Vorwort der Herausgeber

Autor: Yusuf Kuhn -
Autoren
Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 17

Liebe Leserin, lieber Leser,

die hier versammelten Texte von Ramón Grosfoguel sind als Teil eines größeren Projektes zu verstehen, das sich mit der Kritik der Philosophie im islamischen Denken befasst. Es trägt den Titel: alastu-Projekt – Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Eine Erläuterung dieses Titels1 und eine knappe Vorstellung des Projektes2 finden sich auf der Website3 des Projektes. Die Texte, die aus diesem Projekt hervorgehen, sollen in Gestalt von Büchern wie dem vorliegenden und auf der Website des Projektes alastu.net veröffentlicht werden.

Das vorliegende Buch ist der vierte Band der Reihe Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Bisher erschienen sind Band 1 mit dem Titel Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken4, Band 2 mit dem Titel Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat5 und Band 3 mit dem Titel Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken6. Weitere Bände sind in Vorbereitung und Planung.

Das Projekt als Ganzes versteht sich als work in progress. Dies gilt entsprechend auch für die hier in deutscher Übersetzung als Teil dieses Projektes vorgelegten Texte von Ramón Grosfoguel.7 Die darin versammelten Studien liefern also keine abschließenden Ergebnisse, sondern bieten vielmehr einen schlaglichtartigen Einblick in die Werkstatt einer fortschreitenden Arbeit, deren derzeitigen und vorläufigen Stand sie widerspiegeln. Die Texte sind eher als Materialien zu betrachten und könnten daher auch als Vorstudien bezeichnet werden.

Mit dem folgenden inhaltlichen Überblick sollen nach einer Kurzvorstellung des Autors Ramón Grosfoguel der Reihe nach kleine Abrisse der in den jeweiligen Texten/Kapiteln diskutierten Themen des vorliegenden Bandes dargestellt werden. Wenngleich wir die Texte in eine inhaltlich und im Hinblick auf die Querbezüge der Texte aufeinander sinnvolle Reihenfolge gebracht haben, lassen sie sich dennoch unabhängig voneinander lesen. Einstieg und Abfolge der Lektüre mögen also Vorlieben und Interessen gemäß erfolgen.

Die Texte für die jeweiligen Kapitel wurden von Ramón Grosfoguel im Laufe der letzten Jahre zu verschiedenen Anlässen und Zwecken verfasst. Die Spuren davon haben wir nicht zu beseitigen versucht, da es sonst nur darauf hätte hinauslaufen können, sie in erheblichem Maße umzuschreiben. Daher kommt es auch zu manchen Wiederholungen und Überschneidungen, die sich aufgrund der Unabhängigkeit der Texte nicht immer vermeiden ließen und sich hoffentlich als für das Verständnis eher zuträglich erweisen.

Ramón Grosfoguel ist einer der bedeutendsten Vertreter des dekolonialen Denkens der Gegenwart. Da er aus dem karibischen Puerto Rico stammt, das mit seinem historischen Hintergrund von Kolonisation und Versklavung weiterhin unter US-amerikanischem Verwaltungskolonialismus steht, wurde sein Bewusstsein für die anhaltenden Formen der kolonialen Machthierarchien und den dagegen gerichteten Kampf schon früh geschärft. Mit dazu beigetragen haben mag auch sein familiärer Hintergrund – sein Vater ein Argentinier jüdischer Herkunft, seine Mutter eine Puertoricanerin afrikanischer Abstammung -, der nicht nur weitreichende historische, geographische und kulturelle Horizonte eröffnet, sondern auch einen Lebensweg außergewöhnlicher Bandbreite ebnete: von militantem Befreiungskampf über politischen Aktivismus bis hin zu akademischer Forschung und Lehre. Im Fokus seiner aktivistischen wie auch intellektuellen Tätigkeiten stehen die komplexen Dynamiken von Macht, Kolonialismus und globaler Ungleichheit. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Betonung kolonialer Kontinuitäten in miteinander verflochtenen politisch-rechtlichen, ökonomischen, kulturellen und epistemischen Hierarchien und der darin gründenden Notwendigkeit der globalen Dekolonisierung. Er hat zahlreiche wegweisende Bücher und Artikel veröffentlicht, die weit über seine akademische Einflusssphäre hinaus dazu geführt haben, neue Ansätze in Politik, Kultur und Fragen sozialer Gerechtigkeit zu inspirieren.

Nachdem die meisten Artikel von Ramón Grosfoguel auf Spanisch und/oder Englisch veröffentlicht wurden, erscheint in dem vorliegenden Band eine Auswahl zentraler Texte erstmalig in deutscher Sprache. Die Auswahl dieser Texte ist in Rücksprache mit dem Autor insbesondere unter dem Leitgedanken erfolgt, das Bewusstsein für die Rolle des antimuslimischen Rassismus in den globalen kolonialen Hierarchien zu schärfen und dekoloniale Potentiale des islamischen Denkens auszuloten, die zu einer globalen Dekolonisierung beizutragen vermögen. Von dieser Auswahl erhoffen wir uns, das Augenmerk auf die Fragestellung zu richten, inwiefern sowohl Gemeinsamkeiten als auch sich gegenseitig möglicherweise auf konstruktive Weise befruchtende Unterschiede des dekolonialen und islamischen Denkens dafür nutzbar gemacht werden können, den Einklang einer globalen Dekolonisierung unter dem Leitbild der Wiederbelebung und Weiterentwicklung des islamischen Denkens herbeizuführen.

Der Einführung in den vorliegenden vierten Band dient ein biographisches Interview, bei dem Grosfoguel im Rahmen eines Rückblicks auf für sein Denken prägende Erinnerungen darlegt, was – entsprechend des Titels Gespräch mit Ramón Grosfoguel: Erinnerungen und Horizonte des dekolonialen Denkens – seinen Weg hin zum dekolonialen Denken von heute bereitete.

In Puerto Rico geboren wuchs er als Kind mit seinen Eltern in New York auf, bevor ihn sein Weg dem üblichen puertoricanischen Migrationskreislauf sowie politischer Verfolgung erliegend von seinem Studium in Puerto Rico über Jobs als Anstreicher in puertoricanischen Ghettos in Philadelphia vermöge eines Stipendiums zum weiterführenden Studium an der Temple University wieder in das Land zurückführte, unter dessen kolonialer Verwaltung sein Heimatland als US-amerikanische Kolonie nach wie vor steht. So war seine Kindheit und Jugend sowohl aus der Perspektive der Kolonie als auch aus der als Minderheit in der Metropole der kolonialen Herrschaft schon früh von Konfrontationen mit einer Reihe von über mehrere Jahrhunderte Kolonialismus hinweg geschaffenen Herrschaftshierarchien gezeichnet, deren Grundfrage lautete: Was bedeutet die Befreiung von diesen Formen des Kolonialismus? Was bedeutet Dekolonisierung?

Diese Fragestellung wie auch die Lebenskonstellation einte ihn mit karibischen Autoren und Denkern wie Aimé Césaire, Frantz Fanon und C. L. R. James, die ebenso auf ihren Studienreisen in den europäischen bzw. nordamerikanischen Metropolen mit den Dimensionen der kolonialen Herrschaft konfrontiert wurden, die ihre Erfahrung über die Lage in den Kolonien selbst hinaus schärfte und vertiefte. So gelangte Grosfoguel nach zahlreichen und auf unterschiedlichen Ebenen stattfindenden Rassismus-Erfahrungen zur Einsicht der besonderen Bedeutung der Kategorie der Rasse in der historisch-strukturellen Logik des globalen Kapitalismus, im Gegensatz zur üblichen Privilegierung der Kategorie der Klasse oder der unterdrückten Nation. Im Zuge der Anfertigung seiner Doktorarbeit über die Auswirkungen der Wohnungspolitik des nordamerikanischen Imperialismus in Puerto Rico sowie im Rahmen seines weiteren akademischen Werdegangs – nach Stationen an der John Hopkins University, der State University of New York Binghamton und dem Boston College arbeitet er seit 2001 als Professor für ethnische Studien an der University of California, Berkeley – knüpfte er schon früh Kontakt mit bedeutenden Vertretern der Welt-System-Analyse wie Giovanni Arrighi und Immanuel Wallerstein.

Um seine Arbeit und Mitstreiter herum etablierte er zudem in den 1990er Jahren das von lateinamerikanischen Intellektuellen an latein- und nordamerikanischen Universitäten ins Leben gerufene Netzwerk Modernität/Kolonialität, dessen Programmatik auf theoretische und kämpferische Auseinandersetzung mit dem Erbe von Kolonialismus, Rassismus und Kapitalismus ausgerichtet war. Zu diesem Netzwerk gehörten mit Enrique Dussel, Aníbal Quijano, Walter Mignolo und Nelson Maldonado-Torres einige der wichtigsten Vertreter des lateinamerikanischen dekolonialen Denkens. Darüber hinaus etablierte Grosfoguel ein zuvorderst in Europa verortetes akademisches und aktivistisches Netzwerk antirassistischer Bewegungen, das sich in Zusammenarbeit mit der Islamic Human Rights Commission (Islamische Menschenrechtskommission), der Parti des indigènes de la république (Partei der Indigenen/Eingeborenen der Republik) und der niederländischen Schwarzen-Bewegung (Movimiento Negro holandés) entwickelte. Dies führte 2012 zu dem Schritt, das European Decolonial Network (Europäisches Dekoloniales Netzwerk) zu gründen. Die personale Überschneidung mit der Studiengruppe des Sindicato Andaluz de Trabajadores/as (Andalusische Arbeiter/innen-Syndikat) ebnete schließlich den Weg dafür, die erste dekoloniale Annäherung zwischen den antirassistischen Bewegungen der rassialisierten Subjekte/Untertanen (subjects) in Europa und den nationalistischen Bewegungen der Linken der unterdrückten Nationen in Europa herbeizuführen.

Gleichwohl erinnert Grosfoguel wiederholt daran, dass trotz dieser Netzwerke und Annäherungen nicht über die grundsätzlichen Differenzen und voneinander abweichenden Visionen der unterschiedlichen Akteure hinweggesehen werden darf. Ein wiederkehrendes Hindernis auf dem Weg hin zu einer übereinstimmenden Vision im Hinblick auf die Überwindung des zivilisatorischen Projekts der Moderne stellt dabei das eurozentrische Paradigma dar, in dem weiterhin viele – und gerade auch postmoderne – Linke verhaftet zu sein scheinen. Dies gilt zumal für manche Strömungen der postkolonialen Theorie, die ihrer poststrukturalistischen Ausrichtung verhaftet bleiben und sich weiterhin vorwiegend auf einen engen Kreis von Autoren wie Gramsci, Foucault, Lacan und Derrida stützen. So erfasst ihre Kritik die Moderne/Modernität (modernity) nicht in deren wesenhaften Tiefe und Breite, sondern lediglich in einigen Erscheinungsformen. Derart kann insbesondere die westliche Epistemologie nicht überwunden werden. Und dies hat bisweilen zu einer Verstrickung in kulturalistische Nebensächlichkeiten geführt, mit der eine gewisse Ausblendung politischer und ökonomischer Aspekte der Postkolonialität einherging.

Andererseits warnt er davor, die Moderne/Modernität im Vergleich zu anderen Faktoren übermäßig zu ökonomisieren und demnach das Wirtschaftssystem der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab als das einzig Neuartige und Charakteristische des modernen Weltsystems zu betrachten. Dekoloniales Denken ist weder ein nur intellektuell-kulturalistisches noch ein nur ökonomisches, sondern ein zivilisatorisches Projekt. Dekoloniales Denken zielt darauf ab, den Eurozentrismus und die Moderne als zivilisatorisches System zu überwinden.

Grosfoguels Projekt der Dekolonisierung der Paradigmen der politischen Ökonomie ist genau in diesem Sinne angelegt. Durch die Kartographie der Macht des Weltsystems hat er etliche Herrschaftshierarchien dieser Paradigmen identifiziert, die durch eine Wende in der Geographie der Vernunft transformiert beziehungsweise überwunden werden müssen. Obgleich es eigentlich eine selbstverständliche Charakterisierung sein sollte, spezifiziert Grosfoguel sein Verständnis des dekolonialen Denkens im Gegensatz zum Selbstverständnis der postmodernen kulturalistischen und entpolitisierten Positionen, die nicht in der politischen Ökonomie oder der antiimperialistischen Kritik verortet sind und womöglich darüber hinaus im konkreten politischen Geschehen Gefahr laufen, wie es sich etwa in Venezuela erwiesen hat, dem US-Imperialismus Vorschub leisten, zudem als antiimperialistisch. Um sich einer solchen Verengung des dekolonialen Denkens zu erwehren, spricht er in besonderer Betonung von einem dekolonialen Antiimperialismus. So lautet der Titel seines zuletzt erschienenen Buches De la sociología de la descolonización al nuevo antiimperialismo decolonial (Von der Soziologie der Dekolonisierung zum neuen dekolonialen Antiimperialismus).8

Dieser dekoloniale Antiimperialismus versteht sich zudem als marxistisch verwurzelte Dekolonialität und wird im weiteren Verlauf dieses Bandes auch als schwarzer dekolonialer Marxismus in Erscheinung treten. Neben dieser expliziten Spezifizierung spricht sich Grosfoguel entgegen verbreiteten Exklusivismen und reaktionären Fundamentalismen für ein auf die Überwindung der Moderne ausgerichtetes, indessen unter dem Leitgedanken des antiimperialistischen Dekolonisierungskampfs stehendes strategisches Bündnis aus – ein Bündnis zwischen den migrantischen Subjekten/Untertanen (subjects) der Kolonialgeschichte, den rassialisierten Subjekten/Untertanen wie den Roma, den schwarzen Kariben und Afrikanern, den Muslimen aus der ganzen Welt und den Subjekten/Untertanen der Nationen ohne Staat.

Im ersten Kapitel, das den Titel Epistemischer Rassismus/Sexismus, verwestlichte Universitäten und die vier Genozide/Epistemizide des langen 16. Jahrhunderts trägt, thematisiert Grosfoguel das Verhältnis zwischen Wissen und Macht am Beispiel der Entstehung der Wissensformen der europäischen Moderne. Dabei stützt er sich auf das von Immanuel Wallerstein konzipierte lange 16. Jahrhundert 1450-1650 als Zeitraum der Herausbildung eines neuen historischen Systems. Zudem knüpft er an die Analyse von Enrique Dussel an, der im Rahmen des historischen Rückbezugs der durch Rassismus und Sexismus charakterisierten modernen Wissensformen auf die Neuzeitphilosophie von René Descartes den europäischen Kolonialismus als die Bedingung ihrer Möglichkeit erachtet. Grosfoguel verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Wissen und Macht, indem er über die Dusselsche Darstellung hinausgehend das von ihm so genannte ego extermino („Ich vernichte“) als sozio-historisches und strukturelles Bindeglied zwischen dem ego conquiro („Ich erobere“) des europäischen Kolonialismus und dem Descartes’schen ego cogito („Ich denke“) ausmacht. Dieses Bindeglied ist dabei die Formel für vier historische Ereignisse des langen 16. Jahrhunderts (die Rückeroberung von al-Andalus, die Eroberung der Amerikas, die Versklavung von Afrikanern in den Amerikas und die Ermordung von Millionen von Frauen, weil sie beschuldigt wurden, Hexen zu sein), die als Genozide/Epistemizide in der Überlagerung ihrer sowohl materiellen (Genozid: materielle Vernichtung) als auch kulturellen Gestalt (Epistemizid: kulturelle Vernichtung) die Macht- und Wissen-Dimensionen vermittelt und historisch miteinander verschränkt haben.

Im Zentrum des zweiten Kapitels mit dem Titel Dekolonisierung westlicher Uni-versalismen: Dekoloniale Pluri-versalismen von Aimé Césaire bis zu den Zapatisten steht die dekoloniale Vision der Überwindung universalistischer Irrtümer, wie sie im Denken von Descartes über Hegel bis hin zu Marx zum Ausdruck gekommen sind. An die Stelle der eurozentrischen Universalismen dieser Philosophen rückt das von Aimé Césaire vorgebrachte Konzept des Pluri-versalismus. In Analogie dazu rückt an die Stelle der durch koloniale Universalismen geprägten Moderne die von Dussel vorgeschlagene und durch dekoloniale Pluri-versalismen gekennzeichnete Transmoderne. Am Beispiel der Zapatisten legt Grosfoguel dar, inwiefern sich das transmoderne Projekt der Überwindung der Moderne von postmodernen Ansätzen unterscheidet.

Vermöge der Dekolonisierung postkolonialer Studien und Paradigmen der politischen Ökonomie: Transmoderne, Dekoloniales Denken und Globale Dekolonialität führt das dritte Kapitel in das Herz von Grosfoguels Denken. Letzteres zielt darauf ab, einen Ausweg aus den als Reaktion auf die Misere der Moderne entstandenen Dichotomien (wie Kultur versus Ökonomie, Handlung versus Struktur usw.) zu weisen. So setzt Grosfoguel sowohl auf die Dekolonisierung postkolonialer bzw. kultureller Studien als auch auf die der politisch-ökonomischen Paradigmen und der Welt-System-Analyse. Er tritt ein für eine radikale antisystemische Befreiung, die auf die Verschmelzung antikapitalistischer, antipatriarchalischer, antiimperialistischer und gegen die Kolonialität der Macht gerichteter Ansätze ausgerichtet ist. Die Kolonialität der Macht fasst er dabei als eine Verflechtung mannigfaltiger und heterogener globaler Hierarchien sexueller, politischer, epistemischer, ökonomischer, spiritueller, sprachlicher und rassialistischer Formen der Unterdrückung und Ausbeutung, deren zugrunde liegendes Organisationsprinzip auf der Idee der Rasse beruht. Die Perspektive, die Grosfoguel dabei einnimmt, ist die von der subalternen Seite der kolonialen Differenz. Dies macht sein Vorhaben zu einem echten dekolonialen Projekt, das darauf abzielt, eine umfassende Transformation der sexuellen, geschlechtlichen, spirituellen, epistemischen, ökonomischen, politischen, sprachlichen, ästhetischen, pädagogischen und rassialistischen Hierarchien des modernen/kolonialen westlich-/christlich-zentrischen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystems herbeizuführen, ohne jedoch in die Falle der Dritte-Welt-Fundamentalismen als Antworten auf den kolonialen Eurozentrismus zu geraten.

Im vierten mit Was ist Rassismus? Zone des Seins und Zone des Nicht-Seins in den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos betitelten Kapitel geht Grosfoguel näher auf den der Kolonialität der Macht als Organisationsprinzip zugrunde liegenden Rassismus ein, indem er basierend auf der Begegnung mit den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos die mit dem Rassismusbegriff verbundenen Komplexitäten darzulegen versucht. Fanon zufolge entspricht Rassismus einer mit je nach lokalem/kolonialem Kontext unterschiedlichen Kennzeichen (Religion, Kultur, Ethnie, Farbe, Klasse, Sexualität, Identität usw.) geschaffenen intersektional wirkenden Hierarchie der Superiorität/Inferiorität entlang der Grenze des Menschseins (de Sousa Santos spricht von der abyssalen Linie). Die Subjekte, die sich auf der superioren Seite der Grenze des Menschseins befinden, leben demnach in der Zone des Seins, während die Subjekte/Untertanen, die sich auf der inferioren Seite der Grenze des Menschseins befinden, in der Zone des Nicht-Seins verbleiben. Gemäß de Sousa Santos sind beide Zonen Teil des Projekts der kolonialen/kapitalistischen/imperialen Moderne. Die intersektionale Verflechtung/Verschachtelung (das heißt, auch innerhalb der Zone des Seins bzw. Nicht-Seins gibt es jeweils wiederum möglicherweise mittels verschiedener Kennzeichen superiorisierte/inferiorisierte Subjekte usw.) dieser Zonen gehört für Grosfoguel schließlich zu den Ausgangspunkten, um für eine Dekolonisierung zu plädieren, die über die unterschiedlichen (Sub-)Grenzen hinweg der Pluralität und der Bündnisbereitschaft verschrieben ist.

Das fünfte Kapitel, das mit dem Titel Epistemischer Extraktivismus. Ein Dialog mit Alberto Acosta, Leanne Betasamosake Simpson und Silvia Rivera Cusicanqui versehen ist, ist der kritischen Betrachtung einer Form des Denkens und Handelns gewidmet, die Grosfoguel im Anschluss an Alberto Acosta und Lenna Betasamosake Simpson Extraktivismus nennt. Extraktivismus bezeichnet dabei ein wesenhaftes und vereinendes Element von Kapitalismus und Kolonialismus, dessen Zweck darin besteht, im Prozess der Extraktion objektivierte Ressourcen – seien es natürliche Rohmaterialien, indigene Wissensbestände, kulturelle Güter usw. – zu rauben und sich anzueignen. In der Praxis ist Extraktivismus ein der kapitalistischen Akkumulation dienender Mechanismus der (neo-)kolonialen Ausplünderung und Aneignung. In der Theorie liegt ihm eine Sichtweise auf die Welt zugrunde, die das dem Subjekt entgegengesetzte Objekt rassialistisch-inferiorisiert, entpolitisiert und dekontextualisiert, um es der Herrschaft der Kolonialität der Macht, des Wissens und des Seins zu unterwerfen. Während der globale Süden historisch und bis in die Gegenwart hinein das Objekt der Extraktion darstellt, steht der globale Norden samt seiner ökonomischen, akademischen, politischen und militärischen imperialen Maschinerie als Akteur und folglich als Nutznießer des Extraktivismus dar. Grosfoguel stellt im Rahmen seiner kritischen Betrachtung schließlich fest, wie selbst der Dekolonisierung verschriebene Denker der Versuchung unterliegen können, sich extraktivistischer Methoden zu bedienen.

Im sechsten Kapitel Schwarzer dekolonialer Marxismus geht es um das dekoloniale Potential der Tradition schwarzer Marxisten wie Aimé Césaire und Cedric J. Robinson sowie darum, inwiefern die fehlende Wertschätzung bis hin zur Ignoranz ihr gegenüber ein Beispiel für den epistemischen Extraktivismus dreier Denkschulen liefert, die sich eigentlich dem dekolonialen Denken verschrieben haben: Welt-System-Analyse, interner Kolonialismus und Kolonialität der Macht. Denn so besteht die Gefahr der Reproduktion eines epistemischen Rassismus, der schwarzes Denken inferiorisiert und weißes oder europäisches/euro-amerikanisches Denken als superior konstruiert. Dies ist von besonderer Bedeutung vor dem Hintergrund, dass die Ursprünge vieler kritischer und dekolonialer Theorien, die sich kritisch mit dem epistemischem Rassismus/Extraktivismus beschäftigen, gerade zum kritischen Denken von schwarzen Marxisten zurückverfolgt werden können. Die Fähigkeit schwarzer Marxisten, einen dekolonialen Marxismus hervorzubringen, besteht gerade darin, so betont Grosfoguel, dass durch ihre gelebte Erfahrung der Unterdrückung ein Zugang zu der Verbindung von Rassismus und Kapitalismus eröffnet wird, der anderen Schulen womöglich verschlossen bleibt.

Die vielen Gesichter der Islamophobie nimmt Grosfoguel im siebten Kapitel gleichen Titels zum Anlass, die Verortung der Islamophobie – die rassialistische Inferiorisierung von Muslimen – als konstitutiven Bestandteil des modernen/kolonialen christozentrischen kapitalistischen/patriarchalischen Weltsystems vorzunehmen. In Anerkennung der Verwobenheit der in komplexen historischen Weisen miteinander verflochtenen Machthierarchien des Weltsystems unternimmt Grosfoguel den Versuch, die vielen Gesichter der Islamophobie in gebührender Weise zu benennen. Dazu gehört Islamophobie als eine Form des Rassismus in einer welthistorischen Perspektive, als eine Form des kulturellen Rassismus, als Orientalismus, als epistemischer Rassismus, in Gestalt eurozentrischer Sozialwissenschaften und innerhalb der gegenwärtigen islamophoben Debatten.

Im achten Kapitel, das den Titel Menschenrechte und Antisemitismus nach GAZA trägt, setzt sich Grosfoguel in seinem Text, verfasst anlässlich des Kriegs, mit dem Israel 2009 Gaza überzogen hat, mit der hegemonialen, stillschweigenden und allgegenwärtigen Form des Fundamentalismus auseinander, und zwar mit dem eurozentrischen Fundamentalismus. Wesentlicher Bestandteil dieses Fundamentalismus ist der Menschenrechts- und Antisemitismusdiskurs. Am Beispiel der durch eurozentrische Menschenrechts- und Antisemitismusnarrative legitimierten einer genozidalen Logik unterliegenden israelisch-zionistischen Politik der Apartheid und ethnischen Säuberung sowie der Massaker an den in Gaza unter israelischer Besatzung lebenden Palästinensern legt er dar, wie die kolonialen Kontinuitäten und Inkonsistenzen des Menschenrechts- und Antisemitismusdiskurses so offen zum Vorschein getreten und so pervers geworden sind, dass wir uns mittlerweile in einem unaufhaltsamen Prozess befinden, der das Ende der Ära des eurozentrischen Fundamentalismus einläutet.

Das neunte und letzte Kapitel ist dem führenden lateinamerikanischen Befreiungstheologen und Grosfoguels langjährigem Mitstreiter gewidmet: Enrique Dussel: Ein Denker der Befreiung. Der Anlass der Veröffentlichung des diesem Kapitel zugrunde liegenden Artikels war das Versterben Dussels am 05. November 2023. Dabei wird deutlich, dass Grosfoguel und Dussel nicht nur ihre theoretischen Ansätze dekolonialen Denkens einen, sondern insbesondere auch die konkrete Praxis, die sowohl ihrem Denken entsprang als auch auf die es immer wieder bezogen werden konnte.

Dussel ist eine Quelle der Inspiration indes nicht nur für Grosfoguel. Weit darüber hinaus lässt sich seine herausragende Bedeutung für das dekoloniale Denken nicht zuletzt daran festmachen, dass er als Hegel des globalen Südens bezeichnet wurde. Damit wird vor dem Hintergrund der apotheotischen Kulmination der eurozentrischen Philosophie in Hegel auf ironische Weise darauf angespielt, dass ihm desgleichen die Synthese des gerade gegen den Eurozentrismus gerichteten dekolonialen Denkens des globalen Südens gelungen sei.

Dussels Kritik der eurozentrischen Moderne setzt dabei an den weltgeschichtlichen Wurzeln der Moderne an. Diese Wurzeln reichen für ihn bis ins Jahr 1492 zurück, das die koloniale Expansion Spaniens in die Amerikas datiert und sich im weiteren Verlauf als Bedingung der Möglichkeit der Herausbildung der neuzeitlichen Philosophie von Descartes samt der damit zutiefst verbundenen kolonialistischen Geisteshaltung herausstellen sollte.

Auf dieser Grundlage entwickelte er eine umfassende Philosophie und Ethik der Befreiung – bestehend aus Metaphysik, Epistemologie, Moralphilosophie, Politik, Ökonomie, usw. -, deren Aufgabe und Bestimmung er darin sieht, die Moderne als zivilisatorisches System zu überwinden. In diesem Zusammenhang prägte er den Begriff der Transmoderne/Transmodernität (transmodernity), der sowohl der Versuchung eines vermeintlichen radikalen Bruchs mit der Moderne widersteht als auch ganz bewusst gegen die Konzeption der Postmoderne gerichtet ist, die trotz aller Beteuerungen allzu sehr der Verlängerung des Eurozentrismus verfallen bleibt. Die Transmoderne ist für ihn zudem ganz im Gegensatz zum eurozentrischen Fundamentalismus mit der Anerkennung verbunden, dass es nicht bloß eine einzige Epistemologie in der Welt gibt, sondern dass diverse Epistemologien existieren und dass es verschiedene Antworten auf ein und dasselbe Problem geben kann. Dies wiederum führt zu der Anerkennung verschiedener Arten des Denkens, des Seins und des In-der-Welt-Seins.

Dussels intellektuelle und aktivistische Bemühungen erfolgten dabei stets in großer Demut. Auf dem Boden der befreiungstheologischen Weltsicht des Christentums, das er zeitlebens als Sinnhorizont seines Denkens und Handelns voraussetzte und zugleich stets auf den universellen Horizont einer Ethik der Befreiung hin eröffnete, war er der Befreiung der Völker zutiefst verpflichtet. Jedoch war seine Verwurzelung in der prophetischen und messianischen Weltsicht nicht auf die Theologie beschränkt. Er war offen für vielfältige und heterogene Wissensbereiche, was ihn grenzübergreifend zu einem Denker machte, dessen Bedeutung und Erbe für das dekoloniale Denken der Gegenwart und Zukunft in geradezu unermesslicher Weise lehrreich zu sein verspricht.

Die Kurzfassungen der Texte/Kapitel des vorliegenden Bandes resümierend soll zum Abschluss dieses Vorworts auf die Aktualität des dekolonialen Denkens im Allgemeinen sowie des von Ramón Grosfoguel besonders hervorgehobenen dekolonialen Antiimperialismus im Speziellen hingewiesen werden.

In Anbetracht des nach einem langen Vorlauf am 24. Februar 2022 ausgebrochenen Krieges in der Ukraine und des vonseiten Israels unter dem Vorwand der Reaktion auf die Operation Al-Aqsa Flut (ʿamaliyya tūfān al-aqsā) der Hamas am 7. Oktober 2023 geführten Angriffs auf die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza befinden wir uns in einer Zeit enormer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Spannungen. Diese Spannungen werden durch die fortschreitende militärische Eskalationsspirale und die damit einhergehenden atomaren Bedrohungsszenarien von weltweitem Ausmaß nur noch verstärkt.

Ohne an dieser Stelle näher auf die weitreichenden Zusammenhänge der gegenwärtigen Konflikte eingehen zu können, stellt sich vor dem Hintergrund der in diesem Band versammelten Beiträge indes die Frage nach einer dekolonialen Perspektive und dem Beitrag, den das dekoloniale Denken zur Überwindung dieser so leidvollen wie unerträglichen Lage zu liefern vermag.

In diesem Sinne möchten wir das Augenmerk auf zwei Andeutungen richten, ohne die uns eine angemessene Analyse der gegenwärtigen geopolitischen Situation kaum aussichtsreich zu sein scheint.

Einerseits führt es zu schwerwiegenden Verzerrungen, wenn die derzeitigen politischen Konflikte von ihrer konkreten Vorgeschichte und ihrer allgemeinen kolonial-historischen Genese losgelöst werden. Erinnert sei hier lediglich – den obigen beiden Kriegen jeweils vorausgehend – sowohl an den deutschen Griff zur Weltmacht samt Drang nach Osten, der schamlose Urständ feiert, die NATO-Osterweiterungen und das bewusste Übergehen russischer Sicherheitsinteressen vonseiten des vom US-Imperialismus geführten Westens als auch an den mittlerweile viele Jahrzehnte andauernden israelischen Siedlerkolonialismus, der die Vertreibung der Palästinenser, die weitreichende Besatzung palästinensischer Gebiete und die zionistische Siedlungspolitik zur Folge hat.

Andererseits läuft die fehlende Berücksichtigung wie auch die kulturalistische und entpolitisierte Einengung des dekolonialen Denkens im Hinblick auf die Überwindung der gegenwärtigen Konflikte auf eine Perspektive hinaus, die die ursächliche und entscheidende Rolle des Imperialismus aus dem Blick zu verlieren droht und damit einhergehend sogar der fortwährenden Kolonialität selbst. Doch nur dann, wenn der Kampf gegen Kolonialität, Rassismus und Imperialismus aus einem Verständnis ihres inneren Zusammenhangs heraus geführt wird, lässt sich vor dem Hintergrund des augenscheinlichen Niedergangs der westlichen Hegemonialmacht samt ihrem anmaßenden Universalismus und der zunehmenden Erstarkung des globalen Südens, der schon den Weg in eine multipolare und gerechtere Weltordnung eingeschlagen hat, die Einsicht gewinnen, welches Potential in der antiimperialistischen und wahrlich dekolonialen Achse des Widerstands und der Befreiung angelegt ist, die es vermag, dekoloniale Auswege in eine andere Welt zu eröffnen, die transmodern, pluriversal, gerechter und menschlicher ist, kurz gesagt, die der alles verschlingenden Zivilisation des Todes ein Schnippchen schlägt und in eine Zivilisation des wahren Lebens aufbricht.

Wir wollen diese kleine Einleitung in eben diesem Geiste beschließen, indem wir Ramón Grosfoguel selbst zu Wort kommen lassen:

[I]ch [ziehe] es heute vor, mich als „dekolonialer Antiimperialist“ zu bezeichnen. Ich habe immer gedacht, dass diese Bezeichnung überflüssig ist, weil das Dekoloniale den Antiimperialismus bereits in sich trägt. Als jemand, der aus einer antiimperialistischen Militanz in Puerto Rico kommt, war das für mich immer selbstverständlich. Aber nachdem ich gesehen habe, wie Leute, die sich selbst als dekolonial bezeichnen, inmitten der Aggressionen des US-Imperialismus [...] Partei für den Imperialismus ergriffen haben, sehe ich es als unbedingt nötig an, mich als dekolonialer Antiimperialist zu bezeichnen, um mich von diesen anderen „dekolonialen Pro-Imperialisten“ oder „dekolonialen Kolonialisten“ zu unterscheiden.

Dies ist ein Aufruf zu einer Universalie, die eine Pluriversalie ist, zu einer konkreten Universalie, die alle epistemischen Besonderheiten in Richtung einer „transmodernen dekolonialen Sozialisierung der Macht“ einschließt. Wie die Zapatisten sagen: „Kämpfen für eine Welt, in der andere Welten möglich sind“.

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Unser Dank gilt all denen, die uns durch ihre anregenden und bereichernden Beiträge in Diskussionen und anderweitig bei der Arbeit an diesem Projekt, mitunter über viele Jahre, unterstützt haben und die viel zu zahlreich sind, um namentlich aufgeführt werden zu können. Besonders bedanken möchten wir uns bei den Mitgliedern des VDM9, die uns mit ihrer großmütigen Unterstützung in allerlei Gestalt stets tatkräftig zur Seite standen. Und besonderer Dank gilt auch Ramón Grosfoguel für die gute Zusammenarbeit. Möge Allāh es ihnen allen reichlich lohnen und unser Projekt mit Seinem Beistand zum Gelingen führen!

Juni 2024 / Dhū-l-hiddscha 1445

Yusuf Kuhn & Daniel Rudolf

 


1https://alastu.net/ueber

2https://alastu.net/node/29

3https://alastu.net

4Yusuf Kuhn, Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken. Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken – Band 1, Hamburg, 2018; https://alastu.net/node/109.

5Yusuf Kuhn, Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat. Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken – Band 2, Hamburg, 2019; https://alastu.net/node/113.

6Yusuf Kuhn, Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken – Band 3, Hamburg, 2020; https://alastu.net/node/172.

7Übersetzung und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

8Ramón Grosfoguel, De la sociología de la descolonización al nuevo antiimperialismo decolonial. Selección de textos, prólogo y entrevista introductoria a cargo de Javier García Fernández, Ediciones Akal, México, 2022.

9Verein für denkende Menschen e.V., Website: https://vdmev.de