) oder „späten Dussel“ (Dussel tardío) zum Thema haben. In diesen Bänden überarbeitet, aktualisiert und radikalisiert er sogar frühere Themen. So haben wir Dussel für mindestens ein weiteres Jahrzehnt. Außerdem versprechen diese Werke sehr bedeutsam zu werden, und sie werden alle beeindrucken. Die Fähigkeit, sein Werk am Ende seines Lebens immer wieder zu überarbeiten, zu aktualisieren und zu modifizieren, erfordert große Demut und eine starke Verbundenheit mit den Völkern und Menschen. Für Dussel war sein Werk ein Werkzeug für den Kampf um die Befreiung der Völker und Menschen, und er zögerte nicht, alles zu modifizieren, was notwendig war, um dieses Ziel zu erreichen.

 

 Literatur

Dussel, Enrique, Hipótesis para el estudio de Latinoamérica en la historia universal : (investigación del „mundo“ donde se constituyen y evolucionan las „Weltanschauungen“), Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales, Resistencia, 1966.

Dussel, Enrique, El humanismo semita: estructuras intencionales radicales del pueblo de Israel y otros semitas, Editorial Universitaria de Buenos Aires, 1969.

Dussel, Enrique, Método para una filosofía de la liberación: Superación analéctica de la dialéctica hegeliana, Ediciones Sígueme, Salamanca, 1974.

Dussel, Enrique, Philosophie der Befreiung, Argument, Hamburg, 1989; spanisches Original: Enrique Dussel, Filosofía de Liberación, Edicol, México, 1977.

Dussel, Enrique, La producción teórica de Marx. Un comentario a los Grundrisse, siglo veintiuno editores, Mexiko-Stadt, 1985.

Dussel, Enrique, Hacia un Marx desconocido. Un comentario de los Manuscritos del 61-63, siglo veintiuno editores, Mexiko-Stadt, 1988.

Dussel, Enrique, El último Marx (1863-1882) y la liberación latinoamericana. Un comentario a la tercera y cuarta redacción de „El Capital“, siglo veintiuno editores, Mexiko-Stadt, 1990.

Dussel, Enrique, Las metáforas teológicas de Marx, Editorial Verbo Divino, Estella, 1993.

Dussel, Enrique, Ética de la Liberación en la Edad de la Globalización y de la Exclusión, Editorial Trotta, Madrid, 1998.

Dussel, Enrique, Política de la Liberación. Historia mundial y crítica, Editorial Trotta, Madrid, 2007.

Dussel, Enrique, Política de la Liberación. Le arquitectónica, Editorial Trotta, Madrid, 2009.

Dussel, Enrique, Ethics of Liberation: In the Age of Globalization and Exclusion, Übers. Eduardo Mendieta et al., Duke University Press, Durham and London, 2013; spanisches Original: Enrique Dussel, Ética de la liberación en la Edad de la Globalización y la Exclusión, Editorial Trotta, Madrid, 1998.

Dussel, Enrique, Tesis de Economía Política. Interpretación filosófica, XVIII- 1a ed., Buenos Aires, 2013.

Dussel, Enrique, Política de la Liberación. Crítica creadora, Editorial Trotta, Madrid, 2022.

 


1Anm. d. Übers.: Der Anlass dieses am 22. November 2023 veröffentlichten Artikels war das Versterben Dussels am 05. Nov. 2023 im Alter von 88 Jahren.

2„Globaler Süden“ ist eine Kategorie, die sich auf die Unterdrückten innerhalb des modernen/kolonialen Weltsystems bezieht, die geografisch in Ländern im Süden oder Norden des Planeten verortet werden können oder auch gar nicht. Wenn wir den Begriff „globaler Süden“ verwenden, beziehen wir uns auf eine beherrschte Position in den Herrschaftsverhältnissen des imperialistischen Weltsystems.

3Enrique Dussel, Hipótesis para el estudio de Latinoamérica en la historia universal. (investigación del mundo donde se constituyen y evolucionan las weltanschauungen), Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales, Chaco, Resistencia (Arg.), 1966. Enrique Dussel, Política de la Liberación. Historia mundial y crítica, Editorial Trotta, Madrid, 2007.

4Anm. d. Übers.: „Calibane“ bezieht sich auf eine Figur namens Caliban aus Shakespeares Stück Der Sturm. Sie dient oft als Symbol für die kolonialisierte indigene Bevölkerung.

5Wir können uns glücklich schätzen, auf Spanisch lesen zu können, da es nur sehr wenige Übersetzungen in andere Sprachen gegeben hat.

6Enrique Dussel, Ética de la Liberación en la Edad de la Globalización y de la Exclusión, Editorial Trotta, Madrid, 1998. Anm. d. Übers.: Es gibt folgende gekürzte deutsche Übersetzung: Enrique Dussel, Prinzip Befreiung. Kurzer Aufriß einer kritischen und materialen Ethik, Concordia Reihe Monographien, Band 31, Wissenschaftsverlag Mainz, Aachen, 2000.

7Enrique Dussel, Política de la Liberación. Historia mundial y crítica, Editorial Trotta, Madrid, 2007. Enrique Dussel, Política de la Liberación. Le arquitectónica, Editorial Trotta, Madrid, 2009. Enrique Dussel, Política de la Liberación. Crítica creadora, Editorial Trotta, Madrid, 2022.

8Enrique Dussel, La producción teórica de Marx. Un comentario a los Grundrisse, siglo veintiuno editores, Mexiko-Stadt, 1985. Enrique Dussel, Hacia un Marx desconocido. Un comentario de los Manuscritos del 61-63, siglo veintiuno editores, Mexiko-Stadt, 1988. Enrique Dussel, El último Marx (1863-1882) y la liberación latinoamericana. Un comentario a la tercera y cuarta redacción de „El Capital“, siglo veintiuno editores, Mexiko-Stadt, 1990. Enrique Dussel, Las metáforas teológicas de Marx, Editorial Verbo Divino, Estella, 1993. Enrique Dussel, Tesis de Economía Política. Interpretación filosófica, XVIII- 1a ed., Buenos Aires, 2013.

9Anm. d. Übers.: Siehe dazu beispielsweise Enrique Dussel, El humanismo semita: estructuras intencionales radicales del pueblo de Israel y otros semitas, Editorial Universitaria de Buenos Aires, 1969; Enrique Dussel, Ethics of Liberation: In the Age of Globalization and Exclusion, Übers. Eduardo Mendieta et al., Duke University Press, Durham and London, 2013, S. 18-23; spanisches Original: Enrique Dussel, Ética de la liberación en la Edad de la Globalización y la Exclusión, Editorial Trotta, Madrid, 1998.

10Wir gehörten zu den Organisatoren des Netzwerks Modernität/Kolonialität, obwohl wir uns später öffentlich davon distanziert haben.

11Das utopische Projekt von Dussel heißt „Transmoderne“ und ist als Überwindung der modernen Zivilisation des Todes im Hinblick auf die Bejahung des Lebens in all seinen Formen gedacht. Dussel schlägt die Schaffung einer neuen Zivilisation vor, die bisher noch keinen Namen hat, da wir uns im Prozess der „Geburt“ befinden.

12Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Argument, Hamburg, 1989; spanisches Original: Enrique Dussel, Filosofía de Liberación, Edicol, México, 1977.

13Das Einzige, was Balibar übernahm, waren bestimmte Aspekte des analogen Denkens von Dussel, da er sich erst jetzt mit Ideen auseinandersetzte, die Dussel bereits über ein halbes Jahrhundert lang entwickelt und ausgereift hatte. [Anm. d. Übers.: Zum analogen Denken bzw. dem eng damit verbundenen analektischen Denken von Dussel siehe Enrique Dussel, Método para una filosofía de la liberación: Superación analéctica de la dialéctica hegeliana, Ediciones Sígueme, Salamanca, 1974, S. 181-193; Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Übers. Peter Penner, Argument-Verlag, Berlin, 1989, S. 173-175; spanisches Original: Enrique Dussel, Filosofía de la Liberación, Edicol, Mexico, 1977; Enrique Dussel, Ethics of Liberation: In the Age of Globalization and Exclusion, Übers. Eduardo Mendieta et al., Duke University Press, Durham and London, 2013, passim; spanisches Original: Enrique Dussel, Ética de la liberación en la Edad de la Globalización y la Exclusión, Editorial Trotta, Madrid, 1998.]

14Als Teile des Netzwerks Modernität/Kolonialität im Sommer 2017 inmitten der „Guarimbas“ [Anm. d. Übers.: Als „Guarimbas“ werden in Venezuela die Straßenblockaden bezeichnet, die Teil der gegen die Regierung gerichteten außerparlamentarischen Strategien der Oppositionsbewegung sind.] und paramilitärischen Angriffe in Caracas ein ruchloses Dokument verfassten, das die Regierung von Nicolás Maduro wie eine Diktatur diffamierte und imperiale Thesen über Venezuela wiederholte, kontaktierten wir Dussel. Nach der Lektüre der Dokumente schlug er vor, eine sofortige Antwort zu verfassen, um der Position der Pseudo-Dekolonialen zu entgegnen. Da es jedoch zu lange dauern würde, bis sich ein schriftlicher Text verbreitet, schlugen wir ein Video vor, das Dussel am nächsten Tag fertigstellte und das viral ging, nachdem es im Internet verbreitet wurde. Diese Initiative stellte eine starke Unterstützung für die Bolivarische Revolution dar und stand im Gegensatz zu den Positionen der Versöhnung mit dem Imperium, die von vielen Intellektuellen im Internet propagiert werden. Neben anderen Aktionen veröffentlichten wir darüber hinaus ein weiteres Dokument, in dem wir Unterschriften sammelten. Der Mut, die Entschlossenheit und die Kohärenz von Dussel wurden deutlich, als er sein Video präsentierte, in dem er dem Netzwerk entgegnete und klarstellte, dass es falsch lag.